Im Schatten der Sünde - Helena von Zweigbergk - E-Book

Im Schatten der Sünde E-Book

Helena von Zweigbergk

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Beschreibung

Die junge Tanja ist vollkommen aufgelöst, als sie zu einer langjährigen Gefängnisstrafe wegen eines Drogendelikts verurteilt wird. Immer wieder beteuert sie unter Tränen ihre Unschuld. Tanja bittet in ihrer Not die Gefängnispastorin Ingrid um Hilfe. Diese möge ihren Exfreund Peter aufsuchen und mit ihm sprechen. Doch Peter wünscht keinen Kontakt mehr zu Tanja. Schon bald erhält Ingrid Drohbriefe, und alle Leute, die Ingrid über Tanja befragen will, sind zu Tode verängstigt und schweigen. Ist Tanja wirklich unschuldig? Und wer bedroht Ingrid? Ein psychologischer Spannungsroman, der die dunklen Seiten einer schicksalhaften Liebesbeziehung beschreibt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 460

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Ähnliche


Helena von Zweigbergk

Im Schatten der Sünde

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

FISCHER Digital

Inhalt

Ich danke Bengt Ohlsson, [...]Ich habe gesehen, wie [...]1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel

Ich danke Bengt Ohlsson, Nina Lekander, Annelie Lindqvist, Jonas Gardell, Birgitta Winberg, Christian Agdur, Mans Gahrton und Tomas Bodström.

Ich habe gesehen, wie es geschah.

Den Ausdruck in den Augen vergesse ich nie. Die Verwunderung. Obwohl er schon eine Weile mit dem Messer misshandelt worden war, schien der Mensch, der gefesselt vor mir lag, fest überzeugt zu sein, dass ihm nichts Schlimmes geschehen würde.

Nicht wirklich.

1. Kapitel

Ich mochte sie nicht. Herr, ich schaffte es einfach nicht, sie zu mögen.

Zuerst verstand ich nicht, warum. Sie hatte an ihrem ersten Tag in der Anstalt meinen Beistand gesucht. Schon am Morgen war sie mir aufgefallen, als die Türen zur Abteilung geöffnet wurden und Kvarnström, der Wärter, sie mit festem Griff hereinbrachte. Er sah ungewöhnlich zufrieden aus, als er sie herumführte. Barsch und zackig zeigte er ihr die verschiedenen Räume und Örtlichkeiten. Hier essen wir, hier ist der Aufenthaltsraum, da sind die Toiletten.

»Und das ist deine Zelle.« Bei diesen Worten verzogen sich Torkel Kvarnströms Lippen, es schien ihn nicht zu kümmern, dass die Frau die ganze Zeit über heftig geweint hatte.

»Ich gehöre nicht hierher«, schluchzte sie.

Ich gehöre nicht hierher.

Kvarnström ließ das kalt. Er schob sie hinüber zu ihrer Pritsche und überließ sie sich selbst, schärfte ihr nur noch ein, um welche Uhrzeit sie an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen hatte.

Ich blieb in der Nähe der Frau, die Tanja hieß, wollte mich aber nicht aufdrängen. Kaum hatte sie mich mit meinem Pastorenkragen erblickt, stürzte sie auf mich zu und brach in meinen Armen zusammen. Ich führte sie in einen kleinen Raum, der für mich, die Sozialarbeiterin Laila und die Psychotherapeutin Ingeborg reserviert ist, um Gespräche zu führen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte.

Ich habe diese Reaktion schon oft erlebt. Bei der ersten Konfrontation mit der Anstalt, in der sie mehrere Jahre absitzen müssen, brechen die meisten zusammen. Das Untersuchungsgefängnis erscheint zuerst schlimmer. Enger, restriktiver. Die Haftanstalt ist weiträumiger. Aber alle, die hier einsitzen, wissen, dass das täuscht. Die langen Gänge mit den kalten Neonröhren an der Decke und den schallschluckenden Kunststoffböden. Das schwache Sausen der Ventilatoren. Fenster, die niemals geöffnet werden. Mauern, die das Leben aussperren.

Viele sind schon zum zweiten oder dritten Mal hier, und wenn sie zurückkommen, grüßen sie mit trotzigem Kopfnicken nach rechts und links. Machen Witze wie, sie seien auf den Knast abonniert. Aber die meisten von denen, die zum ersten Mal hierherkommen, brechen zusammen.

Trotzdem konnte Tanja von ihren Mitgefangenen keinen Trost erwarten. Auf dem Weg zum Sprechzimmer begegneten ihr verächtliche Blicke. Die Insassinnen werden mit der Zeit hart, sie bemitleiden niemanden.

Tanja ergriff meine Hände und wiederholte immer wieder, was sie zu Kvarnström gesagt hatte. Ich gehöre nicht hierher. Das ist alles ein Irrtum. Ich gehöre nicht hierher.

Ich strich ihr über den Rücken und versuchte, sie so gut ich konnte zu beruhigen. Nach einer ganzen Weile ließ das Schluchzen nach und sie hob den Kopf. Zum ersten Mal konnte ich ihr Gesicht sehen. Es war tränenüberströmt, die Wimpern verklebt und die Lider um die blassblauen Augen rot geschwollen. Die zitternden Lippen ausgeprägt voll. Ihre Haut war vollkommen glatt, sie konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein. Sogar jetzt in ihrem Jammer war Tanja hübsch. Und wie sie den Kopf hielt, verriet Trotz.

»Tut mir leid«, sagte sie und wischte sich mit zitternden Fingern die Tränen unter den Augen weg. Ich reichte ihr eines der Papiertaschentücher, die auf dem Tisch gestapelt lagen neben den Sesseln, in denen wir saßen.

»Tut mir leid, aber das alles ist ein Irrtum. Ich sollte gar nicht hier sein. Eine wie ich gehört nicht hierher.«

Ihr Blick wanderte jetzt prüfend an mir herab. Ich stellte mir vor, was sie sah. Meine bequemen Sandalen und die dicken Socken. Die Männerhose, die in der Taille etwas zu eng war, so dass der Bauch über den Hosenbund quoll. Die schwarze Strickjacke über der Pastorenbluse. Mein nicht besonders hübsches Gesicht, umrahmt von dünnem hellbraunem Haar, die kleinen, runden Augen. Als Teenager hätte ich wer weiß was dafür gegeben, wenn sie mandelförmig gewesen wären. In Kitschromanen hatten die Frauen mandelförmige Augen, und ich war fest überzeugt, dass jemand, dessen Augen rund wie Einkronenmünzen waren, vom Leben nichts zu erwarten hatte.

Tanja schob sich ihre Locken zurecht und tastete nach ihren Ohrgehängen und einem Ring, der in ihrem Nasenflügel saß, als wollte sie sich vergewissern, dass meine Durchschnittlichkeit nicht auf sie abgefärbt hatte.

»Ich weiß, ich führe mich auf wie ein kleines Kind, aber ich dürfte gar nicht hier sein. Der Bulle in Arlanda hat sich vertan. Ich habe mit dem Rauschgift in der Reisetasche nichts zu tun. Und jetzt sitze ich hier in diesem beschissenen Gefängnis und rede mit einem Pfaffen …«

Bei dem Wort »Pfaffen« brach ihre Stimme. Ich bemühte mich, meine verletzten Gefühle zu ignorieren. Nicht zu zischen »ich mag dich auch nicht«, gegen alle Vernunft. Herr, ich weiß, Ehrlichkeit ist das, was wir am meisten schätzen, aber in dem Moment musste ich Mitgefühl heucheln.

»Nimm’s mir nicht übel«, sagte Tanja. »Weißt du, ich habe nichts gegen dich oder so. Persönlich, meine ich. Es ist bloß so demütigend, mit all diesen bescheuerten Leuten hier zusammen sein zu müssen, um die man sonst einen Riesenbogen macht, im richtigen Leben, meine ich.«

Ich nickte. Ließ sie reden. Hörte zu. Dann saßen wir eine Weile schweigend da und betrachteten uns gegenseitig.

Mir fiel ein, an wen sie mich erinnerte. An Katrin aus der Oberstufe. Katrin war wahrscheinlich genauso unsicher wie ich, noch dazu kam sie aus einer schwierigen Familie. Ihre Unsicherheit versuchte sie durch Arroganz und teure Klamotten zu kaschieren. Aber damals konnte ich nur sehen, dass sie mich mit Verachtung betrachtete. Eine, die sämtliche Unzulänglichkeiten meiner Teenagergestalt mit schreiend gelber Neonfarbe anstrich. Unter deren boshaften Blicken ich mir wünschte, unsichtbar zu sein.

Einmal teilte unsere Lehrerin Katrin und mich für eine Gruppenarbeit ein. Ich erinnere mich noch gut an das panische Entsetzen in ihrem Gesicht. »Mit Ingrid!«, platzte sie heraus. Mit der grauen Maus, der Langweilerin! Muss ich wirklich mit der was zusammen machen?

Unsere Lehrerin blieb dabei, wir sollten zusammen ein Referat über die Rolle der Zigeuner in Schweden früher und heute erarbeiten. Ich las und schrieb. Katrin warf mir finstere Blicke zu, zupfte an ihren Ringen herum und kaute an ihren perlmuttrosa lackierten Fingernägeln. Schrieb »Mauro Scocco« mit unterschiedlicher Handschrift. Stopfte Unmengen Bonbons in sich hinein, ohne mir welche anzubieten. Nachdem ich, begleitet von ihrem Kauen und Schmatzen, unser Referat fertig geschrieben hatte, fragte sie mürrisch, welchen Teil davon sie vorlesen sollte.

Die Klasse amüsierte sich köstlich über ihren Vortrag, weil sie den langen Text ins Lächerliche zog. Zu allem Überfluss wurde sie auch noch von der Lehrerin für die anspruchsvolle Arbeit gelobt.

Mädchen wie Katrin machen, was sie wollen. Von Mädchen wie Katrin akzeptiert man Demütigungen als eine Art gerechte Strafe für die eigene Unbeholfenheit.

Auch Tanja raubte mir meine Selbstachtung. In was sie mich hineinzog, konnte ich zu Beginn unserer Bekanntschaft nicht ahnen.

2. Kapitel

Anita Lagerström, die Leiterin des Frauengefängnisses, war mittlerweile auch meine Freundin. Wir arbeiteten seit einem Jahr zusammen und kannten uns inzwischen recht gut. Wenn wir mit unseren Tabletts an der Essenausgabe standen, nachdem die Gefangenen gegessen hatten, wusste ich zum Beispiel, dass Anita stets ein Glas alkoholarmes Bier und ein Glas Wasser nahm. Sie wiederum wusste, dass ich sofort anfangen würde, an meinem Knäckebrot zu knabbern, weil ich immer so hungrig war.

Wenn wir über etwas diskutierten, das wir in der Zeitung gelesen hatten, wussten wir ungefähr, was die andere dachte. Anita tendierte zu einer konservativen Haltung, während ich eine liberalere Einstellung hatte.

Ich glaube, insgeheim sympathisierten wir mehr mit der jeweils anderen Haltung, als wir uns anmerken lassen wollten. Anita wollte nur hart erscheinen, weil sie eigentlich ein butterweiches Herz hatte. Ich spielte die linke Rebellin, weil ich sonst immer bis zur Selbstverleugnung nachgab.

Wir sprachen unter uns auch offen über die Gefangenen. Wenn uns ein Außenstehender hätte hören können, hätte er vermutlich gedacht, dass wir ziemlich nachlässig mit unserer Verschwiegenheitspflicht umgingen. Aber zwischen uns herrschte eine Übereinstimmung darüber, dass es so am besten für die Sache war. Wir konnten mehr Gutes bewirken, wenn wir uns gegenseitig kleine Informationsbrocken zuschoben.

Anita schaufelte gelbe Currysauce auf jede Gabel mit Reis und Hühnerfleisch. Sie sah immer zufrieden aus, wenn sie etwas in den Mund stecken konnte, ganz gleich, ob Zigaretten, Kuchen oder Mittagessen.

»Sie hat ganz schön was einstecken müssen«, sagte Anita und meinte Tanjas Strafmaß.

»Eine lange Zeit«, sagte ich.

»Vier Jahre, ja, aber schließlich hatte sie auch ein halbes Kilo Heroin in der Tasche.«

Anita erzählte, dass Tanja nicht vorbestraft war. Kindheit in der Tschechoslowakei, als junger Teenager nach Hökarängen gekommen. Sie hatte in einem Nagelstudio gejobbt und als Kosmetikerin gearbeitet, bevor sie die schicksalhafte Reise nach Thailand machte. Auf dem Flughafen Arlanda hatte der Zoll sie geschnappt. Ihr Verlobter war schockiert gewesen, als er begriff, was sie getan hatte. Im Verhör hatte er erzählt, dass sie in Pattaya ein paar Typen kennengelernt hätten. Er behauptete, Tanja habe sich in einen von ihnen verliebt. Und dass es vermutlich dieser Mann war, der sie überredet hatte, die Tasche mitzunehmen.

»Aber was ist, wenn sie wirklich nicht wusste, dass er Rauschgift darin versteckt hatte«, wandte ich ein und dachte an meine eigenen Zwangsvorstellungen.

Auf Reisen habe ich mir schon oft vorgestellt, dass jemand vielleicht Rauschgift oder irgendwas anderes in meine Taschen getan hat. Dass ich vom Zoll festgehalten werde und immer wieder sage, was Tanja gesagt hat.

»Ja, ja«, erwiderte Anita und wischte sich mit der Serviette den Mund ab, nachdem sie ihren Teller sauber leer gekratzt hatte. »Das sagen sie alle. Mir ist noch keiner begegnet, der ein Drogendelikt zugegeben hätte. Immer war es jemand anders, auch dann noch, wenn sie das Rauschgift in der Unterhose gefunden haben.«

Ich schabte den Rest meiner Portion in den Abfallkübel, der neben der Essenausgabe stand. Wie immer drehte ich dabei das Gesicht weg. Beim Geruch und Anblick der Essensreste im Eimer drehte sich mir der Magen um. Wir holten unseren Kaffee und gingen in Anitas Büro. Weil sie dort rauchen darf, machen wir unsere Pausen in ihrem Zimmer. Anitas Bostonterrierhündin Majken lag in einem Korb unter dem Schreibtisch. Majken lebte bei Anita, weil die neue Frau von Anitas Exmann eine Hundehaarallergie hatte. Anita war darüber überglücklich. Bis dahin hatten sie und ihr Geschiedener sich das Sorgerecht für die Hündin penibel geteilt.

Majken wuselte um unsere Beine, als wir ins Zimmer traten. Sie wusste, dass Anita ihr immer zwei Stück Zucker mitbrachte, wenn sie zurückkam.

»So ist brav. Feiner Hund. So ist brav. Was für ein feiner Hund Mamas kleine Zuckerschnute ist.«

Ich rührte in meiner Kaffeetasse. Zerdrückte den Zuckerwürfel mit meinem Löffel. Es machte mich immer verlegen, wenn Anita in Babysprache mit dem Hund redete. Anita stand da in ihrem großgemusterten blauen Kleid und ließ den Hund kleine Kunststückchen machen, bevor er seine Belohnung bekam.

Draußen schien die Sonne. Es war Anfang Juni, aber schon hochsommerlich warm. Mein Nacken klebte vor Schweiß. Wie üblich hatte ich es versäumt, leichtere Kleidung anzuziehen, als es draußen wärmer wurde.

»Ich bin froh, dass du trotzdem Kontakt zu Tanja gefunden hast«, sagte Anita, als sie sich auf ihren Bürostuhl setzte und eine Zigarette aus der Schachtel angelte. »Es fällt ihr anscheinend ziemlich schwer. Aber das geht vorbei. Sie wird sich bald an den Tagesablauf hier gewöhnt haben.«

»Hat sie selbst auch Drogenprobleme?«, fragte ich.

»Nein, jedenfalls keine größeren.«

»Mir scheint, die anderen in der Abteilung halten ziemlichen Abstand zu ihr«, sagte ich.

Anita seufzte und wedelte den Rauch weg, der in meine Richtung zog. Sie kokettierte immer ein bisschen damit, dass sie rauchte. Besonders mir gegenüber, weil sie mich immer noch als Wächterin der guten Ordnung betrachtete.

»Ja, das kann schon sein. Aber ich verspreche dir, wenn sie ihre Karten klug ausspielt, wird sie hier bald die Größte sein. Das werden alle, die so hoch gepokert haben wie sie.«

Wir tranken unseren Kaffee aus, und ich sah auf die Uhr. Es war halb eins, ich musste zurück in die Stadt.

Auf dem Weg nach draußen ging ich an Tanjas Zelle vorbei. Sie lag zusammengekrümmt auf ihrer Pritsche, das Kopfkissen fest umschlungen. Sie hielt es so, wie Kinder ihr Kuscheltier halten, bevor sie abends einschlafen. Dann wandte sie ihren Blick zu mir und sah mich abschätzig an. Die zärtliche Regung, die ich für einen Moment gehabt hatte, verschwand. Für sie zählte ich nur, wenn ich ihr von Nutzen war.

Früher hatte ich geglaubt, wenn ich Pastorin wäre, würde ich nie mehr ganz unten in der weiblichen Hierarchie stehen. Als Pastorin würde ich einen Platz außerhalb oder oberhalb haben. Und meistens funktionierte es. Mit dir, Herr, habe ich mir meinen Platz erobert. Aber Tanja verwies mich in die untersten Ränge, nur dadurch, dass sie mich ansah.

»Gut, dass du kommst. Hör mal, du musst mir helfen. Bitte, bitte, hilf mir. Ich weiß, dass du es kannst. Ich bin konfirmiert und glaube wirklich an Gott. Ich schwör’s. Ich bin echt total gläubig.«

In ihren Augen war ein Hoffnungsfunke. Sie setzte sich auf und faltete die Hände im Schoß.

Es verschaffte mir Genugtuung, sie darüber aufzuklären, worin meine Aufgabe in dieser Anstalt bestand. Ich erklärte, was Seelsorge bedeutete und dass ich ganz auf die heilende Wirkung des Gesprächs und des Gebetes vertraute.

Die Hoffnung schwand aus ihrem Blick.

»Ich verstehe, was du meinst. Ja, wirklich. Aber ich brauche eine andere Art von Hilfe. Jemand muss Kontakt zu meinem Freund aufnehmen. Er kann mir helfen. Das weiß ich. Kannst du nicht mal mit ihm reden? Er würde dir zuhören, wenn du das da anhast und so.«

Tanja deutete mit dem Kopf auf meinen Pastorenkragen. Ich hätte ihn am liebsten sofort abgenommen. Aber diesmal würde ich kein Referat schreiben.

Es war inzwischen ein Uhr und ich musste dringend weg. Ich sagte, dass wir am nächsten Tag weiterreden könnten. Sie nickte fügsam.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit Verwaltungsarbeiten im Pastoratsbüro. Tanja ging mir die ganze Zeit nicht aus dem Kopf. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht besonders nett zu ihr gewesen war. Gerade als ich »Ausschalten« auf dem Bildschirm anklicken wollte, kam Anders, mein Chef, herein. Er setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches und betrachtete mich schweigend. Das machte er oft. Wenn es jemand anderes gewesen wäre, hätte es mich irritiert. Aber Anders hatte eine sanfte, freundliche Art, einen anzusehen. Als ob er überzeugt war, dass man etwas Interessantes zu erzählen hatte.

Er strich sich über die Stirn und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht.

»Heiß«, sagte er.

Anders hatte Jeans, Sandalen, ein weißes Hemd und einen Cordblazer an. Der oberste Hemdknopf war geöffnet, und um den Hals hatte er ein Tuch geknotet. Es sah rührend unmodern aus. Ich hatte die Strickjacke ausgezogen und den Pastorenkragen abgelegt. Meine Männerhose knisterte synthetisch in der Sonne, die durch das Fenster hereinschien.

Ich machte den Computer aus und drehte mich zu Anders um.

»Kennst du das Gefühl, dass du jemanden, der sich an dich wendet, nicht leiden kannst?«

Anders zuckte die Schultern.

»Natürlich. Aber ich versuche, nicht so zu denken.«

Ich biss mir auf die Lippe.

»Und? Gelingt dir das?«

Anders stopfte seine Pfeife, zündete sie an und saugte den Rauch tief in sich hinein. Er wartet immer damit, bis es sechs war und er Feierabend hatte.

»Nein. Ich erinnere mich da an eine frisch gebackene Witwe, deren Mann ich beerdigt hatte. Sie kam zu mir, voller Schuldgefühle, weil sie nicht genug über seinen Tod trauerte. Im Gegenteil, ich glaube, sie war sogar erleichtert, auch wenn sie es nicht zugab. Um ihre Schuldgefühle loszuwerden, kam sie andauernd zu mir und erzählte in aller Ausführlichkeit, was ihr Mann ihr alles angetan hatte. Sie waren dreißig Jahre lang verheiratet gewesen, entsprechend lang war die Liste.«

Anders schwieg eine Weile. Dann räusperte er sich.

»Bei ihr fiel es mir schwer«, fuhr er fort. »Sie war so schrecklich selbstgerecht. Konnte ihre eigene Rolle in der Ehe einfach nicht erkennen. Ich sollte derjenige sein, der sie verstand, so als müssten Gott und ich ganz selbstverständlich auf ihrer Seite sein. Das ärgerte mich, und manchmal fiel es mir schwer, freundlich zu bleiben.«

Anders wischte die Tabakkrümel in die hohle Hand und zog wieder an seiner Pfeife.

»Bei ihr fiel es mir wirklich schwer«, wiederholte er.

Es wurde wieder still. Anders fragt niemals: Warum fragst du? Er wartet ab.

»Ich erlebe so etwas auch gerade«, sagte ich. »Es ist eine junge Frau in der Anstalt, bei der es mir schwerfällt, ihr gegenüber neutral zu bleiben.«

»Warum sollte es für uns so wichtig sein, neutral zu bleiben?«, sagte Anders. »Wir sind es ja nicht. Tief im Herzen ist man niemals neutral.«

Das stimmte natürlich. Anders ist gut darin, die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. Außerdem kann er gut trösten, denn er erinnert immer daran, dass man auch als Geistlicher nur ein Mensch ist.

Warum war es so wichtig, unparteiisch zu sein?

Weil Tanja jemanden brauchte, der sie gern hatte. Nicht jemanden, der ihr alte Minderwertigkeitsgefühle anlastete, für die sie nichts konnte.

»Hast du Lust, irgendwo noch ein Glas zu trinken?«, fragte Anders.

Er machte die Pfeife aus und steckte sie in die Jackentasche.

Ich war baff. Privat hatten Anders und ich einen eher sparsamen und zurückhaltenden Kontakt. Hin und wieder ein Spaziergang durch den Park, aber dann immer in Verbindung mit einem beruflichen Gespräch. Feierabendbiere hatten wir bisher noch nie zusammen getrunken. Ich war nicht nur verblüfft, sondern freute mich auch. Ich mochte Anders und war während der fünf Jahre, die wir uns kannten, immer neugierig auf ihn gewesen.

Anders ist einerseits sehr offen. Er kann Schwächen und problematische Gefühle zugeben, so wie er es gerade getan hatte. Andererseits ist er verschlossen. Ich vermutete, dass er allein lebte, dass er ein Alkoholproblem gehabt hatte und dass ein Kummer oder eine Enttäuschung ihm zu schaffen machten.

Es war der sechste Juni, der Tag der schwedischen Flagge. Kein Tag, den Anders feiern würde, so viel wusste ich, ohne ihn zu fragen. Er war ein Revolutionsromantiker, der solche nationale Selbstbestätigung verabscheute. Besonders bei einem prosperierenden, bürgerlichen Land wie Schweden.

Der Bus, den wir hinunter nach Kungsträdgården nahmen, hatte sich vorne kleine Flaggen ans Dach gesteckt, und ich sah mehrere kleine Kinder mit Fähnchen in ihren Patschhänden. Wir standen im Bus und schwitzten. Ich lächelte ein Kind an, das in einer Karre saß und mit einem Fähnchen wedelte, das offenbar im Kindergarten gebastelt worden war. Das Kind lachte zurück und streckte mir das Fähnchen entgegen.

»Kagga.«

»Ja, eine schöne Flagge hast du da«, sagte ich und lächelte die Mutter ebenfalls an.

Stolz rückte sie das Hütchen des Kleinen zurecht.

Anders sah hinaus zum Gröna Lund, als der Bus in den Katarinavägen einbog. In Kungsträdgården gingen die Leute in Shorts und dünnen Sommerkleidern spazieren. Meine Schnürschuhe waren zu warm und sahen staubig und hässlich aus. Die Schlange vor dem Eiskiosk war lang; Anders und ich reihten uns ein und schwiegen. Anders seufzte, als der Erste in der Reihe sich angesichts der Auswahl nicht entscheiden konnte. Die Leichtigkeit unseres Ausflugs drohte sich zu verflüchtigen.

Als Anders dran war, entschied er sich rasch, welche Sorte er haben wollte, und bezahlte. Ich bestellte eine Waffel mit Pistazien- und Blaubeereis. Wir gingen ein Stück weiter, bis wir eine freie Bank im Schatten fanden.

Ich warf einen Seitenblick auf Anders. Eine Tüte Eis zu essen und dabei seine Würde zu wahren, ist unmöglich. Es war mir irgendwie peinlich, die Eiskugeln mit der Zunge abzulecken. Anders biss sein Eis in großen, schnellen Happen ab.

»Ich habe ein Problem mit einer der Inhaftierten«, begann ich und hoffte, dass mein Mund nicht eisverschmiert war.

Anders verschlang den letzten Rest der Eistüte und wandte mir sein Gesicht zu.

»Sie sucht Kontakt zu mir, und es fällt mir schwer, sie zu mögen. Ich habe das Gefühl, dass sie mich nur ausnutzen will. Dass sie eigentlich gar nicht an einem Gespräch interessiert ist, sondern dass ich für sie nur Mittel zum Zweck bin.«

Anders nickte leicht, als wollte er mich ermuntern fortzufahren.

»Vielleicht liegt es auch an mir, an meinen persönlichen Erfahrungen mit Menschen, an die sie mich erinnert.«

Anders zog ein halbwegs sauberes Taschentuch aus seinen Jeans und wischte sich den Mund ab.

»Allein schon, dass du dir dessen bewusst bist, ist meiner Meinung nach ein Zeichen dafür, dass du hervorragend damit fertig wirst.«

Ich war skeptisch. Trotzdem beruhigte mich Anders’ Vertrauen. Ich wusste nicht, was ich noch über Tanja erzählen sollte. Ich hätte am liebsten gefragt, wie ich denn damit fertig werden sollte, aber irgendwas sagte mir, dass ich das wohl selbst herausfinden musste.

Ein Mädchen mit verbundenen Augen wurde von kichernden Freundinnen über den Rasen geschoben. Der Mund unter der Augenbinde war zu einem starren Lächeln verzogen. Um den Hals trug sie ein Schild mit der Aufschrift »Gratisküsse – letzte Chance«. Eine der Freundinnen sah zu Anders herüber, entschied sich aber schnell, ihn nicht in das Spiel einzubeziehen.

»Es liegt immer etwas Sadistisches in derartigen Spielen«, sagte Anders und sah finster zu der Gruppe, die sich inzwischen einige Meter weiterbewegt hatte.

»Ja, da hast du wohl recht«, erwiderte ich und sah hinüber zu der zukünftigen Braut, die gerade einen Kuss von einem Würstchen kauenden Typen bekam.

Anders stand auf.

»Wollen wir zurück nach Söder?«, fragte er und warf sich die Jacke über die Schulter.

Wir gingen über die Brücke Richtung Gamla stan. Wasser und Himmel waren märchenhaft blau. Die Möwen schrien. Die Djurgärdsfähre tuckerte übers Wasser, übervoll beladen mit sonntagsfein gekleideten Menschen auf dem Weg nach Skansen oder Gröna Lund.

»Warst du eigentlich mal verheiratet?«, fragte ich Anders und starrte über das Brückengeländer auf schnatternde Enten und stolz dahingleitende Schwäne. Ich übertrat eine Grenze, über die Anders und ich uns stillschweigend verständigt hatten.

Es blieb eine Weile still. Wir gingen vor uns hin.

»Ja, das war ich«, antwortete Anders schließlich.

Ich hielt den Atem an und warf einen heimlichen Blick zu ihm. Er wirkte unbehaglich und gedankenverloren. Wir erreichten Gamla stan. Ich folgte Anders’ Beispiel und fragte nicht weiter, sondern wartete. Und die Fortsetzung kam, als wir begannen, am Skeppsbrokai entlangzugehen.

»Es ist zehn Jahre her, dass wir heirateten, und sieben Jahre, dass wir uns scheiden ließen. Sie hat es nicht mit mir ausgehalten. Fand mich zu kontrollierend. Das war es, was sie sagte, als sie mir erzählte, dass sie einen anderen kennengelernt hatte. Für mich kam das völlig überraschend. Ich hatte keine Ahnung, dass sie unser Zusammenleben so empfand. Sie hatte bis dahin nie ein Wort davon gesagt.«

Anders holte wieder sein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase.

»Das war ein harter Schlag für mich«, sagte er dann.

Ich wandte mich zu ihm um und berührte ihn leicht am Arm. Anders starrte geradeaus.

»Hast du Lust, irgendwo was essen zu gehen?«

Anders drehte mir sein weiches, unebenes Gesicht zu. Er sah aufrichtig erfreut aus.

»Ja, gerne«, sagte er.

Wir gingen die Österlånggata hinunter und schauten in verschiedene Restaurants hinein. Immer noch wortlos. Wir verwarfen eins nach dem anderen, weil sie uns zu laut erschienen. Als wir zu einem kamen, das irgendwas mit Bistro hieß, gingen wir hinein. Die Tische draußen waren alle besetzt, aber drinnen im Lokal gab es mehrere freie Tische. Wir setzten uns, und sofort kam eine Serviererin mit den Speisekarten. Wir vertieften uns eine ganze Weile darin.

Anders blickte als Erster von seiner Karte auf.

»Ich nehme das Lamm«, sagte er. »Und ein Glas Rotwein.«

Ich entschied mich für Hähnchenbrust mit Ricottafüllung und in Safran geschwenktem Spinat. Es klang so ungewöhnlich, dass ich es einfach probieren musste.

»Ich weiß fast gar nichts über dich, Ingrid«, sagte Anders.

Ich zuckte die Schultern.

»Tja, ich weiß nicht … was soll ich erzählen … ich war nie verheiratet oder so …«

Anders lächelte sanft und ich dachte, dass ich vielleicht etwas hätte sagen sollen, was mich interessanter machte.

»Eine Ehe ist ja nicht das Einzige, was einen Menschen auszeichnet«, sagte er und starrte auf eine Art Mus in einer kleinen Schüssel, das die Serviererin zusammen mit etwas Brot auf den Tisch gestellt hatte.

Er nahm ein Stück Brot und tunkte es vorsichtig in das Mus.

»Macht man das so, was meinst du?«

Ich stippte ebenfalls ein Stück Brot hinein. Es schmeckte nach Knoblauch und anderen Kräutern, die ich nicht einordnen konnte.

Als der Wein kam, tranken wir rasch ein paar Schluck. Dann widmeten wir uns wieder unserem Mus. Nachdem wir zuerst nur vorsichtig eine Brotecke hineingetunkt hatten, wurden wir mutiger. Benutzten die Brotscheiben wie eine Schaufel und beluden sie mit größeren Brocken. Anders begegnete meinem Blick gerade in dem Moment, als wir jeder einen Riesenhappen in den Mund schoben.

Er verzog das Gesicht zu einer lustigen Grimasse, als der Geschmack sich im Mund ausbreitete. Ich begann unbeherrscht zu kichern. Jetzt fing auch Anders an zu lachen. Ein herrliches, herzhaftes Lachen. Aus seinen Nasenlöchern kam ein langgezogenes Prusten. Er nahm die Schüssel hoch.

»Was das wohl ist«, sagte er und sah hinein.

»Jetzt müsste Maria uns sehen«, sagte ich, und schon brachen wir wieder in Gelächter aus.

Maria arbeitet in unserem Pastorat, und wir wissen, dass sie sowohl Anders als auch mich für hoffnungslose Fälle hält, was Fröhlichkeit angeht. Sie hat die Rolle der Fröhlichen für sich gepachtet, während wir in ihren Augen zwei echte Schwarzröcke sind.

Wir hatten noch nie gewagt, uns über die Art, wie sie über die kirchlichen Veranstaltungen wachte, lustig zu machen. Wie sie oft seufzte, wenn wir über anstehende Veranstaltungen diskutierten, wie sie ständig bemüht war, die Kirche zu einem Ort der Heiterkeit zu machen, während Anders lieber Gesprächskreise über den Tod einrichten wollte.

Anders erzählte, dass es ihn ärgerte, in Marias Augen ein Langweiler zu sein, der ihr Steine in den Weg legte, wenn sie wieder einmal Tombolas und Kaffeekränzchen veranstalten wollte.

»Ich möchte, dass unsere Kirche mehr ist als das. Sie soll ein Ort der Stille und des Friedens sein. Ja, unter uns gesagt, der Ernsthaftigkeit …«

Als er »Ernsthaftigkeit« sagte, platzte er wieder los. Wir kicherten und gackerten wie zwei Teenager.

Das Essen wurde gebracht. Der Wein in unseren Gläsern war ausgetrunken. Ich wollte noch einen, während Anders mit plötzlichem Ernst in der Stimme ein Wasser bestellte. Das bestätigte meine Vermutung, dass Alkohol ein nicht ganz unkompliziertes Thema für ihn war.

Das Essen schmeckte köstlich. Mein Speisezettel variiert ansonsten zwischen dem Kantinenessen im Gefängnis und Pizza. Als ich das Anders erzählte, öffnete ich einen Spalt breit die Tür zu meinem persönlichen Leben. Anders enthüllte seinerseits, dass er für gewöhnlich Gorbys Piroggen in der Mikrowelle aufwärmte. Manchmal kaufte er Pesto im Glas, den er unter Spaghetti rührte und mit fertig gekauften Tiefkühlfrikadellen aß.

Das mit dem Pesto war eine gute Idee, fand ich und beschloss, es gleich am nächsten Abend auszuprobieren.

»Es gibt roten und grünen Pesto«, erzählte Anders.

»Aber diese Fertiggerichte in Aluminiumschalen mit getrennten Fächern kann ich nicht leiden«, ergänzte er.

Wir beschlossen, dass wir jede Woche ein neues Essen ausprobieren und uns gegenseitig berichten wollten, wenn wir etwas gefunden hatten, was gut schmeckte. Wir einigten uns darauf, dass kein Gericht länger als zehn Minuten Zubereitungszeit erfordern durfte und dass es nicht schwerer zu kochen sein sollte als Nudeln.

»Hast du schon mal Sushi gegessen?«, fragte Anders.

Das hatte ich noch nie probiert. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, rohen Fisch zu essen.

»Ich auch nicht«, sagte Anders, als ich den Kopf schüttelte.

»Vielleicht sollten wir es ausprobieren«, fuhr er fort. »Zusammen, meine ich.«

Anders’ breite, sehnige Hände griffen nach dem Glas Mineralwasser. Er führte es an seinen weichen, sympathischen Mund, und in diesem Moment hätte ich zu jedem noch so merkwürdigen Essen ja gesagt, wenn es nur mit ihm zusammen war.

Wir bezahlten unser Essen, ganz penibel jeder für sich, und gingen nach draußen. Es war kühler geworden und ich kam mir nicht mehr zu dick angezogen vor. Wir wanderten schweigend hinauf nach Slussen. Anders drehte sich zu mir um und sagte, er werde jetzt die U-Bahn heim nach Midsommarkransen nehmen.

»Du fährst sicher mit dem Bus?«, fragte er, weil er wusste, dass ich in der Erstagatan wohne.

Der Sechsundvierziger bog gerade in die Haltebucht ein, und wenn ich mich beeilte, würde ich ihn noch kriegen. Es war genau mein Bus. Trotzdem tat ich so, als sähe ich ihn nicht. Anders und ich standen uns gegenüber und wussten nicht, was wir jetzt tun sollten. Direkt neben uns stand ein Betrunkener. Er schwankte und rief »Scheiße«, immer wieder.

Anders versteifte sich ein wenig, so wie immer, wenn er mit körperlicher Berührung rechnen musste. Er streckte mir die Hand entgegen und ich nahm sie. Sie war feucht und sein Händedruck eine Spur zu fest. Er blinzelte mit den Augen und um seinen Mund zuckte es.

»Tja, also … das war … ich fand es sehr nett, dich ein bisschen näher kennenzulernen«, sagte er.

»Geht mir auch so«, erwiderte ich und beugte mich vor, um ihn zu umarmen.

Anders blieb stocksteif stehen. Klopfte mir unbeholfen den Rücken, als ich meine Arme um ihn legte. Die Umarmung geriet ziemlich flüchtig, da ich keine spontane Erwiderung spürte. Aber das machte nichts. Ich wusste, dass er es eigentlich gern getan hätte.

Anders verschwand die Treppe hinunter zur U-Bahn. Ich schlenderte hinüber zur Bushaltestelle. Es würde eine ganze Weile dauern, bis der nächste Bus kam.

Aber das machte nichts. Ich saß auf der Bank, eingehüllt in den Dunst der Würstchenbude nebenan, und strahlte. Mein Leben war aus dem gewohnten Trott geraten. Wie ein freigelassener Luftballon, der in den Himmel aufsteigt.

Herr, ich war glücklich, als ich da so saß. Egal, was später noch passierte, in diesem Moment war ich glücklich.

3. Kapitel

Am nächsten Morgen, als ich zwischen Schlaf und Erwachen hin und her glitt, in der obersten Traumschicht, wusste ich gleich, dass etwas Besonderes passiert war. Die Sonne blinzelte durch einen Spalt zwischen Fensterbrett und Rollo herein. Das Fenster war angekippt, und der Luftzug ließ die kleinen Wollmäuse wilde Sprünge auf meinem Fußboden vollführen. Meine Hose, die ich nachlässig über den Sessel geworfen hatte, sah dunkel und langweilig aus.

Ich werde mir Sommerkleider kaufen. Leichte, luftige Kleidung. Hell und farbenfroh.

An der Kante der Sesselrücklehne quoll die Polsterung hervor. Der untere Rand des Plakats aus dem Moderna Museet hatte sich gelöst und bog sich nach oben. Die Klebepads hatten fettige Flecken auf der Tapete hinterlassen.

Ich werde staubsaugen und sauber machen und Ordnung schaffen.

Ich strampelte die Bettdecke zurück und zog das weite, ausgebeulte T-Shirt hoch, das mir als Nachthemd diente. Betrachtete meinen Körper. Sah, wie der Bauch sich wölbte, obwohl ich flach auf dem Rücken lag.

Ich kniff hinein.

Ich werde gesünder essen und mich mehr bewegen.

Eine ganze Liste von Veränderungen und Verbesserungen entstand in meinem Kopf. Aber an diesem Morgen fand ich das überhaupt nicht belastend. Ich wollte alles tun, sofort. Singen und pfeifen zur gleichen Zeit.

Anders, dachte ich, als ich aufstand und die Zeitung hereinholte. Andersandersanders. Ich blieb im Flur stehen und betrachtete mich im Spiegel. Immerhin ragten die Brüste noch über den Bauch hinaus. Schenkel und Hintern wölbten sich auch ganz schön prall, aber es soll ja Männer geben, die so etwas mögen.

Vielleicht Andersandersanders.

In der Küche machte ich mir ein Brot. Keine Butter, nur falschen Kaviar mit einem Stück Gurke obendrauf. Ich öffnete die Kleiderkammer. Fischte ein Kleid heraus, das mindestens fünf Jahre alt war, ich hatte es zur Hochzeit meines Bruders gekauft.

Ich zog es an, aber es sah viel zu elegant aus und roch außerdem muffig nach Schrank. Es kniff unter den Achseln und war eigentlich langweilig und spießig. Hellbeige mit einem kleinen runden Ausschnitt. Ich suchte weiter. Fand einen geblümten Rock, den meine Mutter mir im letzten Frühjahr geschenkt hatte, weil er ihr in der Taille zu eng geworden war. Sie fand, ich brauchte Hilfe in Modefragen. Sie sagte es mir zwar nicht mehr direkt ins Gesicht, aber ihre gerunzelten Augenbrauen jedes Mal, wenn wir uns sahen, sprachen Bände. Früher hatte sie immer an mir herumgenörgelt.

»Ach Ingrid, warum ziehst du dich bloß immer an wie eine graue Maus«, war ihre ständige Klage, bis zu dem Tag, an dem ich meinen ganzen Mut zusammennahm und sie anfauchte, dass ich genau so aussehen wollte, und damit basta, ein für alle Mal.

Seitdem hat sie nichts mehr gesagt. Aber die gerunzelten Augenbrauen verraten sie.

Der Rock war ein bisschen bieder. Er hatte einen grünen Untergrund und die Blumen darauf waren rot und rosa. Er reichte bis zur halben Wade, und wenn ich mich schnell hin und her drehte, hatte er einen hübschen Schwung. Das wird gehen, dachte ich und holte eine weiße Bluse heraus. Heute sollte der Pastorenkragen mal im Schrank bleiben.

Beim Blick in den Spiegel war ich recht zufrieden, aber mein Enthusiasmus sank, als es um die Schuhe ging. Die Schnürschuhe von gestern passten schon mal nicht. An die ledernen Winterstiefel mit der dicken Gummisohle war erst recht nicht zu denken. Das einzige Paar Schuhe, das eventuell in Frage kam, waren meine Turnschuhe. Ich hatte in der Stadt gesehen, dass manche Frauen Turnschuhe zum Rock trugen. Damit tröstete ich mich, als ich feststellte, wie komisch das im Grunde aussah. Aber in der Anstalt hatte ich meine Birkenstocklatschen, und gleich wenn ich ankam, würde ich die Schuhe wechseln.

Als ich auf der Straße stand und den Wagen aufschloss, fühlte es sich an, als wollte der Rock wegfliegen. Es zog zwischen den Beinen. Ich trage sonst höchstens einmal im Jahr einen Rock und bin es nicht gewohnt, so nackt zu sein. Meine Beine waren blass und dunkle Haare rankten sich daran hoch. Sollte ich sie abrasieren? Das hatte ich noch nie gemacht, sie hatten mich nie gestört.

Unsinn, dachte ich. An irgendeinem Punkt muss Schluss sein mit der Eitelkeit.

Fliederduft wehte durch das offene Autofenster herein. Als ich vor der Anstalt parkte, war der Blumenduft verschwunden. Das graue Betongebäude sah tatsächlich aus wie ein Gefängnis, fiel mir plötzlich auf. Vielleicht sollte ich mit Anita reden, ob man nicht ein paar Blumenstauden in den Garten setzen konnte. Jetzt war da nichts als kurz gemähter Rasen.

Kvarnström starrte unverhohlen auf meinen Rock.

»Gibt’s was zu feiern?«, fragte er mit seiner Nörgelstimme.

Heute war ich unbesiegbar.

»Ja, dass es Sommer geworden ist.«

Torkel Kvarnström versuchte den Kragen zu lockern, ohne sich einen einzigen offenen Knopf an der grauen Uniformjacke zu gestatten.

»Na dann«, sagte er kurz.

Vor ein paar Monaten hatte ich Torkel Kvarnström gefragt, ob wir nicht mal einen Kaffee zusammen trinken sollten. Bis dahin, während meiner anstrengenden ersten Zeit im Gefängnis, hatte er nichts unversucht gelassen, mir das Leben schwer zu machen. Aber eines Tages sah ich seinen runden Bauch, die Wurstfinger und dass der Zug um seinen Mund eher verdrossen als boshaft war. Da fragte ich ihn. Ich weiß nicht, wie er es auffasste. Er wirkte ziemlich erschrocken. Aus dem gemeinsamen Kaffeetrinken ist nie etwas geworden. Aber seitdem war er nicht mehr ganz so darauf aus, mich zu piesacken.

Kvarnströms mächtige Hinterbacken saßen sehr hoch, fiel mir auf, als ich hinter ihm den Korridor entlangging, der in die Frauenabteilung führte. So als würde er sie die ganze Zeit zusammenkneifen. Wieder regte sich Mitgefühl in mir. Heute Nachmittag sollte es sein. Direkt vor dem Eingang der Anstalt standen ein Tisch und ein paar Stühle. Ich würde eine Thermoskanne Kaffee mit nach draußen nehmen.

Es wurde sehr still, als ich den Flur hinunterging. Die Insassinnen Marja und Pirjo kicherten hinter meinem Rücken.

»Hilfe, eine Gardine auf der Flucht!«, hörte ich Marja rufen, und dann brach ein gemeines Gelächter los.

Das gab mir doch einen kleinen Stich. Als ich bei Anita hereinschaute, war mir mein neues Outfit beinahe schon peinlich. Sie blinzelte durch den Rauch und stieß einen Pfiff aus.

»Ingrid! Du hast dich ja schick gemacht! Ist was passiert?«

Ich merkte, wie ich rot wurde. Blieb in der Tür stehen, anstatt hineinzugehen.

Anita lachte.

»Aha, so ist das! Wie schön! Nachher beim Essen musst du mir alles genau erzählen!«

Ich grinste und zog die Tür von außen zu. Dann machte ich mich auf den Weg zu Tanjas Zelle. Ließ den Rock extra ein bisschen schwingen, damit nur keiner auf die Idee kam, dass ich mich unsicher fühlte. Tanja war nicht in ihrer Zelle. Ich schaute in den Speiseraum. Dort sah ich Gun allein an einem Tisch sitzen. Sie lachte mir zu.

»Hei«, sagte sie und widmete sich wieder ihrem Essen.

Gun und ich kannten uns von früher. Sie hatte mir ein schweres Verbrechen gestanden, nämlich wie sie ihre Nachbarn umgebracht hatte. Inzwischen war unser Verhältnis freundschaftlich, aber zurückhaltend. Unsere Begegnung war für uns beide schwer gewesen, und wir mussten uns immer noch davon erholen. Wie üblich, wenn wir uns sahen, fragte ich, ob es ihr gut ginge, und sie bejahte. Dann sagte ich »bis später«, worauf Gun selten etwas erwiderte. Aber meistens lächelte sie.

In einer Ecke des Speiseraums sah ich Tanja. Sie unterhielt sich eindringlich mit Kerstin, einer Frau, die mir schrecklich leid tat. Kerstin hatte an ihrem Arbeitsplatz Geld unterschlagen. Sie war spielsüchtig, und jetzt hatten sich alle von ihr abgewandt, der Mann, die Tochter, die Eltern. Tanja redete auf Kerstin ein. Kerstin nickte hin und wieder. Ich konnte nicht hören, worüber sie redeten. Tanja hatte sich weit über den Tisch gebeugt und sprach leise.

Tanja sah sich hastig um, als wollte sie sichergehen, dass niemand zuhörte. Als sie mich entdeckte, zuckte sie zusammen. Ein schneller Blick zu Kerstin und dann sah ich, wie ihre Lippen ein »bis nachher« formten. Sie stand auf und kam auf mich zu. Ihr Tablett ließ sie auf dem Tisch stehen.

»Vergiss das Tablett nicht«, sagte ich, und Tanja machte auf dem Absatz kehrt und holte es. Sie ließ den Blick suchend durch den Raum schweifen und entdeckte den Abräumwagen. Sie schob das Tablett ziemlich heftig hinein, sodass das Glas darauf umkippte. Milch schwappte auf den Fußboden und ergoss sich über Tanjas Turnschuhe.

»Mist, verdammter«, schimpfte sie und blickte sich wieder suchend um, diesmal nach etwas zum Aufwischen.

Ich zog Papierservietten aus dem Spender und hielt sie ihr hin. Sie nahm sie und wischte die Milch auf, verärgert und fahrig. Dann drehte sie sich wieder zu mir um, die schmutzigen Servietten in einer hilflosen Geste von sich gestreckt. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht. Schließlich stopfte Tanja sie in das Glas auf dem Tablett.

»Hallo, Ingrid«, sagte sie und starrte auf meinen Rock.

»Du bist ja heute so …«

Sie suchte nach einem passenden Wort.

»… verändert … schick …«

Ich dachte an Anders, damit er mir half, meine Unsicherheit zu verscheuchen.

»Wollen wir reden?«, fragte ich Tanja.

Wir setzten uns an einen Tisch. Gun schlurfte aus dem Speiseraum, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Kerstin ging ebenfalls ohne ein Wort hinaus, sah aber zu uns herüber.

»Wie fühlst du dich heute?«, fragte ich Tanja.

Ein dünner Tränenschleier legte sich wieder über ihre Augen.

»Beschissen«, sagte sie und schniefte.

»Hier bleibe ich keine Sekunde länger als nötig. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber du musst mir helfen, bitte. Ich bin bestimmt nicht immer das bravste Kind auf Gottes Erdboden gewesen und so, aber ich verspreche dir, wenn du wirklich eine gute Tat vollbringen willst, dann hilf mir. Es ist völlig falsch, dass ich hier bin, verstehst du. Ich bitte dich wirklich nur um diesen einen Gefallen.«

Ich sagte nichts, wartete nur darauf, dass sie weitersprach. Tanja suchte in meinen Augen nach einer Reaktion, aber ich gab mir Mühe, so neutral wie möglich auszusehen.

»Er heißt Peter. Mein Freund. Na ja, vielleicht bezeichnet er sich nicht mehr als meinen Freund, aber für mich ist er es. Wird es immer sein.«

Eine Träne fiel ihr aus dem Augenwinkel.

»Wir sind mit einem von Peters alten Kumpels nach Thailand geflogen. Obwohl, eigentlich war es wohl eher Zufall, dass er im selben Flugzeug saß. Wir waren in Pattaya und alles war wunderbar. Er und der Typ, den er da unten kannte, waren ziemlich durchgeknallt, sie rauchten Gras und so, aber Peter und ich nicht. Wir waren einfach nur mit denen zusammen. Banjo, so heißt Peters Kumpel, war wohl irgendwie an mir interessiert. Aber ich habe mir nicht viel daraus gemacht. Ich liebe doch nur Peter. Und du weißt ja, wie das ist, wenn man jemanden liebt.«

Ich nickte kurz und versuchte, ein selbstsicheres Gesicht aufzusetzen. Eigentlich hatte ich keine Ahnung.

»Man will immer nur den einen. Keinen anderen. Als Peter anfing zu sticheln, dachte ich deshalb zuerst, er macht Spaß. Ich habe Banjos Anbaggerei auch nicht so ernst genommen. Aber als wir von Bangkok wieder nach Hause fliegen wollten, war die Stimmung ganz schön im Eimer. Nicht, dass man es nicht hätte wieder hinbiegen können, ich dachte noch, wenn Peter und ich erst mal zu Hause sind und uns ausgesprochen haben, kommt alles wieder in Ordnung. Im Flugzeug blieben Banjo und sein Kumpel Lasse dann auch für sich. Peter war irgendwie ganz abwesend, aber wenn ich seine Hand nahm, zog er sie jedenfalls nicht zurück. Und dann, als wir gelandet waren, passierte das da …«

Tanja fing wieder an zu weinen.

»Verdammt, Ingrid, ich schwör’s dir. Das ist so ein Albtraum. Als der Zoll mich rauswinkte, war ich noch nicht mal beunruhigt. Peter stand draußen und wartete auf mich. Eine Zöllnerin zog ein kleines Messer hervor und schnitt den Boden meiner Reisetasche auf. ›Was machen Sie denn da‹, hab ich geschrien, ›Sie machen ja die ganze Tasche kaputt!‹ Aber dahinter lagen Plastikbeutel mit einem weißen Pulver drin. Mehrere. Es war wie in einem Film. Ich, die noch nie Rauschgift aus der Nähe gesehen hatte, kapierte natürlich, dass es so was sein musste. Ich sah Peter ein paar Meter entfernt stehen, er blickte zu mir herüber. Ich schrie nur noch. Peter kam angerannt. ›Jemand hat Rauschgift in meiner Tasche versteckt!‹, schrie ich. ›Irgendein Scheißtyp hat mir das hier untergeschoben!‹«

Tanja stocherte mit einem Streichholz in einem überquellenden Aschenbecher.

»Irgendein Scheißtyp, und ich weiß nicht, wer.«

Ich war in Gedanken auf dem Flughafen Arlanda. Sah den Triumph hinter den zusammengepressten Lippen der Zollbeamten vor mir, als sie auf den großen Fang stießen. Die Konzentration auf diesen Moment. Tanjas panische Blicke treffen auf die unbeweglichen, scharfen Augen des Beamten. Ihre Gedanken zersplittern in tausend Stücke, unmöglich, auch nur die schwächste Kette zu bilden. Sie sehnt sich nach Peter, nach der Sicherheit, nach dem normalen Alltag, der ihr bis dahin so selbstverständlich gewesen war.

Tanja war ebenfalls dort. Sie verschwand in der grau gemusterten Tapete.

»Er hat mir nicht geglaubt«, sagte sie leise. »›Was zum Teufel hast du getan?‹, schrie er. ›Wusst ich’s doch, dass du irgend so’n Scheißding am Laufen hast. Ich hab doch gemerkt, dass da was war. Du und Banjo, das ist ja zum Kotzen. Das hätte ich nie von dir gedacht. Dass du so weit gehst, hätte ich echt nicht gedacht!‹«

Tanja strich sich langsam eine Locke aus dem Gesicht. Immer noch wie in einem Schockzustand.

»Die Zöllner haben seine Reisetasche gefilzt und nichts gefunden. Ich habe mir natürlich die Augen ausgeheult, aber das hat ihn nicht gekümmert. Ich versuchte, seinen Arm zu nehmen, aber er fauchte gleich los. ›Fass mich nicht an‹, sagte er. ›Fass mich verdammt nochmal nicht an.‹«

Den Rest erzählte Tanja mechanisch. Wie sie direkt vom Flughafen in die Untersuchungshaftanstalt gebracht worden war. Dass sie mehrere Tage lang stumm war. Nicht mal weinte. Nichts, was irgendjemand sagte, drang bis in ihr Bewusstsein vor. Sie verweigerte eine ganze Woche lang jede Nahrung. Als sich das Brausen in ihrem Kopf gelegt hatte, war ihre erste Frage: Wo ist Peter? Sie hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört. Die Polizei hatte ihn vernommen, wie Tanjas Verteidiger erzählte, aber sie hatten nichts gefunden, was ihn in den Verdacht einer Straftat gebracht hätte.

»Aber …«

Das Sprechen fiel auch mir schwer.

»Aber bist du sicher, dass es nicht der andere Typ war, der das Rauschgift in deine Tasche geschmuggelt hat?«

Tanja schüttelte den Kopf.

»Ich habe natürlich daran gedacht, das kannst du dir ja vorstellen. Aber er war es nicht. Banjo … nein, wenn du ihn kennen würdest, wüsstest du es. Er ist nicht der Typ. Nein, es muss jemand anders gewesen sein.«

»Aber woher weißt du …«

Ich biss mir auf die Zunge. Ich machte einen Fehler. Meine Aufgabe als Pastorin ist es, eine seelische Stütze, eine geistliche Begleiterin zu sein. Keine Detektivin oder Polizistin.

Tanja drehte mir das Gesicht zu und sah mich mit Augen an, die ganz dunkel vor Schmerz waren.

»Das Einzige, worum ich dich bitte, ist, mit Peter zu reden. Wenn ich schon die ganzen verdammten langen Jahre hier verrotten soll, muss ich wenigstens Kontakt zu ihm bekommen. Anders halte ich es nicht aus. Wenn ich ihn wirklich verletzt haben sollte, will ich ihn um Verzeihung bitten. Falls ich ihn dazu bringen kann, dass er mir glaubt, möchte ich, dass er mir hilft, hier rauszukommen. Ich liebe ihn, verstehst du? Ich liebe ihn. Ich bin hart für ein Verbrechen bestraft worden, das ich nicht begangen habe. Aber keinen Kontakt zu Peter zu haben, das halte ich nicht aus. Bitte. Hilf mir. Rede mit ihm. Nur ein einziges Mal. Ich brauche es, aber er braucht es auch. Ich weiß, dass es ihm schwerfällt, mit Leuten zu reden.«

Tanja streckte ihre Hände nach mir aus, und ich ergriff sie zögernd. Sie drückte meine Hände ganz fest.

»Nun, ich weiß nicht … Du kannst doch selbst anrufen oder schreiben …«

»Er legt auf, wenn er hört, dass ich dran bin. Und die Briefe kriege ich ungeöffnet zurück.«

»Aber wenn er nicht will, kann ich doch auch nicht …«

»Sag ihm einfach, dass es das Einzige ist, was ich mir wünsche. Einmal mit ihm reden. Danach kann er mich für immer und ewig vergessen.«

In Gedanken ging ich meine Befugnisse durch. Konnte ich es tun, blieb ich im Rahmen dessen, was erlaubt war? Eigentlich nicht. Es war nicht meine Aufgabe, die Botin zu spielen. Dass ich trotzdem einwilligte, einen Gruß auszurichten, kam daher, dass ich ein schlechtes Gewissen hatte, weil ich sie nicht mochte. Ich fühlte mich derartig schuldig, dass ich Tanja versprach, einen Versuch zu unternehmen.

»Wie heißt er, und wo kann ich ihn erreichen?«

Tanja strahlte mich an, und in diesem Moment sah sie beeindruckend schön aus.

»Peter Konradsson. Er wohnt bestimmt noch in unserer Wohnung in Skärholmen.«

Sie nannte eine Telefonnummer, die ich widerwillig notierte. Schnell verstaute ich den Zettel in meiner Tasche.

Im Laufe des Nachmittags sprach ich mit Kerstin, der Spielsüchtigen. Ihre Tochter wurde fünfzehn. Kerstin hatte ihr ein Päckchen geschickt mit einem Pullover, den sie nach der Anleitung in einer Modezeitschrift gestrickt hatte. Mit dem Sternbild der Tochter als Muster. Die Wolle hatte sie aus einem Versandhaus bestellt. Als sie anrief, um ihrer Tochter zu gratulieren, hatte ihr Exmann die Hand auf die Sprechmuschel gelegt, ohne ein Wort zu Kerstin zu sagen, und nur gerufen »Lisa, deine Mutter will mit dir reden«. Kerstin hatte gehört, wie ihre Tochter sagte, sie habe keine Lust, aber ihr Exmann hatte gedrängelt, bis die Tochter schließlich doch ans Telefon kam. Auf die Fragen, die Kerstin stellte, hatte sie nur kurz und widerwillig geantwortet. Ja, sie habe viele Geschenke bekommen. Von Papa. Und von Maggan, Papas neuer Frau. »Wahnsinnig tolle Geschenke«, hatte die Tochter trotzig gesagt. Genau was sie sich gewünscht habe, obwohl sie fast überhaupt kein Geld hatten. Das mit dem Geld hatte Kerstin sehr weh getan, denn sie wusste ja, warum sie so knausern mussten. Kein Wort über Kerstins Pullover. Nach einer Weile hatte Kerstin selbst gefragt, ob er denn passte. »Nö, zu klein«, hatte ihre Tochter gesagt. Sie sei ziemlich gewachsen. Und außerdem kratze er.

Kerstin weinte, als sie es erzählte.

»Ich war krank«, wiederholte sie immer wieder. »Ich war krank. Ich wusste nicht, was ich tat.«

In einem Jahr sollte Kerstin entlassen werden.

»Dann bringe ich alles wieder in Ordnung«, sagte sie. »Alles wird wieder gut. Ich werde alles zurückzahlen.«

Gemeinsam mit dir, Herr, versuchte ich Kerstin dazu zu bringen, sich ihrer Krankheit zu stellen und Vergebung zu suchen für den Kummer, den sie ihrer Familie bereitet hatte. Wir beteten zusammen und ich versuchte sie zu überreden, einen Brief an ihre Tochter zu schreiben und genau zu erklären, was mit ihr passiert war.

»Hilf ihr, es besser zu verstehen«, sagte ich.

»Das kann ich nicht«, schluchzte Kerstin. »Ich begreife es ja selbst nicht.«

Ihre Angst saß noch lange in meinen Gedanken, nachdem wir auseinandergegangen waren. Mein Blumenrock hing schlaff herab. Die Zuversicht, die ich in Kerstins Gegenwart vorgab, verflog im selben Augenblick, als sie niedergedrückt zurück an ihre Arbeit ging. Ich blieb in meinen Sandalen auf dem Korridor stehen und wusste nicht recht, was ich anfangen sollte. Aus den Augenwinkeln nahm ich Torkel Kvarnström wahr. Er stand ein Stück entfernt vor dem Schwarzen Brett und las, blickte aber in meine Richtung, wenn er glaubte, ich sähe es nicht.

Ich ging zu ihm hin. Je näher ich kam, desto intensiver studierte er die Aushänge.

»Torkel«, sagte ich. »Wie wär’s jetzt mit der gemeinsamen Kaffeepause, von der wir so oft gesprochen haben?«

Torkel stopfte sein Hemd noch akkurater in den Hosenbund.

»Tja, ich habe wohl nicht direkt von einer Kaffeepause gesprochen«, sagte er.

»Nein, ich weiß, dass ich das vorgeschlagen habe. Aber was meinen Sie, wollen wir ein Tässchen zusammen trinken? Ich habe noch eine Tafel Schokolade in meiner Tasche. Wir könnten uns nach draußen setzen, auf die Gartenstühle neben dem Eingang.«

Torkels Kopf ruckte einige Male hin und her, so als ob es ihn am Hals juckte, er aber nicht die Hände benutzen wollte, um sich zu kratzen. Er stand eine Weile steif und stumm da.

»Ich weiß zwar nicht, wozu das gut sein soll«, knurrte er schließlich. »Aber meinetwegen.«

Ich erbot mich, den Kaffee zu holen, und plauderte munter drauflos. Wie lange ich das schon vorgehabt hatte und ob ich Milch oder Zucker in seinen Becher tun sollte. »Nur Zucker«, kam es mürrisch zurück. Und war es nicht fantastisch, was für einen frühen und herrlichen Frühling wir gerade gehabt hatten. Wieso führte ich mich eigentlich auf wie eine überbezahlte Fernsehmoderatorin mit sinkenden Zuschauerquoten?

Als wir endlich draußen in der Sonne saßen, sank ich vor Erschöpfung in mich zusammen. Torkel schob die Schokoladenriegel in den Mund wie Bretter in eine Hobelmaschine. Rappsrapps und weg. Er saß auf der äußersten Stuhlkante und hatte eine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt. Ich konnte seine Augen hinter den schwarzen Gläsern schwerlich erkennen, aber sie schienen mich ohne erkennbare Anteilnahme zu mustern.

»Ja, ja«, sagte ich. »Hier sitzen wir nun.«

Torkel antwortete nicht. Er nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher. Und gleich noch einen hinterher.

»Ach ja, Torkel«, seufzte ich.

Mein guter Wille war erlahmt, ich suchte vergeblich nach Worten. Peinliche Stille trat ein. Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte.

»Wie gefällt es Ihnen hier?«

Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

Torkel schmatzte kurz mit den Lippen.

»Nun ja. Nicht gerade angenehme Kundschaft, mit der man es hier zu tun hat. Aber ich glaube an das, was hier geleistet wird. Die Gesellschaft muss geschützt werden, und ich bin stolz darauf, mein Teil zu diesem Schutz beizutragen.«

Er trank den letzten Schluck und stellte den Kaffeebecher mit einem Knall ab. Packte die Tischkante, als beabsichtige er, sich zu erheben.

»Wissen Sie, Torkel, als ich hierherkam, hatte ich Angst vor Ihnen«, sagte ich rasch.

Torkel stutzte und hielt inne. Es war schwer zu sagen, was hinter seinen schwarzen Sonnengläsern vor sich ging. Aber ich bildete mir ein, dass er zufrieden aussah.

»Man braucht ein konsequentes Auftreten. Das hier ist keine Sonntagsschule.«

»Aber inzwischen weiß ich ja, dass Sie gar nicht so gefährlich sind«, sagte ich und versuchte ein Lächeln.

Torkels Lippen verzogen sich andeutungsweise.

»Wir begegnen uns so oft, Sie und ich«, fuhr ich fort, »und mir ist aufgefallen, dass ich eigentlich gar nichts über Sie weiß. Haben Sie neben der Arbeit andere Interessen?«

Mit abgemessenen Bewegungen faltete Torkel seine Serviette zusammen und stopfte sie in seinen Kaffeebecher.

»Schon. Ich katalogisiere Käfer. Und ich bin politisch interessiert.«

Ich wagte nicht, ihn genauer nach seinen politischen Interessen zu fragen. Ich konnte mir vorstellen, in welche Richtung das ging. Die Käfer machten mich beklommen. Vor meinem geistigen Auge sah ich Schachteln voller giftgetränkter Watte. Käfer, die verzweifelt versuchten wegzukrabbeln, bis sie schließlich aufgaben und sich von Torkel Kvarnström aufspießen ließen. Wie er mit gewohnter Korrektheit die toten Insekten einsortierte.

»Wie interessant«, heuchelte ich. »Ja, die sind schön. Die Käfer, meine ich. Viel Ahnung habe ich nicht davon. Muss ein spannendes Hobby sein.«

»Ja«, sagte Torkel, und dann war es wieder eine ganze Zeit still.

»Tja, die Arbeit ruft«, sagte Torkel. »Werde mich wieder nützlich machen.«

Wir griffen nach unseren Kaffeebechern. Ich war enttäuscht. Vor allem von mir selbst. Dass mir nichts Besseres gelungen war als das hier.

Als wir gerade durch die Eingangstür gehen wollten, drehte ich mich zu Torkel um.

»Können wir das nicht mal wiederholen?«, bat ich ihn mit dünner Stimme.

Torkel trat einen Schritt zurück.

»Wiederholen? Was?«, entfuhr es ihm.

»Das Kaffeetrinken. Vielleicht können Sie mir mehr über die Käfer erzählen. Ich würde gern mehr darüber wissen.«

Torkel hatte die Sonnenbrille abgenommen und starrte mich an, als hätte ich ihm ein unsittliches Angebot gemacht.

»Es gibt Bücher …«, setzte er mit unsicherer Stimme an.

»Ich möchte, dass Sie es mir beibringen«, sagte ich.

Herr, ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Aus irgendeinem unklaren Grund konnte ich es nicht ertragen, dass es mir nicht gelungen war, ihm näherzukommen.

Ich nahm Torkel den Becher aus der Hand, um ihn zurück in die Kantine zu bringen. Torkel nickte kurz und ging.

4. Kapitel

Am Abend auf dem Heimweg vom Gefängnis schaute ich noch kurz im Pastorat vorbei. Obwohl das Büro im Erdgeschoss liegt, huschte ich in den Aufzug. Ich wollte nachsehen, ob es dort einen Spiegel gab, und tatsächlich, da war einer. Ich zupfte meine Bluse zurecht und kniff mir einige Male in die Wangen, damit sie etwas Farbe bekamen. Das hatte meine Großmutter manchmal bei mir getan, als ich noch klein war.

»Gottchen, Kind, wie blass du bist«, sagte sie immer und kniff mir in die Backen. »So, guck mal, jetzt siehst du gleich ein bisschen gesünder aus. Kinder sollen nicht blass sein, sondern rosig und fröhlich.«

Es tat weh, und ich weiß noch, dass ich einmal Tränen in den Augen hatte. Falls Großmutter es gesehen haben sollte, ließ sie sich nichts anmerken. Und jetzt stand ich in einem Aufzug und quälte mich selbst, um rosig, gesund und fröhlich auszusehen.

Maria war gerade dabei, ihren Mantel anzuziehen, als ich hereinkam. Sie sagte nichts zu meinem Rock, aber sie zupfte sorgfältig ihren eigenen zurecht, als sie mich sah.

»Hallo, Ingrid, ich wollte gerade Feierabend machen. Anders ist schon weg. Er musste zu irgendeiner Sitzung.«