Unterwegs zu Angela - Walter Kaufmann - E-Book

Unterwegs zu Angela E-Book

Walter Kaufmann

4,4

Beschreibung

In dieser 1973, also im Jahr nach dem Freispruch in allen Anklagepunkte für die amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis, geschriebenen packenden Reportage gelingt Walter Kaufmann ein lebendiges Porträt der damals 29-jährigen Angela Davis. Kaufmann berichtet von ihrer Kindheit und Jugend, ihrer politischen Entwicklung, von der Arbeit der Solidaritätskomitees für Angela Davis und von den Vorgängen vor und während des gegen sie angestrengten Prozesses. Zugleich bietet „Unterwegs zu Angela“ aufschlussreiche Einblicke in die US-amerikanische Gesellschaft dieser Zeit – von den Ungerechtigkeiten gegenüber der schwarzen Bevölkerung bis zum Thema Todesstrafe. INHALT: Welch ein wundervoller Augenblick! Das stille Mädchen Ein Funke Auflehnung Auf dem Flug nach Alabama Ein Brief aus Birmingham Jener Tag in San Francisco Im Gefängnis an der Bucht Der faire Bericht Der Fall Heidi Fletcher Der Fremde aus Fresno Die Stimme Rodger McAfees Der Schlüssel zur Tür Die Verteidigung hat das Wort Stimmen für Freispruch Die Zeit der Entscheidung »Warum bist du Kommunistin?« Der Zorn des Ben Simmons Eine Stunde mit Jerry Paul Der Weg zweier Frauen Epilog Nicht nur mein Sieg

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 195

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
10
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Walter Kaufmann

Unterwegs zu Angela

Amerikanische Impressionen

ISBN 978-3-86394-567-1 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1973 im Verlag der Nation Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Foto: Barbara Meffert

Übersetzung aus dem Englischen: Olga und Erich Fetter

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Welch ein wundervoller Augenblick!

Von Angela Davis Madison Square Garden New York, 29. Juni 1972

Welch ein wundervoller, wundervoller Augenblick. Wer hätte sich vor zweiundzwanzig langen Monaten vorgestellt, dass Tausende, aber Tausende von uns hier im Madison Square Garden einen großartigen Sieg des Volkes feiern würden. Nicht meinen Sieg. Denn wir feiern nicht nur, dass ich nun wieder frei bin, frei, mit euch gemeinsam die Straßen des Kampfes zu beschreiten. Was wir wirklich feiern, Schwestern und Brüder, ist unsere Fähigkeit, den Herrschenden dieses Staates eine machtvolle, unmissverständliche Niederlage bereiten zu können.

Daher müssen wir heute Abend über die Kraft des Volkes sprechen, über alle die Schwestern und Brüder, die so viel darangesetzt haben, um die zahllosen Verteidigungskomitees ins Leben zu rufen. Wir sollten all jenen Schwestern und Brüdern mit lautem, donnerndem Applaus danken. Ich hoffe, dass das Echo des wundervollen, brausenden Beifalls den Herren in den Ohren dröhnt: den Nixons und den Rockefellers, den Reagans und ihren Irrsinns-Polizeikräften, mit ihren Gerichtshöfen, die Urteile durchpeitschen, und mit ihren erbärmlichen Gefängnissen.

Wir müssen gegen eine ganze Klasse kämpfen!

Ich habe die Tatsache, dass ich Kommunistin bin, nie zu verbergen versucht. Ich will auch heute Abend kein Geheimnis daraus machen, was ich meine, wenn ich von den Personen spreche, die dieses Land regieren. Es sind Leute, die ihre Polizeikräfte zu Wahnsinnsunternehmungen in die Gettos schicken und ihre Armeen mit computergesteuertem Tod für das vietnamesische Volk über das Meer senden. Und sprechen wir auch von den multimilliardenschweren Konzernen, die in Wirklichkeit die Regierung an der Strippe haben.

Ja, Schwestern und Brüder, wir müssen klar erkennen, dass wir gegen eine ganze Klasse zu kämpfen haben - gegen die herrschende, profitgierige, machthungrige Klasse. Und diese herrschende Klasse, meine ich, müssen wir endlich stürzen. Ja, stürzen! Das heißt, wenn uns wirklich ernstlich daran gelegen ist, frei zu sein. Wir müssen zusehen, dass eine Bewegung formiert wird, die machtvoll genug ist, diese gesamte herrschende Klasse zu entthronen. Das ist der einzige Weg, dieses Land, ja die Welt, von all den Krankheiten zu heilen und zu reinigen: von Rassismus, Krieg und Armut. Und wenn wir von einer Alternative zum herrschenden System sprechen, nun, dann meine ich, dass wir anfangen sollten, über Sozialismus zu reden.

Nicht bloß Schwarze und andere Farbige, sondern auch eine große Anzahl weißer Menschen lassen sich nicht zu Konformität und Untätigkeit einlullen, wenn Nixon nach Billigung brüllt, während seine Marine- und Luftwaffenverbände die Häfen Vietnams verminen. Immer mehr Menschen fangen an, den Trug und die Tücke der Herrschenden zu durchschauen.

Und wenn wir Arbeiter sind, beginnen wir zu begreifen, dass wir in den Augen der Herrschenden bloß hirnlose, fühllose Wesen sind, deren Arbeit ihnen lediglich die Taschen noch mehr füllen soll. Sind wir Schwarze oder Puerto Ricaner, sollte uns klar sein, dass wir die niedrig bezahlte Arbeit, die wir kriegen, bloß nehmen, weil wir sonst überhaupt keine Arbeit bekommen würden. All die ungeheuerliche Ausbeutung in den Betrieben bildet die Basis eines sehr einträglichen, wirklich sehr einträglichen Geschäfts für die herrschende Klasse.

Und wenn wir an ein Leben des Elends und der Qual im Getto gekettet sind, aber den verfallenen Häusern zu entfliehen trachten, die uns habsüchtige Besitzer vermieten, ist uns klar, dass wir damit potenzielle Opfer polizeilichen Zugriffs werden. Und werden wir nicht Opfer der Polizei, dann können wir deren Komplizen zum Opfer fallen - den Rauschgifthändlern. Ja, ich rede von den Rauschgifthändlern, die uns ein illusionäres Glück, Apathie und Schlaf bringen wollen. Wir sollten wirklich darüber nachdenken, wie wir uns zur Vorbereitung eines gemeinsamen Angriffs auf das System zusammenschließen können.

Oder wenn wir in dieser Gesellschaftsordnung als Frauen aufstehen und uns weigern, die Sage unserer Minderwertigkeit länger hinzunehmen; wenn wir herausschreien, dass wir unsere Stärke kennen und genau wissen, wer die tatsächlichen Feinde sind, dann lässt diese Gesellschaft all ihre Schrecken auf uns los. Als schwarze Frauen haben wir nicht vergessen, dass unsere Schwestern, die sich gegen die Sklavenhalter auflehnten, geköpft oder wie Hexen auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Das war der Preis ihres Ringens um Freiheit.

Ich möchte von einer jungen, zwölfjährigen schwarzen Schwester aus der Bronx sprechen: ein großartiges, tapferes Mädchen, das einen Aufsatz über die Bewunderung schrieb, die sie für mich hegt. Und was geschah mit dem Aufsatz? Ihr weißer Lehrer gab ihn ihr mit der schriftlichen Bemerkung zurück: »Konntest du niemand anders finden? Musst du ausgerechnet dieses kommunistische Teufelsweib bewundern?«

Das ist Teil der Unterdrückung, über deren Bekämpfung wir reden müssen. Wir sind es müde und haben es über, dass man uns manipuliert und hypnotisiert - uns eintrichtern will, wir wären gegenüber dem riesigen Apparat, der uns unterdrückt, machtlos. Wenn wir davon sprechen, unsere Kraft in einer revolutionären Bewegung zu organisieren, die alle Unterdrückten dieser Gesellschaft umfasst, dann werden wir für die Herrschenden eine sehr gefährliche Bedrohung.

Wir haben erfahren, dass wir es schaffen können!

Ich nenne Malcolm X oder Patrice Lumumba oder Fred Hampton oder Martin Luther King oder George Jackson - wenn wir uns erheben wie sie und den Herrschenden die Stirn bieten, versuchen sie uns mit ihren Mörderkugeln das Gehirn zu zerschmettern. Und wenn wir Ruchell Magee oder Fleeta Drumgo sind oder die unzähligen Brüder im San Quentin Adjustment Center oder die vielen anderen Schwestern und Brüder in den Kerkern überall im Land, unternehmen die Herrschenden, was sie nur können, um uns lebenslänglich im Gefängnis festzuhalten, uns von den Menschen zu trennen.

Wenn wir Billy Dean Smith sind und den Krieg in Vietnam nicht mitmachen wollen, dann wartet Gewahrsam hinter Palisaden auf uns. Und wenn wir in Attica festgesetzte Schwarze oder Weiße sind, die sich entschließen, gegen die elendiglichen Haftbedingungen zu protestieren, und wenn wir beschließen, für das Recht zu kämpfen, uns selber politisch zu bilden - und manchmal heißt das, dass wir die Theorien des Marxismus-Leninismus studieren wollen - dann wissen wir, dass Rockefeller einen militärischen Angriff auf uns loslassen kann, der dem Anschlag auf unsere Schwestern und Brüder in Südafrika gleichkommt.

Wenn wir die Zeichen all dieses Irrsinns richtig deuten, wird uns klar, dass sie alle in eine Richtung weisen: in die Richtung zum Faschismus, Und der Faschismus, wenn wir ihm nicht Einhalt gebieten, kann uns schließlich in einen nie endenden Albtraum stürzen. Die Gefängnisse dieses Landes, die Soledads, die San Quentins, die Atticas, vermitteln uns eine schwache Ahnung von dem, um was es sich bei diesem faschistischen Albtraum handeln kann. Ein Gefängnis, das George Jackson töten musste, weil sein Geist nicht zu brechen war ... und ein Gefängnissystem, das fortfährt, willensändernde Drogen gegen militante Häftlinge zu verwenden, sind bloß eine Vorwarnung dessen, was Faschismus uns allen bringen kann.

Da wir die Gefahr, die vor uns liegt, sehen können, muss uns auch klar sein, dass wir uns zu einer machtvollen Volksbewegung vereinen sollten, die in der Lage ist, diesen Moloch der Unterdrückung zum Rückzug zu zwingen. Und wir haben ja bereits erfahren, dass wir das schaffen können - denn, Schwestern und Brüder, stände ich sonst heute hier?

Dieser Sieg ist nur ein winziger Vorgeschmack

Die herrschenden Kreise erkennen nicht an, dass meine Freiheit auf den Straßen und Plätzen dieses Landes, ja der ganzen Welt errungen wurde. Alle wesentlichen Zeitungen des Landes kritisieren mich, weil ich dem Gerichtssystem nicht für den fairen Prozess danke. Vermutlich soll ich ihnen nicht nur für einen fairen Prozess danken, sondern auch für die sechzehn Monate, die ich im Gefängnis verbracht habe - und für die Hunderte von Jahren der Gefängnisstrafen, die meinem Volk noch immer auferlegt sind und werden. Erwarten sie wirklich, dass ich ein Gerichtssystem lobe, das George Jackson zehn Jahre seines Lebens raubte und ihn zuletzt umbrachte? Ein Gefängnissystem, das meinem Genossen Henry Winston das Augenlicht nahm? Glauben sie, dass ich je Walter Collins vergesse, der noch im Gefängnis sitzt, weil er sich weigerte, nach Vietnam zu gehen? Denken die Herrschenden tatsächlich, dass ich ihnen für ihre Rechtsprechung danke, solange aber Tausende unserer Schwestern und Brüder überall im Lande in Kerkern leiden und kämpfen?

Es ist Zeit, dass wir ihnen auf die entschiedenste Weise erklären, dass wir es schaffen, dass wir heute Abend hier nicht zusammengekommen sind, um die Fairness ihrer Gerichtshöfe zu loben. Wir müssen ihnen vielmehr laut und deutlich sagen, dass der Sieg, den wir feiern, nur ein winziger Vorgeschmack von dem ist, was sie von nun an erwarten können.

Wenn die Herrschenden meinen, dass all die Komitees, die sich hierzulande und in aller Welt gebildet haben, um meine Befreiung zu erlangen, nun wieder ihre Türen schließen, dann täuschen sie sich. Dann täuschen sie sich gründlich.

Und so, Schwestern und Brüder, lasst uns ihnen mit donnernder, laut widerhallender vereinter Stimme zurufen, dass wir den Kampf führen werden, bis jeder Rest von Rassismus in diesem Lande ausgemerzt ist, bis es uns gelungen ist, den Krieg in Vietnam und den Neokolonialismus in Afrika zu beenden. Wir werden in unserem Kampf nicht nachlassen, ehe jeder politische Gefangene frei ist und die ungeheuerlichen Kerker hierzulande nur noch Erinnerungen an einen Albtraum sind.

Darauf, Schwestern und Brüder, darauf zielt die Kraft des Volkes.

Das stille Mädchen

Ich weiß noch: da war ein Hydrant geborsten und das Wasser die Fulton Street weit hinabgeflossen. Sofort überzog eine dünne Eisschicht die Straße. Die metallisch glänzende Sonnenscheibe verschwand eben von einem blaugrauen Himmel, es war bitterkalt - einer der schneidenden, stürmischen und frostklirrenden Januartage dieses Jahres in New York. Ich war froh, dass ich von der Brooklyn Subway nicht weit zu laufen brauchte, nur wenige Querstraßen bis zu dem Haus in der Dean Street, wo ich um 16.00 Uhr erwartet wurde.

Doch im Haus war es warm. Pastor William Howard Melish begrüßte mich herzlich, und wie es in diesem Lande üblich ist, kamen wir schnell zur Sache.

»Ja, es stimmt. Angela hat zwei Jahre bei uns gewohnt«, sagte er, »und wir können uns gern darüber unterhalten. Aber vielleicht sollten Sie sich vorher die Bilder an der Wand neben dem Fenster ansehen. Auf diese Weise erfahren Sie gleich etwas über uns, über die Familie, bei der Angela seinerzeit lebte.«

Und so betrachtete ich zunächst einmal die aufschlussreichen Fotos, die, schlicht gerahmt, an der Wand seines Arbeitszimmers hingen: Pastor Melish von der Gnadenkirche, der Grace Episcopal Church, bereits 1955 silberhaarig, wie er den Internationalen Lenin-Friedenspreis aus der Hand Nazim Hikmets entgegennimmt, wie er von Präsident Tito empfangen wird. Andere Aufnahmen zeigen ihn in der Gesellschaft von Ilja Ehrenburg, Albert Einstein, Hewlett Johnson oder Paul Robeson. Und auf einem weiteren Foto sah ich ihn als Sprecher zugunsten der Sowjetunion auf einer großen Massenversammlung in Manhattan während des zweiten Weltkrieges.

Danach brauchte er über sich selber nicht mehr viel zu sagen. Was mir die Bilder vermittelt hatten, ergänzten seine Erläuterungen, wie er Vorsitzender der Gesellschaft für Amerikanisch-Sowjetische Freundschaft geworden war. Und ich konnte mir gut vorstellen, dass auch in seinem Haus Grundlagen für die weitere Entwicklung von Angela gelegt worden waren.

»Sie war erst fünfzehn, müssen Sie bedenken«

»Nicht, dass wir versuchten, sie in eine besondere Richtung zu lenken«, erklärte er mir. »Die ganze Umgebung bei uns zu Hause musste sie ja schon genügend beeinflussen - diese Verschmelzung von Christentum und Sozialismus, die mir echtes Anliegen ist. Wenn Angela später der Kommunistischen Partei beitrat, dann aus eigenem Entschluss. Für mich ist es die selbstverständliche Schlussfolgerung, die sie aus ihren Erfahrungen zog.«

Er sagte das sachlich, ohne Vorbehalte. Und erst danach beantwortete er meine Fragen, welchen Eindruck New York damals auf Angela gemacht hatte und was es für sie bedeutete, nun in dieser Stadt zu leben.

»Einen überwältigenden Eindruck«, sagte er. »Es war eben alles so anders als in Birmingham, Alabama, mit seinem Rassenkampf, dem Blutvergießen und der Gewalttätigkeit. Sie war erst fünfzehn, müssen Sie bedenken, und hatte noch nie in einer weißen Familie gelebt. Aber sie hat sich in unserem Kreis schnell eingefügt. Unsere drei Söhne liebten sie bald wie eine Schwester, obwohl Jeff, unserem Jüngsten, die besondere Aufmerksamkeit, die wir ihr schenkten, anfänglich gar nicht schmeckte. Aber er überwand das alles bald und nahm sie schließlich unter seine Fittiche. An den Wochenenden zeigte er ihr die Sehenswürdigkeiten der Stadt, und werktags brachte er sie zur Schule, bis sie den Weg mit der Untergrundbahn nach Greenwich Village allein fand.«

»Das will gelernt sein!«, stimmte ich zu und erzählte von der Verwirrung, in die mich erst diesen Nachmittag die Existenz von zwei Fulton Streets gestürzt hatte - eine im unteren Manhattan, die andere in Brooklyn. »Eine Zeit lang zweifelte ich direkt, ob ich die richtige Linie erwischen und an mein Ziel gelangen würde.«

»Nun, Angela brauchte nicht lange, um sich zurechtzufinden«, sagte er. »Sie kam stets wieder gut zurück, und wenn sie heimkam, hatte Cousine Ella schon immer eine Tasse Tee für sie auf dem Herd, bei der die beiden dann über die Ereignisse des Tages plauderten. Danach verschwand Angela auf ihr Zimmer. Sie übte Klarinette, las und rezitierte Szenen aus dem Stück, das der Dramatische Zirkel der Schule einstudierte, und machte ihre Schularbeiten.«

»Und wie haben sich die Lehrer dem schwarzen Mädchen gegenüber verhalten, das plötzlich in ihrer Mitte auftauchte?«, fragte ich. »Können Sie sich daran erinnern?«

»Sie setzte alle Kraft daran und schaffte es«

»Nun, sie hatten sie gern in ihrer Klasse, schenkten ihr aber nichts. Und ich entsinne mich noch gut, wie tief es Angela traf, als man ihr den Rat gab, eine Klasse zu wiederholen. Sie hatte bis zu dem Zeitpunkt keinen Fremdsprachenunterricht, müssen Sie wissen, und nur wenig Mathematik oder Naturwissenschaft. Aber das alles brauchte sie eben, wenn sie später auf einem erstklassigen College zugelassen werden wollte. Daher benötigte sie im ersten Sommer Nachhilfestunden, vor allem in Französisch, das ihr anfänglich schwerfiel. Aber wenn Angela sich etwas vornahm, setzte sie alle Kraft daran und schaffte es auch. Jedenfalls beendete sie die Brandeis University nach fünf Jahren mit Magna cum laude in französischer Geschichte und Literatur.«

Er merkte, dass er abschweifte, und kam auf meine ursprünglichen Fragen zurück.

»Nein«, fuhr er fort, »ihre Hautfarbe bedeutete kein ernsthaftes Problem. Die Elisabeth Irwin Highschool ist eine fortschrittliche Institution mit einer Lehrergenossenschaft, und irgendwelche Voreingenommenheiten gegen Angela kann ich mir nicht vorstellen. Doch denke ich, dass Angela für die meisten Lehrer immer ,das stille Mädchen’ blieb. Eine gute Schülerin, aber so schüchtern, dass sie kaum von sich aus den Mund aufmachte. Ein Mädchen, das sich selten meldete, jedoch stets die richtige Antwort wusste, wenn sie aufgerufen wurde. Die Geometrielehrerin Blanche Schindelmann stellte fest: Obwohl Angela das Fach nicht sonderlich mochte, war sie niemals unaufmerksam, sondern schien immer bei der Sache. Gelegentlich überraschte sie durch eine Bemerkung über ein Problem, dessen Lösung ihr, wenn auch sonst niemandem, auf der Hand zu liegen schien und keines Beweises bedurfte. Dr. Harold Kirshner, Angelas Lehrer in Gesellschaftswissenschaften, bestätigte Blanche Schindelmans Eindrücke. ,Angela sagte wenig’, meinte Harold Kirshner, ,aber ihr konzentrierter Blick verriet untrüglich, dass sie zuhörte, jedes Wort aufnahm und durchdachte und nie vor sich hin träumte.’

Den engsten Kontakt, glaub ich, hatte sie zu Mary Van Dyke, der Literaturlehrerin. Seinerzeit studierten sie gerade Thornton Wilders ,Wir sind noch einmal davon gekommen’ ein, und Angela spielte die Rolle der Zigeunerin. Eines Abends erstreckten sich die Proben bis tief in die Nacht. Daraufhin ließ Mary Van Dyke, verantwortungsbewusst, wie sie war, Angela nicht etwa allein nach Brooklyn zurückfahren, sondern nahm sie mit zu sich in ihr Greenwichapartment. Und so war es dann wohl auch Mary Van Dyke, die mir den Schlüssel gab zu dem, was in Angela vorging, als sie mir berichtete, welche Worte Angela neben ihr Bild in das Jahrbuch der Klasse schrieb. Nämlich die Verse Walt Whitmans: ,Ich widerspreche mir selber? Dann widerspreche ich mir eben. Meine Seele ist weit. In mir sind Welten.’«

»Prophetische Worte!«

»In der Tat«, sagte Pastor Melish. »So schüchtern und zurückhaltend Angela auch zu sein schien, bewies sie doch bald eine bemerkenswerte Fähigkeit, zu Gleichaltrigen Kontakt zu gewinnen. Mit den Teenagern der Brooklynstraßen von Gowanus und Red Hook nämlich. Das waren zumeist schwarze und braune Arbeiterkinder, die alle zu irgendwelchen Gruppen gehörten und sich Pharaos, Ambassadors oder Apaches nannten. Angela hatte schnell heraus, wie man mit ihnen reden musste, und brachte sie dazu, ihr zuzuhören. Damals entdeckte ich ihre außergewöhnliche und einfach wunderbare Gabe, die unterschiedlichsten Menschen anzusprechen - Studenten und Gefangene, Neger und Mexiko-Amerikaner, Chicanos, wie wir sie nennen, die Bevorzugten und die Benachteiligten der Gesellschaft, über die George Jackson in seinem Buch so bewegend geschrieben hat.«

»Sie war also durchaus nicht mehr das stille Mädchen«, sagte ich.

»Nun, zu Haus, in unserem Familienkreis, blieb sie schon die Stille«, erklärte der Pastor. »Denn sie blieb zurückhaltend trotz aller Herzlichkeit und Kontaktfreudigkeit. Aber, um das zu wiederholen: Die Elisabeth Irwin High School ist eine fortschrittliche Schule. Die Lehrer tun viel, um in ihren Schülern soziales Bewusstsein zu wecken und ihr Vertrauen in die Möglichkeit wirksamer gesellschaftlicher Veränderungen zu stärken. Das war bei Angela, als sie zu uns kam, noch kaum entwickelt. Die Schule stellte die Aufgabe, allwöchentlich ein paar Stunden im Wohngebiet tätig zu sein. Das reizte Angela, und sie knüpfte verschiedene Verbindungen an, fand sich regelmäßig im Brooklyn Heights Jugend-Center in der Atlantic Avenue ein. Dort lernte sie auch die Kinder aus den Slums von Gowanus und Red Hook kennen.«

»Irgendwie scheint sie dorthin zurückgekehrt zu sein«

»Ein weiter Weg seit damals und dort.«

»Geografisch vielleicht«, sagte der Pastor. »Doch irgendwie scheint sie dorthin zurückgekehrt zu sein - auf einem langen Weg und nach einer breiten Skala an Erfahrungen in Amerika, Frankreich und Deutschland. Doch davon können Ihnen andere besser berichten. Zu mir kamen Sie, um etwas darüber zu hören, wie Angela als junges Mädchen war. Ja, ich rufe mir oft den Spätsommertag neunzehnhundertneunundfünfzig zurück, als ein Kombi mit Alabama-Zulassungsnummer vor der Haustür hielt und die ganze Familie aus dem Auto quoll: Mister Frank Davis, seine Frau Sallye und ihre vier Kinder - Ben, Fania, Reggie und Angela, die hoch aufgeschossene, geschmeidige, sanfte, schüchterne Angela, die meinen Söhnen bald eine Schwester und mir eine Tochter wurde.«

Er erhob sich aus seinem Sessel. Mein Besuch in dem Arbeitszimmer in Brooklyn ging zu Ende. Dämmerung senkte sich bereits über die schmale, von Klinkerhäusern gesäumte Straße, und die Laternen schimmerten durch die Frostluft. Es war Zeit aufzubrechen und sich wieder in die Kälte hinauszuwagen.

»Sollten Sie in Kalifornien mit Angela zusammenkommen«, bat er, »dann grüßen Sie sie bitte recht herzlich von uns.«

»Gewiss«, versprach ich, »selbstverständlich.« Aber er wollte anscheinend noch etwas sagen, und so zögerte ich noch.

»Ja, wir kennen und lieben Angela«, setzte er dann abschließend hinzu. »Und wir akzeptieren auch weiterhin ihre Erklärung vor dem Gerichtshof, dass sie nicht schuldig sei. Die politischen Beweggründe hinter der Anklage gegen Angela sind schließlich unverkennbar. Für mich, für uns alle hier, wird sie stets ein Symbol des Mutes und der Tapferkeit bleiben.«

Ein Funke Auflehnung

Mit Anbruch der Dämmerung an diesem fahlen Samstagnachmittag im januarkalten New York verringerten sich die Scharen einkaufsfreudiger Passanten. Die Menschen hasteten hinunter in die Subway Stationen am Union Square oder stiegen an den Broadway-Haltestellen in die Busse. Und Maria Hoffmann, die vor Macys Kaufhaus dem schneidenden Winterwind bereits vier Stunden getrotzt hatte, wollte eben aufbrechen, um das für Angela Davis gesammelte Geld dem Komitee zu übergeben.

Ich hatte ihre Tätigkeit nur kurze Zeit beobachtet und den Eindruck gewonnen, dass nur Schwarze auf Marias Ruf »Freiheit für Angela« reagierten - zwei junge Neger in Jeans und Lederjacken; eine junge schwarze Frau in einem Pelzmantel; eine ältere Schwarze, den Arm voller Pakete, und ein paar Kinder. Doch dann tauchte sie auf - jung, weiß, attraktiv und elegant gekleidet. Sie blieb stehen, fingerte einige Geldscheine aus der Geldbörse und faltete sie so, dass die Scheine in den Schlitz von Marias Sammelbüchse passten.

Ich beschloss, sie zu fragen, ob sie ein paar Minuten Zeit für mich hätte.

»Ein Reporter?« Sie schüttelte den Kopf.

Unsicher geworden, machte ich alles nur noch schlimmer, als ich sie auf die beträchtliche Summe hinwies, die sie eben gespendet hatte.

»Aber ich ließ sie kurz abfahren ...«

»Nur ein Funke Auflehnung«, sagte sie und wäre weitergegangen, wenn ich mich nicht bemüht hätte, sie doch noch umzustimmen. Ich erklärte ihr, wer ich war, woher ich kam, und ließ zuletzt einfließen, dass es Arten der Berichterstattung gibt, die ihr vielleicht nicht zuwider wären.

»Das steht außer Frage«, gab sie zu.

Ihre ersten Worte boten mir den Ansatzpunkt. Behutsam forschte ich weiter - um zu erfahren, was sie mit dem »Funken Auflehnung« gemeint hatte. Aber sie blieb auf der Hut. Wenn sie sich darauf einließe, erläuterte sie, müsse sie weit zurückgreifen bis zu den Ereignissen im Herbst 1970, als Angela Davis vom FBI wegen Mord und Entführung gesucht wurde. Als ich andeutete, dass jene Ereignisse der Grund für ihre momentane Auflehnung sein könnten, wehrte sie kopfschüttelnd ab.

»Es ist alles viel komplizierter und weitaus persönlicher«, sagte sie. »Obwohl eins zutrifft: Das FBI hatte seine Hand im Spiel, und die Beamten stellten mir im Zusammenhang mit Angela mehrere Fragen. Aber ich ließ sie kurz abfahren, machte aus meinem Herzen keine Mördergrube und sagte ihnen, was ich von dem Steckbrief hielt, der im ganzen Lande in allen Postämtern prangte. Ihre Anschuldigungen überzeugten mich nicht im geringsten. Denn schließlich kannte ich Angela. Und da wir schon davon reden: Vor allem sind meine Anfälle von Auflehnung und Widerstand auf die Haltung meines Vaters zurückzuführen. Sein Verhalten reizt mich einfach dazu. Er drängte mich damals, und er drängt mich heute noch, das FBI nicht zu brüskieren. Aber damit habe ich Ihnen schon viel mehr erzählt, als ich eigentlich wollte.«

»Ich werde Ihr Vertrauen nicht missbrauchen«, versicherte ich ihr und fragte, wie gut sie Angela gekannt habe.

»Kaum gut genug, als dass J. Edgar Hoovers muntere Truppe an mir Interesse haben könnte«, sagte sie. »Wir besuchten zur gleichen Zeit die Brandeis University, das ist alles. Wahrscheinlich wollte das FBI von mir die Namen der engsten Freunde Angelas erfahren. Ich hätte sie ihnen sagen können, tat es aber nicht.«

Das machte mir Mut. »Bitte vertrauen Sie mir«, bat ich sie. »Ich werde keine Namen nennen, weder Ihren noch andere. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mehr über Angela erzählen würden.«

»Hier, an dieser zugigen Straßenecke?«

»Natürlich nicht. Wo wir sprechen, das überlasse ich Ihnen.«

Der Drugstore in der vierzehnten Straße war überfüllt, wir mussten warten, bis an der Theke zwei Plätze frei wurden, aber immerhin war es warm hier, und wir fühlten uns geborgen. Der Musikautomat lärmte, wurde aber noch vom Barkeeper übertönt. Er erzählte schwungvoll von einem Norweger namens Soderstrom, der in der Brooklyn-Metro einen Hundertdollarschein gefunden und die Tatsache in der »New York Post« angezeigt hatte.

»Gibt eben immer noch Wunder!«

»Ich weiß, wie der Schein aussah«, rief jemand aus der Menge. »Ist ein Bild von Andrew Jackson drauf. Ob ich mich melde?«

»Großartige Idee!«, sagte der Barkeeper. »Bis auf die Tatsache, dass man wissen muss, wie der Schein gefaltet war, der war nämlich auf eine ganz besondere Art und Weise gefaltet. Raten hilft da nicht weiter.«

»Hab ich mir doch gleich gedacht, dass die Sache einen Haken hat«, sagte der Gast. »Hat eben alles einen Haken in dieser Welt.«

Inzwischen saßen wir bereits, und ich bestellte zwei Kaffee. Rings um uns her ging es laut und ausdauernd um den Hundertdollarschein: Wer hatte ihn verloren? Wer würde Anspruch darauf erheben? Warum und wie war er zusammengefaltet? Die Angelegenheit wurde zu einem allgemeinen Gaudium. Die junge Frau sah mich fragend an.

»Ach was«, sagte ich. »Ich habe anderes im Kopf. Mir ist es gleich, wie dieser Schein gefaltet war.«

»Hoffentlich holt sich der Richtige das Geld und stellt etwas halbwegs Vernünftiges damit an.«

»Ja«, sagte ich, »ich kann mir vorstellen, was Sie meinen.«

Sie wartete, und ich ließ unsere Angelegenheit nicht länger in der Schwebe.

»Biografische Daten allgemeiner Natur bekommt man bald zusammen. Vor allem, wenn derjenige, um den es geht, fortwährend Schlagzeilen macht, wie eben Angela Davis. Doch tatsächlich mit jemand zu sprechen, der sie von früher her kennt, bringt sicher mehr zutage.«

»Erwarten Sie nicht zu viel«, sagte sie. »Angela und ich - nun, wir haben uns nie sehr nahe gestanden. Um die Schranke ihrer höflichen Zurückhaltung zu brechen, hätte ich mich für ihre besondere Situation stärker interessieren müssen. Schließlich war sie das einzige schwarze Mädchen in unserer Klasse. Ich glaubte, es wäre besser, das zu übersehen. Ich war nicht aufgeschlossen genug. Mein Wesen stand zwischen uns. Obwohl unsere Zimmer ziemlich nahe beieinanderlagen und wir uns tagtäglich begegneten, hielten mich ihre Scheu und ihr Misstrauen lange davon ab, sie anzusprechen. Deshalb kann ich Ihnen eigentlich bloß oberflächliche Eindrücke vermitteln, mehr nicht. Etwa, dass sie kultiviert, wohlerzogen, sanft und zurückhaltend wirkte - und nur selten lächelte oder gar lachte. Mir gegenüber blieb Angela reserviert - ich meine, sie konnte sich nicht darüber klar werden, ob sie mit mir überhaupt lachen wollte. Ein Eingeständnis, auf das ich nicht gerade stolz bin. Und vor allem dürfte so etwas kaum zu den Beobachtungen gehören, auf die Sie aus sind.«

»Wer weiß«, sagte ich. »Es geht einem dabei wie mit einer Melodie. Man beginnt mit ein paar Takten. Und plötzlich bekommt man das ganze Lied zusammen.«