Was Gott nicht sah - Helena von Zweigbergk - E-Book

Was Gott nicht sah E-Book

Helena von Zweigbergk

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Beschreibung

Was geschah an jenem Abend, an dem zwei junge Menschen so grausam und sinnlos ermordet wurden? Die junge Gun Johannsson ist dieses Verbrechens angeklagt, doch sie leugnet beharrlich. Nur die Gefängnispfarrerin Ingrid glaubt nicht an ihre Schuld und gerät mitten hinein in den bitterkalten Eishauch von Guns Vergangenheit. Helena von Zweigbergk hat einen psychologisch tiefgehenden und fesselnden Roman geschrieben, den man lange nicht vergisst. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 415

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Helena von Zweigbergk

Was Gott nicht sah

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt

FISCHER Digital

Inhalt

Für BengtDank an Bengt Ohlsson, [...]Pfarrer unterliegen der Schweigepflicht, [...]Dass ich mich erbrechen [...]Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22

Für Bengt

Dank an Bengt Ohlsson, Marie-Anne Knutas, Måns Gahrton, Nina Lekander, Peter Gillgren, Thomas Bodström, Birgitta Winberg und Anders Mattson.

Pfarrer unterliegen der Schweigepflicht, nicht der Meldepflicht. Die Pastorin in diesem Buch plaudert ihr Wissen aus, ganz im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen in der realen Welt. Falls Sie also jemals ins Gefängnis kommen sollten – zögern Sie nicht, sich einem Pfarrer anzuvertrauen.

Dass ich mich erbrechen musste, als mir aufging, was da eigentlich passiert war, lag nicht so sehr an der Grausamkeit des Verbrechens.

Obwohl es grausam genug war.

Es war die Grausamkeit des Lebens, die mir den Magen umdrehte. Wie die Lebensumstände einem Menschen so schonungslos und unerbittlich zusetzen können, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als der Versuch, sich hinter Dunkelheit zu verschanzen. Und wenn das nichts hilft, sich in eine Art vernichtendes Licht zu flüchten, das alles Menschliche wegätzt und ihn zwingt, frei zu schweben, losgelöst aus allen Zusammenhängen, in einer Einsamkeit, die ihm einziger Trost und unerträglicher Fluch zugleich ist.

Herr, wie kannst du jemanden nur so im Stich lassen?

Ich muss es herausfinden, wenn ich weiter deinen Weg gehen soll. Was geschah an jenem Abend, an dem zwei junge Menschen so grausam und sinnlos ermordet wurden? Was passiert mit mir, wenn ich deine Existenz nicht mehr spüren kann?

Kapitel 1

Draußen vor meinem Fenster liegt der Schnee wie eine alles erstickende Decke. Er sieht weich und schön aus, doch ich weiß, wie kalt er ist. Ansehen, aber nicht anfassen. Betrachten, aber nicht teilnehmen.

Herr, ich habe solche Angst. Mehr als je zuvor. Ich suche, aber ich finde nicht mehr.

Dabei ist Angst kein neues Gefühl für mich.

Ich glaube sogar, dass ich Pastorin wurde, weil ich so schreckliche Angst vor Menschen habe.

Angst vor beinahe allem.

Am allermeisten ängstigt mich die Unbegreiflichkeit des Lebens. Dass womöglich nirgends ein Sinn dahinter steht. Dass alles vielleicht nur Einsamkeit und Leere ist. Sinnlose Illusion. Ich könnte verrückt werden, wenn ich daran denke.

Schon als Kind haben mich solche Grübeleien hartnäckig verfolgt. Die Gedanken hielten mich abends wach, während die Schatten an den Wänden hochkrochen und immer bedrohlicher wurden. Warum?, dachte ich. Und auf ein Warum folgte sofort ein neues Warum, bis ich am Ende in der festen Gewissheit gefangen war: Eigentlich weiß es niemand.

Als ich klein war, habe ich nie verstanden, wie die Erwachsenen manche Dinge so leicht abtun können, wie sie mit den Schultern zucken und sagen können, so etwas passiert eben und keiner weiß, warum. Als sei es völlig in Ordnung, Dinge nicht zu verstehen, keine Erklärung zu haben, an die man sich halten kann.

Grüble nicht so viel darüber nach, Kind, sagte meine Mutter, als mir nicht in den Kopf wollte, wie das Leben so hart, ungerecht und launisch zuschlagen kann.

Dieses träge Hinnehmen der Unbegreiflichkeit des Lebens ängstigte mich zum Verrücktwerden. Mehr noch als das Böse selbst. Das Böse stellte ich mir als ein Ungeheuer vor, das die meiste Zeit in einem Käfig gefangen ist. Damit konnte ich leben. Aber dass derjenige, der den Käfig bewacht, offenbar keine klaren Regeln kennt, oder dass man sich vielleicht grundsätzlich nicht auf ihn verlassen kann, das war mehr, als ich verkraften konnte.

 

Es schneit immer noch. Ich sehe, wie jemand aus der Folkungagata kommend den Hang heraufstapft und in die Erstagata einbiegt, in meine Straße. Es scheint glatt zu sein. Mühsam, sich auf den Beinen zu halten.

Für mich war es auch immer mühsam, mich auf den Beinen zu halten.

Wir sprachen zu Hause nie über Gott oder Jesus. Weder meine Mutter noch mein Vater sind gläubig. Was ich lernte, hatte ich aus der Schule. Ich liebte die Geschichten aus der Bibel, die meine Lehrerin erzählte. Weil sie nämlich eine Bedeutung hatten. Sie ergaben einen Sinn. Eine Ordnung.

Als ich zehn Jahre alt war, begann ich heftig zu glauben, ohne jemandem davon zu erzählen. Ich zeichnete einen alten Mann mit Flügeln und einem langen Bart. Schnitt ihn aus und trug ihn dauernd mit mir herum.

Einen Mann aus Papier, zunehmend verknitterter und abgegriffener, den ich Gott nannte. Damals fing ich an, mit dir zu sprechen, Herr. Stumm sagte ich jeden Abend im Bett meine Gebete auf.

Ich hatte strenge Rituale, wie das vor sich zu gehen hatte. Die Worte mussten nach einem bestimmten Muster gesprochen werden, sonst wären sie wirkungslos gewesen.

Zeitweise war es richtig anstrengend. Wenn ich besonders große Furcht hatte, dass mir oder dem Rest der Familie etwas Schreckliches zustoßen könnte, zwang ich mich dazu, soundso oft das Vaterunser zu beten. An bestimmten Stellen flocht ich persönliche Bitten ein.

Lieber Gott, mach, dass es keinen Krieg gibt. Vater im Himmel, mach, dass niemand von uns gefoltert wird. Lass Mama ein bisschen fröhlicher sein. Mach, dass sie lacht, wenn Papa sich Mühe gibt, witzig zu sein. Mach, dass Papa ein bisschen witziger ist. Lieber Gott, mach, dass sie sich nicht scheiden lassen.

Wenn ich unterbrochen wurde, weil ein Flugzeug am Himmel vorbeizog oder ein anderes Geräusch die abendliche Stille störte, musste ich wieder ganz von vorn anfangen. Dachte wohl, dass bisher keiner zugehört hätte. Oft war ich vor Erschöpfung den Tränen nahe, wenn ich endlich fertig war. Im Haus war es dann ganz still geworden.

Keiner durfte etwas davon wissen. Meine Mutter hätte sich nur Sorgen gemacht. Mein Vater hätte es als Spinnerei abgetan. Mein Bruder hätte mich damit aufgezogen.

Mein Bruder, der in seinem Bett am anderen Ende des Zimmers lag, atmete tief und sorglos unter seinen Postern mit Fußballhelden und Rockstars.

Ich war die Einzige, die wachte.

Ich war die Einzige, die versuchte, das Schlimme von uns fern zu halten.

Auf eine Art hast du, Herr, mich noch einsamer gemacht, als ich es ohnehin schon war. Auf eine andere Art war ich nicht länger allein mit dem Unbegreiflichen.

Wie es kam, dass es im Laufe der Jahre nachließ, weiß ich nicht mehr genau. Die Unruhe war weiterhin da, aber ich gewöhnte mich wohl daran, nehme ich an. Versuchte, die Ängste auf Abstand zu halten, anstatt sie zu kontrollieren. Es war wie eine Gnade, dass es mir fast gelang. Ich meisterte mein Dasein, ohne mich allzu anstrengenden Ritualen zu unterwerfen. Es vergingen viele Jahre, die ganze Teenagerzeit ging vorbei, ohne dass ich deine Hand suchte, um mich daran festzuhalten.

Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem ich beschloss, dich wieder zu suchen. Da war ich bereits eine erwachsene Frau. Hatte das Gymnasium mit guten Zeugnissen hinter mich gebracht. War zu Hause ausgezogen, hatte das verschlafene Avesta verlassen, wo ich aufgewachsen war. Studierte Literaturwissenschaft an der Universität in Stockholm und lebte mein eigenes Leben. War in mein Einzimmerappartement in Söder gezogen, in dem ich heute noch wohne. Hatte Kommilitonen, mit denen ich nach den Vorlesungen im Café saß.

Und ich hatte einen Mann geliebt.

Oder glaubte, einen Mann geliebt zu haben.

Micke und ich gaben uns wirklich Mühe. Keiner von uns hatte eine vernünftige Erklärung dafür, warum wir nicht zusammen das Glück erlebten, von dem wir so viel gehört hatten.

Wir imitierten die Liebe, sagten das, was von Verliebten erwartet wurde, und kaschierten unsere Verwirrung und Ratlosigkeit, so gut es ging.

Nachts, wenn die Dunkelheit uns von unseren öffentlichen Rollen befreite, konnten wir durchaus Lust und sinnliche Nähe empfinden. Aber am nächsten Morgen sah ich dann am Frühstückstisch einen Mann vor mir, der sein Müsli in sich hineinschaufelte und sich dabei gleichzeitig auf eine entsetzlich abstoßende Weise räusperte.

Micke war ein guter Mensch, aber was ich vor allem an ihm wahrnahm, war sein widerliches Räuspern. Unter anderem. Ebenso seine penibel geputzten Schuhe. Dass seine Wangen so schuppig aussahen, wenn er sich rasiert hatte. Dass er vor dem ersten Schluck zwanzigmal in seine Teetasse blies. Ich hätte schreien mögen, dass der Tee doch gar nicht so schrecklich heiß sein könne.

Es gab noch mehr von diesen störenden Kleinigkeiten. Ich verurteilte mich hart dafür, dass ich mich an ihnen stieß.

Andererseits phantasierte ich manchmal davon, wie geschmeidig und glatt sich wohl der Rücken eines wildfremden Mannes anfühlen mochte. Oder schlimmer noch – eines Mannes, den ich überhaupt nicht respektierte, den ich nicht mal sympathisch fand. Wie gierig seine Hände über meine Haut glitten und wie sehr es mir gefiele, dass er mich fest und rücksichtslos anpackte. Micke war ja so behutsam. In meiner Phantasie stopfte ich ihm mit wütenden Fingern seine Behutsamkeit in den Hals.

Das schien mir alles völlig unlogisch zu sein, und es erschreckte mich.

Ich konnte mich nicht mit Micke abfinden, konnte für ihn nicht fühlen, was ich hätte fühlen sollen. Ich glaube, letztlich haben wir uns getrennt, um nicht länger unsere eigene Einsamkeit in den Augen des anderen sehen zu müssen. Es war nur noch eine Qual.

Was er dachte und wie er fühlte, weiß ich natürlich nicht mit Sicherheit. Wir sprachen ganz vernünftig über unsere Unreife als Erklärung für unser ausgebliebenes Liebesglück und waren uns überhaupt ganz beflissen einig bei unserer einvernehmlichen Trennung. Lobten und priesen unsere gute Freundschaft, die sich nur noch mehr festigen würde, jetzt, da wir alle romantischen Ambitionen aufgegeben hatten.

Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Ich habe seitdem nie wieder etwas von ihm gehört.

Obwohl es nicht der abgerissene Kontakt war, der mich danach mehr als ein Jahr lang ungeheuer deprimiert sein ließ. Es war eher so, dass mir die Liebe sinnlos und armselig vorkam.

Ich versuchte mich damit zu trösten, dass die Liebe sicher groß und mächtig gewesen war und dass unsere Beziehung durch unsere eigene Schuld in die Brüche gegangen war. Dass er versagt hatte, dass ich versagt hatte, dass der Fehler allein bei uns lag.

Obwohl, wenn ich mich umsah, gab es so wenig an Vertrauen und guten Kräften in der Sphäre, in der die Liebe zu Hause sein sollte.

 

Meine Eltern ließen sich scheiden. Mutter zog nach Göteborg, reiste oft ins Ausland, redete viel, war wie neugeboren und sprudelte über vor Lebensfreude. Vater blieb in Avesta wohnen, wo er eine Frau traf, die es nicht nur mit ihm aushielt, sondern ihn wirklich gern hatte. Er wirkte zufriedener mit dem Leben, als ich es jemals bei ihm erlebt hatte. Meine Eltern waren fünfundzwanzig Jahre verheiratet gewesen, sie hatten fast ihr halbes Leben lang gemeinsam an etwas gebaut, was für die Liebe und die Familie eine Burg aus Sicherheit, Ruhe und Kraft hätte sein sollen.

Und dann wurden sie anscheinend erst zu kompletten Menschen, als sie einander losließen.

Meine Freundinnen lachten sich Männer an und machten wieder mit ihnen Schluss. Seufzten in der einen Woche, sie könnten ohne den Kerl nicht leben, und kamen in der nächsten Woche ganz wunderbar ohne ihn aus. Das ging mir gegen den Strich. Menschen verletzten sich gegenseitig, und sie taten so, als gehörte das dazu. Als müsse das so sein, ohne dass jemand wusste, wieso. Gefühle erwachten und starben, so war das eben.

Ich konnte so nicht leben. Was mich am meisten erschreckte, war das offenbar Irrationale, Unberechenbare. Die Liebe war genau wie das Böse ein barbarisches Chaos, und ich wollte nicht daran teilhaben. Wollte mich nicht den Schrecken und, ja meinetwegen, auch Freuden mit derselben Ziellosigkeit aussetzen, mit der man auf einen Rummel geht, wo man sich starken Gefühlen aussetzt, aber letztlich doch nicht so richtig. Wenn das Karussell aufgehört hat, sich zu drehen, ist es vorbei und man hält suchend Ausschau nach der nächsten Attraktion. Ist es dort drüben lustiger? Aufregender? Übertrifft es das, was ich gerade erlebt habe?

 

Den Herbst nach der Trennung von Micke verbrachte ich mit Lernen. Ja, im Grunde tat ich nichts anderes als studieren. Manchmal ging ich ins Museum und sah mir Kunst an. Ich war ziemlich oft allein. Ich wollte das so. Hatte keine Lust, mich in das verworrene und doch so gierige Dasein anderer Menschen hineinziehen zu lassen.

Eines Abends ging ich ins Moderna Museet zu einem Vortrag über Malerei. Ich besuchte solche Veranstaltungen unheimlich gern. Ich liebte es, Bilder zu betrachten, über die jemand etwas erzählte, sodass man mehr sah, neue Sachen und Zusammenhänge entdeckte.

An diesem Abend ging es um Jackson Pollock, der mit den chaotischen Bildern, auf denen Striche und Pinselkleckse ein Durcheinander von Farben und Mustern bilden. Bei mir riefen diese Bilder gleichermaßen Ablehnung und Neugier hervor. Der Referent sprach über Pollocks Psyche und seine Alkoholabhängigkeit und wie beides seine Malerei immer weiter auflöste.

Aber dann zeigte er ein Bild, das mich stark berührte. Es zeigte das übliche Chaos, die drippings, aber auch einige gerade, klarblaue Pfeiler oder Pfähle. Der Referent interpretierte das Bild so, dass Pollock sein Chaos nicht aushielt, sondern sich gezwungen fühlte, eine Art Ordnung hineinzubringen, etwas, was das alles stabilisierte und trug.

Da erkannte ich, dass auch ich ohne Pfeiler nicht existieren konnte. Ich brauchte sie für mein Leben. Sonst würde das Chaos überhand nehmen, mir die Luft abschnüren, mich so lähmen, dass Angst und Schrecken sich permanent in mir einnisten konnten.

Als ich an diesem regnerischen, dunklen Abend über die Skeppsholmbrücke radelte, beschloss ich, Theologie zu studieren. Die Kunst konnte nur Fragen aufwerfen, die Wissenschaft auf das Wie antworten, aber um das Warum zu ergründen, dafür gab es nur diesen einen Weg.

Dass ich später anfing, Gefängnisse zu besuchen, geschah aus demselben Grund, aus dem ich Pastorin wurde. Es war die Angst, die mich dazu trieb. Wie mutig, sagen viele, wenn sie hören, dass ich mit Mördern und Vergewaltigern zu tun habe. Dass du dich das traust! Hast du gar keine Angst?

Nur wenige können die Ruhe verstehen, die mich erfüllt, wenn ich mich in der Nähe des Bösen aufhalte. Dass dies meine eigenen Ängste lebbar macht.

Ich kann die Hand ausstrecken und einen Arm berühren, der einen anderen Menschen getötet hat. Jemanden ansehen und denken, so also sieht einer aus, der das Schlimmste getan hat, was man sich vorstellen kann. Ich rede mit ihm, und er wird verstehbar. Meistens wird er tatsächlich verstehbar.

Auch die, die in den Gefängnissen arbeiteten, staunten über meine Unerschrockenheit, wie sie es nannten. Irgendwie wagte ich wohl mehr als die meisten anderen. Niemand sah, dass meine Angst vor mir selbst größer war als vor denen, die ich im Gefängnis betreute.

Die Gefängnisinsassen haben mir gezeigt, was Hass und Gleichgültigkeit aus einem Menschen machen können. Und ich kann ihnen Mut und Kraft geben, nach den Pfeilern in ihrem Leben zu suchen. Durch dich, Herr, kann ich ihnen etwas erzählen, was Sinn ergibt. Kann sie dazu bringen, einen Zusammenhang in dem zu sehen, was geschehen ist. Sie und ich und du können dies zusammen tun.

Obwohl in Wahrheit wohl ich diejenige bin, die das am meisten beruhigt.

 

Ich spreche mit dir, Herr, aber manchmal möchte ich auch gern von einem anderen Menschen verstanden werden.

Einmal versuchte ich, das Gefühl von Ruhe, das ich in der Nähe des Bösen empfinde, einer ehemaligen Kommilitonin aus dem Literaturstudium zu beschreiben. Wir saßen eines Abends bei ihr zu Hause und tranken Wein und ich war nicht mehr ganz nüchtern. Sie war genau wie alle anderen neugierig, was für Menschen die Gefangenen, denen ich begegne, eigentlich sind. Normalerweise erkläre ich dann immer, dass ich der Schweigepflicht unterliege, und sage stattdessen etwas Unbestimmtes in der Art, dass böse Menschen nur in Büchern und Filmen smart und charismatisch sind. Denn es ist tatsächlich so, dass das Erste, was einem auffällt, wenn man ein Gefängnis betritt, Einfalt und Tristesse sind. Die Ungebildetheit, Unwilligkeit und Armseligkeit rundherum.

Vermutlich lag es am Wein, dass ich plötzlich darüber sprechen wollte, warum ich die Gefangenen brauchte, um meiner eigenen Angst vor allem und jedem zu entgehen. Ich war so schrecklich ungeübt darin, über dieses Thema zu reden. Die Worte hörten sich gestelzt an, meine Ausführungen kamen sogar mir merkwürdig vor. Und gerade als ich mich in Erklärungen darüber verstrickt hatte, dass ich den Gefangenen Geschichten mit einem Sinn erzählen wollte, wurde sie wütend.

Ob ich damit sagen wollte, dass ich meine Rolle darin sah, ihren Verbrechen einen Sinn zu geben? Dachte ich denn überhaupt nicht an die Opfer?

Und dann folgte eine lange geharnischte Rede darüber, dass es typisch für die feige schwedische Staatskirche sei, jedem Bittsteller seine Sünden zu erlassen, solange er sich nur zum rechten Glauben bekannte. Oder war vielleicht nicht einmal das nötig?

Ich war völlig perplex. In meinem berauschten Hirn suchte ich nach guten Antworten, nach irgendeiner Art von Verteidigung. Aber mir fiel damals beim besten Willen nichts ein. Zu sagen, wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein, wäre einfach albern gewesen, ich war mir ja bewusst, über welche Art von Gewaltverbrechern wir sprachen. Sie hatte mich völlig aus dem Konzept gebracht. Ich merkte, dass meine Stimme nicht richtig trug, und begann mit den Armen zu fuchteln, woraufhin ein Weinglas und die Flasche umkippten und der Rotwein sich auf den hellen Teppich ergoss, der unter dem Couchtisch lag.

Tränen begannen zu fließen, ich schluchzte und hickste und versuchte den verdammten Wein aufzuwischen, der nur immer tiefer in den Teppich einzudringen schien. Meine Freundin wurde nervös und sagte, sie habe es wirklich nicht böse gemeint, es sei doch die Kirche gewesen, die sie kritisiert habe, nicht mich.

Ich wollte nur noch weg. Und ich beschloss, dass ich in Zukunft mit niemandem mehr über das Thema reden würde. Das war eine Sache zwischen mir und dir, Herr. Du hattest mir den Weg gezeigt und mir geholfen, die Zusammenhänge zu suchen, die ich so sehr brauchte.

Obwohl etwas von dem, was sie gesagt hatte, in mir haften geblieben war. Das war ihre Frage, ob ich auch an die Opfer denke. Ich habe damals begriffen, dass ich das eigentlich eher nicht tue. Es sind die Täter, denen ich helfen will, sie will ich verstehen, ihnen will ich zu Einsicht und Vergebung verhelfen. Der Gedanke war mir überhaupt nicht gekommen, dass dies den Opfern noch mehr wehtun könnte.

Zuerst hatte ich gedacht, dass alle – Täter, Opfer und Betrachter der Tragödie – vor allem nach Versöhnung strebten. Aber dann sah ich ein, dass es naiv war, so zu denken.

Viele wollen überhaupt keine Versöhnung. Sie wollen Rache, Strafe. Was sie noch mehr beruhigt, ist der Gedanke an ewige Verdammnis.

 

Als ich das erste Mal ein Frauengefängnis besuchte, geschah das mit einer Art bangem Zittern. Männer haben für mich sowohl mit Bosheit als auch mit Struktur zu tun, auf eine ganz selbstverständliche Art. Ohne direkt darüber nachzudenken, habe ich mir die Frau wohl immer als Gegenpol vorgestellt, als eher unstrukturiert, aber auch als von Natur aus gut. Beschämend zu sagen, aber: Auch als uninteressant, aus einer zugespitzten moralischen Perspektive betrachtet.

Du, Herr, hast mir nie etwas anderes bewiesen. Deshalb fühlte ich mich unsicher und schüchtern an dem Tag, als ich durch das Tor des Frauengefängnisses ging. Noch unsicherer in meiner Rolle als Pastorin, als ich es ohnehin schon bin.

Die Anstaltsleiterin führte mich durch das Gebäude, eine Frau mit dieser seltsamen Fahrigkeit in Stimme und Gestik, wie man sie bekommt, wenn man zu viel raucht und trinkt. Sie war in den Fünfzigern, groß und dick. Ihr Fleisch wabbelte um die Knochen wie bei einem zu lange gekochten Fisch.

Anita Lagerström, so hieß sie, zeigte mir den Raum, in dem die Gespräche mit den Inhaftierten stattfanden. Darin befanden sich zwei Kunstledersessel um einen kleinen Couchtisch, am anderen Ende des Zimmers ein Schreibtisch mit einem Stuhl davor und einem dahinter. In einem Regal aus hellem Holz standen ein paar Bücher. Mehrere Bibeln, wie ich bemerkte. Sie sahen bedenklich ungelesen aus. »Der Zorn der Frauen« war ein Titel, an den ich mich erinnere. Ebenso Alice Millers »Am Anfang war Erziehung«. An der Wand hing ein Plakat, auf dem stand, dass ein Kind, das kritisiert wird, zu verurteilen lernt, und so weiter.

Hierher kamen auch eine Sozialarbeiterin und einmal die Woche eine Psychotherapeutin, erzählte Anita mit Stolz in der Stimme. Um diese Regelung hatte sie lange kämpfen müssen.

Genau das war so anders als in den Männergefängnissen. Es war direkt zu merken, dass man die Antwort in der Kindheit suchte. Sicher redete man nicht so viel über Lebensentscheidungen und moralische Überlegungen, und das irritierte mich.

Anita berichtete kurz über die Inhaftierten, ihren Tagesablauf und wann meine Besuche am besten passen würden. An ihrer hastigen Art zu reden – dass sie mich in jedem zweiten Satz Inger anstatt Ingrid nannte, oder ihre schwebende Wortwahl, als sie sagte, »Hier könnt ihr dann ja sitzen und … ja … reden oder so« – wurde deutlich, dass sie nicht so recht wusste, was eine Pastorin mit Gefangenen eigentlich so anstellt.

»Hier also soll ich ihnen den Teufel austreiben«, sagte ich, und Anita sah mächtig erschrocken aus.

»Ich weiß nicht recht …«, begann sie.

»Das war nur Spaß«, sagte ich. Sie machte ein erleichtertes Gesicht, aber ein wenig Skepsis war ihr noch anzumerken.

»Na ja, ich weiß nämlich gar nicht genau, was ihr macht«, sagte sie, und zum ersten Mal sah sie mir direkt in die Augen. »Der vorige Pastor kam und ging, ohne dass ich richtig wusste, worin seine Arbeit bestand.«

Und dann fügte sie hinzu, dass sie eine schrecklich starke Raucherin sei und ob ich nicht mitkommen wolle in ihr Büro, damit sie eine rauchen könne und wir uns ein wenig näher kämen. Ich war gerne bereit dazu und fühlte mich ganz allgemein ziemlich obenauf, dass ich jemanden noch mehr verunsichert hatte, als ich es selbst war.

Wir gingen in ihr verräuchertes Büro, und sie steckte sich sofort eine weiße Prince an. Sie hielt mir die Schachtel hin, wenn auch erst nach kurzem Zögern, so wie es Leute tun, wenn sie einem Geistlichen etwas anbieten, was sie selbst als Sünde empfinden.

»Habe ich mir fast schon gedacht«, sagte sie, als ich dankend ablehnte.

»Ich hoffe, du siehst es einer eingefleischten Sünderin wie mir nach«, fuhr sie fort und wedelte energisch den Rauch weg, der in meine Richtung wallte.

»Ja, also wir bleiben wohl bei Anita und Inger …?«

»Ingrid.«

»Oh, Entschuldigung.«

Anita wurde tatsächlich glühend rot, und ich hatte Mitleid mit ihr.

»Es ist nicht leicht, sich neue Namen zu merken«, sagte ich tröstend. Aber ich muss zugeben, dass ich jedes Mal, wenn Anitas mutmaßliche Vorgesetztenautorität wackelte, ein bisschen zufriedener und selbstsicherer wurde.

»Ich vertue mich selbst auch oft«, fügte ich hinzu.

»Ich habe den Inhaftierten mitgeteilt, dass du kommst. Allerdings war das Interesse nicht gerade übertrieben groß, wenn du verstehst«, sagte Anita.

»Vertrauen ist etwas, was man sich im Laufe der Zeit verdient«, erwiderte ich auf meine diplomatische und vernünftige Art.

Ich bin es gewohnt, so etwas zu hören. Merkte aber dennoch, dass es mich ein bisschen niedergeschlagener machte als sonst. Vielleicht hatte ich doch erwartet, dass die weiblichen Gefangenen ein wenig interessierter wären.

»Mehrere der Inhaftierten machen eine Therapie bei Ingeborg, unserer Psychotherapeutin, die jeden Freitag hierher kommt. Sie ist vertraut mit den Problemen und den Lebensumständen, wie sie viele der Frauen hier haben. Und dann ist da noch Laila, unsere Sozialarbeiterin. Sie unterstützt die Inhaftierten bei den eher praktischen Angelegenheiten. Kümmert sich um die Kontakte zu den Behörden, hilft bei Ausbildungsfragen und hält Verbindung zu den Angehörigen. Viele mussten ihre Kinder in Pflege geben, andere haben Probleme mit Alkohol oder Drogen und brauchen Hilfe bei dieser Art von Behandlung.«

»Und jetzt fragst du dich, was ich beitragen kann«, sagte ich.

Anita errötete wieder leicht und nahm eine neue Zigarette aus der Schachtel.

»Na ja, nicht, dass ich dir oder deinen Fähigkeiten nicht traue. Es ist wohl eher so, dass ich keine Ahnung habe …«

»Ich verstehe mich vor allem als jemand, der zuhört. Und zwar eigentlich mit keinem anderen Ziel als dem, Mut zu machen und zu ermuntern, sich selbst anzunehmen. Mein Gott ist groß und tolerant, und ich möchte den Weg zum Gebet und zur Vergebung aufzeigen.«

»Ach so, aha«, sagte Anita unsicher. »Nun, ich weiß nicht …«

Sie griff nach einem Stapel Papiere und blätterte darin.

»Obwohl … ich dachte da an eine unserer Inhaftierten … wo haben wir sie denn gleich … da, ja.«

Anita kramte ein Blatt hervor, überflog es rasch und zog dabei kräftig an ihrer Zigarette.

»Soweit ich verstanden habe, willst du selbst Kontakt zu den Frauen aufnehmen. Aber hier haben wir eine, bei der es bisher niemandem gelungen ist, an sie heranzukommen. Sie wurde wegen eines ganz üblen Verbrechens verurteilt. Hat ihre Nachbarn umgebracht. Die Inhaftierte ist …«

Anita musterte mich rasch.

»… ungefähr in deinem Alter.«

Die Verurteilte hatte ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Aber dann hatte sie sich eng mit ihren Nachbarn angefreundet, einem jungen Paar. Bis zu dem Tag, an dem sie die zwei mit einer Bratpfanne erschlug.

»Man stelle sich das vor. Alle beide. Die junge Frau war auch noch schwanger. Unerklärlich …«

Anitas Blick versank für einige Sekunden im dunklen Dezemberhimmel. Sie rieb sich so heftig und ungeniert die Nase, dass ich mich fragte, ob sie meine Anwesenheit vergessen hatte. Aber dann richtete sie ihre Augen plötzlich wieder auf mich.

»Inzwischen ist sie wie ein Zombie. Als wir das letzte Mal einen Arzt hier hatten, wollte er ihr Antidepressiva geben. Aber die verweigert sie ebenfalls. Mit einem Psychologen oder Sozialarbeiter will sie auch nicht reden. Ich glaube aber, dass sie …«

Anita drückte die Zigarette aus und bekam einen Hustenanfall, dass es nur so pfiff und bellte. Als sie das, was sie suchte, in ihren Papieren gefunden hatte, versuchte sie weiterzusprechen, obwohl sie noch kaum wieder bei Stimme war.

»Genau, da steht’s … Aufgewachsen in einer freikirchlichen Familie. Selbst gläubig. Das Einzige, was sie von sich gegeben hat, außer einem Nein auf alle Anklagepunkte, war, dass Gott eines Tages ihre Unschuld beweisen und der Schuldige seine Strafe erhalten werde. Alles andere gehe sie nichts an. Die anderen Inhaftierten behandeln sie schlecht. Wir haben viele Frauen hier, die sich nach ihren Kindern sehnen, besonders wenn man sie in Pflegeeinrichtungen gegeben hat. Deshalb werden sie leicht gehässig gegen eine, die eine Schwangere umgebracht hat. Sie spricht ja auch mit niemandem. Die anderen halten sie für hochnäsig, aber das trifft es wohl nicht ganz …«

Anita nahm ihre Lesebrille ab und presste den Zeigefinger auf die Nasenwurzel.

»Du kannst ja mal versuchen, ob du Zugang zu ihr findest. Vielleicht redet sie mit dir. Aber versprich dir nicht zu viel. Ingeborg hat es wirklich versucht. Bevor sie verurteilt wurde, hat man sie psychologisch abgeklopft. Aber sie wurde für voll zurechnungsfähig erklärt. Wobei ich mich frage, wie man jemanden für zurechnungsfähig halten kann, der Leute mit einer Bratpfanne erschlägt.«

Anitas Freimütigkeit überraschte mich. Normalerweise sagt der Anstaltsleiter kein Wort über die Inhaftierten. Die Schweigepflicht liegt für gewöhnlich wie eine dicke, schalldichte Watte über allen Kontakten. Manchmal wechselt man bedeutsame Blicke oder zeigt seine Übereinstimmung auf andere Weise. Aber man spricht nicht über die Inhaftierten.

Es gefiel mir, dass Anita darüber sprach. Dass sie es aus einer Art Fürsorge für die Gefangene tat, war offensichtlich. Sie wollte, dass ihr geholfen wurde, und um das zu ermöglichen, schob und rückte sie ein wenig an den Vorschriften herum.

Deshalb war es vielleicht auch Absicht, dass Anita die Akten der Inhaftierten offen auf dem Schreibtisch liegen ließ, während sie hinausging, um uns einen Kaffee zu besorgen.

Normalerweise hätte ich wohl nicht im Traum daran gedacht, einen Blick darauf zu werfen. Mich interessiert nur das, was die Inhaftierten mir freiwillig erzählen wollen.

Aber während ich verfolgte, wie sich das Klappern von Anitas Absätzen auf dem Gang entfernte, drehte ich vorsichtig das Blatt Papier zu mir und las, was dort stand.

Gun Johansson, geboren 1965.

Wir waren also genau gleichaltrig.

Ledig, nie eine feste Partnerschaft gehabt. Keine Kinder. Arbeitete als Putzfrau in einer Konditorei. Auch dort keine näheren Kontakte. Bis sie sich mit dem ermordeten Paar in der Nebenwohnung anfreundete. Von dem Moment an hatte sie ununterbrochen erzählt. Hatte mit der einzigartigen, phantastischen Verbundenheit zwischen ihr und den Nachbarn geprahlt.

Es war sogar so weit gegangen, dass man sie deswegen verspottete. Sich darüber amüsierte, wie sie sich an fremde Leute hängte und einzig und allein für deren Wohlergehen lebte.

Anita musste selbst über die Fakten dieses Falles nachgegrübelt haben. Die Anmerkungen stammten von ihr, aufgeschrieben wie eine psychologische Fallstudie. Ich weiß nicht, ob Anstaltsleiter so etwas normalerweise tun. Es schien, als habe Anita sich besondere Mühe gegeben zu begreifen, was passiert war. Jetzt wollte sie mich ebenfalls einweihen.

Das Absatzklappern auf dem Gang näherte sich wieder, und ich schob die Papiere schnell zurück. Als Anita mit den Kaffeetassen hereinkam, versuchte ich, ganz unbeteiligt auszusehen. Aber meine Wangen waren heiß.

»Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte ich.

Anita setzte sich wieder hinter ihren Schreibtisch und legte die Akte beiseite, ohne sich im Geringsten anmerken zu lassen, dass sie mir absichtlich Einblick gewährt hatte.

»Nicht wahr? Und wie gesagt, verrückt ist sie nicht, das hat das Gutachten ergeben. Darauf darf man sich dann ja wohl verlassen.«

»Gibt es denn niemanden, wirklich niemanden, mit dem sie spricht?«

»Doch. Sie spricht mit dem ungeborenen Kind. Und das ist das wirklich Gruselige daran. Das Wachpersonal hat berichtet, dass sie in der Zelle den ganzen Abend Selbstgespräche führt. Und sie konnten nicht umhin zu hören, dass es das tote Ungeborene ist, mit dem sie sich unterhält. Dem sie Gutenachtgeschichten vorliest und Schlaflieder singt.«

»Bekommt sie nie Besuch?«

»Nein, nie. Sie ist jetzt seit drei Jahren hier, und niemand hat sie je etwas anderes sagen hören als das Allernotwendigste. Dass sie Wasser haben möchte oder Milch, oder andere praktische Dinge.«

»Hm. Zehn Jahre?«

»Ja. Ihre Anwälte hatten es schwer, weil sie jede Zusammenarbeit verweigerte. Kein Motiv angab oder etwas in der Art. Nur hartnäckig leugnete.«

Wir saßen eine Weile schweigend da. Kauten sozusagen auf diesem merkwürdigen Schicksal herum.

Anita unterbrach das Schweigen, sie hatte meine Gedanken gelesen.

»Hältst du es eigentlich für möglich, dass man sich in so einer unscheinbar lebenden, ganz normalen Frau auch täuschen kann? Einfach nicht wahrhaben will, dass eine solche Frau vielleicht richtig böse ist?«

»Ja, schon. Aber was ist, wenn sie es wirklich nicht getan hat?«

»Soweit ich das verstanden habe, gibt es daran nicht den geringsten Zweifel. Und überleg doch mal: Wenn du an einem solchen Verbrechen unschuldig wärst, würdest du dann nicht alles daransetzen, um das zu beweisen? Aber nicht mal das tut sie. Dass sie nicht ausgesagt hat, war nicht gerade zu ihrem Vorteil. Obwohl«, fügte Anita hinzu, »manchmal habe ich schon so gedacht wie du. Was, wenn sie es wirklich nicht getan hat. Was wissen wir denn schon von anderen Menschen und ihren Motiven?«

 

Anita und ich vereinbarten, dass ich am nächsten Tag wiederkommen und mich den Gefangenen vorstellen sollte. Erzählen, wer ich war und was ich ihnen anbieten konnte. Anschließend wollte sie Gun ermuntern, mich im Gesprächsraum aufzusuchen. Seit Anita eine Verwendung für mich gefunden hatte, mit der sie etwas anfangen konnte, war sie richtig nett. Ich konnte mir vorstellen, dass wir gut miteinander auskommen würden. Vielleicht konnten wir sogar Freundinnen werden?

Als ich wieder nach Hause fuhr, merkte ich, wie ich kleine Geschichten erfand, in denen Anita und ich Freundinnen waren. Wie wir zusammen zu Mittag aßen oder vielleicht abends in ein Restaurant gingen. Wein tranken und uns Geschichten aus unserem Leben erzählten. Vertrauliche Gespräche führten und doch leichten Herzens über unsere verpassten Chancen lachen konnten.

In solchen Momenten wird mir bewusst, wie einsam ich bin. Wie sehr ich mich nach gleichartiger Gesellschaft sehne. Richtig einsam bin ich natürlich nicht. Ich habe ja meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder, auch wenn sie nicht in Stockholm wohnen und wir meistens nur telefonieren. Ich spreche mit dir, Herr. Ich rede mit den Gefangenen und auch mit den Jugendlichen, die ich durch die Jugendarbeit der Kirche kennen lerne, an der ich manchmal teilnehme. Anders, der Gemeindepastor, ist mir ein guter Freund geworden, obwohl unser Kontakt manchmal etwas steif und formell ausfällt.

Bei meiner Arbeit treffe ich täglich viele Leute. Aber es ist, als ob ich immer im Dienst bin. Als hätte ich vergessen, was man macht, wenn man einfach nur befreundet ist.

Genau wie früher in meinem Leben hast du, Herr, mir einen Platz im Dasein gegeben. Gleichzeitig hat mein Glaube an dich mir eine besondere Art von Einsamkeit geschenkt. Bei meinen Begegnungen mit anderen Menschen ist es, als würden die Menschen ständig dich an meiner Seite sehen. Was sie zu mir sagen, wie sie sich mir gegenüber verhalten, alles ist davon geprägt.

Manchmal bilde ich mir ein, dass sie etwas gezwungener werden, dass sie darauf achten, was sie sagen. Damit sie die richtigen Sachen sagen. Sie gehen davon aus, dass ich weiß, was richtig ist. Dass ich immer das Richtige tue. Dass ich selbstgefällig und selbstgerecht bin, nur weil ich durch meinen Beruf meine moralische und geistige Heimat zeige.

Aber ich treffe nicht nur auf distanzierte Haltung. Viele vertrauen mir ihre Gedanken und Gefühle an, teilen ihr Innerstes mit mir, weil sie wissen, dass ich eine geübte Zuhörerin und diskret bin. Ich stehe außerhalb ihrer gewohnten Zusammenhänge. Oft wollen sie erzählen, dass sie ein schlechtes Gewissen wegen etwas haben. Sie waren untreu oder unaufrichtig. Aber es gibt auch welche, die sich einfach nur verirrt fühlen.

Doch wenn sie sich die Nase geputzt und ihre Tränen getrocknet haben und sich etwas besser fühlen, wollen sie, dass ich Abstand zu ihnen halte. Dann fühlen sie sich durch mich an ihre Schwachheit erinnert, an ihre seelische Not und Verwirrung. Dass sie Kontakt zu mir hatten, ist ein Zeichen für Unbeherrschtheit und Verzweiflung. Keine Beziehung, auf die man stolz sein könnte.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass Psychotherapeuten eine Art Intellektuellenstatus genießen, während Pfarrer einfach nur kostenlos und anspruchslos sind, sie sollen nur ja und amen sagen und deine Sünden sind dir vergeben und lasst uns beten.

Pfui, was ist nur in mich gefahren. Scham wallt in mir auf, und am meisten schäme ich mich vor dir, Herr, weil du mir diese Gabe gegeben hast, dir und den Menschen zu dienen und einen Weg zu finden, gut zu sein. Denn niemand kennt die Beschränkungen des Menschen besser als du, und ich bin doch auch nur ein Mensch. Aber manchmal habe ich es satt und bin enttäuscht, dass ich so selten ernst genommen werde.

Ich fühle mich auch nur im Privatleben zu kurz gekommen. Nie in den Gefängnissen, die ich besuche. Das Leben dort ist anders. Reduzierter und gleichzeitig zugespitzter. Dort bekommt meine Stimme einen anderen Klang, was ich sage, hat ein anderes Gewicht. Dort weiß man, dass Psychologie einen Menschen nicht derart auf den rechten Weg bringen kann, wie du es kannst.

Den Eindruck hatte ich bei den Gefängnissen mit männlichen Inhaftierten. Wie das im Frauengefängnis sein würde, wusste ich noch nicht.

 

Es war spätabends, als ich nach Hause kam, und ich war ungewöhnlich niedergeschlagen und gereizt. Sah mich um in meiner Einzimmerbude und fand sie armselig.

Warum hatte ich zum Beispiel ein so schmales Bett gekauft? Die jämmerlichen achtzig Zentimeter nahmen sich richtig klösterlich aus, und ich begriff nicht, warum ich es unbedingt hatte haben wollen. Volle zehn Zentimeter schmaler als ein normales Einzelbett. Wenn ich meine Lage verändern wollte, musste ich rotieren wie am Grillspieß, anstatt mich einfach auf die andere Seite zu drehen. Es war lange her, dass ein Mann neben mir geschlafen hatte, aber es war immerhin vorgekommen. Und ganz anders, als viele glauben, finde ich nichts Schlimmes daran. Liebe zwischen Menschen heißt, Gottes Liebe auf der Erde zu begegnen.

Aber um ehrlich zu sein, ist es wohl eher so, dass ich das am liebsten glauben möchte. Das Bett verrät mich. Als ich es kaufte, wollte ich dir, Herr, damit andeuten, dass ich die irdische Liebe nicht empfangen würde. Dass ich rein und frei für dich sein wollte.

In mir steckt eine Nonne, die ich nur schwer ablegen kann. Und eigentlich glaube ich, dass ich ganz einfach Angst vor der Liebe habe.

Vor ihr auch.

Meine enge Küche ist ebenfalls schäbig. Der kleine unansehnliche Tisch. Zwar mit zwei Stühlen, aber auf dem Tisch hat nur ein großer Teller Platz. Einsam, sagte alles in meiner Wohnung. Ein einsames Leben. Kein angenehmes Singledasein, sondern ein karges und missgünstiges.

Der große alte, geerbte Fernseher mit seinem unscharfen Bild und seinem schlechten Ton. Das Sofa mit seinem abgewetzten Bezug, das in meinem Elternhaus stand und das meine Mutter zum Sperrmüll geben wollte, als sie sich von meinem Vater trennte. Das Sofa, das ich aus Loyalität zu ihm stattdessen in meine Wohnung schleppte. Jetzt stand es da und war ebenso muffig wie mein Schuldgefühl Papa gegenüber, weil Mama sich von ihm scheiden ließ.

Mein Sessel ist graubeige und abgeschabt. Er hat lange im Pastoratsbüro gestanden. Als genug Geld da war, um einen neuen zu kaufen, wollte niemand ihn haben, weil er gar zu schäbig aussah. In dem saß ich und las und starrte auf das verschwommene Fernsehbild. Hatte daran gedacht, ein Stück freundlicheren Stoff darüber zu legen, aber es kam nie dazu.

Meine triste, abgenutzte Einrichtung war mir noch nie so aufgefallen wie an diesem Abend.

Plötzlich verglich ich mein Leben mit dem anderer Frauen, wie ich es mir vorstellte. Wie beispielsweise das von Anita. Sie hatte bestimmt ein gemütliches, gepflegtes Zuhause. Familie.

Ich trank ein paar Gläser Wein und sah mir einen völlig bescheuerten Fernsehfilm an, anstatt mich vorzubereiten, wie ich es hätte tun sollen. In der Bibel nach Stellen suchen, die für Gun oder eine der anderen Inhaftierten passen könnten. Mir eine geeignete Weise überlegen, um Kontakt zu den Gefangenen aufzunehmen.

Aber ich saß da in meinem unbequemen, hässlichen Sessel, ließ mich vom Wein benebeln und von einem infantilen Hollywood-Schmachtfetzen berieseln. Und das Albernste war, dass ich am Schluss des Films, als die Liebenden sich kriegten, vor Rührung zu heulen begann.

Irgendetwas Merkwürdiges passierte mit mir. Noch verstand ich nicht, was.

Jemand atmet schwer in mein Ohr. Jemand, der mir verzweifelt gern etwas zuflüstern möchte, aber nicht weiß, wie er es sagen soll. Ich versuche zu lauschen, kann aber nur Zischlaute heraushören. Der Atem dringt in mein Ohr, feucht, warm und fordernd. Ich bin ganz still. Warte gespannt. Aber es kommen keine Worte. Nur der heiße Atem, der immer unangenehmer wird. Übel riechende, heiße Stöße.

Schließlich halte ich es nicht mehr aus. Muss weg, will das nicht mehr. Versuche das Gesicht abzuwenden, aber unnachgiebige Arme und harte Hände halten meinen Kopf fest. Jetzt ist ein leise gurgelndes Geräusch zu hören. Speichel rinnt in mein Ohr hinein. Der Speichel macht mir Angst, er ist das Entsetzen, das in mich einsickert wie ätzendes Gift.

»Ich will nicht!«, schreie ich. »Ich will nicht!«

Aber meine Worte werden erstickt, wie wenn man unter Wasser redet.

Endlich gelingt es mir, mich so weit loszureißen, dass ich die Person sehen kann, die mich festhält.

Es ist eine Frau, sie ist blutüberströmt. Sie hat eine klaffende Platzwunde auf dem Kopf. Blut rinnt herab und staut sich auf ihren Wimpern. Da begreife ich, wer sie ist. Die Frau, die mit der Bratpfanne erschlagen wurde. Ihr Blick ist tot, aber ihre Lippen machen vergebliche Versuche, Worte zu formen.

Kapitel 2

Als ich am nächsten Morgen zum Gefängnis fuhr, hatte ich einen schweren Kopf und fühlte mich durcheinander. Mehrmals wurde ich von Autos erschreckt, die mich überholten. Ich bemerkte sie erst, wenn sie neben mir auftauchten. Dichter Schneeregen fiel, die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, und ich beugte mich übers Lenkrad nach vorn, um überhaupt etwas sehen zu können. Durch die schweren nassen Flocken kam mir der Innenraum des Autos eng und stickig vor, und ich merkte, wie der Kopfschmerz hinter meinen Schläfen pochte.

Ich hielt mir eine Zeitung über den Kopf und lief rasch ins Gefängnisgebäude. »Gottes Engel weinen«, sagte der Wärter, der mich einließ, in breitem schonischen Dialekt, und ich lachte unsicher. Wusste nicht, ob er es scherzhaft oder doch ernst gemeint hatte. Er war dick und blass und hatte den Kragen bis obenhin zugeknöpft, obwohl er so eng war, dass er ihm die Luft abzuschnüren schien.

»Sie weinen über die Schlechtigkeit der Menschen hier auf Erden.«

Er starrte mich unverwandt an, ohne das geringste Anzeichen eines Lachens oder Lächelns, und ich nickte nervös und dachte, der ist nicht mehr weit entfernt davon, verrückt zu werden. Oder war er es schon?

Es sind oft kauzige Menschen, die Gefängniswärter werden. Einige wenige haben soziale Ambitionen, sie wollen gute, hilfsbereite Kumpel für die Häftlinge sein. Aber es gibt andere, die sind genau das Gegenteil. Sie genießen es, die Gefangenen zu erniedrigen, sie verstehen sich als Teil der Strafe. Es kam mir so vor, als könnte ich diese Art von rechtschaffenem Zorn auch bei dem Wärter hier erkennen. Er ging hinter mir her durch die verschiedenen Gänge und Türen, kam nur nach vorn, wenn er aufschließen musste. Es war unangenehm, seine Blicke im Rücken zu haben. Als wir angekommen waren, nickte ich ihm zum Abschied erleichtert zu.

»Manchen kann man nicht vergeben. Über die kann man nur weinen«, war das Letzte, was der Wärter zu mir sagte, ohne meinen Gruß zu erwidern.

Normalerweise hätte ich jetzt etwas sagen müssen über Gottes Vergebung, was den Menschen an sich betrifft, auch wenn manche Taten sich nur schwer in einem versöhnlichen Licht betrachten lassen. Aber etwas hielt mich davon ab, mich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen. Ich ging in Anitas Zimmer und fragte sie, wer er war.

»Ach, das ist Kvarnström«, sagte sie, ohne aufzublicken.

Sie zuckte die Schultern und fuhr fort, ihre Unterschrift auf Dokumente zu kritzeln.

»Er ist manchmal ein bisschen merkwürdig. Am besten, man kümmert sich nicht um ihn.«

Sie hatte die Brille weit vorn auf der Nase, während sie mit ihren Papieren beschäftigt war. Ihre spröden, dauergewellten Haare waren von hellen Strähnen durchzogen und zu einem Dutt weit oben auf dem Hinterkopf zusammengefasst.

Als sie fertig war, legte sie die Papiere zusammen, nahm die Brille ab und sah mich an.

»Ist was passiert? Du siehst ein bisschen … bekümmert aus.«

»Nein, nein, mir geht es gut. Bin nur müde. Hab wenig geschlafen.«

Ich hoffte, dass Anita glaubte, ich wäre die ganze Nacht auf gewesen und hätte mit grundsätzlichen moralischen Fragen gerungen. Dass ich mit unergründlicher Miene an einem schönen alten Mahagonischreibtisch in einem pfarrhausähnlichen Heim gesessen hätte. Eine schläfrige Katze auf dem Schreibtisch und gelehrte Bücher im Rücken. Mit einer Tasse Tee und vielleicht einem Streichquartett von Radio P2. Jedenfalls alles andere als rotweinbesäuselt und schniefend vor einer Hollywood-Schnulze.

»Aha, na, ich hoffe, es sind keine Unklarheiten von hier, die dich wach halten«, erwiderte Anita mit ihrer Raspelstimme und griff mit ihren nikotingelben Fingern nach einer weiteren Zigarette.

»In einer Viertelstunde haben wir Versammlung, da werde ich kurz über einige geänderte Details in den Abläufen hier informieren. Anschließend würde ich dich gerne bekannt machen. Deine Vorstellung übernimmst du dann selbst, nehme ich an. Ja, das musst du wohl, denn ich würde deine Tätigkeit kaum hinreichend beschreiben können.«

»Ja, natürlich. Das passt mir sehr gut.«

Anita trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch und sah mich forschend an. Dann drehte sie sich um und griff nach einem Foto, das auf einem Regal hinter ihr lag. Gab es mir mit leerem Blick. Wir wussten beide, dass sie damit die Grenze des Erlaubten überschritt.

»Das ist sie übrigens. Gun. Ich dachte, du solltest vielleicht wissen, wie sie aussieht«, sagte Anita und versuchte, ganz unbeteiligt zu tun.

Das leichte Zucken, das über ihre Lider huschte, verriet sie. Wenn ich das Bild betrachtete, schlossen wir einen verbotenen Pakt. So durfte ein Kontakt mit einem Anstaltsleiter nicht aussehen. Aber Anita hatte etwas mit Gun und mir vor.

Als ich das Foto ansah, war es, als erhielte ich einen Stoß. Ich kannte die Frau. Ich kannte sie sogar sehr gut.

In der Zeit, als ich für das Studium lernte, ging ich oft in ein Café in der Folkungagata. Ohlssons Konditorei. Das Café war groß und laut und immer gut besucht, und ich fand dort meine Ruhe, um zu lesen und zu arbeiten. Es gehört zu meinen Eigenheiten, dass betriebsame Umgebungen mich beruhigen.

In einer Ecke der Konditorei, direkt neben dem Personaleingang, saß oft diese Frau, die mich jetzt von Anitas Foto ansah. Genau sie war es, auf der ich meine Augen ruhen ließ, wenn ich dort saß und mich zu erinnern versuchte, was ich gelesen hatte oder was der Inhalt des Gelesenen war.

Und wie oft hatte ich gedacht, dass sie, genau sie, die Antwort darauf war, was ich mir unter meiner Lebensaufgabe als Pastorin vorstellte. Ihre herabhängenden Schultern und die Hände, die wie tote Vögel auf den Knien lagen, drückten eine Verlassenheit und Hilflosigkeit aus, die ich lindern und der ich abhelfen wollte. Sie saß dort in ihrem braunen Putzkittel und wirkte wie ausgelöscht. Niemals sah ich, dass sie mit jemandem redete, nicht einmal, dass sie sich bewegte. Sie schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Manchmal versuchte ich, ihren Blick einzufangen. Ich wollte sie anlächeln, ihr das warme Gefühl übermitteln, das ich für sie empfand. Aber es gelang mir nie, ihren Blick auf mich zu ziehen.

Einmal tat ich so, als wollte ich eine Zeitung haben, die auf ihrem Tisch lag, nur um in Kontakt mit ihr zu kommen. Fragte, ob ich mir die Zeitung nehmen dürfte. Sie fuhr zusammen, als hätte jemand sie mit einer Nadel gestochen, und nickte nur, ohne mein Lächeln zu erwidern.

Die Augen auf dem Foto, soweit man sie unter dem strähnigen Pony erkennen konnte, waren schmale Schlitze. Sie war ziemlich dick.

»Ja, ihr Aussehen spricht auch nicht gerade für sie, die Ärmste«, sagte Anita, und ich beneidete sie um die unbekümmerte Art, wie sie Dinge aussprach, die ich mich sogar zu denken schämte.

»Dabei hat sie hier sogar schon zehn Kilo abgenommen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob es für den Gesamteindruck etwas gebracht hat, wie man so sagt. Nein, aber jetzt ist Schluss mit dem Getratsche. Komm, lass uns gehen.«

Nachdem ich das Studium abgeschlossen und als Pastorin zu arbeiten begonnen hatte, war ich so gut wie nie mehr in die Konditorei gegangen. Aber es kam vor, dass ich an die Frau in der Ecke dachte. Und als ich zufällig doch einmal dort vorbeikam, sah ich nach, ob sie noch wie gewohnt dort saß. Das tat sie nicht, und ich fragte mich, was wohl aus ihr geworden war.

Jetzt wusste ich es.

Es war, als hättest du, Herr, mir einen Auftrag gegeben. Du hast sie wieder mit mir zusammengebracht. Es war kein Zufall, dass sich unsere Wege hier kreuzten, und auch nicht, dass es jetzt geschah.

Ich sagte Anita nichts davon, dass ich sie schon früher gesehen hatte. Wir erhoben uns rasch, beide ein wenig erschrocken über unseren Regelverstoß. Keine von uns sollte jemals ein Wort darüber verlieren.

Wir gingen den Gang entlang und kamen in eine Art Allzweckraum.

Wenn man das erste Mal in ein Gefängnis kommt, muss man auf Feindseligkeiten gefasst sein. Daran gewöhnt man sich als Pfarrer. Man muss damit rechnen, der Heuchlerei und Scheinheiligkeit bezichtigt zu werden.

Hier spürte ich mehr davon, als ich vom Umgang mit männlichen Gefangenen gewohnt war. Die wenigen der weiblichen Inhaftierten, die meinem Blick begegneten, machten ein höhnisches Gesicht.

Ich zählte stumm vierzehn Frauen. Gun entdeckte ich sofort. Sie saß allein für sich an einem Fenster, genau in derselben Haltung wie damals. Nicht so dick, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber ebenso hoffnungslos und mit hängenden Schultern, Armen und Händen. Die anderen Frauen musterten mich eingehend, als Anita zu sprechen begann, aber Gun schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass eine fremde Person den Raum betreten hatte. Sie starrte aus dem Fenster, und ihre Lippen bewegten sich kaum merklich, so als dächte sie intensiv an etwas.

In den Händen hielt sie eine Halskette aus Plastikperlen. Die ließ sie vor und zurück durch ihre Finger gleiten, wie einen Rosenkranz. Die Bewegung erschien mechanisch, die Finger griffen auf immer dieselbe Weise zu, Runde um Runde.

An einem Tisch saßen vier Frauen und spielten Karten. Mindestens zwei von ihnen sahen aus wie Amphetaminabhängige. Ihre rastlose Art, ununterbrochen mit den Beinen zu wippen, zu zappeln, sich zu räuspern, zu kratzen und ungeduldig zu werden, sobald etwas im Spiel sich eine Spur verzögerte.

»Verdammte Kacke«, sagte die eine andauernd. Sie bekam ihre Karten und sagte »verdammte Kacke«. Sie verschüttete Kaffee und sagte »verdammte Kacke«. Jemand zögerte zu lange mit dem Ausspielen und sie sagte »mach, verdammte Kacke«. Beim letzten Mal warf sie mir einen schnellen, triumphierenden Blick zu.

Die andere Zappelige vermied es, mich anzusehen, grinste aber ständig viel sagend ihre Mitspielerin an. Die dritte Frau am Tisch saß in Trainingshosen und Unterhemd da. Sie hatte Tattoos auf beiden Schultern und einen Ring in der Nase. Ihre Haare waren dunkelrot und mit einem Frotteegummi zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie schien die Anführerin zu sein. Sie sagte selten etwas, aber wenn, dann klang es brutal. »Hör auf zu labern, mach hinne.« »Ist das hier ’n Kaffeekränzchen, oder was.« »Du ausgekochtes Luder.«

Ihre Unverschämtheiten richteten sich vor allem gegen die Vierte in der Runde, eine junge Frau, schmal und zart, die mit untergeschlagenen Beinen auf ihrem Stuhl saß. Sie rülpste ungeniert und redete ununterbrochen. Und wenn sie redete, schien es so, als spräche sie mit sich selbst. »Haha, hab ich Glück oder hab ich Glück, jawollja, hehe, das ist ein Blatt, mit dem zieh ich euch die Hosen runter, logo, da achtet mal drauf, hier sitzt eine, die weiß alles bei Wer wird Millionär, aber hallo, irgendwann sitzt ihr hier und pisst euch ein, und die hier, die räumt die fetten Sachen ab, jahaa, da fällt euch die Fresse runter, passt mal auf jetzt, bei dem Blatt, was ich hier habe, da kriegt ihr die Klappe gar nicht wieder zu, jawoll, und das und das und dies auch noch …«

So ging es immer weiter, ununterbrochen.