Im Schatten des Systems - Das Erwachen - Silke Horvath - E-Book

Im Schatten des Systems - Das Erwachen E-Book

Silke Horvath

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Beschreibung

Sie ist die Einzige, die selbständig denkt - und damit die Einzige, die gefährlich ist. In einer von Gedankenkontrolle beherrschten Zukunft kämpft eine starke junge Heldin gegen ein fehlerhaftes System, das ihre Identität auslöschen will - und entdeckt, dass sie selbst der Schlüssel zur Freiheit ist. In Lumina herrscht Harmonie. Perfekt orchestriert durch den Sync - ein biomechanisches Implantat, das jede Abweichung im Keim erstickt. Doch Livia Athalis ist anders. Ohne funktionierenden Chip lebt sie versteckt, getarnt, angepasst. Als ihr eine Zwangspartnerschaft mit einem fremden Mann zugeteilt wird, verliert sie die Kontrolle und wird zur Gejagten. Verzweifelt flieht sie in die dunklen Winkel der Megacity und stößt auf eine verborgene Widerstandsbewegung. Dort erfährt sie: Das System ist nicht unfehlbar. Es ist krank. Und sie, die Anomalie, könnte die Rettung sein. Doch wie kann Livia eine Gesellschaft aufwecken, die nicht einmal weiß, dass sie schläft?

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Seitenzahl: 254

Veröffentlichungsjahr: 2025

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in diesem Buch wird zur besseren Lesbarkeit die einheitliche, männliche Form verwendet. Ich möchte jedoch betonen, dass sich alle Menschen gleichermaßen angesprochen fühlen dürfen und dass ich alle Geschlechter sowie die vielschichtigen, persönlichen Identifikationsmöglichkeiten voll und ganz anerkenne und respektiere.

Unter folgendem QR-Code gelangt ihr auf meine Website, auf der ihr die Content Notes dieses Buches findet. Bitte passt während des Lesens auf euch auf.

Für alle, die sich verloren fühlen und an ihrem Platz in dieser Welt zweifeln.

Ihr habt euer inneres Licht noch nicht gefunden - aber es ist da!

Habt den Mut, es erstrahlen zu lassen.

Inhaltsverzeichnis

L - 001

L - 002

L - 003

L - 004

S - 005

S - 006

S - 007

S - 008

S - 009

S - 010

S - 011

L - 012

L - 013

NN - 014

LIEBE LESERINNEN UND LESER

ÜBER DIE AUTORIN

BISHER VON DER AUTORIN ERSCHIENEN

L - 001

NACH stundenlangen Analysen endloser Datenströme in der stickigen Fabrikhalle tritt Livia ihren abendlichen Heimweg durch das stählerne Herz Luminas an. Vorbei an gigantischen, glänzenden Gebäuden, die wie dunkle Schemen in den Himmel ragen und die Stadt in ein dicht gewobenes Netz aus Schatten und künstlichem Licht hüllen, welches jede Spur von ausgelassenem Leben erstickt. Heute herrscht absolute Windstille. Selbst wenn, es gibt kaum Bäume und erst recht keine Blumen, die sich in der Luft bewegen könnten. Nur die unaufhörliche Bewegung der Drohnen, die wie metallische Insekten lautlos über die Straßen und künstlichen Plätze schwirren. Über allem erhebt sich der Regierungssitz, der Obelisk, ein massiver schwarzer Turm, der aus der endlosen Eintönigkeit weißer und edelstahlverkleideter Gebäude herausragt. Gekrönt von einer riesigen Glaskuppel, die den Blick über die ganze Stadt freigibt, überragt er alle anderen Gebäude und erinnert ständig daran, wer in Lumina die Macht hat: Lord Cassian Firek. Ihm untersteht die gesamte Herrschaft der einzigen Stadt auf der Erde, die sich wie ein gewaltiges Netz über einen ganzen Kontinent erstreckt. Menschliches Leben außerhalb dieser gigantischen Metropole existiert nicht mehr. Zumindest nicht, soweit Livia es weiß. Ihr ganzes Leben hat sich in Lumina abgespielt, etwas anderes hat sie nie gesehen.

Hier ändert sich nie etwas, seufzt sie innerlich und zieht ihren Mantel enger um sich, nicht wegen des Klimas, sondern weil die allgegenwärtige Kälte des tristen Lebens sie frösteln lässt. Die Straßen, ausnahmslos makellos sauber, lassen keinen Platz für das Unerwartete, keinen Raum für das Wahre. Kein Lachen durchbricht die Stille des Alltags, nur das unaufhörliche Summen der Drohnen, die über ihnen kreisen, omnipräsent und wachsam.

Als sie um die Ecke biegt, öffnet sich ihr der Place du Souverain. Ein gigantisches Viereck aus glatten, beinahe glänzenden Betonplatten, in dessen Mitte sich die Statue des Regierungschefs Lord Cassian erhebt. Der Platz wirkt fast wie ein Spiegel, der die hoch aufragenden Gebäude schwach reflektiert, sie scheinen sich dadurch ins Unendliche zu strecken.

Die Menschen bewegen sich wie Schachfiguren, von einer unsichtbaren Hand bewegt. Niemand eilt oder bleibt stehen, alles ist synchron. Livia passt sich an, gleitet in den Fluss wie jeden Tag ihres gleichbleibenden Lebens, während ihre Augen unauffällig an den Kanten des Platzes entlangwandern, auf der Suche nach irgendeinem Halt, der nicht existiert.

Plötzlich durchschneidet ein scharfes, metallisches Geräusch die Luft, wie das Klingen eines unsichtbaren Schwertes. Sie bleibt stehen und instinktiv schärfen sich ihre Sinne. Vor ihr, auf der weiten Stelle vor der Statue, spielt sich eine Szene ab, die ihre Aufmerksamkeit und die aller anderen wie ein Magnet anzieht:

Ein junger Mann, unwesentlich älter als sie, steht inmitten der kleinen, unbeeindruckt dreinschauenden Menschenmenge. Seine Bewegungen sind hektisch, fast panisch, während die Menge ihn starr und ausdruckslos fixiert. Livia erkennt sofort, was hier vor sich geht: Der Unbekannte ist ein Disruptor, jemand, dessen Synchronisation nicht mehr richtig funktioniert. Einer, der langsam die Kontrolle verliert. In seiner Verzweiflung greift er nach den Schultern der Umstehenden, seine Hände zittern, während er sich an sie klammert, als könne er sich an ihrer Normalität festhalten.

Doch die Menschen um ihn herum bleiben ungerührt, die Gesichter mit leeren Augen, als wäre seine Berührung nicht mehr als ein flüchtiger Windhauch. Auch Livia steht unbeeindruckt da. Eine Haltung, die sie sich angewöhnt hat, um nicht aufzufallen. Aber während ihr Gesicht unbewegt bleibt, ist ihr Geist hellwach und sie verfolgt das Geschehen mit wachsendem Entsetzen.

„Seht ihr es nicht? Seht ihr es nicht? Der Schmerz, diese Schmerzen!“, schreit er immer wieder, und seine Stimme überschlägt sich vor Verzweiflung wie ein Echo, das in den stummen Gesichtern um ihn herum widerhallt. Sie weiß, was hier geschieht. Der junge Mann ist Opfer eines fehlerhaften Syncs. Ein plötzlich Gefangener seiner eigenen, unkontrollierten Gedanken und Gefühle, die sich ihren Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins bahnen. Livia sieht es ihm an: In ihm wüten Emotionen, die wie wilde Tiere an den Gitterstäben seines Verstandes rütteln. Empfindungen, die er weder kennt noch verstehen kann. Sie sind nichts als rohe, unerträgliche Qual, die ihn von innen heraus zerreißt, während der fehlerhafte Sync in seinem Kopf die Synapsen seines Gehirns nach und nach in glühender Tortur verschmoren lässt. In dieser künstlich geschaffenen Gesellschaft, die auf Gleichheit und Kontrolle aufgebaut ist, ist diese Marter nicht nur ein persönliches Leiden, sondern eine gefährliche Abweichung und Bedrohung des gesamten Systems, die gnadenlos eliminiert wird. Denn ein Disruptor wie er wirft eine gefährliche Frage auf: Wenn es dem Geist gelingt, sich von dem eisernen Griff des Syncs zu befreien, wer sagt dann, dass dies nicht jedem wiederfahren kann? Diese Möglichkeit wäre wie ein Virus, der die perfekte Ordnung des Systems ins Schwanken geraten lassen würde. Und was, wenn die Menschen begreifen, dass die glatte Fassade ihres Lebens nicht der Sicherheit dient, sondern allein dem Vorteil eines Mannes, der die Regeln aufstellt und nach Belieben bricht? Dass das System, das sie schützt, mittlerweile nichts weiter ist als ein Werkzeug, das seinem Willen gehorcht und ihm erlaubt, ungestraft zu herrschen? Der Zusammenbruch der Erde wurde längst abgewendet, aber jede Abweichung würde das Fundament von Lord Cassians Macht zum Einsturz bringen, und deshalb darf kein Disruptor existieren.

Die Drohnen reagieren sofort. Ein grelles Licht erfasst den jungen Mann, begleitet von einem ohrenbetäubenden Sirenenton, der die erdrückende Stille auf dem Platz durchbricht. Livia beobachtet die Menschenmenge unbemerkt, die instinktiv zurückweicht. Die Drohnen surren tiefer, ihre mechanischen Arme strecken sich aus, um den Störenfried einzufangen.

Wie kann das jedes Mal so schnell gehen? Beklemmung steigt in ihr auf wie eine Welle, die sie zu überspülen droht. Sie lässt bewusst die Schultern langsam herabsinken und spreizt ihre Finger. Mit leichtem Zittern, das nur sie wahrnimmt, schließt sie die Lider, um den aufkommenden Sturm in ihrem Innern einzuschließen. In ein paar Sekunden wird alles vorbei sein. Als sie die Augen wieder öffnet, liegt der Mann, der eben noch verzweifelt um sich geschlagen hat, bewusstlos am Boden, verschluckt von der gnadenlosen Resignation der Umherstehenden. Die Drohnen heben ihn auf, als sei er nichts weiter als ein defektes Gerät, das entweder repariert oder entsorgt werden muss, so als wäre er nichts mehr wert.

„Disruptor“, flüstert Livia kaum hörbar.

Wenigstens hat er noch die Chance auf einen neuen Sync, denkt sie und unterdrückt ihre aufkommende Wut. Es ist das unausweichliche Schicksal, das jeden ereilt, der nicht perfekt synchronisiert ist, sofern in seinem Kopf noch nicht zu viele Synapsen verkohlt sind.

Wie lange noch, bis ich entlarvt werde?

Das Sync-System ist nahezu fehlerfrei, wenn es darum geht, Unregelmäßigkeiten aufzuspüren und auszumerzen, um die makellose Struktur zu bewahren. Während sich die Menge unbeeindruckt auflöst, zwingt sich Livia ebenfalls zum Weitergehen, aber mit jedem Schritt nagen Angst und Unsicherheit stärker an ihr, die sie sich äußerlich nicht anmerken lassen darf. Der Gedanke, so zu enden wie der junge Mann auf dem Platz, bringt ihre sorgfältig aufgebaute Fassade der Gleichgültigkeit gefährlich ins Wanken.

Mir bliebe nur der endgültige Tod, denkt sie verbittert, während sie mit gesenktem Blick und gestrafften Schultern ihren Weg zu dem Wohnblock fortsetzt, den sie mit ihren Eltern teilt. Sie läuft an unzähligen, kubusförmigen Gebäudekomplexen vorbei, die in Reih und Glied aneinandergepresst stehen. Jedes Fenster ist mit der gleichen silbrig schimmernden Scheibe versehen, in der man sich im Vorbeigehen spiegelt, aber niemals ins Innere sehen kann. Alles hier folgt dem klaren Muster, bei dem Funktion stets Form überwiegt. Der betonierte Boden ist an einigen Stellen von dunklen Flecken übersät, über deren Herkunft Livia lieber nicht nachdenken möchte. Vielleicht Öl, vielleicht etwas anderes. Es spielt ohnehin keine Rolle. Alles ist makellos, soweit Beton sich säubern lässt. Die Straße, auf der sie nach Hause läuft, ist nicht mehr als ein gerader, schmuckloser Pfad. In regelmäßigen Abständen stehen große, glänzende Mülltonnen, die tadellos sauber sind. Das Regime duldet keine Unordnung.

Während sie zügig weiterläuft, ziehen endlos wiederholende Formen an ihr vorbei. Sie weiß, dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob man in Distrikt 11, wie sie, oder in Distrikt 3 oder 20 lebt. Es ist überall das Gleiche: die gleichen Blöcke, die gleichen Straßen, die gleichen gesichtslosen Menschen. Nur die Zahlen an den Ecken der Gebäude verraten einem, wo man sich gerade befindet.

Langsam steigt die allzu vertraute Verzweiflung in ihr auf.

Wenn ich nur so wäre wie sie, geht es ihr durch den Kopf. Warum konnte ich nicht wie alle anderen mit dem funktionsfähigen Sync geboren werden? Wie einfach wäre es doch, all das nicht bewusst wahrnehmen zu müssen und zu verstehen.

Vielleicht wäre sie dann ihre Einsamkeit endlich los.

Vor vielen Jahren, als die Erde am Rande des Abgrunds stand und die Menschheit sich durch Klimakatastrophen, Kriege, Hass und Neid selbst zerstörte, fanden Wissenschaftler eine letzte, verzweifelte Lösung: den Sync. Ein unscheinbarer biomechanischer Chip, der dennoch alles veränderte, wurde mit unglaublicher Wirkung in die Gehirne der Menschen implantiert. Durch diese Prozedur gelang es damals in erstaunlich kurzer Zeit, über 70 Prozent der verbliebenen Menschheit mit dem System der letzten funktionierenden Regierung zu synchronisieren. Sie priesen die Gleichschaltung als Rettung. Aber für Livia ist es heute die ultimative Fessel. Kein Mensch denkt eigenständig, keine Entscheidung wird ohne das System getroffen. Das ist der Preis für den sogenannten Frieden.

Die neue Obrigkeit mit Sitz in Lumina, damals noch Novaris genannt, wurde unmittelbar nach der sogenannten Besserung zum Zentrum des Planeten erklärt. Viele Generationen später wurde Alarik Firek, der Großvater des heutigen Herrschers Lord Cassian, kurz vor dessen Amtsantritt zum Ersten Offizier des Wissenschaftlerteams von Lumina ernannt und erhielt dadurch uneingeschränkten Zugang zur Technologie des Syncs und dessen Funktionsweise. Er entwickelte das System weiter, sodass es heute keiner mehrschichtigen Regierung mehr bedarf, sondern nur die Entscheidungsgewalt eines einzelnen, um den Frieden zu sichern.

Der Chip hat seit seiner Erfindung die Menschheit von Grund auf verändert. Er kontrolliert nicht nur Gedanken und Gefühle, sondern sorgt auch dafür, dass alle Handlungen im Einklang mit der neuen Weltordnung stehen. Die Überwachung dessen gehörte bis zu seinem plötzlichen Tod zu Alariks Hauptaufgaben. Das System wurde bei seiner Entstehung als alternativlos dargestellt, als Rettung für die Menschheit. Die Regierung propagierte diese Besserung als einzige Möglichkeit, das Überleben der verbliebenen Menschheit zu sichern. Die Gleichschaltung ermöglichte es, jede Abweichung der Norm sofort zu erkennen und zu unterdrücken. Niemand sollte mehr selbstständig denken, niemand mehr die Fähigkeit besitzen, eigene Entscheidungen zu treffen, denn das System hatte längst die Kontrolle über das kollektive Bewusstsein übernommen. So gab es keine Kriege mehr und die Menschheit hörte auf, sich gegenseitig zu zerstören. Es gelang der Regierung, den drohenden Kollaps der Erde zu verhindern. In der Folgezeit begann sich die Erdoberfläche in dieser erzwungenen Monotonie langsam zu erholen. Bis heute ist es das oberste Ziel des Regimes, diesen Zustand um jeden Preis zu erhalten. An ihrer Spitze steht heute der Mann, dessen Gesicht mit spitzer Nase, zusammengekniffenen Augen und kantigen Wangenknochen auf den Bildschirmen jeder Straßenecke prangt: Lord Cassian Firek, der sich durch die alleinige Kontrolle dieses unterdrückenden Systems zum absoluten Herrscher aufgeschwungen hat und alles daran setzt, die Erforschung der Sync-Chips voranzutreiben, um seine Macht immer weiter zu festigen und den Status quo zu erhalten. Zum Vorteil der damals Regierenden mutierte der Chip schnell, schlich sich in die DNA der Menschen ein und wurde Teil des Erbguts, das durch natürliche Fortpflanzung weitergegeben wurde, wodurch es noch einfacher wurde, die neue Generation in den Zustand der Zwangsgleichschaltung zu versetzen. Heute werden die Menschen nicht nur mit diesem Chip geboren, sondern synchronisieren sich durch einen kleinen Eingriff ab ihrem sechsten Lebensjahr mit dem staatlichen System. Nur selten gibt es eine Ausnahme: einen sogenannten Fehlenden. Menschen werden zwar mit einem Sync geboren, aber durch eine Laune der Natur werden die Signale des Systems nicht an ihr Gehirn weitergeleitet. Diese wenigen Menschen erkennen durch ihre Einzigartigkeit und das selbstständige Denken die Unterdrückung und Tyrannei, die hinter dem vermeintlichen Frieden der Gesellschaft stecken. Solche Abweichungen werden nicht geduldet, nicht in dieser Weltengemeinschaft, in der jede Individualität als Bedrohung angesehen wird. Wagt es ein solcher Mensch, eigenständig zu handeln, wird er gnadenlos eliminiert.

„Emotionen sind eine Schwäche“, sagte Livias Vater ihr einmal, als sie noch klein war.

„Warum?“, fragte sie mit wippendem Zopf und kindlicher Neugier.

„Gefühle machen uns verwundbar“, erklärte er. „Das System schützt uns vor uns selbst. Emotionen sind die Quelle aller Konflikte, die unsere Welt einst an den Rand des Kollapses brachten.“

„Aber was ist mit Freude?“, fragte sie und legte den Kopf schief.

„Freude ist ebenfalls eine Schwäche“, erwiderte er mit unbewegter Miene. „Denn sie lenkt uns vom Wesentlichen ab. Nur wenn wir alle Gefühle kontrollieren, sind wir wahrhaft stark und unverwundbar.“

Damals nickte sie einfach still, wohl wissend, dass es sinnlos war, weiter zu fragen. Freude, Wut oder Trauer wurden verbotene Bereiche, die, je älter sie wurde, in ihrem Leben offenkundig keinen Platz hatten und die sie nur im Verborgenen empfinden durfte.

Einem Fehlenden nach so vielen Generationen einen funktionierenden Sync einzusetzen, ist sinnlos, da die Verschmelzung in das genetische Erbgut nicht mehr möglich wäre. Denn in dieser vermeintlich friedlichen Gemeinschaft ist die Gleichheit das höchste Gut; der Schutzschild, hinter dem die Angst vor dem Chaos lauert, vor dem Hass und der Gier der Gesellschaft, die einst die Erde beinahe unwiederbringlich in den Abgrund rissen.

Livia gehört nicht zu den trügerisch Glücklichen. Sie ist eine dieser Fehlenden; einer jener Menschen, deren Körper sich der Synchronisierung widersetzte. Das macht sie zur Abweichung, zu einer Gefahr für die Ordnung und zur Zielscheibe dieses Gefüges. Ihr Leben lang hat sie versucht, das System zu täuschen, ihre wahren Gefühle und Gedanken zu verbergen. Die ständige Angst, entdeckt zu werden, nagt unerbittlich an ihr.

Jede ihrer Handlungen ist eine Gratwanderung und jeder noch so kleine Fehler kann ihr Leben zerstören. Sie weiß, dass ihr Anderssein ihr jeden Tag den sicheren Tod bringen kann. Die Drohnen, die wie Spione durch die Straßen fliegen, registrieren fast jede Bewegung, beinahe jeden Atemzug. Nur in einigen wenigen Nebenstraßen oder verwinkelten Gassen, die eine Überwachung nur geringfügig zulassen, kann sich Livia für einen kurzen Moment unbeobachtet fühlen. Die synchronisierten Menschen um sie herum folgen den Vorgaben der Regierung, ohne jemals zu hinterfragen.

Oft kommt es ihr so vor, als würde eine unsichtbare Barriere sie von den Menschen trennen, die sie liebt, während die Furcht, entdeckt zu werden, wie ein düsterer Begleiter täglich drohend hinter ihr steht. Jeder Moment wird von dieser verborgenen Gefahr überschattet und lässt sie seit ihrer Kindheit niemals los.

                

Livia erwacht am nächsten Morgen im Halbdunkel ihres Zimmers, das einem kargen, rechteckigen Käfig gleicht, dessen Wände so glatt und kahl sind, dass jeder Gedanke, jede Hoffnung an ihnen abzuprallen scheint. Über ihrem Bett, das eher einer funktionalen Pritsche als einem Ort der Behaglichkeit gleicht, ist das Interface angebracht. Keine freundliche Lichtquelle oder ein sanfter Schein, der Wärme verspricht, nur ein kaltes, klinisches Glühen an der kühlen Stahlwand. Wie ein unerbittlicher Aufseher, der nie schläft oder auch nur blinzelt und der die Zeit, das Wetter und die Aufgaben des Tages anzeigt; eine der vielen Konstanten in ihrem Leben, die jeden Funken Individualität zu ersticken suchen und ihr Dasein in endlose Langeweile tauchen.

Wie viele Menschen starren jeden Morgen stumpf in dieses kalte Licht und glauben fälschlicherweise, dass es alles ist, was das Leben zu bieten hat?, fragt sich Livia gähnend. Alle haben sich so sehr an diese Leblosigkeit gewöhnt, dass sie vergessen haben, wie es sich anfühlt, wirklich frei zu sein!

In der Stille ihres rechteckigen Zimmers, tief in ihrem Inneren, weiß sie, dass etwas in ihr leuchtet. Ein Licht, so klein und gefährlich wie eine verbotene Frucht. Fast jeden Tag wünscht sie sich, so zu sein wie die anderen Bewohner Luminas. Das würde zumindest alles einfacher für sie machen. Wie eine Hülle, gesteuert durch den Zentralcomputer der Regierung.

Dann hätte dieses ewige Versteckspiel ein Ende.

Während ihre Eltern sich blind vom System leiten ließen und Entscheidungen für sie getroffen wurden, die sie nie hinterfragten, spürte sie schon immer tief in ihrem Inneren diese Freiheit, die ihr damals schon so kostbar wie gefährlich erschien. Doch mit dieser Erkenntnis kam auch die Furcht, denn an einem schicksalhaften Tag sah sie, was mit denen geschieht, die nicht zum System gehören, als sie zufällig Zeugin einer Verfolgung und anschließenden Eliminierung wurden.

„Sie gehören nicht zu unserem System und gefährden den Frieden“, hatten ihre Eltern ihr gesagt.

In Lumina ist es so: Wird ein Kind geboren, wird es unmittelbar nach der Geburt in die sogenannte Kinderbasis gebracht. Dort verbringen alle Neugeborenen ihre frühe Kindheit. Die leiblichen Eltern kommen sie dort in den ersten Jahren nur ab und zu besuchen. Eine Verbindung wird dadurch kaum, meistens gar nicht aufgebaut. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern bleibt wie alles in Lumina unverbindlich. In ihrem sechsten Lebensjahr, wenn sie beginnen, sich als eigenständige Individuen wahrzunehmen, aktiviert ein Arzt im Auftrag des Systems den angeborenen Sync. Bis dahin darf jedes Kind sich frei entwickeln, aber ab der Aktivierung wird es innerhalb weniger Monate Teil des Systems.

In der Vergangenheit hat man versucht, den Sync unmittelbar nach der Geburt zu aktivieren, was jedoch unweigerlich zum Tod unzähliger Babys führte. Ohne Emotionen fehlte ihnen der Überlebensinstinkt. Sie schrien nicht, wenn sie Hunger oder Wärme brauchten, und verließen daher die Welt wieder still und leise. Obwohl sich die zugewiesenen Erwachsenen um ihre Grundbedürfnisse kümmerten, schien etwas Wesentliches zu fehlen. Man fand heraus, dass das kindliche Bewusstsein erst mit sechs Jahren so weit entwickelt ist, dass es gefühlsunabhängig überleben kann.

Auch Livia verbrachte ihre ersten sechs Jahre in der Kinderbasis, bis eines Tages der Arzt, der regelmäßig kam, um die Gesundheit der Kinder zu überprüfen, sie in das Untersuchungszimmer bringen ließ. Er setzte sie in eine Ecke, gab einige Befehle in das Interface ein und lehnte sich so weit zu ihr vor, dass er ihr ins Ohr flüstern konnte. Die Information, die er ihr auf diesem Weg vermittelte, war durch einen elektronischen Loop geschützt. Eine spezielle Frequenz, die er so konfiguriert hatte, dass sie sich für genau diese wenigen Sekunden wiederholte und das System täuschte, ohne Alarm auszulösen. Er war ein Fehlender wie sie und erklärte ihr in exakt 56 Sekunden, länger konnte man die Frequenz nicht aufrechterhalten, wie sie in dieser Welt überleben konnte, und versprach ihr, immer für sie da zu sein. Die Worte brannten sich tief in ihr Bewusstsein ein; sie hütet sie seitdem wie einen wertvollen Schatz und spricht mit niemandem darüber. Durch seine Informationen veränderte sich ihr Leben grundlegend: Sie erkannte, dass ihre eigenen unabhängigen Gedanken eine Bedrohung für ihr Leben darstellen konnten, und dass sie sich anpassen musste. Sie musste lernen, sich wie die Syncs zu bewegen, Anweisungen auszuführen und auf alles, was um sie herum geschieht, nicht zu reagieren. Um sie dabei zu unterstützen, stellte Dr. Scott ihr ein gefälschtes Attest über eine eingeschränkte Lungenfunktion aus, wodurch sie regelmäßig zu Nachuntersuchungen bei ihm erscheinen musste. Dann nutzte er die Zeit der sogenannten Transition, jene Monate, in denen sich die kindlichen Syncs noch vollständig an das System anpassen müssen, um die lückenlose Synchronisierung zu gewährleisten. Während dieser Phase kann das System die Körperfunktionen noch nicht zuverlässig überwachen, sodass die zusätzliche Expertise eines Arztes erforderlich ist. Bei diesen kurzen Untersuchungen nutzte er die Gelegenheit, um sicherzustellen, dass es ihr gut ging und um ihr beizubringen, wie sie in dieser Gesellschaft überleben kann.

Er hat nie alles auf einmal erzählt. Es waren immer kleine Stücke, eingefügt in die knappen Momente, die sie während der Loops teilen konnten. Manchmal war es nur ein Satz, aber über die Zeit hinweg hatten diese Fragmente ein Bild geschaffen, das sie verstehen konnte.

„Die alte Welt,“ hatte er einmal gesagt, „die war nicht perfekt, Livia. Aber sie war echt. Die Menschen lebten. Sie entschieden. Sie liebten. Und ja, sie scheiterten auch.“

Als sie ihn fragte, warum jemand freiwillig versagen wollen würde, lächelte er.

„Weil das Scheitern der Beweis dafür ist, dass man etwas versucht hat. Dass man frei ist, Fehler zu machen, ohne dass eine Maschine deine Gedanken korrigiert oder dich zurück auf den richtigen Weg zwingt.“

Ein anderes Mal erzählte er ihr von Büchern. Aus Papier, die Worte enthielten, die Menschen vor langer Zeit geschrieben hatten. „Jeder Mensch hatte seine eigene Geschichte“, sagte er. „Sie schrieben über ihre Gedanken, ihre Träume, ihre Ängste. Jede Seite war ein kleines Universum. Stell dir vor: ein Universum, das nur dir gehört.“

„Aber warum etwas schreiben, wenn niemand es kontrolliert? Wie weißt du dann, ob es richtig ist?“

„Es ging nie darum, ob es richtig war“, erkläerte er. „Der Kern der Sache war, dass es authentisch war.“

Und dann war da dieser andere Moment, an den sie immer wieder zurück denkt. Es war einer der letzten Loops, bevor sie zu ihren Eltern kam. Dr. Scott legte ihr die Hand auf die Schulter und tat mit einem Stethoskop so, als höre er ihren Brustkorb ab. „Livia, du hast einen Sync, wie alle anderen Menschen auch. Aber deine neuronalen Rezeptoren sind defekt. Das System erkennt deinen Sync zwar, aber es merkt nicht, dass das Signal dich nicht erreicht. Das macht dich zu einer Fehlenden. Du kannst Dinge fühlen, Dinge sehen, die die Synchronisierten niemals verstehen können. Eines Tages wirst du wissen, wie sich Freiheit anfühlt. Und wenn du das tust, wirst du für sie kämpfen.“

In ihrer kindlichen Naivität stellte sie sich das wie einen Fehler in der Schaltzentrale ihres Gehirns vor. Durch die Erklärungen Dr. Scotts begriff sie, dass dies der Grund war, weshalb sie nach der Synchronisation weiterfühlen konnte und wie essenziell es für ihr Überleben war, dies zu verbergen. Anders als bei den Disruptoren, bei denen die Rezeptoren aus unerklärlichen Gründen einfach durchschmorten. Warum das manchen Menschen passierte und anderen nicht, weiß Livia nicht. Noch heute ist sie darüber erstaunt, wie viele Informationen in wenigen Sekunden ausgetauscht werden können. Genauso unglaublich erscheint es ihr, dass sie als junges Mädchen alles verstehen konnte, was Dr. Scott ihr damals erklärte. Aber sie hatte ja auch keine Wahl.

Wenige Wochen später wurde sie zum ersten Mal zu ihren Eltern zurückgebracht. Sie erinnert sich daran, wie glücklich sie war, endlich zu ihrer Familie zu dürfen, ein Zuhause und richtige Eltern zu haben. Aber ihre Erwartungen wurden schnell enttäuscht. An einem Abend, kurz nachdem sie als Kind zu ihren Eltern gezogen war, saß sie mit ihnen an dem kargen Tisch der ihr noch unvertrauten, sterilen Wohnung, die nicht mehr Wärme ausstrahlte als der kalte Stahl, aus dem sie gefertigt war. Vor ihnen standen drei identische Schalen mit einer gräulichen Paste, die alle Nährstoffe enthielt, die der Körper brauchte. Es war eines der wenigen geschmacklosen und genormten Gerichte, das von den riesigen Nahrungsfabriken produziert wird. Ihre Mutter kaute mechanisch die zähe Masse und sprach in ruhigem Tonfall, der Livia befremdlich vorkam: „Heute wurde eine Fehlende gefasst."

Ihr Vater nickte, ohne den Blick zu heben.

„Nimm dich vor ihnen in Acht, Livia“, sagte sie weiter. „Ihre Gedanken sind nicht geregelt, sie sind gefährlich.“

In diesem Moment wusste Livia, dass alles, was Dr. Scott ihr vor ihrem Auszug aus der Kinderbasis gesagt hatte, der Wahrheit entsprach: Die Welt, in der sie lebte, basierte auf Unterdrückung, und die leere Gleichgültigkeit ihrer Eltern war Beweis genug, wie tief sie durch ihren Sync mit dem System verbunden waren. Sie spürte den Funken in ihr flackern, und sie schwor sich, ihn zu ihrer Sicherheit niemals aufflammen zu lassen.

Das Leben bei ihren Eltern war völlig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie konnten nichts für ihre emotionale Kälte, auch das hatte ihr der Arzt genau erklärt. Auf Anraten Dr. Scotts hatte sie sich zu ihrem eigenen Schutz darin perfektioniert, ihre Gefühle tief in sich zu begraben und jede Regung sorgfältig hinter einer Maske aus kalter Gleichgültigkeit zu verstecken. So perfekt, dass sie ununterscheidbar von der Leere eines Syncs ist. Es wurde zu ihrem Schutz und zugleich ihrem Gefängnis, in dem sie seither unsichtbar lebt, stets in Furcht, jederzeit entdeckt zu werden. Sie ist sich sicher, dass es allen Fehlenden so ergehen muss. Manchmal glaubt sie, diese sogar erkennen zu können, wenn sie bei einem flüchtig Vorbeigehenden auf der Straße etwas in seinen Augen bemerkt. Etwas Lebendiges, kaum wahrnehmbar.

L - 002

LIVIA tippt auf das Interface, um das Licht etwas heller zu machen, und prompt erscheint das Antlitz von Lord Cassian Firek. Sein scharfer, falkenähnlicher Blick und das markante Gesicht strahlen unnachgiebige Autorität aus, die keine Schwächen duldet. Darunter prangt der Slogan:

synchronisiert für ein besseres Morgen!

Jeden Tag wird man daran erinnert, wem man dient. Langsam richtet Livia sich auf und greift nach einem Haarband, das auf dem Nachttisch liegt. Während sie ihr schulterlanges, dunkelblondes Haar zu einem lockeren Zopf bindet, schweift ihr Blick durch das kleine runde Fenster nach draußen. Die Stadt erscheint ihr wie eine kalte glänzende Wüste, die sich unendlich in die Weite zieht. Aus ihrer Mitte ragt der unheilvolle Obelisk empor, der von jedem Punkt in Lumina aus sichtbar ist und stets an die allgegenwärtige Macht erinnert. Obwohl Livia Autonomie nie erfahren hat, überkommt sie die tiefe Sehnsucht nach Freiheit. In einem Leben, in dem so gut wie jeder Schritt kontrolliert und reguliert wird, ist es unmöglich, sich vorzustellen, dass es jemals anders sein könnte.

Alles wie immer. Jeden Tag das Gleiche, denkt sie resigniert und streicht unbewusst über die kleine Narbe an ihrem linken Handgelenk. Zwei schmale Linien, so scharf und symmetrisch, dass sie fast wie ein Zeichen wirken, wie eingebrannt in ihre Haut, als hätte jemand absichtlich einen Code hinterlassen. Solange sie sich erinnern kann, ist diese Narbe ein Teil von ihr. Natürlich wissen ihre Eltern nichts über ihre Herkunft, und auch früher in der Kinderbasis erhielt sie auf ihre Fragen nach ihrem Ursprung lediglich ein Achselzucken als Antwort. Livia fragt sich nie, ob sich ihre Eltern Sorgen um sie machen würden, wenn sie herausfänden, dass sie eine Fehlende ist, weil sie weiß, dass die Antwort zu schmerzhaft wäre.

Während sie gedankenverloren auf den schwarzen Regierungsturm in der Ferne blickt, zieht sie unwillkürlich schaudernd die Schultern zusammen.

Wie lange kann ich noch unsichtbar bleiben, bevor dieses Monstrum mich verschlingt?, fragt sie sich, während der Funke des Widerstands in ihr aufflammt. Ein Gefühl, das sie schnell wieder unterdrückt, denn sie weiß, dass sie von diesen unermüdlichen Maschinen ausspioniert wird, allen voran von dem Interface über ihrem Bett, das nie zur Ruhe kommt.

                

Sie steht auf und geht zu dem schlichten Schrank, der fast leer ist. Dort hängen, neben wenigen einzelnen Kleidungsstücken, zwei einteilige weiße Arbeitsanzüge, ohne viel Schnickschnack geschnitten und so funktional wie die Stadt, die sie umgibt. Jeden Tag wechselt sie zwischen beiden; während der eine gereinigt wird, trägt sie den anderen. Sie streift den Anzug über, und das glatte, kühle Material schmiegt sich eng an ihre Haut. Ihr Blick fällt auf den etwas abgetragenen, langen Mantel, der an einem Haken neben der Tür hängt. Es ist das einzige Stück in ihrem Besitz, das nicht neu und makellos ist, sondern Spuren des Lebens trägt. Vor ein paar Tagen entdeckte sie ihn in der offiziellen Ausgabestelle für Kleidung, an der Bewohner neben ihrer standardisierten Arbeitskleidung auch andere Kleidungsstücke erhalten können. Jeder hat das Recht, in festgelegten Intervallen Kleidung auszuwählen. Mal sind die Stücke neu, mal gebraucht, aber immer perfekt gereinigt.

Der hellbraune Trenchcoat ist ein wenig abgetragen, mit leicht ausgefransten Kanten, aber er bietet ihr eine Art Schutz, den nur sie versteht. Sie zieht ihn über ihre Arbeitskleidung und bindet ihn in der Mitte um ihre schmalen Hüften mit dem Gürtel fest. Der Mantel fühlt sich so schützend wie eine Rüstung an.

Als sie sich auf den Weg macht, gleitet die Tür leise hinter ihr zu und sie tritt in den engen, klaustrophobischen Flur des Wohnblocks. Die Luft ist kalt und steril und die anderen Bewohner gehen wortlos mit gesenkten Köpfen und ihren immer leeren Augen an ihr vorbei.

                

Seit ihrem 15. Geburtstag, an dem sie wie alle damals Gleichaltrigen ihre Arbeit aufgenommen hat, bestimmt der immer gleiche Ablauf jeden ihrer Tage. Das Privileg einer soliden Schulbildung mit anschließendem Abitur und Studium bleibt den Nachkommen der Regierenden vorbehalten; denen, die später die Macht übernehmen werden. Ihre eigene Zukunft wurde jedoch an besagtem Geburtstag vor etwa vier Jahren besiegelt, und zwar mit einem schlichten Arbeitsauftrag der Obrigkeit; dem einzigen Geschenk ihrer Eltern, dass sie ihr feierlich in einem Umschlag überreichten. Seitdem sitzt sie mit vielen weiteren Angestellten an den Arbeitsplätzen in einer der riesigen Fabriken der Stadt. Hier werden Daten verarbeitet, Algorithmen erstellt und all das produziert, was das Sync-System braucht, um die Stadt am Laufen zu halten. Die Berufsplätze selbst sind so konstruiert, dass sie die Körpertemperatur und die Atemfrequenz erfassen, immer mit dem Ziel, maximale Effizienz zu erreichen.

Beim Betreten des großen Tores, das zur Arbeitshalle der Fabrik führt, schlägt Livia der abgestandene Geruch von weißem Laminat und den Syncs der vorherigen Schicht entgegen. Vertraut, aber in steriler Kälte erdrückend. Livia reiht sich in die Schlange der anderen Arbeiter, nachdem sie ihren abgetragenen Mantel sorgsam an einen der Haken neben der Eingangspforte gehängt hat. Die Halle selbst erstreckt sich vor ihr wie ein endlos wirkender Raum, durchdrungen von einem kühlen, bläulichen Licht, das von den Deckenpaneelen herabströmt und alles in einen unwirklichen Schimmer taucht. Metallische Oberflächen glänzen und die Wände reflektieren die riesigen Leuchtmittel. Die Reihen der Arbeitsstationen ziehen sich in perfekter Symmetrie durch das riesige Areal, bis sie sich in der Distanz verlieren. Auch hier schweben Drohnen lautlos umher; ihre mechanischen Augen unablässig wachsam, als könnten sie jeden noch so kleinen Unterschied aufspüren. Auf ein knappes Zeichen des Vorarbeiters hin bewegen sich Livia und ihre Kollegen in geübter Präzision zu ihren