Im Rosenpark - Hans Schelling - E-Book

Im Rosenpark E-Book

Hans Schelling

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Beschreibung

Im Rosenpark - Entwicklungsroman von Hans Schelling Das Leben von Marielouise, einer erfolgreiche Modejournalistin und Besitzerin einer Ostschweizer Modeagentur, verläuft nicht so harmo­nisch, wie sie sich dies vorgestellt hat. Sie heiratet den erfolgreichen Zementfabrikanten Harald von Stockenberg. Beider Glück scheint perfekt, ihre Liebe einmalig. Gemeinsam mit Harald bauen sie ihre neue Heimat, die Villa "Im Rosenpark" auf. Als ihr Sohn Christian zur Welt kommt, ist ihr Leben vollkommen. Doch nach einem schweren Schicksalsschlag gerieten die Gefühle der beiden in ernsthafte Turbulenzen.

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Seitenzahl: 239

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Hans Schelling

Im Rosenpark

Ein Entwicklungsroman

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. "Im Rosenpark"

2. Begegnung

3. Familie und Alltag

Der Modeball

Ferien in Klosters

Trauer

4. Rückkehr ins Leben

5. Ruben Verheul

6. Zusammenfinden

7. Harald

8. Cafebesuch

9. Veränderung

10. Neues Leben

11. Abschied

12. Jahre vergingen

13. Jacquelines Verlust

14. Lebenswende

15. Geburtstag

16. Herzlichen Dank

Impressum neobooks

1. "Im Rosenpark"

Impressum

Verlag: Einfach Lesen, Bern

Autor: Hans Schelling ©

Lektorat: Rosmarie Bernasconi

Korrektorat: Doris von Wurstemberger

Umschlaggestaltung: Adrian Zahn

Layout: Rosmarie Bernasconi

Druck: printgraphics, Bern

ISBN 978-3-9524061-3-7

Erste Auflage, 4. November 2014

Copyright beim Autoren und Verlag

Hans Schelling

"Im Rosenpark"

Entwicklungsroman

Jeder Mensch hat einen Schutzengel,

man muss nur mit ihm sprechen.

Luciano Vassalli (1990 – 2006)

… und dann kommt der Abbruchbagger und beginnt, das Haus "Im Rosenpark", in dem Anna Dora Bondo mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern, später dann während Jahren alleine gelebt hatte, abzureissen. Schonungslos. Noch vor ihrem Sterben hatte sie die Villa 83-jährig verkauft. Es war für sie mehr als nur ein Haus, es war ihr Zuhause, Emotionen, Lebenserinnerungen, Mauern als Zeugen von Gelebtem. Wände, die ihr jahrzehntelang Geborgenheit und auch Schutz gegeben hatten, Räume, die durch ihre Einzigartigkeit in ihrer Seele lebten. Ihr Zuhause, ein Ort voller Erinnerungen, gute, aber auch viele schmerzhafte. Sie glaubte, die Käuferschaft sorgfältig ausgesucht zu haben, denn es war ihr wichtig, wer zukünftig in diesen Räumen, in diesem parkähnlichen Garten wohnen und leben würde. So wollte sie genau wissen, wem sie ihr Eigentum anvertraute.

Geld war Anna Dora unwichtig gewesen, davon hatte sie mehr als genug. Es kam ihr daher nicht auf den Verkaufspreis an, sondern es musste einzig und alleine ihre Bedingung erfüllt werden, dass diese alte Villa nicht abgerissen oder gar zu Spekulationszwecken verkauft wird.

"Im Rosenpark" war das Vermächtnis ihres Mannes, der in jungen Jahren verstorben war. Das Haus liess er, bereits schwer krank, für seine junge Familie bauen. Sein Wunsch war es, dass diese auch nach seinem Tod ein anständiges Dach über dem Kopf hatten. So vertraute Anna Dora der damaligen Käuferschaft, den zukünftigen Besitzern, mit denen sie immer wieder lange Gespräche führte, um so ihre Wesensart kennenzulernen, um beurteilen zu können, ob sie ihre Vorstellungen erfüllen könnte. Und Anna Dora war überzeugt, richtig gewählt zu haben. Bis heute konnte sie sich immer auf ihre Menschenkenntnisse verlassen. Dann, nur wenige Monate nach ihrem Auszug, verstarb sie im festen Glauben daran, dass sie gut entschieden hatte in der Wahl ihrer Nachfolger. Dieser liess ihr Zuhause erstaunlicherweise über die nächsten Jahre einfach zerfallen. Die Bäume wuchsen weit über die Hausfassaden hinaus, Füchse nisteten sich im hohen ungemähten Gras ein.

In einer kurzen Zeitungsnotiz einer Ostschweizer Tageszeitung ist heute, Jahre nach ihrem Tod, zu lesen, dass die alte Villa «Im Rosenpark», in den nächsten Tagen abgerissen werden soll.

… und dann kommt der Abbruchbagger und beginnt mit seiner zerstörerischen Arbeit, das Haus, das nun während Jahren unbewohnt, verwahrlost und unbeachtet geblieben war und aus unbegreiflichen Gründen immer wieder neue Eigentümer erhielt, nieder zu reissen. Junge Kunstschaffende, Künstler und Künstlerinnen, fröhliche schöpferische Menschen, durften das Haus vor dem Abbruch freizügig in Kunsträume verwandeln. Dies wohl im Sinne einer kreativen Hausbesetzung und autorisiert vom damaligen neuen Besitzer, nicht aber im ursprünglichen Sinne von Anna Dora Bondo.

… und Marielouise und Harald von Stockenberg betrachteten aus einer gewissen Entfernung ihr neu erworbenes Haus und die gewaltsam aggressive Macht dieser Baumaschine …

2. Begegnung

Als Harald sie fragte, seine Frau zu werden, war Marielouise gerade 23 Jahre alt geworden. Sie hatte ihn an den Internationalen Pferdesporttagen in St. Gallen kennengelernt. Er, ein äusserst attraktiver sportlicher Reiter auf seinem Holsteiner, einem Pferd mit kräftigen Sehnen und Gelenken, nahm im Hindernisrennen die Hürden von über 1,68 Metern ohne Probleme. Er setzte mit grosser Leichtigkeit über den Wassergraben an und beendete den Parcours mit null Fehlern. Die berittene Preisverteilung lief wie gewohnt. Die Reiter in einer Reihe, der Sieger aussen links. Marielouise war, da ihr Vater dem Komitee der Pferdesporttage vorstand, als eine der Ehrendamen auserkoren worden. «Du bist ein wundervolles Tier», sprach sie zum Siegerpferd. «Du hast Kämpferherz und Mut bewiesen.»

Marielouise fühlte sich schön in ihrem schulterfreien knöchellangen Kleid aus geblümter Seide, mit ihrer toupierten Hochfrisur, den zwar in der groben Wiese versinkenden, zum Kleid passenden High Heels. Aus den Lautsprechern ertönten wie immer dieselben Siegerklänge, dann wurde die Rangliste verlesen und die Preise verteilt, beharrlich die langweiligen alljährlichen Silberkelche, Silberplateaus, Silberdosen ...

Als Marielouise auf Harald von Stockenberg zuschritt und seinem fordernden Blick begegnete, spürte sie eine innere Unruhe, die sie verwirrte. Sein Pferd wieherte, begann zu stampfen und zu scharren. Harald lächelte ihr vielsagend zu, als sie ihm den ersten Preis überreichen und ihm gratulieren durfte. Ihr schien, dass er noch etwas sagen wollte, denn sie bemerkte, dass seine Lippen sich bewegten. Da spürte sie, wie in ihrem Körper eine nie erlebte Wärme aufstieg und sie nicht mehr in der Lage war, seinen blauen Augen und seinem gewinnenden Lächeln, seiner ausserordentlichen Ausstrahlung auszuweichen. Seine Aura hatte sie gefangen genommen. Erst als ihr Vater sie am Oberarm berührte und zum nächsten Reiter führte, realisierte sie, was soeben geschehen war – sie hatte sich in Harald von Stockenberg verliebt.

«Bist du, sonst stets besonnen und wohl überlegt, vom Wahnsinn befallen, unzurechnungsfähig und völlig umnachtet? Du willst einen Mann heiraten, der 12 Jahre älter ist als du und dem du erst vor wenigen Wochen zum ersten Mal begegnet bist. Was ist mit dir geschehen? Torschlusspanik, in deinem Alter? Akuter Kinderwunsch? Aufarbeiten einer bis anhin unbewussten Vaterproblematik?» So führte Marielouise tagsüber und in schlaflosen Nächten immer wieder quälende Selbstgespräche, besprach sich mit ihrer Familie, Freunden und Freundinnen.

«Wir reden dir nicht drein, aber sag mal, ist sie nicht doch etwas verfrüht, diese Heirat?», entgegneten ihre Eltern sorgenvoll. «Du bist jung, noch sehr jung mein Kind, intelligent und hübsch, du hast noch die ganze Welt vor dir, verbaue dir nicht dein Leben, deine Zukunft. Vater und ich sind überzeugt, dass Harald ein feiner Mensch ist», meinte Mutter versöhnlich. «Gib dir Zeit, genügend Zeit, lass dich durch niemanden zu diesem Schritt drängen, auch wenn alles, ein Leben mit diesem Mann, augenblicklich noch so faszinierend ausschaut. Prüfe dich in deinem Innersten, hinterfrage selbstkritisch dein Vorhaben. Diesen für dich so grossen Entscheid können wir dir nicht abnehmen, den musst du ganz alleine für dich fällen, für heute, morgen, für dein ganzes langes Leben.» Marielouise konnte die Einwände, all die wohlgemeinten Warnungen ihrer Angehörigen verstehen – doch sie war in ihrem Herzen felsenfest überzeugt, dass sie und Harald für einander bestimmt waren, zwei Seelen, einander nahe in ihrem Fühlen, Denken und Handeln.

Nur wenige Monate später nach diesem eindringlichen Gespräch fand auf dem Bürgenstock die Hochzeit statt.

Gross war die Gästezahl, erlesene Gäste aus der Welt des Reitsportes, Berühmtheiten aus Industrie und Jetset, Filmstars und -Sternchen, Showbusiness, Vertretungen der Wirtschafts- und Bankenwelt, Politiker und Politikerinnen mit ihren Gattinnen und Gatten aus dem In- und Ausland. Dann die Familienangehörigen, jene, die man wirklich mochte, dann aber auch jene, die einfach eingeladen werden mussten, um keine familiären Unstimmigkeiten herauf zu beschwören, dies vor allem aus Haralds Verwandtschaft. Man konnte dann ja bei der Tischordnung unausgesprochen bestrafend und etwas demütigend eingreifen. Tante Everilda, Haralds Patin und Freundin seiner verstorbenen Mutter, war für Marielouise solch eine schreckliche Person, die sie lieber gar nicht erst kennengelernt hätte. Dabei trug sie auch noch einen wirklich entsetzlichen, stumpf gebuckelten rosa Hut aus Panamastroh mit Pfauenfeder. Ihr pferdeähnliches Profil hingegen verbarg sie gekonnt hinter einem Nebelschleier. Mit unglaublicher Schamlosigkeit versuchte sie, in Marielouises Privatleben einzudringen, fragte nach ihren Kinderwünschen, wollte unbedingt über ihr erstes grösseres Abenteuer informiert werden, ja sie schreckte nicht einmal zurück, nach ihren sexuellen Erfahrungen zu forschen.

«Ich kann mir gut vorstellen, mein liebstes Kind, mit welch ängstlicher Spannung du deiner Hochzeitsnacht entgegenfieberst», flüsterte sie, dabei für alle herumstehenden Gäste gut hörbar, Marielouise ins Ohr. «Liebstes Kind! Diese Hexe!», dachte diese – «Gott sei Dank keine Blutsverwandte von Harald!» Dass sie sich gegenseitig nicht mochten, war nach wenigen Augenblicken klar. Marielouise hätte sie am liebsten irgendwo im Personaloffice placiert. Da war auch Madame Julienne Alice de Montserrat, eine frühere Geliebte von Harald, die leider wegen geschäftlicher Verbindungen eingeladen werden musste. Sicher war sie bis vor wenigen Jahren eine attraktive Frau gewesen. Sie sah in ihrer teuren, jedoch unpassenden lila-Abendrobe mit dem auserlesensten Schmuck, der so eng um ihren Hals lag, dass es ihr fast den Atem nahm, aus wie eine Schiessbudenfigur. Die Backenknochen waren zu sehr mit Rouge bedeckt, der Lippenstift zu grell und zu dick aufgetragen und ihr schweres Parfüm ein Albtraum für Marielouise, bei dem es sich nur um "fleur de soleil" handeln konnte, jenes für sie widerliche Parfüm, das ihr beim bereits kleinsten Kontakt stets Migräne auszulösen vermochte. Sie musste dieser Person mit ihrem neidischen Blick aus Adleraugen möglichst fernbleiben. Tante Everilda und Madame de Monserrat, die beiden hinterhältigen Schlangen, ausserhalb ihres Blickfeldes an denselben Tisch zu setzen, war wohl der erlösende Gedanke. Dann waren aber auch all ihre lieben Freundinnen und Freunde anwesend, jene, die sie seit ihrer frühesten Jugend kannten, ebenso die gemeinsamen Bekannten aus dem Golf- und Poloklub, Menschen, die Harald und Marielouise wichtig waren – oder von denen sie dies zu jenem Zeitpunkt zumindest glaubten.

Marielouise stand in ihrem Brautkleid alleine vor dem grossen mit Gold umrahmten Spiegel in ihrer Hochzeitssuite, nachdem sie zu ihrer vollen Zufriedenheit geschminkt und frisiert worden war. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und war unendlich glücklich. Sie sah ihr jugendlich faltenfreies Gesicht, ihren schmalen Körper, und doch erschien sie sich irgendwie fremd.

«Wer bin ich, die da vor mir steht, bin ich das wirklich? In dieser traumhaft schönen Robe?», staunte sie ehrfürchtig. Wo war sie augenblicklich? «Ich bin auf dem Weg in eine Zweisamkeit», dachte sie, «in eine neue unbekannte Lebensform. Auf dem Weg des Abschieds von einem Lebensabschnitt, in dem meine Eltern, meine Schwester das Wichtigste waren. Abschied von meiner Jugend, von meiner Ungebundenheit. Harald, nun bist du in mein Leben getreten, ein Mensch, für den ich eine unendlich tiefe Liebe empfinde, und mit dem ich die Zweisamkeit wagen werde. Ich bitte dich, meinen Gott, beim Aufbau unserer Ehe, unserer Familie, mit dabei zu sein. Denn nur mit deiner göttlichen Hilfe werden wir uns mit voller Liebe begegnen können. Unsere gegenseitige Zuneigung soll tief in unserem Innern leben. Ich bete darum, dass wir sie nie verlieren werden und dass sie uns nie verlassen wird.»

Als Josephine leise das Brautzimmer betrat, sah sie ihre Schwester vor dem Spiegel stehen. Marielouise nahm sie gar nicht wahr. Sie war in Gedanken versunken. Josephine blieb in der hintersten Ecke der Suite stehen. Sie überliess Marielouise noch ihren Gedanken und wollte diese feierliche Stille nicht unterbrechen. «Wie hübsch sie aussieht, meine grosse Schwester, meine Malie. Nun ist sie eine erwachsene Frau geworden, eine wunderschöne Frau mit einem einzigartigen Leuchten und Strahlen in den Augen.»

Dann trat sie hinter Marielouise, küsste sie auf ihr Haar und betrachtete sie ebenfalls im Spiegel. «Du bist hübsch, so hübsch, meine grosse, kleine Malie. Du bist die schönste Braut die mir je begegnet ist. Du siehst so glücklich aus», sprach sie mit bewegter Stimme weiter», «gib eurem Leben die volle Aufmerksamkeit, heute, gerade jetzt, nicht erst im Morgen. Ich liebe dich, Malie – du hast deinen Weg gefunden!» Marielouise wandte sich ihrer Schwester zu, umarmte sie und erwiderte: «Ja, ich bin unendlich glücklich. Ich spüre, dass sich zwei Seelen begegnet sind, die, so hoffe ich sehr, glücklich sein werden. Mögen sie auch stets die Grösse haben, einander dank ihrer Liebe vergeben zu können. Ich wünsche mir für dich, Josephine, dass du irgendwann auch deiner grossen Liebe begegnest und genauso glücklich sein wirst.»

«Weisst du noch, wie du dir, damals als 7-jährige, unerlaubterweise mit Mutters wohlgehütetem Hochzeitsschleier dein Gesicht verhüllt hast, neben dir Oskar, unser Dackel, mit Vaters schwarzem Hut auf dem Hundekopf? Wie Oskar dann plötzlich, während du versuchtest, seine rechte Vorderpfote in dein Händchen zu nehmen, zu knurren begann und seine Kopfbedeckung in tausend Stücke zerriss?» Josephine musste lächeln bei dieser Erinnerung. Wenig später traf Harald unbemerkt im Brautzimmer ein, um seine zukünftige Frau alleine, so wie er sich das stets gewünscht hatte, für die Trauzeremonie abzuholen. «So meine Damen, seid ihr fertig?» Marielouise fiel ihrem zukünftigen Mann um den Hals und Josephine verabschiedete sich von den beiden mit einer zärtlichen Umarmung.

«Dies ist wohl einer der bedeutendsten Augenblicke in meinem Leben», begann Harald mit bewegter Stimme. «Die Frau, von der ich ein Leben lang geträumt habe, vor den Traualtar zur führen. Und ich spüre dabei, dass der Segen meiner Eltern uns begleiten wird.»

Die kirchliche Trauung fand, dank besonderer Beziehungen von Harald zu der Besitzerstiftung, in der 1897 erbauten Bürgenstock-Kapelle statt, in jenem Gotteshaus, in dem früher schon Audrey Hepburn und Mel Ferrer heiratete. «Einen Menschen lieben, heisst einwilligen mit ihm alt zu werden.» Diese schlichten aber gewichtigen Worte des Geistlichen nach einem Zitat von Albert Camus waren der Leitgedanke der Hochzeitszeremonie.

«Lasst uns alle beten darum, dass ihr beide, Harald und Marielouise, dank eurer gegenseitigen Liebe und Gottes Beistand, dieses Ziel erreichen dürft. Versucht nicht, euch gegenseitig ändern zu wollen, liebt euch so, wie ihr augenblicklich seid in euren jungen, aber auch später dann in euren gereifteren Jahren. Das Leben hat viel Wunderbares zu bieten, bemüht euch stets, es auch zu sehen und mit Dankbarkeit anzunehmen.»

Der Empfang nach der Eheschliessung mit Champagner und edelsten Weinen fand auf der herrlichen Terrasse mit Blick auf den Vierwaldstättersee statt. Die Silberplateaus mit Lachs-, Kaviar- und Gänselebercanapés wurden von der attraktiven Bedienung herumgereicht, die Champagnerbowlen immer wieder aufgefüllt, so dass innerhalb kurzer Zeit die anfänglich formelle Atmosphäre einem lauten frohen Geplauder wich. Marielouise fühlte sich glücklich inmitten dieser illustren Gästeschar, als Mittelpunkt des Tages, als Perle des Anlasses. Sie genoss es, sich mit ihrem langen weissen Hochzeitskleid aus exklusivster Seide und Organzablütenschleppe, extra für sie von einem Schweizer Modeunternehmen entworfen, zu bewegen. Den weissen Schleier aus edelstem Tülle liess sie sich immer wieder ins Gesicht fallen, um ihn dann mit ihrer linken Hand, an der sie den hochkarätigen und mit Brillanten besetzten Ehering trug, in ihrem hell blondierten Haar neu zu drapieren. Die mit weisser Seide bezogenen Pumps mit zu hohen Absätzen schmerzten zwar, doch sie liess sich nichts anmerken und schwebte einer Königin gleich über die Terrasse. Auch Harald war glücklich und überzeugt, dass er sich heute mit der schönsten und charmantesten Frau der Welt vermählt hatte. Wie lange schon träumte er davon, eine solche Ehe eingehen zu können!

Er war ein gerne gesehener Gast auf Partys und sonstigen Anlässen, die Frauen lagen ihm zu Füssen, warfen sich ihm oft geradezu an den Hals und waren immer sehr schnell bereit, das Letzte zu geben, um ihn, so wenigstens glaubten sie, als glänzende Partie fürs Leben an sich binden zu können. Natürlich genoss er über viele Jahre das Jetset-Leben, konsumierte im Übermass, war an jedem Grossanlass zu sehen, an jeder Erst- und Uraufführung von Oper und Theater, an jedem Opening, an jeder grösseren Vernissage von namhaften Künstlern, stets in Begleitung von auffallend hübschen jungen Damen. Er sorgte für Schlagzeilen in der Boulevardpresse, erschien in Tages- und Sonntagszeitungen, gelegentlich auch in Fernsehsendungen über nationale und internationale Prominenz, was ihm allerdings gar nicht angenehm war. Wahrscheinlich suchte Harald stets jene Liebe und Zärtlichkeiten, die er schon früh in seinem Leben vermissen musste. Zu oft fühlte er sich geradezu missbraucht von seinen Partnerinnen, vor allem dann, wenn es zu augenfällig war, auf was sie es abgesehen hatten. Wenn die eine zu offensichtlich an der Zürcher Bahnhofstrasse vor allen grösseren Juweliergeschäften stehenblieb und Harald mit süsser Stimme zu überzeugen versuchte, dass er doch mit ihr die grossartigen Schmuckkollektionen bestaunen solle. «Schatz, nur für einen kurzen Augenblick, ich mache mir allerdings nicht viel aus Schmuck, mich interessiert vor allem das Design des Interieurs dieses Geschäftes.» Oder, wenn eine Wochenendbegleitung die Besuche in den teuren St. Moritzer Boutiquen zu ihrer Freizeitbeschäftigung machte, um Harald dann vor dem Schlafengehen im aufreizenden Negligé beiläufig erotisch säuselnd mitzuteilen, dass sie die Rechnung für ihre bescheidenen Einkäufe habe ins Hotel schicken lassen. «Nur eine Kleinigkeit, mein Liebster, ich konnte, vor allem dir zuliebe, einfach nicht widerstehen, du kennst doch meine Vorlieben für schlichte Mode.» Dann fühlte er immer häufiger eine riesige Wut sich selbst gegenüber. «Warum lasse ich mir von diesen Weibsbildern so viel bieten, mich ausnehmen wie eine Weihnachtsgans nur wegen etwas Sex und vermeintlichen Zärtlichkeiten – alles Berechnung ihrerseits, keine Gefühle ausser für mein Bankkonto. Such dir endlich jene Frau, die dich deinetwegen liebt, die auch ohne deinen Reichtum mit dir zusammen sein würde!» Es begann ihn anzuwidern, sich dauernd aus solchen Affärchen hinausschleichen zu müssen, vor allem, weil sich dabei der weibliche Charme allzu oft in Hass und Bosheiten verwandelte. Er wollte einfach glücklich sein mit einer liebevollen Frau, mit einem wunderbaren Menschen. Er wollte geliebt werden. Mit Marielouise hat er die Frau gefunden, die ihn wirklich aus ganzem Herzen liebt.

Haralds Eltern starben 1941 bei einem Flugzeugabsturz, als er neun Jahre alt war. Als Einzelkind wuchs er bei seinen Grosseltern mütterlicherseits auf, besuchte ab dem 12. Lebensjahr das Lyceum Alpinum in Zuoz, eine Internatsschule im Oberengadin und bestand 1952, zwar knapp, die Maturitätsprüfung. Der so unerwartete Verlust beider Eltern war für seine Umwelt längst vergessen, für ihn aber blieb dieses schreckliche Ereignis stets präsent. Er hatte niemanden, mit dem er hätte darüber sprechen können, seine unverarbeitete Trauer lebte täglich mit ihm und liess ihn eigentlich nie zur Ruhe kommen. Wohl hatte er keine finanziellen Sorgen, da seine verstorbene Mutter aus einer äusserst begüterten Industriellenfamilie stammte und er, nach dem Hinschied beider Grosseltern, als Alleinerbe ein Riesenvermögen antreten konnte. Er war sich aber bewusst, dass all sein Reichtum die nur kurz erlebte Elternliebe niemals ersetzen würde. Nur zu gut erinnerte er sich an die Zärtlichkeiten seiner Mutter, wie sie ihm liebevoll mit ihrer feinfühligen schlanken Hand über sein krauses Haar strich. Er erinnerte sich auch an die gütige fürsorgliche Wesensart seines Vaters, vor allem aber an den anfänglich kaum aushaltbaren Schmerz und die Sehnsucht, die er nach deren plötzlichen Tod verspürte.

Die Einsamkeit in seiner Seele war trotz der Liebe und Bemühungen seiner Grosseltern oft fast unerträglich. Freunde hatte er nur wenige. Harald war auch im Internat eher ein Einzelgänger, hatte Mühe, sich einer Clique von Studenten anzuschliessen, auch gegenüber den Studentinnen war er zurückhaltend mit seinen Gefühlen und Emotionen. Nur einmal verliebte er sich in eine südamerikanische, temperamentvolle Studentin, fühlte sich glücklich und verstanden. Nach Abschluss der Examina verliess diese die Schweiz für immer, was für Harald unbegreiflich und schmerzlich war. Er hätte sich ein Leben mit ihr vorstellen können. So begann er dann in Zürich an der Eidgenössisch Technischen Hochschule sein Architekturstudium, im Hinblick natürlich, einmal die Zementfabrik seiner Grosseltern im Kanton Aargau übernehmen zu können. In kürzester Zeit beendete er sein Studium mit grossem Erfolg, doktorierte "Über die Erhärtungszeit des Zementes in Abhängigkeit klimatischer Veränderungen" und übernahm mit knapp 30 Jahren den familiären Betrieb. Der Einstieg ins Berufsleben war schwer, Harald musste sich in die Zementbranche einarbeiten, und dies war in seiner Position als so junger Chef natürlich nicht einfach. Er war sich der Gefahr bewusst, Rivalitäten herauf zu beschwören, so dass er sich ganz vorsichtig mit den einzelnen deutlich älteren Mitarbeitern des Kaders beschäftigte, dies im Bewusstsein, dass er seine Chefposition klar strukturiert und stilvoll markieren musste. Da waren Kaderleute, die ihm anfänglich mit grosser Skepsis begegneten, oft auch belehrend, herablassend. Aber mit der Zeit konnte er durch sein erarbeitetes Fachwissen und seine starke persönliche Ausstrahlung eine natürliche Autorität aufbauen, die mit wenigen Ausnahmen akzeptiert und anerkannt wurde. So gelang es ihm, nach anfänglich doch schweren Rivalitätskämpfen mit Entlassungen als deren Folge, die «Zement CH AG» auf Erfolgskurs zu bringen.

Die Hochzeitsreise war für Marielouise eine totale Überraschung. Ausser dem Kofferpacken mit Inhalt für wärmere Temperaturen war sie völlig ahnungslos. Als sie dann aber im Hafen von Monaco in eine alleine für sie reservierte Privatjacht eincheckten, da erahnte Marielouise, welch traumhafte Flitterwochen ihnen bevorstanden. Sie kam sich vor wie eine Märchenprinzessin. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, glaubte sie zu träumen, wenn sie die Augen wieder öffnete, erlebte sie die kaum glaubhafte Realität. Beide genossen das Alleinsein, das Verwöhntwerden durch die diskrete Crew, das gegenseitige Zusammensein zur Erfüllung ihrer ersehnten körperlichen Wünsche. Landgänge auf einsamen Inseln, Nachtessen in den auserlesensten Restaurants entlang der Côte d`Azur. Marielouise und Harald waren einfach nur glücklich.

3. Familie und Alltag

Josephine war vier Jahre jünger als ihre Schwester. Äusserlich sahen sie sich überhaupt nicht ähnlich, allerdings in ihrer Wesensart kam zum Ausdruck, dass sie Schwestern waren. Beide waren Frohnaturen, unkompliziert, intelligent, feinfühlig und einfühlsam. Sie mochten Menschen. Ihre Eltern, Rolf und Lea Römer, versuchten, ihren Töchtern stets Vorbilder zu sein. Sie waren beide sehr religiös, und es war ihnen wichtig, Marielouise und Josephine im christlichen Glauben zu erziehen. Vor allem Vater wollte den beiden Töchtern seine Religiosität aufzwingen, was, je älter diese wurden, in ihnen immer mehr Abneigung und Widerwillen der christlichen Kirche gegenüber auslöste. Sie wollten ihre religiöse Selbständigkeit erlangen, sich ihren Glauben selbst definieren und sich nichts vorschreiben lassen. «Gewähre deinen Töchtern ihre religiöse Freiheit», beschwörte Mutter den Vater, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. «Sie sollen ihren eigenen Gott erschaffen können. Bedenke, dass sie vernünftig und vor allem alt genug sind zu entscheiden, in welcher religiösen Welt sie leben wollen.»

All zu lange Tischgebete und der sonntägliche Gottesdienst gehörten allerdings über Jahrzehnte zum Familienritual, sich dagegen zu sträuben blieb meist ohne Erfolg. «Wir sind privilegierte Gotteskinder, tragt Sorge dazu, lebt jeden Tag ein Leben, das euch abends erlaubt, mit reinem Gewissen in den Spiegel zu schauen», ermahnte Vater mehrmals täglich seine Familie. Mit der Zeit wurde dieser Ausspruch für Marielouise und Josephine nur noch zu einer witzig grotesken Bemerkung, über die sie sich insgeheim lustig machten. In späteren Jahren aber erinnerten sie sich oft wehmütig an Vaters wohlgemeinte Worte.

Rolf Römer hatte als junger Familienvater während Jahren mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Es gab Zeiten, da wusste er kaum, wie er seine Familie ernähren sollte. Anfänglich schien seine Berufslaufbahn als Modedesigner gut anzulaufen, er erhielt Aufträge von verschiedenen renommierten Firmen im In- und Ausland. Dann aber, als Folge der immer wiederkehrenden Krisenjahre in der Textilindustrie, brach innert kurzer Zeit sein gut angelaufener Start zusammen. Die Nachkriegsjahre hinterliessen immer mehr ihre Spuren, die Löhne der Textilarbeiter waren miserabel, die Konkurrenz wurde stets grösser, Billigarbeit war gefragt. Man musste sich neu orientieren in dieser Branche. Qualität lag häufig nicht mehr im Vordergrund. Textildruck, Färben von Stoffen sowie Herstellen von Garnen und Geweben wurden vermehrt ins Ausland ausgelagert. Die St.Galler Stickerei verlor zusehends an Bedeutung. Viele Stickereifirmen mussten als Folge davon ihren Betrieb schliessen und ihr Personal entlassen.

Rolf verlor oft Mut und Kraft in seinem Beruf weiter zu arbeiten, oft war er nahe daran, alles aufzugeben und sich einer anderen Berufsrichtung zuzuwenden. Aber die Stärke von Lea, ihr fester Glaube an ihn und seine Begabung gaben ihm letztendlich den Mut, in der Textilbranche weiter zu machen. «Gib nicht auf, das wäre zu schade, wir werden es zusammen schaffen, ich kann mitverdienen, du bist begabt. Wir werden diese Krise irgendwie schon meistern. Denke an den Zusammenbruch der Stickereiindustrie anfangs des 20. Jahrhunderts. Damals ging es auch weiter, jeder Krise folgt erfahrungsgemäss ein Neuanfang», so munterte Lea ihren Mann auf.

Die Aufträge blieben grösstenteils aus, so dass er seine wenigen, aber ausgezeichneten Arbeitskräfte entlassen und sich vor allem deshalb räumlich verkleinern musste. Nur dank dem unglaublichen Einsatz seiner Frau – sie liess sich nach einer Kurzausbildung zur Hilfspflegerin in einem Bezirksspital als Nachtwache anstellen – konnten sie überleben. So arbeitete Rolf später in einer Textilfabrik, anfänglich zu kärglichen Bedingungen, konnte sich aber im Laufe der Jahre zum ersten Designer emporarbeiten und wurde schliesslich Chef einer ganzen Abteilung. Lea liess sich zusätzlich zur Kosmetikerin ausbilden, später noch zur Maskenbildnerin und wechselte zum Stadttheater St. Gallen, wo sie Teilzeit arbeitete. Schauspieler und Schauspielerinnen optisch zu verändern, durch Modelliermassen, Farben und ihre eigenen erlernten Tricks als andere Wesen erscheinen zu lassen, war für sie stets eine neue grosse Herausforderung.

Das kreativ Künstlerische lag wohl in den Genen dieser Familie. Marielouise erlernte zusätzlich den Fotografenberuf, nachdem sie kurz zuvor die Ausbildung zur Modedesignerin abgeschlossen hatte. Später arbeitete sie für mehrere Modemagazine und war selbst einmal als Fotomodell auf der Titelseite einer Frauenzeitschrift zu sehen, dies, kurz bevor sie Harald begegnete. Josephine studierte Kunst an der Kunstschule in Berlin, arbeitete darauf für einen Hungerslohn in verschiedenen Auktionshäusern, später, zum grossen Stolz ihrer Eltern, noch einige Monate im Museum Of Modern Art in New York und liess sich schliesslich in einer der bekanntesten Schweizergalerie anstellen.

Römers schienen eine intakte Familie zu sein, die ihr Leben meisterte, obwohl ihr Alltag oft nicht problemlos verlief. Ob dies vor allem Vaters übertriebener Frömmigkeit zu verdanken war, blieb dahin gestellt.

«Du hast mich geprägt, Vater, deine Begeisterung für die Mode ist wohl auf mich übersprungen», äusserte sich Marielouise Jahre später während ihrer Ausbildung. Sie spazierten gemächlich, Vaters Hüftleiden wegen, der Sitter entlang. «Ich bin dir dankbar dafür, auch für dein Ausharren damals, als du mit grossen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hattest.»

Sie bemerkte, wie Vater sie von der Seite mit leuchtenden, feuchten Augen ansah. Sie war überzeugt, dass sie im Modeberuf glücklich sein würde. «Mich fasziniert das Kreative daran, die Genialität und das Schöpferische dieser Branche», meinte sie weiter.

«Sei dir bewusst, mein liebes Kind», entgegnete Vater, «du wirst selbstverständlich neue Ideen, Vorstellungskraft und Intuition benötigen. Und sei dir im Klaren, Marielouise, dass du dich in diesem Metier nicht auf einen Weg begibst, der mit Rosen ausgelegt ist. Die Dornen dieser Branche werden dich allzu oft verletzen und dir Wunden zufügen, auch wirst du an dir zweifeln, das gehört dazu. Aber schöpferisch arbeiten können ist eine Gnade, und ich würde diesen Beruf jederzeit wiederwählen, wäre ich nochmals so jung wie du!» Marielouise war gerührt, Vaters Einfühlsamkeit ihr gegenüber zu spüren.

«Mode ist nicht nur eine Frage der Kleidung», zitierte Marielouise wiederholt. «Mode hat etwas mit Idee zu tun, damit, wie wir leben!» Dies war einer der Grundgedanken von Coco Chanel, einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der Modegeschichte des 20. Jahrhunderts, einer Frau, die Marielouise besonders verehrte und deren Biografien sie alle gelesen hatte.

Marielouise liebte ihren Beruf als Modedesignerin und Chefredakteurin eines bekannten Modemagazins. Sie mochte schöne, auserlesene Materialien, Stoffe, Seidengewebe, Samt und Chiffon, Satin oder Organza ihrer Zartheit wegen, ebenso schlichte einfache Baumwolle, Baumwoll-Voile, wohl die wichtigste Textilfaser der Welt. Gute Mode sollte ihrer Meinung nach die Weiblichkeit betonen und die Persönlichkeit einer Frau besser zum Ausdruck bringen. Ob es sich dabei um Pumps mit Plexiabsätzen oder um Plateausandaletten des Jungdesigners Calvin Klein, um ein Chanel deux pieces, ein schlichtes Abendkleid aus Seidengeorgette oder um ein einfaches Seidentop zu einer Leinenhose handelte – einzig und alleine war für Marielouise wichtig, dass sich jede ihrer Kundinnen darin wohlfühlen sollte, dass die Mode, die sie trug, auch zu ihrem Typ passen würde. Und darin sah sie ihren Auftrag ihrem Beruf und der Damenwelt gegenüber! Ihr war es auch ein Anliegen, dass Mode nicht nur für die Frau zwischen 20 und 30 kreiert wurde, sondern auch für die Damen, in deren Haut sich das wahre Alter widerspiegelte, trotz sämtlicher meist nutzloser Anti-Aging-Produkte. Nicht jede Frau war mit Anmut versehen! Hautverjüngung durch irgendwelche Techniken, das Unterspritzen von Falten, Fettschürzenoperationen, Bäuche straffen und Brüste verkleinern oder vergrössern aus rein ästhetischen Gründen, waren für Marielouise oft Ausdruck grosser persönlicher Einsamkeit. Ihrer Schönheit wegen zu leiden wurde für viele Damen geradezu eine Passion. Sich gegenseitig zu taxieren aufgrund ihrer Taille oder der Abweichung vom Körperidealgewicht entsprach einem all zu oft ausgesprochenen Diktat. Wie schätzte es Marielouise, für Kundinnen arbeiten zu können, deren Lippen nicht zu einem perfekten Kussmund aufgespritzt waren und die nicht in dauernder Panik lebten, wegen ihrer nicht ganz optimalen Körperfigur vom Angebeteten verlassen zu werden!

Es gab immer mehr Jungdesigner und -designerinnen, denen eine grosse Zukunft in der Modewelt vorausgesagt wurde und die das Interesse von Marielouise erweckten. Sie fühlte sich wohl an Modeschauen, liess sich gerne inspirieren bei diesem Spektakel von Farben, Glanz und Glimmer, Musik, Scheinwerferlicht und den Models, jene, welche vor lauter Schlankheitswahn wahrscheinlich nicht einmal ein ganzes Knäckebrot pro Tag zu sich nehmen durften – einfach ballaststoffreich und kalorienarm musste ihre Ernährung sein! Die Mode der oft magersüchtigen Models war gefragt, dies entsprach nicht Marielouises Ästhetik. Im Gegensatz zu Harald, der umgeben war von seelenlosen Baumaterialien, lebte sie in einer herrlichen Welt, wo alles erlaubt und beinahe nichts verboten war – die Welt der grenzenlosen Kreativität!