Im Sonnenwinkel 10 – Familienroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Im Sonnenwinkel 10 – Familienroman E-Book

Patricia Vandenberg

3,8

Beschreibung

Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie, bestehend aus 75 in sich abgeschlossenen Romanen. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. Zögernd öffnete Stefanie Fanchon den Brief, der mit der Morgenpost gekommen war. Eine halbe Stunde lag er schon vor ihr auf dem Tisch, und immer wieder hatte sie auf den Absender gestarrt. »Rechtsanwalt Dr. Herbert Wilkens«, stand da. Sie hatte den Namen nie gehört, aber die Tatsache, einen Brief von einem Rechtsanwalt zu bekommen, erschreckte sie. Ein kleiner Finger tippte auf ihre Hand. Er war ein bisschen klebrig. »Warum machst du den Brief nicht auf, Mami?«, fragte ihr Söhnchen. »Ich wollte ihn ja gerade aufmachen, Nikki«, murmelte sie. »Na, dann mach doch schon, damit wir endlich Fritzi abholen können«, drängte der Knirps. Du lieber Himmel, an Fritzi – damit war ihre jüngere Schwester Friederike gemeint – hatte sie gar nicht mehr gedacht. Jetzt hieß es, sich zu beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zum Bahnhof kommen wollte. Ungeöffnet wanderte der Brief in ihre Handtasche. Das störte den kleinen Nikki jetzt allerdings wenig, denn er war schon voller Erwartung, was seine junge Tante von ihrer Reise zu berichten hatte. Er ließ es auch geduldig über sich ergehen, dass seine Mami ihm Gesicht und Hände wusch, und wenig später knatterte der schon recht altersschwache Wagen davon. »Wenn Fritzi nun Lehrerin wird in dem Ort … Wie heißt er doch, Mami?«

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Im Sonnenwinkel – 10 –

Er wusste nichts von seinem Kind

Sie hatten so viel nachzuholen

Patricia Vandenberg

Zögernd öffnete Stefanie Fanchon den Brief, der mit der Morgenpost gekommen war. Eine halbe Stunde lag er schon vor ihr auf dem Tisch, und immer wieder hatte sie auf den Absender gestarrt. »Rechtsanwalt Dr. Herbert Wilkens«, stand da. Sie hatte den Namen nie gehört, aber die Tatsache, einen Brief von einem Rechtsanwalt zu bekommen, erschreckte sie.

Ein kleiner Finger tippte auf ihre Hand. Er war ein bisschen klebrig.

»Warum machst du den Brief nicht auf, Mami?«, fragte ihr Söhnchen.

»Ich wollte ihn ja gerade aufmachen, Nikki«, murmelte sie.

»Na, dann mach doch schon, damit wir endlich Fritzi abholen können«, drängte der Knirps.

Du lieber Himmel, an Fritzi – damit war ihre jüngere Schwester Friederike gemeint – hatte sie gar nicht mehr gedacht.

Jetzt hieß es, sich zu beeilen, wenn sie noch rechtzeitig zum Bahnhof kommen wollte.

Ungeöffnet wanderte der Brief in ihre Handtasche.

Das störte den kleinen Nikki jetzt allerdings wenig, denn er war schon voller Erwartung, was seine junge Tante von ihrer Reise zu berichten hatte.

Er ließ es auch geduldig über sich ergehen, dass seine Mami ihm Gesicht und Hände wusch, und wenig später knatterte der schon recht altersschwache Wagen davon.

»Wenn Fritzi nun Lehrerin wird in dem Ort … Wie heißt er doch, Mami?«, fragte Nikki.

»Hohenborn«, antwortete Stefanie mechanisch.

»Hohenborn«, wiederholte Nikki eifrig, »wenn sie da nun Lehrerin wird, ziehen wir dann auch dorthin?«

»Ich weiß noch nicht, Nikki«, entgegnete Stefanie gedankenverloren.

»Ich möchte aber mit Fritzi zusammenbleiben«, beharrte er. »Wir haben doch sonst keinen.«

Nein, sonst hatten sie niemanden, und gerade deshalb fragte sich Stefanie wieder, was der Brief des Rechtsanwalts beinhaltete.

Sie erreichten ihr Ziel schneller, als Stefanie erwartet hatte. Der Bahnhof der kleinen Stadt war noch menschenleer.

»Steig doch endlich aus!«, drängte Nikki.

»Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit«, erwiderte sie. »Es ist ziemlich windig.«

»Mir macht das nichts«, erklärte er. »Friert’s dich, Mami?«

Ja, es fror sie, aber das kam wohl mehr von der inneren Unruhe, die sie nun nicht mehr bezwingen konnte.

Sie nahm den Umschlag aus der Tasche und zog den Brief heraus.

Nikki schaute ihr erwartungsvoll zu.

»Was haste denn, Mami?«, fragte er erschrocken, als Stefanie schneeweiß wurde.

Sie hörte es gar nicht. Unentwegt starrte sie auf die Zeilen, deren Buchstaben vor ihren Augen tanzten.

Sehr geehrte Frau Fanchon, endlich konnte ich nach langen Nachforschungen Ihren jetzigen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen, und ich hoffe, dass mein Schreiben Sie wohlbehalten erreicht.

Meine Mandantin, Frau Carsta von Joris, ersuchte mich, mich mit Ihnen persönlich in Verbindung zu setzen, und so bitte ich Sie, sich baldmöglichst, am besten telefonisch, mit mir über einen Termin zu verständigen. Leider kann ich Sie wegen eines schweren Rheumaleidens nicht aufsuchen, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Mühe auf sich nehmen würden, nach Hamburg zu kommen. Einen Scheck, mit dem Sie vorerst Ihre Auslagen bestreiten könnten, lege ich bei.

Ich möchte noch hinzufügen, dass unsere Kontaktaufnahmen von größter Wichtigkeit für Sie und Ihren Sohn Dominik sein dürfte.

Von größter Wichtigkeit für mich und meinen Sohn Dominik, dachte sie.

Die Buchstaben tanzten nicht mehr.

Sie konnte wieder klar denken, und ihre Mundwinkel verzogen sich voller Bitterkeit.

»Was steht denn in dem Brief, Mami?«, fragte Nikki neugierig.

»Nichts von Bedeutung«, erwiderte sie tonlos. »Komm jetzt, der Zug wird gleich einlaufen.«

Und was gewesen ist, ist vorbei, dachte sie weiter. Ganz fest hielt sie die kleine Hand ihres Sohnes.

»Vielleicht ziehen wir doch nach Hohenborn, wenn Fritzi die Stellung bekommen hat«, sagte sie ruhig.

»O fein, Mami!«, freute er sich.

*

Stürmisch umarmte Friederike Fanchon ihre Schwester, hob dann den kleinen Nikki empor und schwenkte ihn durch die Luft.

»Ich habe sie, ich habe die Stellung bekommen, Steffi!«, lachte sie. »Ich brauche dir nicht mehr auf der Tasche zu liegen. Hübsch ist es dort. Oh, ich freue mich so sehr. Und es gibt noch viel mehr zu berichten. Aber lass uns erst heimfahren. Mich verlangt nach einem Bad, und einen Mordshunger habe ich auch. Nikkischatz, hast du deine Fritzi vermisst?«, sprudelte es dann weiter über ihre frischen Lippen.

»Und wie!«, seufzte er. »Mami war immer so still!«

Größere Gegensätze als die beiden Schwestern konnte man sich nicht vorstellen.

Fritzi war blond und hatte strahlend blaue Augen; Stefanie war dunkelhaarig und von einer fast melancholischen Schönheit.

Vielleicht kam es daher, dass sie zwar denselben Vater, aber verschiedene Mütter gehabt hatten, was ihrer Zuneigung allerdings niemals abträglich gewesen war.

Stefanie sah ihrem Vater ähnlich, der Franzose gewesen war, Fritzi ihrer dänischen Mutter. Eine seltsame Mischung, die sich allerdings in Fritzi auswirkte. Sie hatte romanisches Temperament und zugleich einen recht nüchternen Verstand, den sie in ihrem Beruf als Lehrerin brauchen würde.

Während Stefanie auf der Heimfahrt schwieg, plauderte Fritzi mit Nikki, der gar nicht genug von ihrer Reise hören konnte.

»Sind da nette Kinder?«, wollte er wissen.

»Sehr nette, und es gibt eine ganz moderne Schule«, erzählte sie. »Sie wird jetzt erst eingeweiht. Es wird dir dort gefallen, Nikki.«

»Dann ziehen wir bestimmt mit dahin?«, erkundigte er sich eifrig.

Fritzi warf ihrer Schwester einen schnellen Blick zu.

»Das hoffe ich doch sehr«, murmelte sie.

Nun waren sie daheim in der recht hübschen Vierzimmerwohnung im ers­ten Stock des Zweifamilienhauses.

Fünf Jahre wohnten sie hier, und sie kamen auch ganz gut mit dem kinderlosen Hausbesitzerehepaar aus.

Wie würde es wohl anderswo sein, fragte sich Stefanie. Aber jetzt musste sie von hier fort, und dies so schnell wie möglich.

Fritzi war im Bad verschwunden. Nikki baute sich vor seiner Mutter auf, die Arme in die Hüften gestemmt.

»Fritzi wird sicher denken, dass du böse mit ihr bist, Mami«, sagte er vorwurfsvoll.

»Warum sollte sie das denken?«

»Weil du gar nichts mehr mit ihr redest.«

»Wir werden nachher schon miteinander reden«, lenkte sie ab. »Du hast sie ja beschäftigt.«

Er betrachtete sie mit einem Blick, der ihr durch und durch ging, weil sie unwillkürlich seinen Vater vor sich sah. Und gerade das wollte sie nicht.

Nein, es war lange vorbei, und niemand hatte das Recht, sie daran zu erinnern.

Fritzi setzte sich schon bald zu ihnen. Sie hatte ihren rosa Frotteemantel an und ein weißes Frotteetuch als Turban um den Kopf geschlungen. Sie sah wie blank poliert aus, frisch und munter.

»So, nun schaut euch das mal an«, sagte sie und legte einige Bilder auf den Tisch, die eine liebliche Landschaft und sehr hübsche Häuser zeigten. »Und du, Steffi, kannst dich mal damit befassen«, fuhr sie fort und deutete auf eine fettgedruckte Annonce.

Nikki betrachtete die Bilder, Stefanie las die Annonce.

»Einmalige Gelegenheit«, lautete die Überschrift. »Einfamilienhaus, fünf Räume und Zubehör, mit angelegtem Garten in der Siedlung Erlenried aus familiären Gründen äußerst günstig zu verkaufen oder zu vermieten. Auskünfte erteilt Rechtsanwalt Dr. Heinz Rückert.

»Was meinst du damit, Fritzi?«, fragte Stefanie. »Das ist doch unerschwinglich für uns.«

»Wer sagt denn das?«, meinte Fritzi unbekümmert. »Ich habe mich schon mit Dr. Rückert in Verbindung gesetzt. Reizende Leute sind das. So was muss man erst suchen. Äußerst entgegenkommend sind sie. Weißt du, das ist eine Siedlung für Individualis­ten. Das ist nicht so eine Baugesellschaft, die immens verdienen will. Wir brauchen nur eine Anzahlung von zwanzigtausend Euro zu leisten. Du weißt, ich spreche nicht gern darüber, aber du hast doch das Erbteil von deiner Mutter, Steffi.«

Sie machte eine kleine Pause und sah die Ältere verlegen an.

Stefanie sprach nicht über das Erbteil, weil es ihr irgendwie ungerecht erschien, dass sie mehr besaß als Fritzi, und sie ließ sich auch gar nicht gern daran erinnern, dass sie verschiedene Mütter gehabt hatten.

Das Geld hatte sie für Nikki an die Seite gelegt. Manchmal hatte sie auch ganz heimlich etwas für Fritzis Studium abgezwickt, was diese aber nicht wissen durfte.

Sie selbst hatte als Modezeichnerin immer gut verdient, um das zu rechtfertigen, und es war nun mal Fritzis heißester Wunsch gewesen, Lehrerin zu werden.

»Ich will ja nicht, dass du das Geld einfach so hergibst«, fuhr Fritzi schüchtern fort. »Wenn ich jetzt verdiene, kann ich es dir ja monatlich zurückzahlen. Aber die Häuser sind traumhaft schön, und eine so günstige Gelegenheit wird uns so schnell nicht mehr geboten werden, Steffi. Du willst doch mitkommen? Sonst macht mir das alles gar keine Freude«, schloss sie unsicher.

»So ein schönes Haus könnten wir kriegen?«, fragte Nikki aufgeregt. »Und was für Leute wohnen da mit uns?«

»Wir hätten es ganz für uns allein, Nikki«, warf Fritzi ein.

»Ein Haus und ein Garten ganz für uns allein?«, staunte er.

Ganz rote Ohren bekam er vor Aufregung.

»Ganz für uns allein«, bestätigte Fritzi.

»Und Erlenried ist ziemlich abgelegen?«, fragte Stefanie nachdenklich.

»Ja, ziemlich, aber es liegt ganz dicht bei Hohenborn, und die Schule ist wirklich wunderschön«, erklärte Fritzi, weil sie meinte, dass Stefanie an der Einsamkeit Anstoß nehmen könnte.

»Wann könnten wir das Haus haben?«, fragte Stefanie.

»Sofort«, erwiderte Fritzi, um ihre Schwester dann staunend anzublicken.

»Gut, dann ruf Dr. Rückert gleich an«, sagte diese zu ihrem fassungslosen Staunen.

»Steffi!«, schrie sie auf.

»O Mami, du willst?«, rief Nikki.

Und dann wurde sie von beiden gleichzeitig umarmt. Die Freude war so groß, dass Fritzi gar nicht dazu kam, sich zu wundern, warum die sonst so bedächtige und vorsichtige Stefanie sich so schnell entschlossen hatte.

Zehn Minuten später war das Gespräch mit Dr. Rückert bereits beendet.

»Wenn du willst, könnten wir morgen einziehen«, lachte Fritzi.

»So rasch wird es ja leider nicht gehen, aber ich werde mich gleich mit einer Spedition in Verbindung setzen«, erklärte Stefanie.

Fritzi versank in Schweigen. Das ›leider‹ hatte sie sehr deutlich vernommen, und es machte sie nachdenklich.

»Wieso bist du so schnell entschlossen, Steffi?«, fragte sie leise.

»Weil es mir dort gefällt«, erwiderte Stefanie.

Und dabei hatte sie die Bilder noch gar nicht betrachtet. Fritzi konnte sich nur wundern.

Nikki konnte es noch gar nicht fassen. Sein Glück war vollkommen.

Sie brauchten sich nicht von Fritzi zu trennen, würden ein wunderschönes Haus für sich allein haben, und vielleicht bekam er nun auch einen kleinen Hund oder wenigstens einen Wellensittich.

Mit einem seligen Lächeln schlief er ein. Stefanie betrachtete ihn lange.

Nein, dachte sie wieder entschlossen, in deinem Leben wird der Name Joris keine Rolle spielen. Du bist mein Kind, nur mein Kind. Und zärtlich küsste sie ihn auf die runde Stirn.

*

In Erlenried sprach es sich herum, dass die neue Lehrerin in das frei gewordene Haus einziehen würde.

Bei den Auerbachs im Sonnenwinkel wurde es am Mittagstisch diskutiert.

Henrike Rückert, geborene Auerbach, die selbstverständlich immer noch Ricky genannt wurde, hatte es von ihrem Schwiegervater erfahren.

Da ihr Mann, der junge Studienrat, an diesem Mittag nicht nach Hause kam, weil er nachmittags Turnunterricht gab, aß sie bei den Eltern.

Der jetzt vierzehnjährige Hannes verschluckte sich fast, als sie die Neuigkeit verkündete.

»Na, die muss aber gespickt sein«, stellte er fest. »Warum ist sie dann Lehrerin geworden?«

»Sicher, weil es ihr Spaß macht«, warf Inge Auerbach ein.

»Und es ist ja eine sehr schöne Schule«, bemerkte die kleine Bambi eifrig.

»Aber eine Dorfschule«, brummte Hannes.

»Warum soll sie kein Haus haben«, meinte Bambi eigensinnig. »Fabian hat doch auch eins.«

»Fabian ist auch Studienrat«, wurde sie von ihrem Bruder belehrt. »Wenn sie nun eine Hochnäsige ist, dann hast du mal nichts zu lachen, Bambi.«

»Ich will auch nicht lachen in der Schule, ich will lernen«, erklärte die Kleine eifrig.

»Recht hast du, Bambi«, äußerte Ricky. »Hannes hat immer gleich Vorurteile. Frau Fanchon soll nett sein.«

»Komischer Name«, knurrte Hannes.

»Klingt fremd«, nickte Bambi. »Muss ich nachher gleich allen erzählen, dass die Lehrerin herzieht.«

Werner Auerbach, der Hausherr, lachte.

»Eine Zeitung brauchen wir wirklich nicht«, bemerkte er.

Bambi warf ihm einen schrägen Blick zu.

»Meinst du das spaßig oder böse, Papi?«, fragte sie kleinlaut.

Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Nase.

»Wie könnte ich dir böse sein, Schätzchen«, sagte er weich.

»Ich will ja auch nicht klatschen, will ja nur erzählen.«

Und so machte es dann die Runde. Bambi und ihre Spielgefährten – es gab deren schon viele in Erlenried – stellten fest, dass das Haus nur ein paar Minuten von der neuen Schule entfernt lag, die wie ein moderner Bungalow aussah. Unweit davon stand auch die neue Kirche.

Der junge Pfarrer Frerichs kam des Weges und beobachtete die Kinder ein Weilchen, bevor sie ihn bemerkten.

Dann aber grüßten sie ihn freudig. Alle mochten ihn gern, und selbst die Langschläfer gingen am Sonntagmorgen ohne zu murren in die Kirche.

»Na, ihr könnt es wohl kaum erwarten, bis der Unterricht beginnt«, meinte er freundlich.

»Wir haben nur mal geguckt, wie weit es die neue Lehrerin von ihrem Haus bis zur Schule hat«, erklärte Bambi.

»Von ihrem Haus?«, fragte er überrascht.

»Das da kriegt sie. Sie hat es gekauft«, berichtete Bambi eifrig.

»Dann wollen wir hoffen, dass sie sich hier auch so wohlfühlt wie wir alle«, äußerte Pfarrer Frerichs.

*

Fritzi war es ein wenig unheimlich, wie eilig Stefanie den Umzug vorantrieb.

Gleich am nächsten Tag hatte sie selbst noch einmal mit Dr. Rückert telefoniert, damit er den Kaufvertrag bereithalten sollte.

Er hatte ihr gesagt, dass sie alles an Ort und Stelle perfekt machen könnten. Ihrem Einzug stünde nichts im Wege.

Daraufhin hatte sie sofort mit dem Packen begonnen, wobei Fritzi und auch Nikki ihr nach besten Kräften halfen.

Der Hausbesitzer war ziemlich konsterniert gewesen, erklärte sich dann aber mit einem frühen Kündigungstermin einverstanden, da er die Wohnung gern für Verwandte haben wollte.

Es ging alles glatt, fast zu glatt, wie Stefanie meinte.

Der Brief befand sich noch immer in ihrer Handtasche, und erst am Abend vor ihrem Auszugstag nahm sie ihn noch einmal hervor.

Fritzi kam herein, als sie am Schreibtisch saß und gerade nach dem Federhalter griff.

»Willst du nicht lieber schlafen, Steffi?«, fragte sie. »Morgen wird es anstrengend.«

»Ich muss noch etwas erledigen«, erwiderte Stefanie, ohne jedoch eine nähere Erklärung zu geben.

Als sie wieder allein war, warf sie ein paar Zeilen auf eine Briefkarte. Ihre Hand war dabei ganz kalt.

Frau Stefanie Fanchon ist mit unbekanntem Ziel verzogen und sendet anbei den Scheck zurück.

Mehr schrieb sie nicht.

Mochte dieser Dr. Wilkens sie für ungebildet und unhöflich halten, ihr war es gleichgültig. Er und auch Frau von Joris sollten wissen, dass sie keine Verbindung mit ihnen wünschte. Sie war jetzt fünf Jahre allein fertig geworden, fünf Jahre, in denen sie anfangs genug heimliche Tränen vergossen hatte.

Aber Nikki war davon unbelastet geblieben, und er sollte es auch bleiben.

*

Am nächsten Morgen Punkt sieben Uhr stand der Möbelwagen vor der Tür.

Nikki konnte es gar nicht erwarten, bis alles verstaut war. Aber endlich war es so weit.

Stefanie hielt vor der Post noch einmal an.

»Ich muss nur noch einen Brief aufgeben«, sagte sie geistesabwesend.

Fritzi wagte nicht zu fragen, und Nikki war froh, dass der Aufenthalt nur kurz war. Für ihn war alles ein großes und wundervolles Abenteuer.

»Wie lange müssen wir fahren, Mami?«, fragte er.

»Vier Stunden etwa«, erwiderte sie.

»Ach, wenn wir doch nur erst da wären«, flüsterte er und schmiegte sich in Fritzis Arm.

Ja, wenn wir nur erst da wären, dachte auch Stefanie.

Der Brief, den sie per Einschreiben aufgegeben hatte, trat seine Reise in die entgegengesetzte Richtung an. Sie hoffte, dass er deutlich genug zum Ausdruck brachte, dass sie den Namen Joris nicht mehr hören wollte.

Als sie Hohenborn erreichten, war es Mittag, und wie für so viele, die nach Hohenried gezogen waren, wurde es auch für sie Zwischenstation.

In den Tessiner Stuben kehrten sie ein. Nikki war nicht so ganz damit einverstanden, weil er Angst hatte, dass der Möbelwagen vor ihnen da sein könnte, doch Stefanie tröstete ihn.

»Die Männer müssen auch erst tüchtig essen«, erklärte sie. »Außerdem fahren sie nicht so schnell wie wir.«

Der Ort gefiel ihr. Fritzis Begeisterung war nicht übertrieben gewesen.

Vor ihren Augen breitete sich der Sternsee aus. Ein friedvolles Bild war es, und Stefanie Fanchon hoffte mit heißem Herzen, dass auch sie nun endlich ihren inneren Frieden wiederfinden würde.

Nach dem Essen suchten sie Dr. Rückert auf. Die hübsche achtzehnjährige Stella öffnete ihnen.

In ihrer frischen, natürlichen Art sagte sie Nikki sogleich, dass die Kinder in Erlenried sich bestimmt freuen würden, wieder einen kleinen Spielgefährten zu bekommen.

»Ich freue mich auch, wenn es nette Kinder sind«, erklärte Nikki. »Ist es dort wirklich so schön wie auf den Bildern?«

»Noch viel schöner«, erwiderte Stella.

Aber dann kam Dr. Rückert. Er hieß sie herzlich willkommen und meinte, dass sie sich erst einmal einrichten sollten.

»Bei uns kommen die Formalitäten erst in zweiter Linie«, bemerkte er freundlich. »Wichtig ist, dass Sie sich in Erlenried wohlfühlen.«

Darüber gab es keinen Zweifel, als sie dort ankamen. Ganz andächtig ließ Stefanie ihren Blick umherschweifen.

»Wie schön«, sagte sie leise. »Fritzi, ich bin froh, dass du uns dazu verholfen hast.«

Sie umarmten sich, und auch Nikki schlang seine kleinen Arme um sie.