Im Schloss zu Mecklenburg und anderswo - Walter Kaufmann - E-Book

Im Schloss zu Mecklenburg und anderswo E-Book

Walter Kaufmann

5,0

Beschreibung

Jene Bildpostkarte aus Sydney war die erste von vielen, die ich über die Jahre an Barbara, der Ruth in diesem Buch, geschickt hatte und die ich alle noch bei ihr aufbewahrt fand - sorgsam in einen Schuhkarton geschichtet. Sie riefen die Zeit zurück, zu fernen Küsten, und enthielten sie selten mehr als nur Grüße, lösten sie doch Erinnerungen aus, die sich zu Storys formen ließen, zu einem Buch, das mit >Regen in Rio< seinen vorläufigen Abschluss fand. Danach, in den späten neunziger Jahren, waren es nicht länger die Postkarten, die mich anregten, sondern in einem Notizbuch festgehaltene Stichworte: über einen Grafen im Schloss, einen Berliner in Bulgarien, einen kanadischen Flieger auf Fidschi, und den Tod eines V-Manns. Dazwischen fanden sich auch die Zeilen über einen für immer abgemusterten und seitdem sehr gealterten Seemann, dessen Braut zeitlebens die See gewesen war — die See verlassen zu müssen, hatte ihn auf sich selbst zurückgeworfen und ihm seine Einsamkeit bewusst gemacht: >Menetekel<, und wohl nicht nur > Menetekel< in dieser Prosasammlung, ist eine anrührende kleine Geschichte geworden. Walter Kaufmann INHALT: Am Hafentor Requiem Russisches Tagebuch Die Worte des Barden Auf dem Prüfstand Der Sieger Die Eine und die Andere Wandlungen Sehnsucht Pro Patria Patricia Daley Lockruf der Werbung Landfall Schwedisches Intermezzo Einsicht in die Notwendigkeit Damals in San Francisco Entscheidungen in Vietnam Die Frau des Piloten Fünf Schritte zu viel Zwei Maler Haus am Bodden Irische Reise Im Paradies Lokalreporter Irisches Intermezzo Indiz Manna des Westens Gewitter Jericho und zurück Aufbruch vom Darß Damals vor vierzig Jahren Im Wilden Westen Meine Stadt Fernöstliches Kaleidoskop Abschied Hinter Glas gemalt Idylle Greenhorn on Times Square Mitleid-Liebe Für Evita Ein Sheriff in Bermudas Senor Enricos Ford Rückkehr ins Paradies Glücksgroschen Anonymes Bekenntnis Londoner Reminiszenz Schreck im Zirkus Regen in Rio Im Schloss zu Mecklenburg Buchenwaldreise Fahrkartenkontrolle Windschutzverleih Unternehmer Fluchtpunkt Antipoden Menetekel The Old Fart Kameraauge Miracle Rallye Taxifahrt Oskar aus Hamburg Tod eines V-Manns Der lange Schatten

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Impressum

Walter Kaufmann

Im Schloss zu Mecklenburg und anderswo

Storys von gestern und heute

ISBN 978-3-86394-573-2 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1997 in der edition reiher im Dietz Verlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: Barbara Meffert

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Am Hafentor

Sydney, Australien Mai 1952

In verdreckten Jeans, das Gesicht bis zum Mützenrand rußig vom Kohlenstaub, war ich kurz von Bord und die paar Schritte den Kai entlang bis zum Kiosk am Hafentor gelaufen.

»Postkarten, ja sicher«, bestätigte die junge Verkäuferin, »und auch Briefmarken in kleinen Mengen.«

»Eine reicht«, versicherte ich ihr. »Bloß ein Lebenszeichen nach Melbourne.«

Das hatte ich ihretwegen gesagt, und sie merkte es. Sie lächelte. Damit ich die Postkarten nicht mit rußigen Händen anfasste, blätterte sie eine Auswahl vor mir auf. Sie musterte mich verstohlen, als ich die Picasso-Karte wählte - Femme à la Chemise, eine schlanke Frau mit hochgestecktem Haar und sinnlichem Mund.

»Sieh an!«, rief sie.

Tatsächlich - die Frau im Kiosk ähnelte dem Picasso-Modell.

»Das ist vor Ihnen noch keinem aufgefallen - einem Seemann schon gar nicht.«

»Seemann ...« Ich zuckte die Schultern. »Nicht weit her damit. Dies ist meine erste Reise.«

»Sieh an!«

Sie steckte die Karte und die Briefmarke in einen Umschlag und schob ihn zwischen die Zeitung, die ich noch wollte. Gleichzeitig wandte sie sich einem anderen Kunden zu, scherzte mit ihm, bediente ihn, kassierte - meine Zeitung behielt sie unterm Arm.

»Nie in Sydney gewesen?«, fragte sie, als der Mann weg war.

Es klang freundlich wie ein Lachen. Ich fragte sie nach ihrem Namen.

»Warum wollen Sie den wissen?«

»Weil Sie mir gefallen.«

Sie lachte wieder. »Sie trauen sich was«, sagte sie.

»Zugegeben«, sagte ich und sah an mir herunter. »Wenn aus dem Kohlentrimmer wieder ein Mensch geworden ist, würden Sie dem ein Stück von Sydney zeigen?«

Sie reichte mir die Zeitung.

»Ein Kohlentrimmer und Picasso - das macht neugierig.«

Noch einmal fragte ich nach ihrem Namen, und es entmutigte mich nicht, dass sie stumm blieb - ich würde ihn schon noch erfahren.

Ich lächelte sie an, und sie lächelte zurück.

»Wenn ich wieder ein Mensch bin.«

»Um fünf«, sagte sie, »schließ ich hier ab.«

Requiem

Krakau, Polen August 1955

Eine milde Sonne tauchte die Stadt ringsum, den Dom, die Burg in ein goldenes Licht und mir war, als hörte ich das Echo jener anmutigen Melodie. Ich sah mich Margoscha durch die Gassen der Altstadt bis hin zur Katharinenkirche begleiten und vernahm wieder die Orgelklänge, die aus der Kirche drangen, die schwollen an, als wir eintraten und uns auf einer Bank im Kirchenschiff niederließen - Bachsche Fugen, wie ich sie ergreifender nie gehört hatte. Doch noch ehe Margoschas Bruder zu spielen aufgehört hatte, drängte sie zum Aufbruch, sie wollte ihm jetzt nicht begegnen, ihm keine Erklärungen über uns beide geben müssen, wollte nur, dass ich ihn an der Orgel erlebte, so wie ich sie später auf dem Platz unterm Rathausturm erleben sollte, tanzend zu der Melodie, deren Echo ich wieder zu hören glaubte.

Lange noch nach dem Konzert, bis spät in die Nacht waren wir am Ufer der Wisla gegangen, über uns der sternklare Himmel und ein Mond, der sich im Fluss spiegelte. Erfüllt noch von dem Fest mit seinen Tänzen und Chören, brauchten wir keine Worte, um uns mitzuteilen, in der Berührung teilten wir uns mit, und als ich sie an mich zog, ihre Stirn, ihre Augen, ihren Mund küsste, durchdrang uns mit dem Glücksgefühl zugleich auch die Ahnung der unvermeidlichen Trennung.

»Ich komme mit dir«, hatte sie am Morgen gesagt, und obwohl sie es auf Polnisch sagte, hatte ich sie verstanden. Ich schüttelte den Kopf. Es war eine Reise, die ich allein tun musste, ganz auf mich gestellt, und in Gedanken an die ermordete Mutter, den ermordeten Vater.

»Ich komme mit dir.«

»Nein, Margoscha.«

Ich löste mich von ihr, kleidete mich an, verließ lautlos die Dachkammer und trat aus dem Haus am Fuß der Hügel auf die Straße. Doch schon auf dem Weg zu dem Platz, von wo der Bus nach Auschwitz fuhr, schien es mir, als ginge sie an meiner Seite. In dieser Nacht, unserer Nacht nach dem Fest, hatte sie durchlebt, was mir bevorstand - das ahnte ich nicht bloß, ich wusste es. Ich hatte ihr die Tränen von den Augen geküsst und sie, als könne sie nur so meine Vorahnungen lindern, hatte sich mir leidenschaftlich hingegeben. In der Vereinigung waren wir wesensverwandt wie Geschwister und zugleich auch innig Liebende gewesen.

»Diesen Weg will ich mit dir gehen.«

»Danke, Margoscha. Aber es geht nicht.«

Und doch war sie dabei, als ich die Rampe entlang und später durch den Torbogen des Lagers und über den Appellplatz ging, bis hin zu der Stätte des Todes.

Russisches Tagebuch

Stalingrad, Sowjetunion September 1955

In der Dämmerung verwischen sich die Konturen, werden jene tristen Mietshäuser mit ihren Fensterhöhlen, zerschossenen Mauern und klaffenden Dächern zu einer gespenstischen Kulisse. Bald liegen die Straßen leer. Dort, wo noch vereinzelt Lichter brannten, gehen die letzten aus. Hin und wieder wird Hundebeilen laut, findet ein Echo zwischen den Häuserzeilen. Von der Wolga her wallt jetzt Nebel über das Stück Landschaft, das ich vom Hotelfenster überblicken konnte. Ich schalte die Schreibtischlampe an und führe Tagebuch wie allabendlich um diese Zeit: Da quält sich eine Frau auf Beinstümpfen über den holprigen Platz; tanzt anmutig ein Mädchen vor den drei Spiegeln eines Friseurladens, und es ist, als flögen die Zöpfe von drei Tänzerinnen; mitten in der Bahnhofshalle brechen zwei junge Frauen Bücherkisten auf, scharen sich Lesehungrige um die Werke von Simonow, Grossman, Dreiser, und bald schon sind die Kisten leergekauft; die Stiefelschritte von zwei bärtigen Nachtwächtern verhallen, noch ehe die Lichter ihrer Laternen im Dunkel der Stadt untergehen.

Ich schreibe von einem Treffen mit Komsomolzen und wie in meiner Antwort auf die Begrüßung der Name Stalin brausenden Applaus auslöste und ich innehielt, bis die Begeisterung sich legte: Stalin, Stalin! Und natürlich beschreibe ich die junge Bauarbeiterin in einer Laienspielgruppe, die von den Schwierigkeiten beim Durchsetzen einer Satire gegen die örtliche Bürokratie erzählte. Der Koloss hieß das Stück, und es passte dem Dolmetscher gar nicht, dass ich mir notierte, wer in Stalingrad damit gemeint war. Folglich fragte ich mich auch nicht, warum der einäugige Alte, den ich später in einem Lagerschuppen ansprach, den Dolmetscher bei meiner Bitte um eine Wiederbegegnung verunsichert anblickte.

Als wir, das war noch am gleichen Abend, zur verabredeten Zeit am Rande der Stadt anlangten, kam uns der Alte aus seinem Lehmhäuschen entgegen und bat uns nach drinnen. Der Tee war schon bereitet, der Samowar summte leise. Eine Ölfunzel warf spärliches Licht auf Schrank, Stuhl, Tisch und das an den Tisch gerückte, für uns zur Bank hergerichtete Bett aus Brettern, auf denen Strohmatten lagen. An den gekalkten Wänden markierten sich die helleren Flecken abgehängter Bilder.

»Wir waren eine große Familie«, sagte er und zählte die Schwestern und Brüder auf, die Schwager, die Schwägerinnen und sämtliche Kinder. »Und keiner kam davon, als die Faschisten unser Dorf niederbrannten - alle kamen sie um.«

Da wagte ich erst nach langem Schweigen nach der Frau zu fragen, deren gerahmtes Foto auf dem Fenstersims stand. Er hielt die Ölfunzel vor das Bild.

»Das ist meine Tochter mit den Enkelkindern«, sagte er, »und seit sie im Krieg verschickt wurden, fehlt jede Spur von ihnen. Ich weiß nicht einmal, ob die Tochter je erfahren hat, dass ihr Mann nur ein paar Straßen von hier in den Kämpfen gefallen ist und auch meine Ludmilla, ihre Mutter, nicht mehr lebt. Wo die Tochter bloß ist, wohin es sie und die Kinder nur verschlagen hat?«

Er senkte den Kopf und sah mich nicht mehr an, dann aber griff er nach der Wodkaflasche auf dem Tisch und goss drei Gläser voll.

»Trinken wir auf das Leben«, sagte er, »trotz allem auf das Leben!«

Weil ich, als Deutscher, nicht mit den Mördern in Verbindung gebracht werden wollte, die dem Alten so viel Leid zugefügt hatten, sprach ich vom Tod meiner Eltern in Auschwitz.

Er blickte mich an und nickte. »Ja, ja«, sagte er. »Bitter. Das Los der Juden ist bitter.«

Die Worte des Barden

Obory, Polen Oktober 1955

Die Blätter der Bäume im Park von Obory leuchteten bunt in der Sonne, und auf der Erde trieb das Laub im Wind. Sanft rauschten die Bäume. Als der Wind sich legte, war die Stille, die folgte, wie die Stille in mir selbst. Jeglicher Gedanke an Arbeit war mir vergangen, nachdem ich den Brief aus Sydney gelesen hatte, dieses Geständnis von Ruth. Bis ich mich endlich zu einer Antwort aufraffte, hatte ich mich dazu durchgerungen, ihr den Weg zu dem anderen nicht zu versperren. Wir würden uns trennen. Und doch schrieb ich am Ende, dass ich sie liebe und immer lieben würde.

Ich brauchte sie. In ihrer Liebe hatte ich Halt und Geborgenheit gefunden, die Lust zur Arbeit, zum Schreiben und zum Lesen, die Lust auf Abenteuer und ja, auf Frauen auch. Wenn ich sie nun verlor, das spürte ich, würde ich auch die Lust auf Arbeit verlieren, aufs Schreiben, aufs Fabulieren, die Kraft bei Begegnungen rund um die Welt. Schon jetzt kam ich mir verlassen vor, plötzlich wollte ich den Abstecher nach Krakau aufgeben, auf ein Wiedersehen mit Margoscha verzichten, jene Sommernacht mit ihr nicht wiederholen.

Ich faltete den Brief an Ruth zusammen, schob ihn in einen Umschlag, schrieb die Anschrift und machte mich auf den Weg zur Dorfpost. Die Frau hinterm Schalter warf den Brief auf die Waage, frankierte und stempelte ihn. Dabei bemerkte sie den Absender. Ob ich der sei? Ich nickte. Da sagte sie etwas, dem ich das Wort Pass entnahm. Ich wies mich aus, und sie händigte mir ein Telegramm aus. Ich riss es auf. Sofort sah ich, dass es in Sydney aufgegeben und bei der Reise ins ferne Polen arg verstümmelt worden war. Es dauerte, bis ich, was da geschrieben stand, als ein Shakespeare-Zitat erkannt hatte:

Love is not love which alters when it alteration finds. Ruth.

Liebe ist nicht Liebe, die, wenn sie Veränderung vorfindet, ihre Farbe wechselt.

Die Frau hinterm Schalter musterte mich. Ich zeigte keine Regung. Aber die Stille in mir, die innere Lähmung war nicht mehr.

Ich lebte wieder.

Und noch am gleichen Tag reiste ich zu Margoscha nach Krakau.

Auf dem Prüfstand

MS Freundschaft, Atlantik Mai 1959

Verglichen mit der Reise, für die ich in diesem Frühling angemustert hatte, waren meine Reisen zwischen Sydney und den Fidschi Inseln kaum mehr als Abstecher gewesen: Vor Jahreswechsel würden wir nicht wieder in Rostock einlaufen. Eine argentinische Weihnacht stand uns bevor und ein brasilianisches Neujahr - was für mich sieben Monate im Schlund eines Maschinenraums bedeutete, in dem es stank und heiß war und laut, das Stampfen der Motoren übertönte jedes Wort, das nicht gebrüllt wurde.

In der Hoffnung auf Ausgleich in südamerikanischen Häfen, Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro, stellte ich mich auf die Überfahrt ein. Bewusst hatte ich meine australische Seefahrerei verschwiegen und mich nur dazu bekannt, auf Schiffen die Welt erleben zu wollen, also eher ein Sehmann als ein Seemann zu sein. Folglich fand ich mich sehr bald auf dem Prüfstand. Es hatte mich unter Fahrensleute verschlagen, die sehr anders waren als jene raubeinigen Iren und Schotten und deren australische Nachfahren auf australischen Frachtern. Dies waren arbeitsame Ostdeutsche mit unverkennbarem Stolz auf ihr Schiff, welterfahrene Männer, die den Anfechtungen und Verlockungen von Hamburg, Bremen, Amsterdam und Antwerpen standhielten und von denen nicht zu vermuten war, dass sie die Flagge wechseln würden. Eher wäre das von mir zu erwarten gewesen - zu sehr schien mir Wolf Mattäus, ein blonder Hüne, der seine erste Reise als Zweiter Ingenieur fuhr, darauf bedacht zu sein, dass im Bereich seiner Verantwortung durch einen wie mich kein Schaden entstünde. Was hieß, dass er stets ein Auge auf mich hatte.

Selbst mit anpackend, jeden Griff erläuternd, spornte er mich an, so gewissenhaft wie er selbst zu werden und sogar eine Drecksarbeit wie das Säubern der Bilgen als unumgänglich hinzunehmen. Verglichen mit dieser Schinderei erwies sich das Pönen, das Anstreichen des Schornsteins, als ein Segen - Arbeit an Deck und in frischer Luft! Natürlich bemühte ich mich um Qualität, um den saubersten blauen, den saubersten roten Streifen auf gelben Grund. Aber ich schindete auch Zeit dabei. Was Wolf Mattäus nicht entging.

»Kein Schonplatz da oben«, ließ er mich wissen und legte fest, wann spätestens die Arbeit fertig sein müsse - weit eher als ich eingeplant hatte. So kam es, dass ich sehr bald meiner Wut Luft machte und durch den Schornstein Flüche in den Maschinenraum brüllte. Das brachte Wolf Mattäus auf den Plan. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand er plötzlich auf dem Peildeck und blickte hoch zum Schornstein, wo ich auf der Stellage mit meinen Farbtöpfen werkelte.

»Nun«, fragte er, »was macht das Meisterwerk?«

Er tat, als hätte er meine Flüche nicht gehört, zeigte sich gelassen und schlug dann ein paar Worte unter vier Augen im Kabelgatt vor, wo ich ja ohnehin die Pinsel und Farbtöpfe verstauen müsse. Mir schwante nichts Gutes.

»Mag sein, Sie sind nicht auf die Heuer angewiesen«, begann er, als wir uns im Kabelgatt gegenüberstanden. »Da sind Sie besser dran als wir anderen. Finden Sie das gut?«

Ich schwieg.

»Eben noch laut und plötzlich stumm - wie kommt’s?«

Noch immer schwieg ich.

»Also gut«, sagte er, »In Zukunft bremsen Sie sich und brüllen nicht vor aller Ohren los. Das geht nirgends. Und auf Schiffen schon gar nicht. Ist das klar?«

Ich nickte.

»Dann haben wir uns ja verstanden.«

Er zeigte ein kaum merkliches Lächeln und reichte mir die Hand. Das nahm mich für ihn ein. Ich packte zu, und nie vergesse ich ihm, dass er bis zum Ende der Reise seinen Rang kein zweites Mal herauskehrte, er schlicht Wolf Mattäus blieb - ein Mann unter Männern.

Der Sieger

Squaw Valley, USA Februar 1960

Er hatte für die Pracht von Squaw Valley, dem Tal der Indianerfrau in Nevada, kein Auge - verständlicherweise, denn morgen fiel für ihn, den Skispringer der ostdeutschen Elite, die Entscheidung, ging es für Helmut R. um die Medaillen. Schweigend liefen wir auf unseren Langlaufbrettern die Loipe am Ufer des Sees entlang. Der Wind trieb Schnee übers Eis, und die Kuppen der Berge vor uns leuchteten weiß im Blau des Himmels. Bald schon drängte er zur Rückkehr.

»Und dann her mit den Autoschlüsseln, dass ich auf andere Gedanken komme.«

Ich schwieg, und er deutete das richtig.

»Mir ist klar, dass ich nicht ans Steuer soll, noch nicht, bis morgen nicht. Dann aber hält mich keiner.«

»Danach kannst du meinetwegen mit dem Auto Bäume fallen«, ließ ich ihn wissen.

»Besten Dank!«

»Hast du umsonst.«

Obwohl ich erst kürzlich als Betreuer für einen aus Thüringen eingesprungen war, dem das amerikanische Einreisevisum verweigert worden war, hatte ich schon bald heraus, wie dieser dreizehn Jahre jüngere Mann und dreizehn Mal härtere Draufgänger aus Steinbach-Hallenberg zu nehmen war.

Nicht lange später trafen wir uns an dem Mietwagen, der dem Team zur Verfügung stand. Ich setzte mich hinters Lenkrad, und er, den Anordnungen folgend, nahm auf dem weniger gefährdeten Rücksitz Platz - unnötige Vorsicht, wie sich zeigte, denn die Straßen waren vom Schnee geräumt und kaum befahren. Die Reise durch die Berge verlief glatt, und schon am frühen Nachmittag gelangten wir nach Truckee, einem Nest, das uns wie die Kulisse eines Westerns vorkam. Unsere Schritte dröhnten auf den Holzplanken längs des Drugstores, des Friseurladens, des General Store, der Post bis hin zum Nevada Traveller, einer Kneipe, die zu dieser Stunde kaum besucht war. Im Halbdunkel am Ende der langen Bar hörten wir einen alten Mann nach Whiskey rufen und dabei sein Glas auf die Theke schlagen. Seinen breitkrempigen Hut trug er im Nacken, dass er sehen konnte, was rings um ihn vorging. Wir setzten uns in seine Nähe.

»G’day, strangers«, sagte er, und als ich Helmut das übersetzte, lachte er und sagte: »Morgen schon nicht mehr. Morgen bin ich selbst in diesem Kaff kein Fremder.«

Das erklärte ich dem Alten. Dem sagte das gar nichts, und als er Helmut beim Barmann two glasses of milk bestellen hörte, schüttelte er sich, verzog das Gesicht und lachte heiser. Auch der Barmann wirkte befremdet, ging dann aber, und nicht lange später standen zwei hohe Gläser Milch vor uns auf der Theke.

»Wohl bekomm’s«, sagte er.

Den Alten grauste es noch immer, und als ich ihm den Grund für die Milch zu erklären versuchte, hörte er skeptisch zu und meinte dann, das wäre nichts für ihn - Milch ruiniere ihm den Magen und sei mit seinem Glauben unvereinbar.

Der Sinn von all dem war Helmut nicht entgangen.

»Hör zu«, mischte er sich in gebrochenem Englisch ein. »Ihr Glaube in Ehren - das können Sie halten, wie's Ihnen passt. Eins aber dürfen Sie sich merken: Mit oder ohne Milch, morgen gewinnt nur einer. Und das bin ich!«

Die Eine und die Andere

Szczecin, Polen Juni 1960

In der Nacht vor dem Auslaufen feierten wir in der Baltic Bar Abschied, das schuldeten wir den Frauen, die uns dort die Zeit vertrieben hatten. Es waren Stunden voller Krach und Wonne, und es gehörte dazu, dass sich hin und wieder einer von uns absetzte und später wieder kam. Die begehrteste der Frauen hieß Stacha, eine langbeinige dunkle Schöne mit prallen Brüsten, die immer ganz in Rot auftrat, Pullover, Rock, Schuhe, was zu ihrem lachenden roten Mund und den feurigen Augen passte.

An diesem Abend tanzte sie nur mit Karl, unserem großen blonden Steuermann, und als die beiden gegen Mitternacht die Bar verließen, war besiegelt, was sich zu Beginn der Hafenliegezeit angebahnt hatte. Die Art, wie sie innig miteinander getanzt hatten, Stacha in den Pausen ganz selbstverständlich zu ihrem Schnaps aus seinem Glas Bier trank, er auch immer für sie eine Zigarette anbrannte, hatte uns deutlich gemacht, da war Liebe im Spiel.

Den Namen Stacha habe ich mir gemerkt - wie aber das Mädchen hieß, das ich in den ersten grauen Stunden des Morgens nach Hause brachte, will mir nicht einfallen. Sie war ein scheues Wesen um die achtzehn, mit blasser Haut und hellem Haar, das im trüben Licht der Baltic Bar irgendwie grau wirkte. Wie es sie dorthin verschlagen hatte, erfuhr ich nicht, dass sie aber bei aller Lieblichkeit, die ihr auf den zweiten Blick nicht abzusprechen war, gegen eine wie Stacha nicht bestehen konnte, war augenscheinlich. Zu zögerlich bot sie sich an.

Aus dem Mansardenfenster des Mietshauses, wo sie wohnte, ging der Blick auf ein Hafenbecken, Frachter und Kräne, auch unseren Frachter erkannte ich von dort, und als ich mich umwandte, sie zum Fenster rief, um ihr das Schiff zu zeigen, saß sie schon auf dem Bettrand. So schnell und lautlos war sie aus ihren Kleidern geschlüpft, dass ich es nicht bemerkt hatte.

Abwartend blieb sie dort sitzen. Ich ging zu ihr hin, und unser Zusammensein war nicht von Lust getragen, es hätte auch nicht zu geschehen brauchen. Vorwiegend deswegen, und weil noch ungeklärt war, was ich ihr an Geld zu geben hatte, verspürte ich ein Schuldgefühl. Leise fragte ich sie danach. Sie blieb stumm.

«Sag mir, was du haben willst«, bat ich noch einmal.

Sie senkte den Blick und sagte: »Was du für mich übrig hast.«

Wandlungen

MS Freundschaft, Atlantik Juli 1960

Allein schon bei der Erwähnung der Häfen, die wir in Südamerika anlaufen würden, kamen Lutz Waren Vorahnungen.

»Stettin geht ja an, Amsterdam auch - aber Buenos Aires, Montevideo, Rio de Janeiro. Wie komme ich da zurecht. Da versteht mich ja keiner!«

Er war knapp achtzehn, ein schmächtiges Kerlchen mit rötlichem Haar und einem Gesicht voller Sommersprossen, und gerade weil er spürte, dass er sich bei dieser seiner ersten Reise zu bewähren hatte, ging ihm viel daneben. Zum allgemeinen Gaudium lief er eine Stunde nach dem Auslaufen zum Zweiten Offizier und fragte nach der Postboje, die man ihm eingeredet hatte. Kaum war er zum Pönen des Schornsteins eingeteilt, stürzte ihm der volle Farbtopf von der Staffelage in den Kesselraum. Nicht bloß einmal goss er Spülicht in den Fahrtwind, dass ihm der Abfall ins Gesicht klatschte. Was Wunder, dass ihm die Mannschaft bei der Äquatortaufe zusetzte: Lutz Waren erschrak vor dem eigenen Spiegelbild - geschorener Kopf, auf die Brust rasiertes Kreuz, mit einer Tinktur derart blau gefärbter Hals, dass der trotz allen Schrubbens bis zum Einlaufen in Buenos Aires die natürliche Farbe nicht wiedererlangt hatte.

»Wie ich aussehe! Ich trau mich nicht an Land.«

Die Mannschaft beruhigte ihn: »Halb so schlimm, Lutz - unterm Hemd sieht’s aus wie ’n Schal.«