Im Westen nichts - Benjamin Whitmer - E-Book

Im Westen nichts E-Book

Benjamin Whitmer

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Gerade noch war Douglas Pike, ehemals gewalttätiger Abzocker und Berufsverbrecher, auf dem Weg der Resozialisierung, im eisigen Abstellgleis der gottverlassenen Appalachen. Da holt ihn die Nachricht ein, dass seine ihm entfremdete Tochter an einer Überdosis gestorben ist. Ihr einziges Vermächtnis ein zwölf Jahre altes Mädchen, das ausgerechnet in Pikes harter Obhut landet. Dabei hat er alle Hände voll damit zu tun, sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und mit hartem Suff die Dämonen vom Leib zu halten. Als die beiden langsam zueinanderfinden, kommt ihnen Derrick Krieger, ein krummer Bulle aus Cincinnati, in die Quere, sodass Pike kein anderer Ausweg bleibt, als selbst herauszufinden, wer seine Tochter wirklich auf dem Gewissen hat. Dass er sich dabei mit Gott, der Welt, mit brutalen Gesetzeshütern und dem erbarmungslosen Winter Ohios anlegt, führt zu einer blutigen Suche in einer Vergangenheit, die ihn unausweichlich einholt.

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Ähnliche


Benjamin Whitmer

Im Westen nichts

Aus dem Amerikanischenvon Len Wanner

Copyright 2010 Benjamin WhitmerThis edtion copyright 2010 PM Presswww.pmpress.orgOriginaltitel: Pike

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2017Aus dem Amerikanischen von Len Wanner© 2017 Polar Verlag GmbH Hamburgwww.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Eva WeiglUmschlaggestaltung: Detlef Kellermann, Robert NethAutorenfoto: © 2014 Joshua MorkSatz/Layout: Martina StolzmannGesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesignDruck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-945133-49-1eISBN: 978-3-945133-50-7

Für meine Kinder, Maddie und Jack.

Inhalt

Prolog

Buch I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Buch II

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Buch III

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Epilog

Prolog

Der linke Arm des Kindes ragt aus dem schmutzigen Schnee wie ein abgebrochenes schwarzes Streichholz. Derrick stößt den Körper mit der Spitze seines Cowboystiefels an. Keine Reaktion. Er steckt seinen Colt 1911 zurück ins Holster und lässt seinen Blick durch die Gasse schweifen. Über ihm türmen sich rote Backsteinbauten wie Fabriken, eine uralte Feuertreppe löst sich von der Fassade, droht, die gesamte marode Mauer niederzureißen. Am Ende der Sackgasse liegt ein Hundezwinger, Heim zweier Pitbulls, die darauf abgerichtet sind, weiße Cops zu zerfleischen. Derrick macht auf dem Absatz kehrt und geht zurück zur Cincinnati Main Street. In der morgendlichen Stille knirschen seine Stiefel durch den Harsch wie der Herzschlag in seiner Brust, kalt und gleichmäßig.

Der Junge wusste ganz genau, was auf ihn zukam. Musste er ja wohl, so routiniert, wie er die Nummer durchgezogen hat. Bis er plötzlich vor Derrick stand. Der hatte den Kopf noch über eine aufflammende Zigarette gebeugt, da wirbelte der Junge schon wieder herum und nahm durch die Küchentür Reißaus, nichts als Schemen zu sehen, ein Afro, ein paar Schuhsohlen. Als Derrick endlich seinen Colt aus dem Holster hatte, war der Junge schon zehn Meter weiter und rannte um sein Leben.

Und auch die nächsten vier Blocks lang zeigte er seine ganze Routine. Mied Nebenstraßen, zog bewusst die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich. Einige waren doch tatsächlich bereits wach, saßen auf den ramponierten Stufen vor ihren Haustüren und verfolgten mit vom Bier noch geröteten Augen, wie die Szene ihren Lauf nahm. Ein paar erhoben sich sogar und schienen zu überlegen, ob sie sich gar noch einmischen sollten. Den Gedanken trieb Derrick ihnen allerdings schlagartig wieder aus. Mit einem knappen Zucken seines Handgelenks richtete er seine Pistole auf den nächstbesten Gaffer und bellte, dass er den ersten blöden Hurensohn, der ihm in den Weg trat, abknallen würde.

Doch dann machte der Junge zwei Fehler. Der erste bestand darin, dass er in eine Gasse rannte. Das war der offensichtliche Fehler. Der zweite jedoch war eine Fehleinschätzung, die er viel früher gemacht hatte, vermutlich am Vortag, als er seine Schuhe ausgesucht hatte. Schuhe mit extralangen Schnürsenkeln, die an seinen Füßen flatterten wie Rattenschwänze. Und über die er prompt stolperte. Klassisches Fashionvictim. Derrick blieb stehen, legte an und drückte zweimal ab. Die Pistole sprang in seiner Hand wie etwas Lebendiges und die großkalibrigen .45er Kugeln wehten den Jungen um wie ein harter Windstoß einen Stapel Trockenholz.

Als Derrick vor ihn trat, zuckte er noch. Seine Lippen standen einen Spaltbreit offen, aus Mund und Nase quoll ihm blutiger Schaum. Er blinzelte, versuchte etwas zu sagen, doch der tief hängende Himmel erdrückte ihn wie eine unsichtbare Hand. Derrick gab ihm noch eine Kugel. Stanzte ihm ein rauchendes Loch in den Schädel.

Inzwischen hat er die Gasse bereits fast wieder verlassen. Zehn Meter noch, immer kürzer wird der Abstand, da kommen zwei Jungs ums Eck und verdunkeln mit ihren Winterjacken die Sonne. Der kleinere der beiden pfeift. Sein rundes Gesicht ist nicht nur blass, es wirkt im Licht dieses Wintermorgens geradezu glasig, seine blassblauen Augen tränen in der Kälte. Ein Frösteln schießt Derrick den Rücken hinauf, blitzschnell richtet er seine Pistole auf die beiden. »Zurück.« Sie gehorchen, treten an die Wand. Gelangweilt. Unbeeindruckt.

»Hast ihn abgeknallt, hab ich recht, Arschloch?«, sagt der Größere und ballt seine gewaltigen braunen Fäuste.

Derrick geht weiter, richtet seinen Colt nun aber auf ihn. »Ist über seine Schnürsenkel gefallen.«

»Ach ja? Und hat dabei dummerweise sein Hirn verschüttet?«

»Hätte jedem passieren können. Auch dir.«

»Verlass dich drauf, Arschloch, irgendwann erwischen wir dich.«

Derrick legt einen Zahn zu, keine zwei Meter mehr bis zur Straße. Eine alte Frau in weinrotem Morgenmantel und Pantoffeln späht um die Ecke, um dem Radau auf den Grund zu gehen. Er schubst sie beiseite und joggt auf die Straße hinaus. Ladenfronten aus Schmiedeeisen und Stein. Der Gehsteig zerfurcht, als hätte ein Erdbeben dort gewütet. Die wenigen Bäume entlang der Straße schwer gebeugt von verrußtem Schnee. Die Rinnsteine gespickt mit den Bierdosen und Zigarettenstummeln des Vorabends, dazu ein einzelner roter Stöckelschuh. In der Mitte der Straße kommt Derrick schließlich schlitternd zum Stehen und blickt sich um. Da, die Kalksteinfassade mit dem Eisenbalkon, das Hanke-Gebäude. Er macht sich auf den Weg in Richtung Stadtmitte, zügig. Es sind nun mehr, wesentlich mehr Leute, die ihre Köpfe aus den Wohnhäusern strecken oder bereits auf die Straße stolpern. Er rennt los.

Hinter ihm ertönt ein Pfeifen aus der Gasse. Eigentlich weiß er es besser, dreht sich aber dennoch um. Der weiße Junge mit dem runden Gesicht. Eine Bierflasche peitscht durch die Luft, streift ihn am Arm, schmettert auf den kalten Asphalt. Die Scherben zerbersten noch, da rennt er bereits darüber hinweg. Irgendwo links von ihm ein Brüllen. Die nächste Bierflasche zischt an seinem Gesicht vorbei. Auch diese zerbirst. Dann ein Stein. Derrick duckt sich, spürt ihn keine zwei Zentimeter über seinem Kopf eine Schneise durch die Luft ziehen.

Er rennt. Im Schneematsch und den Bierpfützen rutscht er mit seinen Cowboystiefeln zwar immer wieder aus, doch er bleibt auf den Beinen. Sein Wagen steht hinter der Wohnung des Jungen. Keine Chance, da ranzukommen. Er hört das kalte Ratschen eines Pistolenverschlusses. Diesmal blickt er sich nicht um. Viermal knallt es in scharfer Folge, vier Schüsse klatschen rechts von ihm in die Straße. Irgendein Gangster also, noch nie an einem Schießstand gewesen, keine Gefahr, von so jemandem getroffen zu werden. Derrick sprintet in Richtung Downtown.

Links eine Nebenstraße. An dem Stoppschild steht eine viertürige blaue Limousine. Derrick stürzt darauf zu. Der Mann am Steuer, ein Mexikaner in einem dunklen Nadelstreifenanzug, beobachtet mit offenem Mund, wie dieser Kerl in Cowboystiefeln vor der brüllenden, entfesselten Meute flieht, die sich ringsum aus den Wohnhäusern ergießt und in Strömen die Straße füllt. Derrick reißt die hintere Tür auf, rammt dem Mexikaner die Pistole in den Nacken. »Fahr los«, schreit er mit rauer Stimme, noch während er die Tür zuschlägt.

»Qué?«

Der Mob kocht fast über, als er auf den Wagen zustürmt. Derrick packt den Mexikaner am Kinn, zwingt ihn, in Richtung Downtown zu blicken. »Vámonos. Ahora.«

Der Fuß des Mexikaners findet das Gaspedal. Der Wagen schießt über die Kreuzung, schlingert auf die Main Street. »Die sahen zornig aus«, sagt der Mexikaner.

»Wird nicht das letzte Mal sein«, erwidert Derrick.

Buch I

And blended horrors stare before their eyes,

Even in that time, when all should be at rest,

When not one thought should discompose her breast.

Blind Harry

Kapitel 1

Dana zu erkennen ist nicht schwer. Sie stößt die Tür mit einem Hüftschwung auf, trägt eine fettverschmierte rosa Winterjacke, die allem Anschein nach von einem Müllwagen überfahren wurde. Hinter ihr schleicht ein schmuddeliges, schwarzhaariges Mädchen herein, schätzungsweise zwölf oder dreizehn Jahre alt. Die Kleine ist in ein ausgefranstes Sweatshirt gekleidet, das für dieses Wetter mindestens zwei Zentimeter zu dünn ist. Danas Blick landet auf Pike, als wüssten ihre Augen, wo sie zu suchen haben. Die Frau schlurft auf ihn zu und schiebt das Mädchen in seine Essnische, ehe auch sie hineinrutscht, den Kopf plötzlich so tief geduckt, als fürchte sie, von jemandem gesehen zu werden. Als hätte sie nicht längst jeder bemerkt. Das Lokal ist voller Bergarbeiter, die vor Antritt der ersten Schicht noch einen Kaffee schlürfen, mit Zeitungen rascheln und einander zurufen, während die einen aus der Kälte hereindrängen, die anderen hinausstapfen, und ein jeder von ihnen mindestens ein Auge auf sie geworfen hat, seit sie eben die Tür geöffnet hat. Nanticonte ist eine kleine Stadt.

»Du bist ja nicht annähernd so groß, wie ich dachte«, bemerkt sie.

Pike kommt sofort auf den Punkt. »Wie ist sie gestorben?«

»Gib Wendy ein wenig Kleingeld«, sagt Dana. »Ich hab beim Reinkommen einen Zeitungsautomat gesehen. Sie liest gern.«

Pike gräbt ein 25-Cent-Stück aus seiner Tasche. Kaum hat die Kleine es geschnappt, drängt sie sich auch schon an Dana vorbei. Das grauweiße Kätzchen auf ihrem Arm gähnt indessen ausgiebig, streckt dann die rosarote Zunge heraus und versucht schließlich, das Fett aus der Luft zu schlecken, als fange es Schneeflocken. Seine Eckzähne glänzen dabei wie winzige Eiszapfen.

»Wie ist sie gestorben?«, fragt Pike erneut.

Dana schnieft und wischt sich einen langen Rotzstreifen an ihren Jackenärmel. »Überdosis. Heroin.«

Nicht weiter überraschend, Pike verfehlt den Aschenbecher aber trotzdem, als er seine Kippe abklopft. Glühende Tabakflocken wirbeln durch die fettige Luft und legen sich knisternd in den dichten schwarzen Haaren auf seinen Armen zur Ruhe. Er bemerkt sie kaum. »Wann?«

»Letzte Woche.« Dana lehnt sich über den Tisch, schnappt sich eine seiner filterlosen Pall Malls und steckt sie sich mit seinem Feuerzeug an.

Als Wendy zurückkehrt, klemmt ihr eine umständlich gefaltete Zeitung unter dem rechten Arm. Auf ein Nicken von Pike hin macht sich auch Iris, die Bedienung, auf den Weg zu ihrem Tisch und erreicht ihn mit ein wenig Ellbogeneinsatz zur selben Zeit wie das Mädchen. »Nimm sie mit zum Tresen und gib ihr ein paar Blaubeerpfannkuchen«, sagt Pike, ehe er sich wieder an Dana wendet. »Willst du auch was?«

»Einen Kaffee könnte ich schon vertragen«, meint sie.

»Komm, Liebes«, sagt Iris. Sie legt Wendy eine Hand auf die Schulter und führt sie fort.

Das Lokal ist voll bis auf den letzten Platz. Iris schnappt einen fast leeren Teller vom Tresen weg und sagt dem Bergmann, der bis soeben noch davon gegessen hat, dass es doch wohl an der Zeit für ihn sei, in die Welt zu ziehen und für sein Essen zu arbeiten. Der Mann bleibt eine geschlagene Minute lang sitzen, raucht seine Zigarette und starrt sie an, als erwarte er, dass sie seinen Teller wieder vor ihn stelle. Als nichts dergleichen geschieht, scheint sein starrer Blick anzukünden, dass seine Verwunderung jeden Augenblick in Ärger umschlagen könnte. Schließlich pflanzt er sich jedoch seine John-Deere-Kappe auf den Schädel, steht kopfschüttelnd auf, und es bleibt bei Verwunderung. Iris hilft Wendy auf seinen Hocker und gibt lauthals die Bestellung für Blaubeerpfannkuchen weiter, während das Mädchen in sich zusammensackt und dem Kätzchen gedankenverloren über den Kopf streichelt. Die großen blauen Augen in ihrem eigenen schmalen Gesicht zucken haltlos durch den Raum, verängstigt und überfordert.

Iris kehrt mit Danas Kaffee an den Tisch zurück. »Die ist ja hinreißend«, sagt sie. »Ist das Ihre Tochter?«

Dana schnaubt. »Ich kann keine Kinder kriegen. Kam mit zwei Gebärmüttern zur Welt. Die sind ineinander verwachsen. Und dann mussten beide rausgeschnitten werden, als ich schwanger wurde, weil mein Vater mich vergewaltigt hat.«

Iris zieht beide Augenbrauen hoch. Dann wendet sie sich ab und geht.

Dana schnaubt erneut. »Hochnäsige Tussi, hab ich recht?«

»Wer ist die Mutter des Mädchens?«, fragt Pike.

Dana grinst boshaft. »Sarah.«

Pike nickt. Wer sonst? »Hat die Kleine die Leiche gefunden?«

»Nein, und da kannst du verdammt noch mal von Glück reden. Nach dem, was die ihr angetan haben.«

»Wer sind die?«

Fröstelnd schüttelt Dana den Kopf.

»Ich kann sie nicht nehmen«, sagt Pike. »Hab keinen Platz für sie.«

»Wenn sonst noch jemand infrage käme, würde ich mit dir gar nicht erst reden.«

»Was ist mit Sarahs Mutter?«

»Alice?«

Pike nickt.

»Alice hat sich Lungenkrebs eingefangen. Sie ist seit Jahren tot.« Dana sieht ihn mit schmalen Augen an. »Wann hast du eigentlich zum letzten Mal mit Sarah gesprochen?«

Pike zieht an seiner Zigarette.

Dana trinkt noch einen Schluck Kaffee, dann stellt sie den Becher energisch auf die Untertasse. »Schluss mit dem Scheiß«, sagt sie und steht auf. »Ich geh jetzt.«

»Warte.« Pike zieht einen Zwanzig-Dollar-Schein aus seinem Geldbeutel. Sie beäugt ihn, als wollte sie ihn zerknüllen und in sein Gesicht werfen. »Nimm«, sagt Pike. »Fürs Benzin. Und für deine Zeit.«

Sie schnappt sich den Schein und stopft ihn mit geballter Faust in die Tasche.

Pike zieht noch einen Zwanziger aus seinem Geldbeutel und hält ihn zwischen den Fingern. »Wo hat sie gewohnt?«

Wieder wischt sich Dana ihre verrotzte Nase an ihrem schleimigen pinken Ärmel ab. »In Over-the-Rhine«, sagt sie schließlich und schnappt sich auch diesen Schein. »Cincinnati, 400 Mulberry Street.« Ohne ein weiteres Wort geht sie zur Tür hinaus, die Blicke jedes einzelnen Gastes im Schlepptau.

Kapitel 2

Pikes Gesicht fällt in sich zusammen. Er kann es nicht mehr verhindern. Denkt an Sarah und hört das Blut in den Ohren rauschen, als wäre ihm irgendwo im Hinterkopf eine Ader geplatzt. Wie das Brüllen des Ozeans übertönt das Rauschen die Geräusche des Lokals, während sich sein Schweigen wie eine Öllache über den Lärm legt, bis alles verstummt, doch auch dann kann er nicht aufhören, an sie zu denken. Schließlich ergibt er sich, lässt die Gedanken einfach zu, zumindest einen Moment lang.

Dann: »Was ist los, Mann?«

Pike reißt sich zusammen, tilgt sämtliche Spuren seiner Tochter aus seinem Gesicht. Über ihm steht Rory, sein kantiges Kinn neugierig vorgereckt.

»Alles klar?«, fragt Rory. Er trägt eine Jogginghose und ein Sweatshirt. Die Kopfhaut unter seinem kurz gestutzten blonden Haar glänzt vor Schweiß.

Pike nickt bedächtig und Rory rutscht auf die Bank. »Zeit für ein Lächeln, bevor jemand die Bullen ruft«, murmelt er. »Oder hab ich vergessen, dass wir heute noch Arbeit vor uns haben?«

Pike schüttelt den Kopf. »Ich musste mich mit jemandem treffen.«

»Mit wem denn?« Rory kneift sein linkes Auge halb zu. »Du hast doch nicht einen einzigen Freund.«

Pike fischt sich eine Pall Mall aus seiner Packung, seine Gesichtszüge entgleiten zu seiner üblichen Leichenbittermiene. Er dreht die Kippe zwischen den Fingern, ohne sie anzuzünden.

»Doch nicht etwa die Hure, die hier gerade rausspaziert ist?« Rory schüttelt den Kopf. »Pike, du bist zwar alt, hässlich und mies, aber selbst du hast was Besseres verdient.«

»Was kann ich dir bringen?«, fragt Iris, die mit einem Mal am Tisch steht.

»Hi, Iris.« Rory begrüßt sie mit einem bubenhaften Grinsen. »Eine halbe Grapefruit und ein Glas Orangensaft.«

Iris notiert sich seine Bestellung. »Die Kleine muss tagelang nichts gegessen haben«, sagt sie zu Pike. »Hat von den Pfannkuchen schon ganze drei Portionen verschlungen.«

»Welche Kleine?«, fragt Rory.

»Das Mädchen da drüben.« Iris zeigt mit ihrem Stift auf Wendy.

Rory reckt den Hals. Wendy sitzt noch immer am Tresen. Inzwischen macht sie sich an einer frischen Portion Blaubeerpfannkuchen zu schaffen. Ihre Stiefel baumeln vom Hocker herab und tröpfeln Schmutzwasser in die Pfütze unter ihr. »Wer ist das?«, fragt er.

»Die kam mit einer Freundin von Pike herein«, sagt Iris. »Wir wussten ja immer schon, dass er eine hat, nur beweisen konnten wir es bisher nicht. Sieht so aus, als hätte sie ihm die Kleine hinterlassen.«

»Rory hat was bestellt«, sagt Pike zu ihr. »Hol ihm sein Essen.«

Iris tippt sich mit dem Stift auf die Handfläche, lässt Pike jedoch nicht aus den Augen.

»Also gut.« Pike beißt die Zähne zusammen. »Hol das Mädchen.«

»Gerne«, sagt Iris mit einem breiten Lächeln und macht auf dem Absatz kehrt.

»Ich glaub, Iris steht ’n bisschen auf dich«, meint Rory, als sie außer Hörweite ist.

Pike ignoriert ihn, beobachtet stattdessen, wie Iris zu Wendy hinübergeht, mit ihr spricht und ihr die Haare zerzaust. Und schon stehen die beiden an seinem Tisch.

Pike räuspert sich. »Weißt du, wer ich bin?«, fragt er die Kleine.

Sie schüttelt den Kopf, ein ärgerliches Zucken im rechten Mundwinkel.

»Ich bin dein Großvater.« Pike bläst Zigarettenrauch durch die Nase. »Du wohnst von jetzt an bei mir.«

Knapp über dem Kopf des Mädchens klappt Iris der Kiefer runter, während Rory leise pfeift. Wendy hingegen funkelt ihn finster an. »Will ich aber nicht.«

»Es bleibt dir wohl nichts anderes übrig.«

Wendys Augen bersten wie Glasfenster in einem Hagelsturm und plötzlich fließen ihr die Tränen in Sturzbächen über die Wangen. »Sch, Kindchen«, sagt Iris und legt ihr von hinten die Arme um die Schultern.

Die Kleine versucht, sich aus der Umarmung zu winden. »Fick dich«, schreit sie über ihre Schulter, ehe sie wieder zu Pike herumwirbelt und ihm mitten ins Gesicht spuckt. »Und du kannst mich auch mal.«

Pike nimmt seine Brille ab und wischt mit seinem T-Shirt den Speichel weg. »Bei mir bist du in Sicherheit.«

»Ich will nicht in Sicherheit sein. Du dreckiger Kinderschänder.« Sie senkt ihr Kinn, bis ihre breite Stirn über ihre zornigen Augen ragt. Unschwer zu erkennen, dass es die schlimmste Beleidigung ist, die sie sich vorstellen kann.

»Lass sie los«, sagt Pike.

Iris sieht ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf aus den Schultern gewachsen. Dann merkt sie, dass er es ernst meint, lässt Wendy los und tritt einen Schritt zurück.

»Heute übernachtest du erst mal bei mir«, sagt Pike zu ihr. »Wenn du morgen eine andere Anlaufstelle findest, spendiere ich dir persönlich die Busfahrkarte.« Er spricht langsam, betont jedes Wort so sachte, als spreche er mit einem verschreckten Pferd. »Du kannst aber gerne so lange bleiben, wie du willst. Ich hab nur eine Bitte. Schlaf eine Nacht drüber. Nur eine Nacht.«

Still steht sie vor ihm. Als wäre sie aus einem Block Trockeneis geschnitzt.

»Ich werde jetzt vor die Tür gehen und eine Zigarette rauchen.« Pike zieht sich seine Arbeitsjacke an. »So lange werde ich auf dich warten. Wenn du abhauen willst, kann ich dich wohl nicht davon abhalten. Es wäre mir aber lieber, wenn du es nicht tun würdest.«

Iris sieht ihn an, als wäre es ihr lieber, wenn er in einen Häcksler springen würde. Wendy jedoch steht weiterhin wie erstarrt vor ihm, die Hände um das Kätzchen gelegt. Nichts an ihr rührt sich, abgesehen von den Tränen und Rotztropfen, die von ihrem spitzen Kinn fallen und eine nach der anderen mit einem scharfen kleinen Platsch auf ihren Stiefeln landen.

»Komm schon, Rory«, sagt Pike und drängt sich an Iris vorbei. Seine ausdruckslosen Augen sind starr auf die Tür gerichtet.

Kapitel 3

Rory hält sich die Hände vor den Mund und haucht warmen Atem hinein, bis ihm die kalte Außenluft in der Lunge brennt. »Meinst du nicht, dass sie ein wenig jung ist, um vor eine solche Wahl gestellt zu werden?«, fragt er Pike.

Pike spuckt einen Schleimbatzen an einer frischen Pall Mall vorbei, ehe er sich die Kippe zwischen die Lippen steckt. »Ich war auch nicht älter, als ich auf meinen eigenen Beinen stehen musste.«

»Wenn ich dich so anschaue, sehe ich einen Mann, dem etwas mehr Liebe in jungen Jahren ganz gut getan hätte.«

Pike zündet sich die Zigarette an. Im Licht der Flamme schimmert das Grau in seinem Bart. »Wenn Männer derart ihr Schicksal beweinen, verlässt sie bald der Lebensmut.«

»Klar. Und du warst schon immer ein kranker Typ.«

Die Tür geht auf und Wendy wirft einen grimmigen Blick hinaus. Ihr Kätzchen hat sich tief in ihrem Sweatshirt vergraben, lediglich sein winziges, verschmitztes Gesicht ragt über dem Reißverschluss heraus.

»Ich hab gehofft, dass du kommst«, sagt Pike.

»Das soll nicht heißen, dass ich dich mag.« Wendy blickt zu ihm auf wie zu einer riesigen Eiche, krault das Kätzchen hinter den Ohren. »Ich hab gehört, wie meine Mutter über dich geredet hat.«

Pike fährt sich über den Bart. Seine vernarbte Hand ist so groß wie ihr ganzer Kopf. »Hab ich auch nicht anders erwartet.«

Gemeinsam gehen sie zu Pikes Bleibe, einer Einzimmerwohnung in einer alten Backsteinfabrik, die wie eine Palisade über die kleine Stadt im Tal ragt. Einst war es der Firmensitz von Anaconda, und noch immer prangt der Name in drei Meter großen Buchstaben auf dem Gebäude, allmählich aber verbleichen diese doch merklich. Das erste Sonnenlicht flackert über die Appalachen und zerbricht daran wie ein Ei.

»Wie heißt denn dein Kätzchen?«, fragt Rory.

»Monster.«

»Sieht doch gar nicht aus wie ein Monster.« Rory streckt die Hand nach dem Tier aus, um es am Kopf zu streicheln. Die Katze faucht, Klauen blitzen durch die kalte Luft. »Du lieber Gott«, jault Rory und reißt die Hand zurück.

»Monster«, wiederholt Wendy.

Rory schüttelt die Hand, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch dran ist. »Wird die irgendwann noch freundlicher?«

»Bei manchen Leuten schon.« Wendy küsst das Kätzchen auf den Kopf. »Aber nicht bei hirntoten Hinterwäldlern.«

Rory stößt Pike mit dem Ellbogen an. »Ich glaub, die Beleidigung ging an mich.« Einen Augenblick schweigt er. Dann versucht er es erneut. »Und in welche Klasse gehst du?«

»Siebte.«

»Siebte«, wiederholt er, als wäre er beeindruckt. »Das ist ’ne gute Klasse.«

»Wieso, war das deine letzte?«

Pike schnippt seinen Kippenstummel gegen eine vereiste Ulme. »Lauf ihr doch nicht jedes Mal ins offene Messer, Rory. Das tut ja beim Zusehen schon weh.«

Wendy schnaubt. Ihr Gesicht ist schmal und weiß, jedes Glied zittrig vor Erschöpfung. Sie scheint ihre ganze Gehässigkeit zu benötigen, nur um auf den Beinen zu bleiben. »Da könntest du genauso gut der Sonne sagen, dass sie nicht mehr aufgehen soll.«

»Jetzt reicht’s«, sagt Rory und springt vom Gehsteig. »Ich geh heim.« Im Rückwärtsgehen fragt er Pike, »Kommst du morgen zum Zuschauen?«

»Hängt von Wendy ab«, sagt Pike.

»Bring sie doch mit. Könnte genau ihr Ding sein. Besteht ja immer die Chance, dass ich die Fresse poliert kriege.«

Wendy antwortet nicht. Sie sieht aus wie eine halb verwelkte Blume.

Kapitel 4

Drei Nächte dauern die Aufstände an, und noch immer ist kein Ende in Sicht. Derrick steht am Fenster seiner Wohnung im fünften Stock, ein Glas Jim Beam in der Hand. Unter ihm lecken die Flammen eines brennenden Autos die Straße leer, nur ein Rudel halbstarker Jungs traut sich noch in die Nähe, wärmt sich daran, trinkt Bier und klopft sich gegenseitig die eigene gute Laune auf Schultern und Rücken. Hinter ihnen flackern Feuerlicht und Schatten über das gusseiserne Geländer des Queen-Anne-Einkaufszentrums, während von oben die Bogenfenster den fliegenden Funken zuzwinkern, als teilen auch sie die Schadenfreue, dass ringsherum die Stadt brennt. In Anbetracht der Kälte hatte Derrick erwartet, dass die Revolte nicht eine Nacht überdauern würde, doch die Meute hat sich kurzerhand ihre eigenen Wärmequellen geschaffen. Er hebt das Glas an den Mund und leert es in einem einzigen, tiefen Zug, spült den Geschmack nach brennendem Plastik mit dem Bourbon weg.

Als er damals der Polizei beitrat, sah er die Stadt noch als Fluss, als den großen, trüben Ohio, der Cincinnati von Kentucky trennt. Die Einwohner sah er als Zuflüsse, die alle in ein gemeinsames Gewässer mündeten, ein gemeinsames Verständnis von Recht und Ordnung. Sein Talent, so glaubte er, bestand darin, diesen Menschenstrom mit Gewalt in die richtigen Bahnen zu lenken. Dabei hätte er es schon damals besser wissen sollen. Den Lauf der Welt hatten ja schon immer andere Strömungen beeinflusst, als er vermutet hatte. Kaserniert in Ghettos, bis alle Dämme brechen und sich die Spannung entlädt. Wie in den Bränden vor seinen Augen. Was auch immer so einer Urgewalt Herr werden kann, mit Recht und Ordnung hat es nichts zu tun. So viel hat Derrick in seiner Zeit als Bulle dann doch schon gelernt. Seine erste Lektion hatte er von einem sechsjährigen Mädchen erhalten. Der Kleinen waren die Gedärme aus dem Arsch gehangen, und doch hatte sich die Mutter geweigert, ihren Freund auszuliefern, dabei hatte der Mann mit einem Grinsen im Gesicht an der Wand gelehnt, der Gestank von Scheiße klebte noch frisch an seinem Schwanz. Am selben Tag hatte Derrick ein Kind dafür verhaftet, dass es Gras dealte. Gesetzeshüter – nie taten sie genug und doch immer zu viel.

Bewegung auf dem Gang, ein Schlurfen, ein Schrei, ein Poltern an der Tür. Derrick schreckt aus seinen Gedanken auf und nimmt den Colt von der Ledercouch. Kalt liegen dessen Metall und Holz in der Hand. Lautlos durchquert er den Raum und löscht die Lichter. Ein Kratzen an seiner Wohnungstür. Derrick reißt sie auf, die Pistole im Anschlag. Vor ihm steht eine junge Frau, olivfarbene Haut, hüftlange Jacke, Baby im Arm. Derrick zerrt sie am Nacken in die Wohnung und sperrt danach sofort wieder die Tür zu.

»Die sind hinter mir her«, flüstert sie mit starrem Blick.

Derrick deutet mit einem Nicken zur Couch hin. »Setz dich.« Dann öffnet er den Schrank neben der Tür, schwingt eine Remington 870 heraus, das Polizeimodell mit dem Vierzehn-Zoll-Lauf. Er lädt durch, steckt sich den Colt in sein Gürtelholster und stellt sich vor die Tür, die Shotgun in der Ellenbeuge.

Und da wartet er.

Die Tür zum Treppenhaus knirscht auf. Laute Schritte, drei Paar. Zwei davon leicht, das dritte schwerer. Hämmern an Wohnungstüren, erneute Schreie. Derrick wirft der Frau einen scharfen Blick zu. Sie sitzt auf der Couch, tief über ihr Kind gekauert. Er legt einen Finger an die Lippen. Dann der hohle Knall eines Pistolenschusses, Kleinkaliber, wahrscheinlich eine .25er, gefolgt vom scharfen Einschlag der Kugel in der Zementwand. Derrick legt den Zeigefinger an den Abzugsbügel der Shotgun.

Dann geht abermals die Tür zum Treppenhaus auf und fällt erneut ins Schloss. Totenstille.

Derrick stellt die Shotgun ab und dreht sich um. Die junge Frau ist wieder auf den Beinen und hastet auf die Wohnungstür zu. Derrick geht zur Seite, um sie vorbeizulassen, doch sie macht denselben Ausweichschritt. »Bitte«, sagt sie, hektische rote Flecken im Gesicht. »Kein Stress.« Sie weiß mittlerweile, wer er ist. Hat sein Gesicht wahrscheinlich in der Zeitung gesehen.

»Kein Stress«, sagt auch Derrick. »Bleib hier. Warte, bis die Gefahr vorbei ist.«

»Bitte«, sagt sie noch einmal, ehe sie an ihm vorbeiprescht. Das Baby hält sie dabei wie einen Football. Derrick macht keine Anstalten, sie aufzuhalten. Er starrt zur offenen Tür hinaus, dann auf die kleine Urinpfütze, wo eben noch die Frau stand. Etwas Kaltes, Glitschiges kriecht ihm den Hals hinauf. Er nimmt die Shotgun, geht zurück zum Fenster und schenkt sich noch einen Bourbon ein. Die Tür lässt er die ganze Nacht lang offen, doch niemand versucht einzudringen. Wie besessen fiebert er dem Augenblick entgegen, da es doch jemand versucht.

Am Ende kommt lediglich der Morgen. Kalt, grau, leise. Die letzten Randalierer sind abgezogen, sei es auf der Suche nach besserer Beute oder um heimzustolpern und auf die nächste Nacht zu warten. Das Auto liegt auf der Straße wie ein Kadaver. Abgewrackt und ausgebrannt und allem Anschein nach viel kleiner als letzte Nacht.

Kapitel 5

Auf Höhe des Amtsgerichts wechselt Pike die Straßenseite, um zwei schmallippigen Damen aus dem Weg zu gehen, die gerade aus dem Rathaus kommen. Beinahe grinst er sie an, als er den Hass spürt, der ihm dennoch entgegenschlägt. Für die beiden ist es ein Reflex, so natürlich wie atmen, so wie ihresgleichen ihn schon immer gehasst haben. Schon damals, als er ein schmutziger kleiner Junge war, ölverschmiert bis zu den Ellbogen, weil er mit seinem Vater auf dem Hof Maschinen in Einzelteile zerlegte. Bis heute beruht das Gefühl auf Gegenseitigkeit. Er hasst solche Frauen, seit er alt genug ist zu wissen, was Hass ist. Er hat sogar eine ihrer Töchter geschwängert, und selbst das war fast ausschließlich seinem Hass geschuldet. Eine, die genau wie ihre Mutter aussah und sich noch dazu über die gleichen Nichtigkeiten beschwerte. Mann, das musste sie nachhaltig angepisst haben, denn mehr als drei Jahrzehnte später hegen sie noch immer einen Groll auf ihn. Haben eben ein langes Gedächtnis, diese tattrigen alten Fotzen.

Ohne sich mit Klopfen aufzuhalten, marschiert er in Jacks Büro. Jack hat den Schädel eines Sheriffs, einen Granitblock, in dem sich schemenhaft ein Gesicht abzeichnet, als wäre jemand mit einer stumpfen Fräse am Werk gewesen. Genau wie Jacks Vater, der ebenfalls Uniform trug und in dieser für ein Foto posierte, das nun gerahmt an der Wand über Jacks Kopf hängt. Pike nimmt auf einem der nagelbespickten Ledersessel Platz. »Hast du was für mich?«

Jack sortiert die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. »Wie wär’s mit ein paar Monaten im Trockenen?«, fragt er in seinem manierierten Kentucky-Akzent, einem schleppenden Südstaaten-Tonfall. Er findet eine Notiz und schnippt sie Pike zu. »Die Immobilie hier hab ich der Bank abgekauft. Zieh mir doch ein paar Wände ein, um sie in Wohnungen zu unterteilen.«

»Wie groß?«

»Groß. Circa tausend Quadratmeter.«

Pike faltet den Zettel und steckt ihn in die Tasche. »Hast du Baupläne?«

»Überlasse ich ganz dir. Mach lauter Apartments draus. Elektriker und Klempner schicke ich dir dann später.« Er widmet sich wieder seinen Unterlagen. »Warum bringst du eigentlich deinen Handlanger nie mit?«, fragt er nach einem Augenblick.

»Den machen Bullen nervös. Ist offensichtlich gut erzogen.«

Jack schmunzelt. »Wo kommt er denn her?«

»Typischer West-Virginia-Junge. Kaum war er achtzehn, ist er per Anhalter übergesiedelt.«

»Warum denn hierher?«

»Das war so nicht beabsichtigt. Eigentlich wollte er nach Cincinnati, um als Boxer groß rauszukommen, dann ist ihm aber die Kohle ausgegangen. Als ich ihn im Oxbow aufgelesen habe, war er schon pleite, so pleite, dass er ein Mittagessen schnorren wollte. Seither arbeiten wir zusammen, und um im Training zu bleiben, kämpft er gegen die College-Jungs.«

»Wie ich höre, macht er das ganz gut.«

»Schwer zu sagen bei diesen Prügelknaben«, meint Pike. »Ich will’s aber schwer hoffen, einen Plan B hat er nämlich nicht.«

»Was wollte er denn hinter sich lassen, als er West Virginia verließ?«

»Familienprobleme.«

»Familienprobleme? Wie wenn sich jemand nicht mit seinem Daddy versteht?«

»Wie wenn jemand auf seine kleine Schwester aufpasst und die Kleine sich versehentlich am Holzofen in Brand setzt. Als er endlich einen Weg fand, um die Flammen zu löschen, hatte sie bereits so schwere Verbrennungen, dass sie nicht einmal die Nacht überlebte.«

»Fühlt er sich verantwortlich?«

Pike nickt. »Ein Jahr später war seine Mutter dran. Hat sich einen Kanister Benzin übern Kopf gekippt und sich mit einem Streichholz angezündet. Bei ihr haben sie das Feuer zwar noch rechtzeitig löschen können, dafür steckt sie jetzt in der Psychiatrie. Und dann war sein Vater an der Reihe.«

»Der hat sich auch angezündet?«

»Der hat sich mit einer Zehn-Kaliber-Shotgun ins Gesicht geschossen.«

Jack pfeift durch die Zähne. »Ich würde ja nach seinen Großeltern fragen, aber ich glaube, ich fürchte mich vor der Antwort.« Wieder sortiert er ein paar Unterlagen, dabei wissen beide, dass es noch mehr zu sagen gibt. »Wie ich höre, hast du Besuch.«

»Sarah ist tot. Die Kleine hat sonst niemanden.«

»Bist du in der Lage, dich um ein junges Mädchen zu kümmern?«

»Wenn es sein muss, bin ich zu allem in der Lage.«

»Das will ich hoffen.« Jack sieht ihm tief in die Augen. »Mach die Kleine nicht kaputt.«

Pike versucht es mit einem Lächeln. Es bleibt beim Versuch. Er zieht eine Pall Mall aus der Brusttasche, steckt sie sich an und schnappt das Zippo zu, sodass der Deckel die Flamme erdrückt. »Hast du etwa gewusst, dass Alice auch tot ist?«

»Ich schulde dir keine Rechenschaft.« In Jacks Antwort klingt so etwas wie Genugtuung mit. »Brauchst du etwas für das Mädchen?«

»Wo du schon fragst …« Pike lässt eine dünne Rauchfahne aus dem Wundwinkel aufsteigen und blickt zu dem Foto von Jacks Vater auf. »Ich brauche den offiziellen Polizeibericht zu Sarahs Tod.«

Jack sieht ihn an. »Weißt du etwas, das ich nicht weiß?«

»Ich weiß überhaupt nichts«, sagt Pike. »Das ist ja mein Problem.«

»Warum?«

»Weil Gewissheit das Einzige ist, das ich dem Mädchen geben kann.«

Jack streicht sich über den Schnurrbart. Dann nickt er. »Ich schau mal, was ich rausfinden kann.«

Kapitel 6

Es ist ein heftiger Haken. Erwischt Rory an der Kinnspitze und lässt seinen Kopf zurückschnalzen wie ein Schuss in die Stirn. Sein Gegner klatscht die Handschuhe zusammen und rollt mit den Schultern. Er ist ein wuchtiger Boxer, auf seinem T-Shirt prangt das Symbol einer Studentenverbindung für angehende Agraringenieure, und jetzt plustert er sich auch noch wie ein Gockel vor seinen Kommilitonen auf. Keine Frage, der Kerl meint, Rory werde jeden Augenblick auf die Bretter gehen.

War ja auch kein schlechter Haken, aber vorbei ist der Kampf deshalb noch lange nicht. Rory kontert mit einer scharfen Geraden auf die Nase, dass es knackt, als wäre sie ein Käfer und seine Faust eine Nadel. Dann setzt er mit einem Haken nach und haut dem Bauern den Kopf in den Nacken, dass das Blut in hohem Bogen durch die Luft spritzt. Der Typ sackt zusammen und landet auf einem Knie. Schlagartig ist sein Gesicht so schlaff, als hätte Rory ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Wind aus den Segeln genommen. Einen Augenblick lässt er ihn keuchend Luft holen. Als außerhalb des Rings einer der Studenten durch die Finger pfeift, verbirgt Rory den Mund hinter seinem Handschuh. »Steh nicht auf«, raunt er seinem Gegner zu. »Ich weiß, was ich tue.«

Der Landwirt in spe drückt sich mit seinem Knie vom Boden ab und steht auf. »Fick dich, du Prolet.« Dann renkt er sich den Kiefer wieder ein.

»Okay.« Rory geht ein paar Schritte auf Abstand. »Kannst dich trotzdem jederzeit fallen lassen. Nicht einer von denen steht hier mit dir im Ring.«

Anmutig wie ein Feuerwehrauto stürmt der Bauerntrottel auf Rory zu und schlägt eine wilde Rechte. Nahkampf. Klammern statt Boxen. Rory duckt sich weg, schießt ihm einen Haken in den Brustkorb. Der andere will nun gar nicht mehr boxen, zielt lieber mit dem Ellbogen auf Rorys Kopf, Rory jedoch schlüpft darunter hinweg und haut ihm von der anderen Seite den nächsten Haken unter die Deckung. »Ich verpass dir jetzt ’n richtig schönes Ding«, flüstert er, als er ihn in der Ringmitte umklammert. »Klingt gut, tut aber nicht weh. Lass dich einfach fallen, wenn’s knallt.«

Der Bauer grunzt hasserfüllt, blinzelt ihn an.

»Aufgepasst.« Rory stößt ihn von sich und ballert ihm eine lange Rechte rein, legt allerdings nicht das geringste Gewicht in den Schlag. Er trifft den Bauern kalt am Kinn. Der Handschuh knallt wie ein Sektkorken. Einen Augenblick schaut der Bauer ihn dumm an, dann blinzelt er. Und gleich darauf fällt er in sich zusammen wie ein riesiger Turm, dessen Fundament detoniert. Drei seiner Bundesbrüder springen in den Ring und rennen auf ihn zu.