Imme Blau - Barbara Biegel - E-Book

Imme Blau E-Book

Barbara Biegel

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Beschreibung

Imme sucht Sie spürt Sehnsucht in sich, seit sie fühlen kann. Als Erwachsene verstärkt sich das Verlangen, das Knäuel ihres Lebens zu entwirren. Was steckt hinter der Sehnsucht? Welche Rolle spielt der Tod am Tag ihrer Geburt? Imme sucht. Sie findet Chrissie, arbeitet in einem Bestattungsinstitut, verliebt sich in Mons, den Wolkenexperten, und ist einem Geheimnis auf der Spur. Ein Haus am Meer wird zu ihrem Schicksalsort.

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Für alle Trauernden

Inhalt

Ankunft

Imme

Katinka

Kunst

Chrissie

Bestattung Blau

Mons

Geschichten

Ausflüge

Zweiland

Bewegung

Yin und Yang

Aufbruch

Tod

Engel

Das Geheimnis

Das Haus

Debora

Schicksal

Trauer

Rückenwind

Neuanfang

1 Ankunft

Ein Schauer durchrieselte Imme, vom Kopf bis zu den Füßen. Sie schüttelte sich und musste lachen. Frösteln an einem wunderbar sonnigen Septemberabend. Sie wollte ihre Gänsehaut als gutes Zeichen werten. Dafür, am richtigen Ort zu sein. „Jeder von uns ist auf seine Weise einzigartig“ – das hatte einer der Klebezettel verkündet, die in ihrer Wohnung zahlreich wie Spatzen in einem Kirschbaum an Schränken und Türrahmen geflattert hatten. Ja, ein gewisses Frieren hatte sie ihr ganzes Leben begleitet. So oft war ihr kalt gewesen. In ihrem Kinderzimmer, in den Blauen Bergen, in der Schule, an der Akademie, im Laden, auch mit Mons.

Der blaue Kapuzenpulli wärmte ihre Arme, trotzdem wollten sich die Schultern nicht entspannen. Wind verwehte die vielen Kondensstreifen am Himmel schneller, als Imme es aus der Gegend kannte, aus der sie eben angereist war. Sie war die ganze Strecke mit nur wenigen Pausen gefahren. Einmal hatte sie in einer Tankstelle einen Kaffee getrunken. Mit seiner Energie kam sie bis ans Ziel.

Etwas abgeschieden vom Ort stand Großmutters Haus als letztes vor dem Wäldchen und hielt mit den geöffneten Fensterläden scheinbar nach Imme Ausschau. Vielleicht sollte sie vor der Besichtigung den kurzen Rock und die Sandalen gegen Jeans und Turnschuhe tauschen. Sie ging vom Gartentor zum Auto zurück. Mücken tanzten über der noch warmen Motorhaube des blauen Kombis. Es schien ihr Ewigkeiten her zu sein, dass sie den Schriftzug „Bestattung Blau“ auf die Seiten aufgesprüht hatte. Die Hose und die Tüte mit den Turnschuhen lagen auf dem Beifahrersitz. Sie wechselte die Kleidung im Schutz der geöffneten Autotür. Ohne Hüllen fühlte es sich für einen Moment so an, als ob das Blut in ihrem Körper seine Farbe wechselte, von Rot zu Blau. In Büchern war oft zu lesen: „Ihr gefror das Blut“. Aber damit war ja die Angst gemeint und nicht die Kälte. Angst hatte sie nicht. Sie war nur aufgeregt.

Mit dem Schlüsselbund in der Hand schob Imme das Gartentürchen auf. An der Haustür zögerte sie, aufzuschließen. Sie überlegte, ob ihr Gehirn eingefroren war. Das hatte ihr Vater früher immer gerufen: „Imme, dein Gehirn ist wohl eingefroren?“

Sie war langsam gewesen, von Anfang an. Als ob Gewichte an ihren Armen und Beinen angebracht worden waren. Vielleicht hatte sie sich auch deshalb spät gestreckt. Erst in der Pubertät war sie in die Höhe geschossen, mit einer Schnelligkeit, die ihre Bewegungen im Alltag noch mehr verlangsamte. „Imme, du träumst. Hast du gehört, was ich sage?“ Mama konnte auch heute noch den Kopf über die Tochter dauerschütteln. Wahrscheinlich gab es einen Zusammenhang zwischen ihrem Kopfschütteln und Immes Frieren. Auf einem alten Foto war die Mutter unscharf zu sehen, wie sie sich von dem Sofa wegbewegte, auf dem Imme, in Decken gehüllt, ihre langen bleichen Haare zwischen den Fingern zwirbelte, den Blick auf unendlich gerichtet. Das Blut von Mutter und Tochter hatte wohl niemals im Einklang pulsiert. Imme hatte sich immer vorgestellt, dass ihres türkisblau wie Flusswasser war, das aus den Bergen herausquoll und jede ihrer Körperzellen mit Schmelzwasser anreicherte.

Sie blickte auf den Schlüsselbund in ihrer Hand. Wie lange stand sie hier schon unentschieden herum? Was hielt sie davon ab, die Haustür aufzuschließen? Ihr Vater hatte ihr zugenickt: „Das Haus wartet auf dich.“

Omas Haus an der Ostsee war seit ihrem Tod vermietet gewesen, bis vor wenigen Monaten der letzte Mieter ausgezogen war.

Dieser Ort konnte einen neuen Anfang bedeuten. Imme sah sich um. Auf den flachen Feldern, die sich jenseits der anderen Straßenseite erstreckten, nur durch wenige Hecken und vereinzelte Eichen gegliedert, offenbarten sich in der niedrig stehenden Sonne unzählige, im goldenen Licht schimmernde Spinnenfäden. Die nahen Pappeln winkten ihr verhalten mit gelben Blattherzen zu. Gemeinsam mit den freundlich geöffneten Fensterläden betonten sie den Gegensatz zu der Atmosphäre in der Stadt, aus der Imme aufgebrochen war.

Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis Imme das letzte Industriegebiet hinter sich gelassen hatte. Dann waren nach und nach unter dem wolkenlosen Himmel Landschaftsbilder aufgetaucht, die in ihr Erinnerungen an die langen Autofahrten mit den Eltern wachriefen. Etliche Male hatten sie Pausen eingelegt, in denen sich die Zeit zog wie der Honig vom Löffel über einer Tasse Milch. Hoch ließ sich die Hand heben, ehe der goldene Faden abriss. Bei jeder Weiterfahrt breitete sich vom Beifahrersitz wieder eine Wolke der Anspannung bis auf die Rückbank aus und hüllte Imme mit ein. Mutter war nicht gerne in den Norden gefahren. Ich fühle mich dort nicht wohl, wegen des Windes, hatte sie gesagt. Aber es hatte vielleicht auch an Oma gelegen. Viermal im Jahr waren sie zur Großmutter gefahren, zu ihrem Geburtstag, zu Ostern und am zweiten Weihnachtsfeiertag ganz kurz, und in den Sommerferien länger. Seit der Nachricht von Omas Tod hatte Imme ein schlechtes Gewissen. Viel zu selten hatte sie mit ihr telefoniert, nachdem sie von zu Hause ausgezogen war. Die eigene Zeit war ihr damals so knapp vorgekommen. Das letzte Mal hatte sie das Haus am Tag der Beerdigung betreten.

Imme las einen unbekannten Namen neben der Klingel. Sie blieb so lange auf der Eingangsstufe stehen, bis das Kribbeln in ihr etwas abgeebbt war. Von der Rabatte an der linken Hausecke verströmte ein Rosenstrauch mit kräftigen Blättern und rosafarbenen Blüten seinen intensiven Duft. Sie dachte an die Zeiten, in denen die Prinzen Dornröschen oder andere Schätze erst erreichen konnten, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Auch hier vor dem Eingang hielt eine unsichtbare Dornenhecke Imme auf Abstand. Ihr Blick suchte Halt und blieb am Schlüsselbund in ihren Händen hängen, an dem die Beschriftung eines weißumrandeten Schildchens verkündete: „Haustür hinten“. Imme ging die Stufe wieder hinunter und zwischen Hauswand und Hecke zum Garten. Er öffnete sich ihr wie ein Buch. Sie sah sich dort als Kind auf dem leicht ansteigenden Weg stehen, vor dem Tor des grüngelb bemalten Metallgitterzauns, an dem das Grundstück endete. In ihrer Erinnerung war es dort immer sonnig. Intensiv meinte Imme die Härchen der riesigen Stachelbeerfrüchte im Mund zu fühlen, das Zerknacken ihrer leicht säuerlichen Schale und die Konsistenz und den Geschmack des Inneren, kühl und geleeartig süß.

Das kleine gemauerte Frühbeet voller Ringelblumen, Knoblauch und Gräser hatte die Jahre überdauert und es gab auch immer noch den Teich, geschmückt mit einer noch nicht erblühten Seerose. Die Spiegelung des jetzt mit Wolken bedeckten Himmels darin war wie ein Gruß. Hinter dem Holunderbusch erblickte Imme die Sitzecke, eingerahmt von zartblauer Jungfer im Grünen und einem gelb blühenden Steingartengewächs, dessen Namen sie nicht kannte. Was für ein schönes Stückchen Erde. Jemand musste den Garten betreut haben, er wirkte wie für sie vorbereitet. Dieser Gedanke machte es ihr leicht, zu der hinteren Haustür zu gehen und sie aufzuschließen. Ohne Widerstand ließ sich der Schlüssel zweimal drehen. Hinter der Schwelle mit dem eingelassenen Fußabstreifer begann das Muster der alten Steinzeugfliesen, rote und eierschalenfarbene Dreiecke auf blauem Grund.

Im Inneren empfing sie der vertraute Eindruck einer Fülle von Räumen, obwohl das Haus klein war. Im unteren Bereich hatte es im Lauf der Zeit Anbauten gegeben. Hier war das Klo angefügt, dort noch eine Speisekammer, allerdings weit weg von der Küche, die eigentlich keine Küche war, sondern eher eine Nische für das Allernötigste: Kühlschrank, Spüle und Herd. Vom Gang aus öffnete sich rechts ein wunderbar großer, leerer Raum mit Holzofen und breitem Sprossenfenster, dessen Aussicht den Anschein erweckte, die Welt läge einem zu Füßen.

Hier fühlte sich Imme sofort wohl. Sie stand in der Mitte des Raums und die Geschichten, die das Haus erzählte, strömten warm in sie hinein. Sie fragte sich, weshalb es ihr so schwergefallen war, das Haus zu betreten. Es passte genau zu ihr. Trotz ihrer Größe bewegte sie sich fließend in ihm wie in einer zweiten Haut.

2 Imme

Imme war Einzelkind, wenn man davon absah, dass ihre tote Zwillingsschwester von Anfang an überall dabei war. Die Mutter hatte das totgeborene Kind mit Imme aufwachsen lassen, denn Katinka war in ihren Worten, Gesten und Handlungen fast täglich anwesend. Kerzen wurden mit trauriger Miene angezündet oder es wurde festgestellt: „Das hätte deiner Schwester auch gefallen!“ Während der gelegentlichen Umarmungen hörte Imme ihre Mutter seufzen und das Kind spürte, wie deren Gedanken abschweiften. Die Schwester war immer da, nur vielleicht im Nebenraum oder eben aus der Tür gegangen. Als hätte sie sich vervielfältigt, lebte sie sowohl bei Mutter wie auch nach der Trennung der Eltern bei Vater und später, nach ihrem Auszug, auch mit Imme. Vater war seit der Geburt der Mädchen an die letzte, die vierte Stelle, gerückt. Er war ein sanfter Mann, leise und für seine Tochter nahezu ohne Konturen, irgendwie verschwommen. Als Selbstständiger verschwand er in seinem Antiquariat, wann immer er Schwierigkeiten aus dem Weg gehen wollte. Er arbeitete viel und versuchte, der kleinen Familie wenigstens finanzielle Sicherheit zu bieten, angesichts der Unberechenbarkeit des Schicksals, das seine Frau so nachhaltig von ihm entfremdet und dem toten Kind so viel Raum zugebilligt hatte. Es ging daheim sehr ruhig zu und Imme verstand erst viel später, dass die lautstarken Auseinandersetzungen in anderen Familien sehr viel normaler und gesünder waren als diese eigenartige Windstille bei ihr zu Hause.

Sobald sie lesen konnte, verschlang sie alles, was sie in die Hände bekam. Sie las Kinderbuchklassiker und Bücher für Erwachsene, die sie entweder ratlos, aufgeregt oder mit schlechtem Gewissen zurückließen. Sie liebte kleine Bücher mit Weisheiten aller Art. Vielleicht schwang da unbewusst die Hoffnung mit, Antworten auf ihre offenen Fragen zu finden. Etwas musste es doch geben, was für Tiefe sorgte oder für Höhenflüge. Überschäumend glücklich oder manchmal auch schmerzlich berührt wünschte sie zu sein, nicht so vorsichtig und langsam, wie sie sich selbst empfand. Viele Bücher sprachen von dieser Sehnsucht anfänglich verzagter Helden, erzählten von stürmischen Zeiten anstatt von einer beständigen Flaute aus Alltäglichkeiten und Ungesagtem.

Immes Vater war da, aber er war fast so unsichtbar wie Katinka und sie hatte das Gefühl, ohne Rat und Unterstützung der Welt da draußen wehrlos ausgesetzt zu sein. Die Helden in den Büchern machten immer alles richtig, doch sie selbst kämpfte fortwährend mit der Riesenangst, Fehler zu machen. Die Szene aus einer Live-Show im Fernsehen, bei der der Entertainer über ein Kabel gestolpert und hingefallen war, blieb ihr im Gedächtnis. Den anschließend eingeblendeten Schriftzug „Bildstörung“ verknüpfte sie mit all den peinlichen Situationen ihres Lebens, derer sie sich schämte und denen sie sprachlos ausgeliefert war.

Die Angst, Fehler zu machen, begleitete sie durch ihre Kindheit wie das Hintergrundrauschen der Autobahn. Je nach Windrichtung drang es aus der neuen Pappelschonung deutlicher oder nur intervallweise hervor. Seit dem Bau der Trasse war das Dorf von den Blauen Bergen abgeschnitten. Tunnel und Überführungen blieben die einzigen Verbindungsstränge zu den bewaldeten Höhenzügen mit den Baumriesen und den Waldseen. Imme wohnte mit ihrer Familie in einem Haus kurz vor dem über tausendjährigen Kloster am Ortsende. Das Kloster mit seinem romanischen Kreuzgang wurde in einigen Reiseführern erwähnt und häufig von Touristen bewundert, die manchmal auch den Weg in das dem Wirtschaftsgebäude benachbarte Antiquariat fanden. Die Gespräche mit ihnen genoss der Vater. Ihnen hatte er viel mitzuteilen, über Inhalt und Ausstattung der Werke, über die Autoren und deren Lebensläufe. Am Abendbrottisch hatte sein Gesicht dann einen zufriedenen Ausdruck. Der Großteil der verkauften Bücher wurde jedoch über das Internet bestellt und mit der Post versandt.

Als Kind trug Imme meistens Anziehsachen in Blau. Sie wollte auch ihr Zimmer in ihrer Lieblingsfarbe gestrichen haben und, als die Eltern das ablehnten, malte sie mit Pinsel und Wasserfarben ihre Fußsohlen blau an und stempelte die Wände, solange die Farbe reichte und so hoch sie mit den Beinen kam.

Erst viel später kam ihr in den Sinn, die Mutter habe Rosa für ihre Schwester, das „richtige“ Mädchen, reserviert und Blau sei als zweite Wahl übriggeblieben.

Imme zog gerne Hosen an und fühlte sich wohl mit den älteren Nachbarjungen. Mit ihnen erkundete sie die Wiesen und Teiche sowie den nahen Wald und erlebte Abenteuer, von denen die Erwachsenen besser nichts erfuhren. Einmal bauten sie ein Floß aus Schilf und Imme, die noch nicht schwimmen konnte, fuhr als Passagier, gezogen und geschoben, über den Waldsee. Auf Fahrrädern übten sie Kunststücke ein, die sie im Zirkus bestaunt hatten, der einmal im Jahr den Ort besuchte. Sie bauten gemeinsam Lager aus Ästen und erforschten den kleinen, tief eingeschnittenen Bachlauf, dessen lehmige Schichten ausgewaschener Hangpartien in Rotund Blautönen schimmerten.

In den Stamm einer Buche vor der schmalen Holzbrücke hatte jemand vor längerem einen Totenkopf geritzt, der sich über die Jahre furchteinflößend verbreiterte. Immes Spielen im Wald endete, als der alte Nachbar ihr erzählte, an dem Baum sei ein Motoradfahrer von Geistern zerschmettert worden und die Stelle bringe Unglück für jeden, der daran vorbeigehe. Sie erschrak damals sehr. Wie viel Schaden hatte sie wohl durch den häufigen Aufenthalt im Wald schon für ihr weiteres Leben angesammelt? Von da an blieb sie für lange Zeit dem Wald und den Jungen fern.

In der Hängematte zwischen den Apfelbäumen des Gartens waren die Tage stiller, aber nicht weniger intensiv. Durch das blaue Gewebe ihres T-Shirts beobachtet, verwandelten sich die Wolken in gefleckte Tiere eines Lands ihrer Fantasie. Blaue Blumen wurden zu Lebewesen und hatten allerlei Schwierigkeiten zu bewältigen. Am liebsten mochte Imme die Wegwarte. Über deren strahlendes Hellblau und die Geschichte, die man sich von ihr erzählte, schrieb sie in der Schule einen Aufsatz:

„Die Wegwarte bin ich. Ich suche den Prinzen. Wir erkennen einander an den blauen Augen. Er ist davongezogen, anderen Aufgaben entgegen. Seitdem warte ich auf ihn, am Wegrand. Eine Blüte nach der anderen lasse ich aufleuchten. Unaufhörlich schicke ich meinesgleichen an die Ränder aller Pfade und Straßen aus. Wir sind verbunden. Solange wie möglich, bis weit in den Herbst, halte ich aus. Vielleicht besucht er mich in anderer Gestalt. In der Spiegelung der Sonne auf den Flugzeugflügeln. Im Glitzern der Tropfen, die ich trinke. Er schimmert seinen Gruß ins Gefieder der Elster. Der Rittersporn ist sein Freund und ich bin, wenn ich erwachsen bin, die Frau mit den auf das Kleid gedruckten Blaukehlchen, die den Berg hinaufläuft, Tag für Tag.“

Imme umgab sich für ihr Leben gern mit Farben. Sie sprachen mit ihr und sie spann die Geschichten weiter, die sie ihr zuflüsterten. In ihrem liebsten Kinderbuch war jede Doppelseite in einer anderen Farbe gedruckt. Die Umschlagabbildung zeigte ein Mädchen mit großen blauen Augen auf einer Wiese. Die langen schwarzen Haare waren rechts und links mit Haargummis zu offenen Zöpfen zusammengefasst und schwangen lustig mit. Daneben sprang sein liebster Spielgefährte, ein Lamm. In der Geschichte ging das schwarzhaarige Kind trotz der Warnung der Eltern allein in den Wald und fand den Weg nicht mehr heim. Weinend und verzweifelt kniete es am Boden, beäugt vom Nachtvogel, der Eule. Da wurden vor lauter Angst seine Haare weiß. Das Kind wurde gefunden und zuhause wieder aufgenommen, die Mutter machte ihm schöne Frisuren und flocht Blumen hinein. Alles war gut.

Imme liebte das Buch. Auch sie wollte alles versuchen, um die Liebe der Mutter zu gewinnen.

Am Vorabend ihres sechsten Geburtstags schlief sie vor lauter Vorfreude nur schwer ein. Ein Fest ganz für sie alleine, nachmittags würde sie mit den Freundinnen zusammen feiern. Geschenke nur für sie, keine Schwester konnte ihr etwas wegnehmen. Doch als die Mutter sie in der Frühe mit einem Aufschrei weckte, wusste sie gleich, dass etwas nicht stimmte. Immes Haare waren über Nacht weiß geworden. Statt ihren Geburtstag zu feiern saßen sie in Wartezimmern. Man fand keine Erklärung und auch kein Mittel, das Ausbleichen rückgängig zu machen. Das kam nicht wieder in Ordnung, der gute Ausgang wie im Buch blieb aus.

„Imme träumt immer“, sagten die Eltern. „Kind, jetzt pass doch auf. Ich habe dich was gefragt!“ Wie aus weiter Ferne drangen die Worte in Immes magische Geschichtenwelt. Sie wurde später eingeschult, weil sie weinte, wenn von der Schule die Rede war, und stets für sich saß, malte und spielte. Im Jahr darauf war sie wie verwandelt und ging gern in die erste Klasse, obwohl sie schon lesen konnte. Für Imme kam etwas Neues hinzu, ein Vergleichen mit anderen. Sie spürte die Blicke und hörte die Bemerkungen der Mitschüler. Ohne Ausnahme war sie blau gekleidet, trug Schuhe, Oberteile Hosen und Jacken in Blau, manchmal ein blaues Stirnband in den weißen Haaren und im Winter blaue Mützen. Ihre Unterwasserbewegungen entfalteten sich wie das Wogen von Tang im Meer, während um sie herum Mädchen voller Gezwitscher und einem Gehüpfe mit der Leichtigkeit von Vögeln dem Luftreich anzugehören schienen.

Als Belohnung für den Übertritt ins Gymnasium fuhren die Eltern mit Imme an den Bodensee. In einem hallengroßen Eiscafé durfte sie „Pfirsich Melba“ bestellen, eine gelbe Pfirsichkuppel auf Vanilleeis, die aus einem Rund weißer Sahne leuchtete. Der Name klang wunderbar exotisch und passte zum anschließenden Ausflug in die besondere Atmosphäre der Insel Mainau. Man verließ das Schiff und setzte den Fuß in eine andere Welt. Bilder von mächtigen Baumriesen und Königreichen voller Untertanen aus Blüten und Farben vermischten sich mit weißen Kniestrümpfen, kurzen Mädchenröcken, hellen Blusen sowie Sonne auf Armen und Beinen. Imme war das einzige sichtbare Kind, sah aber viele Details in der Mehrzahl. Die tote Schwester war wie immer mitgereist. Alles schien wie überbelichtet und von einer hellen Aura umflossen. Vielleicht war es die Wasseroberfläche mit ihrem Gleißen, die den Zwilling doppelte und ein Mädchen heraufbeschwor, das sie nie kennengelernt hatte und das doch stets präsent war. Wie ihr Name: Katinka. Vergeblich hatte sich Imme eine Katze gewünscht, um diesen Namen der Katze zu geben. Einem Wesen aus Fleisch und Blut, einem Wesen, das echt war. Für die Schwester schien er wie gemacht: Ka-tin-ka, für das holprige Eintreffen auf der Welt. Herausgeflutscht und tot, die Überraschung war gelungen. Die Mutter hatte wegen der Anstrengung alles unscharf erlebt, aber Papa hatte erzählt, dass beide Babys sich wie ein Ei dem anderen glichen, nur dass das eine Ei zu weiß gewesen war.

Nach der Blumeninsel besuchte Imme mit den Eltern noch eine rekonstruierte Pfahlbausiedlung aus der Steinzeit. Gebannt versank sie in dieser lang vergangenen Zeit. Die originalen Bohlen und Hütten, stellte sie sich vor, waren eines Tages durch das Fallen des Wasserspiegels wie durch ein Wunder aus dem See aufgetaucht, um den Blick auf das Leben der Bewohner freizugeben. Sie waren imstande, sich über der Wasseroberfläche auf denselben Holzwegen zu bewegen wie die Steinzeitmenschen. Imme schlüpfte in eine Hütte und erkannte im Dunkel eine Feuerstelle, neben der einige Hölzer lagen.

Im Nu verwandelte sie sich in Magra, die rothaarige Heldin aus einem ihrer Lieblingsbücher. Sonderbares ereignete sich darin. Magra und ihre Taten wurden in Liedern besungen. Sie wusste, dass sie keine Hexe war. Nicht sie, sondern der rote Stein, den ihr Bruder einst gefunden hatte, hatte die römischen Legionen aus einer vergangenen Zeit auferstehen lassen. Auch der König hörte von ihr und befahl sie zu sich, um mit ihrer Hilfe die Fremden zu besiegen. Die Reise war gefährlich, doch es gelang ihr, mit dem roten Stein zukünftige Zeiten an sich vorbeiziehen zu lassen und an ihre eigene Stelle ein modernes, rothaariges Mädchen zu setzen. Für zwei Tage wurde es tausendfünfhundert Jahre zurückversetzt, erlebte die Abenteuer Magras und rettete nur mit Mühe ihr Leben.

Imme fühlte sich damals sehr verbunden mit diesem Mädchen, das eher mit den Herausforderungen der Vergangenheit als mit denen der Gegenwart zurechtkam. Oft hatte sie von Abenteuern geträumt, bei denen die Eltern sich um sie sorgen und sie froh umarmen würden, wenn sie nach Hause käme.

Im Dämmerlicht der Hütte ging sie in die Hocke und hob eines der Hölzer vom Rand der Feuerstelle auf. Der schmale, helle und glatte Stab war für sie eher der längliche Griff eines steinzeitlichen Werkzeugs als ein Stück Feuerholz.

Draußen rief der Vater. Sie schrak auf, ließ das Holz fallen, schlüpfte aus dem Eingang und rannte in seine Richtung. Das Geländer war an einer Stelle zum See hin offen für das Anlegen von Booten. Im Schwung geriet ein Schritt zu weit, Imme fiel und die Angst vor Wasser blieb ihr ein Leben lang.

Ka-tinka. Mit ganz viel „ka“. Fast wären sie sich begegnet auf dem Grund des Sees. Jemand hatte sie herausgezogen aus dem kalten Wasser. Sie hatte gefühlt, dass daran etwas falsch war. Nicht weil sie nicht bei Mama und Papa sein wollte, sondern weil ihr immer etwas fehlte, als hätte man aus ihr ein Stück herausgeschnitten, das dort unten in die allergrößte Nähe gerückt war.

Ein Halsschmuck aus Nabelschnur, und schon war alles anders.

Im Gymnasium erwachte Imme ganz. Wie nach einem neuerlichen Auftauchen vom Grund kam sie eines Tages an die Oberfläche und war mit einem Mal präsent und nicht mehr wegzudenken. Ihre Antworten kamen schnell. Und sie hatte Humor. All die gelesenen Geschichten, die sie in sich trug, kamen in ihren Worten zum Vorschein. Sie liebte kleine Kinder, die ihr an der Hand der Eltern begegneten, und brachte sie durch Grimassen zum Lachen. Als ihre Mutter einmal zu einem gleichaltrigen Jungen bemerkte: „Da hat meine Tochter aber eine Eroberung gemacht!“ und dessen kleinen Bruder meinte, sagte der Große: „Mich aber nicht.“ „Kommt noch!“, lachte Imme da schlagfertig und die Mutter staunte.

Sie verbesserte ihre Noten von Jahr zu Jahr. Ihr Lieblingsfach wurde Geschichte und ihr Hauptinteresse galt dem Mittelalter. Für Referate wählte sie Themen wie „Blau, vom althochdeutschen blao für schimmernd, glänzend, und die alte Technik des Textildrucks am Beispiel Färberwaid“. In ihrem Zimmer stapelten sich Bücher über die historische Entwicklung ihres Heimatorts und des Klosters und sie befasste sich mit den Anfängen der Siedlungsgeschichte.

„Unser Dornröschen“, lachte die Mutter, „ist süchtig nach Vergangenheit.“

Imme mochte ihren Namen eigentlich. Man konnte überall etwas anfügen: „Immer“ war ein wichtiges Wort, dass andauernd zu hören und zu lesen war, immergrün war ihre Augenfarbe. Mitten im Begriff „schimmernd“ beschrieb ihr Name Haut und Haare. „Himmelblau“ war ein Lieblingswort und passte auf viele ihrer Anziehsachen. Ein Schimmel war ein Pferd und sie mochte Pferde. Ihre Stimme hatte einen tiefen Klang, wenn sie laut die Beschriftung der ersten Kinderfotos las: „Imme, unser Mädchen“ und „Imme, Imme, Immerzu – haben wir dich lieb“. Wie in einen Reim hatten ihre Eltern stets mit eingestimmt. In der Grundschulzeit hatte ein Mädchen am Kindergeburtstag zugehört. Der Spitzname „Imme Immerzu“ war bis ins Gymnasium an ihr haften geblieben.

Nun war sie fast dreißig Jahre alt und „Immerzu“ hatte eine andere Betonung: „Imme, Imme, Immer ZU“. Nirgendwo, so schien es ihr, ging es voran. Von Anfang an hatte es an etwas gemangelt. Lange hatte sie Andere ihr Leben bestimmen lassen.

Doch vor kurzem hatte sich etwas verändert. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, ein Geheimnis erfahren, einen Schlüssel erhalten, eine Tür aufgesperrt und war dabei, eine neue Richtung einzuschlagen. Der erste Schritt war gemacht. Einen kurzen Moment lang sah sie das Haus mit anderen Augen, wie ein Wunschbild. Von außen schien es in ihrer Vorstellung unverändert, die Zimmer im Inneren jedoch schimmerten alle in blauen Farbtönen. Und der große Raum war wegwartenblau.

3 Katinka

Imme sah nachdenklich auf den Dielenboden des großen Zimmers. Dort markierte ein helles Rechteck die Stelle, an der einmal ein Teppich gelegen hatte. Dunkle Kreise von Astlöchern traten wie auf einer Landkarte, auf der besondere Wendepunkte markiert sind, überdeutlich hervor. Sie verschränkte die Arme, wärmte sich unter den Achseln die kalten Hände und dachte an die vergangenen Jahre. An manchen dunklen Stellen auf ihrem Weg war sie länger als nötig stehengeblieben. Imme fühlte Ärger in sich aufsteigen, Ausläufer der Wut, die sie erstmals in der Stunde bei Helena gespürt hatte und dann, vor kurzem erst, nach der Erzählung ihres Vaters. Ohne diese Wut stünde sie nicht hier. Der kleine Anhänger, der in Helenas Praxis von der Lampe gebaumelt hatte, und seine Aufschrift „Du musst dein Leben ändern“ hatten sich ihr eingeprägt.

Bereits auf der Hinfahrt zu Helena war Imme gereizt gewesen. Sie hatte vermutet, dass der dichte Feierabendverkehr daran schuld war. Obwohl Chrissies Totenkopfanhänger am Rückspiegel mit dem Aufdruck „Keep cool!“ sie ermahnt hatte, sich nicht aufzuregen, hatte sie aus dem offenen Fenster einen Drängler angeschrien: „Was hupst du, Idiot!? Spar dir deine Blondinenwitze, Blödmann. Meine Haare sind weiß. Hast du keine Augen im Kopf, oder was?“ Eigentlich war das nicht ihre Art. Hitzig war sie selten.

Helena kannte sie schon eine ganze Weile. Seit Coaching besser klang als „Psychologische Beratung“. Eine Zeitlang war Imme regelmäßig bei ihr gewesen, anfangs wegen Katinka, später auch einmal wegen Mons, doch nachdem ihr klar geworden war, dass sie manches gar nicht so genau wissen wollte, war sie weggeblieben.

Helenas ruhige Art und die angenehme Atmosphäre des Raums hatten es Imme leicht gemacht, sich nicht lange mit Vorreden aufzuhalten. Kaum hatte sie in dem bequemen Sessel Platz genommen, beschrieb sie ihr Lebensgefühl, ihre Unruhe wegen der fehlenden Zukunftsperspektive und ihren Ärger über die Verständnislosigkeit von Mons. Helena hörte eine Weile zu. Dann hakte sie ein und schlug vor, Imme solle sich Katinka vorstellen und sich mit ihrer Klage direkt an die tote Schwester wenden.

„Lass deiner Fantasie freien Lauf, Imme. Ich weiß, du liebst es, Geschichten zu erzählen. Egal, was dir einfällt, es hat mit dir und deinem Leben zu tun und gibt uns Hinweise.“

Imme schluckte und schloss die Augen. Lange war es still in dem Raum mit den sanften Farben. Dann kamen die Worte.

„Schwester, du weißt nicht, wie sich das anfühlt. Ich kann ein Lied davon singen. Om, om. Mantren noch und nöcher. Oder eine Geschichte dazu erzählen. Also, an einem trüben Tag unter einem grauen Himmel, aus dem gerade noch Regentropfen auf den Wald gefallen waren, wurde einmal ein Mädchen geboren. Da staunst du, was? Da kommt nichts Blaues vor. Gib zu, dass du das denkst, wo sich doch bei mir alles um Blau dreht. Nein, hier heißt es ‚grau‘. Also weiter. Weil es bald von seinen Eltern verlassen wurde, wuchs es allein in seiner Hütte auf, umsorgt von einem Pferd und mit den Vögeln des Waldes als Spielkameraden. Wieso unglaubwürdig? Hör einfach weiter zu. Am liebsten hielt sich das Mädchen in der Natur auf und sein Herz schlug in Einklang mit allen Wesen, die es um sich hatte. Nachts schlief es traumlos. So wuchs es zu einer jungen Frau heran. Wie alt? Na, so an die dreißig wird sie sein, so alt wie du. Wie ihre Eltern aussahen? So ins Detail will ich nicht gehen, das ist unwichtig. Na gut, die Mutter sah ungefähr so aus wie unsere. Zufrieden? Da kam der Tag, an dem sich ihre Sinne weiteten und sie fühlte, dass sich ihre Haut nach einer Berührung sehnte. Sie wurde traurig und mit dem Geschmack von Tränen auf der Zunge hörte sie ein fernes Brausen. Sie hob den Kopf und sah ein Flugzeug den Himmel queren. Ja und? Wieso nicht? Wieso passen Pferd und Flugzeug nicht zusammen? Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, davon machen sich die meisten Menschen keine Vorstellung. Das wissen wir beide doch am besten. Klar, das Mädchen musste erst einmal nachdenken, aber: Nach einigen Tagen verabschiedete sie sich von der Hütte und ihrem alten Leben und machte sich mit dem Pferd auf den Weg in die Berge. Ende. Was das mit uns zu tun hat? Liegt doch auf der Hand. Denk mal an das letzte Wort. Genau. Berge. Klingelt‘s?

‚Kind, von den blauen Bergen kommen wir, von den Bergen, ach so weit von hier‘. Das Lied kennst du doch noch, oder? ‚Auf den Rücken unsrer Pferde reiten wir wohl um die Erde, von den blauen Bergen kommen wir‘. Jeden Donnerstag durften wir den Fernseher anschalten und uns in Laramie aufhalten, an der Pferdewechselstation des Postkutschendiensts, zusammen mit Bill oder Joe. Warum die Berge blau sind, habe ich erst als Teenager kapiert. Thema Luftperspektive. Wir hatten in Kunst diese alternative Achtundsechzigerin mit den langen Haaren, deren Name mir nicht mehr einfällt. Sie und ihr Mann, er war Deutschlehrer an der Schule, luden einmal die ganze Klasse zu sich nach Hause ein. Für mich war das eine Begegnung mit einer völlig anderen Welt. Von außen sah alles nicht weiter auffällig aus, ein einzeln stehendes Bauernhaus auf einem Hügel. Man kam in einen Innenhof mit Schuppen und dahinter war der Obstgarten. Sie führten uns durch alle Räume, auch ins Schlafzimmer. Da gab es kein Bettgestell, nur eine riesige Matratze auf dem Fußboden mit einer bunten Patchworkdecke. Am Kopfende hing ein Plakat von Che Guevara, von dem ich damals noch nie gehört hatte. Überall Räucherstäbchen und dann kein Service wie zu Hause, sondern lauter unterschiedliche Tassen und Teller. Sie hatten trüben Apfelsaft, das weiß ich noch, wahlweise Wasser zu selbstgebackenem Vollkornkuchen. Ich war beeindruckt, vor allem von dem riesigen Bücherregal, das sich die ganze Wand im ‚Gemeinschaftszimmer‘, wie sie es nannten, entlang zog. Ich bekam eine Ahnung, dass es noch ein anderes Leben gab als das der Eltern. Wir wohnten im Tal und immer blickte man auf den gegenüberliegenden Höhenzug. Das Haus der Lehrer lag auf der Höhe. Vielleicht verbinde ich deswegen die Weite des Denkens und der Fantasie mit Blau. Denn als wir uns verabschiedeten damals, deutete die Kunstlehrerin auf die fernen Berge und machte uns auf die Abstufungen von Blau aufmerksam. ‚Seht, wie die Farben verblauen!‘, sagte sie. Das habe ich nie vergessen. Aber bewusst erinnert habe ich mich erst daran, seit ich darüber nachdenke, warum mein Leben nicht gelingt. Schwester, steckst du da dahinter? Warum gelingt mir nichts, kannst du mir das erklären?“ Imme rief es fast. Helena blickte sie aufmerksam an. „Und noch eine Frage habe ich, Schwester. Hast du die Finger im Spiel gehabt, als ich Mons kennengelernt habe? Und als das mit Chrissie passiert ist, warst du das auch? Sag schon, los! Ich hasse dich! Hau ab aus meinem Leben!“ Imme war voller Wut, dann brach sie in Tränen aus.

Helena hatte sie in die Arme genommen und noch eine halbe Stunde mit dem gearbeitet, was sie gesagt und dabei gefühlt hatte. Nie zuvor hatte Imme sich diesen Zorn auf Katinka eingestanden, geschweige denn, ihn ausgelebt. Eine tote Schwester konnte doch nicht schuld sein. In dieser Stunde hatte sie verstanden, dass es doch möglich war. Und etwas anderes Wichtiges hatte sie entdeckt: Ihre Sehnsucht nach Chrissie. Wieso hatten sie einander verloren?

Erschöpft war Imme nach dem Gespräch zu Hause angekommen, in Mons Wohnung, denn das war sie noch immer. Ihr gehörten hier nur einige Bilder und die Ausblicke durch die Fenster.

Im Flur war sie vor dem gerahmten Foto stehen geblieben, das sie kurz nach dem Einzug aufgehängt hatte, einer Aufnahme von den Blauen Bergen in der Farbigkeit der fünfziger Jahre, die ihr Vater fotografiert hatte. Aufmerksam sah Imme sie an. Die Wölbungen der Hügel kannte sie so gut wie den Umriss ihrer Fingerknöchel, wenn sie eine Faust machte. Jedes Mal fiel ihr beim Betrachten die Überlieferung aus dem Mittelalter ein. Edelleute waren in die Blauen Berge geritten zur Jagd, hatten aber nicht mehr herausgefunden aus den tiefen Wäldern. Tagelang seien sie umhergeirrt. Schließlich hätten sie, in letzter Minute, das ferne Glockengeläut des Klosters gehört, das ihnen den Weg wies. Als Dank für ihre Rettung stifteten sie die Friedhofskapelle und statteten sie mit einem prächtigen Altar aus.

Ja, man konnte sich verlaufen und auf die unterschiedlichsten Irrwege geraten. Je nachdem, welchen Glaubenssätzen man folgte, denen der Eltern oder denen, die von der Gesellschaft aufgestellt worden waren, und manchmal auch eigenen. Auf den Wegen konnte es besonders lange dauern, ehe man merkte, dass man falsch war.

Das Lesen lernen war kein Irrweg gewesen. Imme hatte als Kind den Anfang des Pfades in die Geschichtenwelt gefunden, sich als Jugendliche den von Gras überwachsenen Feldweg in die Vergangenheit gebahnt und nach dem Abitur hatte sie die breite Straße der Weisheiten aus aller Welt betreten. „Ich gehe einen spirituellen Weg“, hatte sie beim Klassentreffen mit leicht hochgezogenen Augenbrauen zu den Gleichaltrigen gesagt, die zurückgeblieben waren, im doppelten Wortsinn, denn Imme war kurz nach dem achtzehnten Geburtstag von zu Hause ausgezogen. Sie hatte das Klosterumfeld gegen das einer Kleinstadt mit mittelalterlichem Kern eingetauscht, von der aus die Blauen Berge ebenso gut zu erreichen waren wie die Stadt, in der sich die Universität befand. Es war ein Ort des Übergangs. War Imme als Kind aus der Unterwasserwelt aufgetaucht und hatte sie sich in der Schulzeit ans Ufer gewagt, erhob sie sich in ihrem neuen Leben ein wenig vom Boden und zog in den obersten Stock eines Altstadthauses gegenüber der Stadtkirche. Das freie Zimmer in der Wohngemeinschaft hatte sie am Schwarzen Brett der Mensa auf einem mit blauen Spiralen verzierten Zettel entdeckt. Zwei junge Erstsemesterstudentinnen, die das Pendeln zur Hochschule wegen der Nähe zu Hügeln und Seen in Kauf nahmen, suchten eine neue Mitbewohnerin. Bei der Besichtigung des Zimmers fingen die Kirchenglocken an zu läuten. Ein Taubenschwarm jagte einige Male am Fenster vorbei. Zu dritt bemerkten sie es und lächelten sich an. Imme freute sich über die Zusage der beiden Frauen. Sie würde sich ein Stück mehr dem Himmel nähern und die Welt der Vögel entdecken.

Beim Auszug nahm Imme wenig aus ihrem alten Zimmer mit. Bett und Schrank der Vormieterin konnte sie nutzen, Schreibtisch und Kleinmöbel fand sie im An- und Verkauf. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, die sich in einer Schublade verbergende Katinka mitzunehmen, sie wollte ganz neu anfangen. Von zu Hause holte sie nur den blauen Teppich, Kleidung und Kleinkram. Sie begann zur Einstimmung auf das neue Leben, auf Klebezetteln alte Weisheiten, neue Sprüche und eigene Gedanken festzuhalten. Sie dienten ihr als Unterstützung, sich immer wieder zu vergewissern, wer sie war und was sie dachte. Bald klebten überall Zettelchen und ihr Zimmer glich einer Landschaft voll zwitschernder Botschaften aus Papier. „Eine Reise von 1000 Meilen fängt mit dem ersten Schritt an“, war gleich mehrfach zu lesen.

Imme gab sich ein Jahr Zeit. Sie hoffte, bald herauszufinden, welchen Weg sie weiter gehen wollte. Sie informierte sich über verschiedene, mehr zufällig ausgewählte Studiengänge, eine langwierige, anstrengende Suche ins Blaue und ohne Ergebnis. Das Fach Geschichte hatte seine Bedeutung für sie verloren, Deutschlehrerin wie ihre Mutter wollte sie nicht werden, vieles andere war von vornherein ausgeschlossen. Gleichaltrige Schulabgänger beschritten mit einer Sicherheit, von der sie nur träumen konnte, bereits Neuland. Um Geld für das kleine WG-Zimmer zu verdienen, stand sie in den Sommermonaten an der Ausgabetheke eines Biergartens, im Winter füllte sie die Regale eines Drogeriemarkts auf. Die beiden Einkommen hielten sich die Waage, während eine andere Waage aus dem Gleichgewicht kam. Die Waagschale mit der Zeit, die Imme mit Lesen verbrachte, stieg in die Höhe und die Schale mit der Zeit, in der sie schrieb, wurde schwer und schwerer. In vielen kleinen Texten verdichtete sie die Bilder und Szenen des Alltags, die ihr unter die Haut gingen. Sie erfand eine Menge Kurzgeschichten mit historischem Hintergrund, uns siedelte sie meistens in der Zeit der Romantik an, weil Imme diese Epoche mit ihrer Offenheit für Ahnungen und Zeichen liebte.

Lag sie auf ihrem Bett, konnte Imme je nach Wetterlage und Tageszeit in einen blassen, leuchtend blauen, graumelierten oder nachtschwarzen Ausschnitt Himmel sehen. Manchmal jagten Tauben durch das Viereck, zu mehreren oder als Paare, schnell wie Pfeile oder mit langsameren Flügelschlägen. Einige Wochen lang waren die Außenmauern des Kirchturms eingerüstet und der Lärm von Handwerkern sorgte für Unruhe. Das Gerüst wurde wieder abgebaut und Turmfalken zogen in die neu befestigten Nistkästen über der Uhr ein. Weiße Kotstreifen begannen wie am Rand eines Farbeimers das Mauerwerk herunter zu laufen und in der Öffnung zeigten sich braune bewegliche Vogelkörper und manchmal ein ausgebreiteter Flügel mit heller Unterseite. Falkenschatten rasten über Immes Bett und zu dem Gurren der Tauben ertönten die durchdringenden Rufe der Greifvögel abwechselnd mit den schrillen Schreien der Mauersegler. Als der Stoffladen am Kirchplatz Ausverkauf hatte, erwarb Imme günstig eine Vielfalt blauer Stoffreste und begann mit der Nähmaschine ihrer Mitbewohnerin eine Patchworkdecke zu nähen. Ihr Plan war, den facettenreichen Himmel abzubilden, doch mit der Zeit entstand eine Fläche, die aus unterschiedlichen Gewässern zu bestehen schien.

„Da hat sich wohl mein Unterbewusstsein in den Vordergrund gedrängt!“, sagte sie lachend, als sie die Nähmaschine zurückgab.

Die Intuition und das aufmerksame Suchen nach Zeichen wurden zuerst in Immes Schreiben, dann auch im Alltag immer wichtiger. Vor diesem Hintergrund spannte sich für sie das ganze Leben auf wie eine aus lauter verschiedenfarbigen Fasern gewebte Leinwand, bestehend aus kleinen Hinweisen und Zeichen, die nur richtig gedeutet werden mussten.

War es falsch, das kleine Insekt, das auf ihrer Hand gelandet war, zu erschlagen? Konnte es sein, dass die Botschaften auf der Toilettentür der Kneipe Imme meinten? Glich die Form der Wolke am Himmel wirklich dem Buchstaben „K“? „K“ wie Katinka?

Nicht nur im kleinen Park hinter der Kirche verbrachte Imme viele Stunden im Gras auf der Suche nach vierblättrigen Kleeblättern. Ihr Blick scannte jedes Rasenstück, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Es gab keinen Zufall, es gab nur Fügung. Man musste offen sein, sonst konnte man sie nicht wahrnehmen. Mit der Genauigkeit Dürers, des Nürnberger Malers, besah sie ihr Rasenstück. Nie suchte sie lange. Sie glaubte fest daran, dass man sich die Welt durch machtvolles Denken gestalten konnte. Das sagte sie auch den Mitbewohnerinnen, die sie fragten, wieso sie ihre Energie nicht gleich von Beginn an auf das Glück, sondern vorher auf Kleeblätter richtete.

„Früher war es normal, an Zeichen zu glauben. Da fanden die Leute leichter welche. In den Tagebüchern meiner Oma und in den Bibeln im Antiquariat habe ich jede Menge getrocknete Exemplare gefunden. Ich helfe dadurch dem Glück etwas nach. Ich sammle es, um es später wieder ausgeben zu können. Wer weiß, was mir sonst manchmal passieren würde.“

Beschwingt von diesen Funden und einem intensiven Traum, aus dem sie mit einem Glücksgefühl erwacht war, kaufte sie sich Acrylfarben und Pinsel. Sie fing an zu malen und setzte damit den ersten Schritt in ein Abenteuerland, das sie nie mehr verlassen sollte und das immer bereit sein würde, sie aufzunehmen, wenn sie den Kontakt zu sich in der Welt der „Normalität“ verloren hatte.

Zu ihren Eltern fuhr Imme in dieser Zeit selten. Sie hatten sich kurze Zeit nach dem Weggang der Tochter getrennt, als wäre sie das einzige Band zwischen ihnen gewesen. Mutter war aus dem Haus am Kloster ausgezogen und hatte sich eine helle Zweizimmerwohnung in der Großstadt gesucht. Sie lebte ihr eigenes Leben. Die Schule, der Unterricht und die Schüler eines Gymnasiums waren zu ihrem Lebensinhalt geworden. Als Lehrerin zu arbeiten, bot ihr die Möglichkeit, mit der Sehnsucht nach dem, was sie verloren hatte, dauerhaft in Verbindung zu sein. Den Kindern ihrer Klasse schenkte sie all ihre Zuwendung und Einsatzfreude. In den wenigen Telefonaten mit Imme sprach sie ausschließlich von der Arbeit. Imme hörte heraus, dass sie sich dafür von ihr Anerkennung wünschte, doch weil Katinka im Hintergrund laut ihre Rolle spielte, sagte sie wenig dazu. An den Geburtstagen riefen sie sich an und trafen sich für ein paar Stunden an einem von der Mutter ausgewählten Ort zu einer Stadtführung, einem Museumsbesuch oder einer kulturellen Veranstaltung. Darüber konnten sie reden und die niemals ansprechbaren Leerstellen übergehen, die Imme auf dem Heimweg als schwere Schleppe hinter sich herzog, so dass sie hinterher ausruhen musste.

Bei Vater gab es diese Wortfülle nicht, Vater hatte noch nie viele Worte für Imme übriggehabt. Im Antiquariat war er so in die Buchstabenwelt eingetaucht, dass er sich zu Hause nicht mehr mit Wörtern abgeben konnte oder wollte. Die Sprachgewalt im Haus war seit je her von seiner Frau ausgegangen. Der zweite unaufhörliche Sprachfluss strömte aus Katinka und fand in ihrer aller Köpfe Widerhall.

Imme war oft wütend gewesen, dass er all dem nichts entgegengesetzt hatte, dass er nicht auf ihrer Seite gewesen war. Ein Teil ihrer Langsamkeit war dem Hinhören geschuldet, wer gerade sprach und wer nicht. In der Pubertät hatte sie ihn einige Male provoziert. Sie hatte betont zeitlupenartige Bewegungen gemacht und auf Anweisungen zur Eile mit hypnotisch geweiteten Augen reagiert. Wenn sie lang genug durchgehalten hatte, war er geflohen und hatte mit den Türen geschlagen.

Nach ihrem Auszug und dem Beginn ihres selbstständigen Seins wurde sie freier ihm gegenüber und an einem wirklichen Austausch interessiert. Mehrmals suchte sie ihn auf und stellte Fragen. Doch als von ihm sowohl zu ihrer Kindheit wie auch zu seiner Arbeit nur ausweichende Antworten kamen, hatte sie beim Gehen eine Falte zwischen den Augen und brach nach einiger Zeit den Kontakt ab. Sie schrieb ihm, sie sei enttäuscht und wolle ihre Ruhe von ihm haben. Er wisse ja am besten, dass man gut beraten sei, Familie komplett auszublenden. Imme erhielt keine Antwort darauf.

Vater war an der Küste geboren, hatte zwei Brüder, die Jahre vor ihm auf die Welt gekommen waren. Als Nachzügler war er wie ein Einzelkind aufgewachsen und hatte damals schon in einer Welt mit wenigen Worten gelebt. Zu seinem Glück war im Schulhaus des kleinen Orts auch die Bücherei untergebracht. Dort hatte seine Liebe zu den Büchern ihren Anfang genommen. In den Sommerferien, wenn die ganze Familie Oma und den Strand besuchte, zeigte der Vater oft auf das Fenster der ehemaligen Schule und sagte, dahinter hätten die Bücher aufgereiht in den Regalen gestanden. Die neuen Besitzer, ein Architektenpaar aus Berlin, hatten beim Umbau viel vom Charakter des Hauses zu erhalten versucht. Das Rechteck des Sprossenfensters erschien Imme wie ein Buchdeckel vor dem Einlass in die Welt der Buchstaben.

Vielleicht hatte sie als Kind zu lesen begonnen, um dem Vater näher zu sein. Katinka konnte das nicht, lesen. Nur Imme. Sie wurde Vaters „Fleißige Lesebiene“.

„Imme“, erklärte er, „ist ein altes Wort für Biene. Bienen, das weißt du, sind fleißige Tiere. Sie schenken uns den Honig, den du so gernhast.“ Imme Imme Immerzu.

4 Kunst

In den Blauen Bergen hatte sich Imme lesend eine Welt nach der anderen aufgeblättert, schreibend war ihr die Blaue Blume der Romantiker erblüht und das Malen eröffnete ihr eine weitere Dimension. Hier war das Thema die Ferne. Auf Papier und Leinwänden leuchtete Blau, die Farbe der Sehnsucht, in vielfältigen Schattierungen. Imme tauchte in Schriften über Farbpulver ein und kreiste besonders um Lapislazuli, einer der teuersten Farben bis in das achtzehnte Jahrhundert. Nach Rezepten rührte sie die Pigmente zu Temperaoder Ölfarben an, fotografierte Gewässer und Himmel und setzte diese Fotos malerisch um. Eine ganze Reihe kleiner Formate entstand und lehnte bald Bild an Bild in der Zimmerecke.

„So viele Bilder. Bald platzt mein Zimmer aus den Nähten“, hatte Imme dem Betreiber des Cafés erzählt, in dem sie manchmal als Aushilfe arbeitete, und prompt bot er ihr an, als Nächste dort auszustellen. Nachdem zu ihrer Überraschung mehrere Bilder verkauft worden waren, wusste Imme plötzlich, welchen Weg sie einschlagen wollte. Sie würde Kunst studieren. Die für die Aufnahmeprüfung erforderliche Mappe war schnell zusammengestellt und wurde angenommen. Imme bestand auf Anhieb die Prüfung und fand sich in einer Klasse für Malerei wieder. Innerhalb eines Jahres hatte sich der Raum für sie geweitet und sie ließ sich glücklich auf das Abenteuer Studium ein. Eine Zeitlang teilte sie sich mit Anderen ein Atelier auf dem Gelände der Akademie, aber weil der große Raum im Winter schlecht geheizt war und ihr Frieren jede Kreativität raubte, zog sie es vor, wieder in ihrem Zimmer, nah am Himmel, weiterzuarbeiten.

Mutter hielt nichts von der unsicheren Existenz der Künstler. Eine Zeitlang erzählte sie den Leuten, die Tochter studiere Kunsterziehung für das Lehramt.

Im dritten Semester lernte Imme einen Studenten aus der Bildhauereiklasse kennen, Wolf. Sie folgte seiner Einladung aufs Land in ein Haus mit Blick auf die Blauen Berge. Er hatte es gemietet, weil es einfach und günstig war, ausgestattet mit Holzöfen und strapazierbaren Böden. Die Vermieter wohnten nebenan in ihrem komfortableren Neubau. Wolf stammte aus der Landwirtschaft und hatte Erfahrung mit Existenziellem und einigen Frauen gesammelt. Sofort verliebte sie sich in seine Fremdheit, während er sich von ihren nebulösen Wortbeiträgen fasziniert zeigte. Wie verschiedene Falter an einer Lichtquelle fühlten sie sich von der Kunst angezogen und ließen sich über ihre jeweilige Andersartigkeit blenden.

Imme gab das Zimmer gegenüber der Kirche auf, verließ den Taubenschwarm und das Glockenläuten und zog bei Wolf ein. Mit großen Augen verfolgte sie, wie er auf der Bühne des Lebens agierte. Im Gegensatz zu ihr brauchte er dazu kaum Worte. Einmal kam sie nach Hause und fand auf dem Küchenfußboden auf einer blutigen Plastikfolie einen riesigen gehörnten Stierkopf mit verdrehten Augen vor. Wolf war dabei, ihn in Ton zu modellieren, während Fliegenschwärme von dem Schlachthofgeruch angezogen wurden. Er wolle sich beeilen, sagte er, bevor es Maden gäbe. In der Dämmerung wickelte er den Schädel wieder ein und fuhr ihn mit der Schubkarre in ein nahegelegenes Wäldchen, wo er ihn vergrub. Ein, zwei Jahre, so schätzte er, würde es dauern, bis die Ameisen den Knochen blank geputzt hätten, dann wolle er ihn ausgraben und seine Studien fortsetzen. Im Herbst probierte er selbstzubereiteten Tee aus getrockneten Fliegenpilzen und legte eine kleine Hanfplantage an, die er wieder zerstörte, als ein junger Mann klingelte und fragte, ob er einen Teil der Ernte haben könne. Wolf schwamm ohne Badehose im Ortsteich und bekam daraufhin Ärger und eine Anzeige. Imme war in einen Wirbel von Regellosigkeiten geraten. Ihre Liebe löste sich wie Ofenholz in Asche und Rauch auf. Noch bevor der Schädel wieder gehoben wurde, trennte sie sich von ihm, kam für eine kurze Übergangszeit zur Zwischenmiete unter und suchte nach einer neuen Unterkunft, diesmal in der Großstadt.

Die Kunstakademie befand sich am Rand der Stadt, unweit des Tiergartens. In ihm hatte Imme während des Grundstudiums viele Zeichenstunden verbracht, meist vor den Außengehegen, um unter freiem Himmel zu sein. Sie liebte die Atmosphäre auf dem weitläufigen Gelände. Am Schwarzen Brett der Akademie erfuhr sie, dass man für das Verwaltungsgebäude am Tiergarteneingang bis zum Beginn von Umbauarbeiten Studenten als Mieter suchte, die zudem freien Eintritt in den Zoo erhalten würden. Ganz kurzfristig bekam Imme die Zusage, nahm ihr umzugerprobtes Mobiliar und füllte damit einen Raum, in dem sie wohnte, und einen zweiten, in dem sie ein Atelier einrichtete. Endlich war sie angekommen.

Mit Ausdauer und ohne die Ablenkung durch private Verwicklungen begann sie zu arbeiten. Die Freiheit des Studiums eröffnete ihr einen weiten Raum, den sie mit unzähligen Tierzeichnungen füllte und mit Leinwänden, auf denen Wolken auf blauem Grund wie Herdentiere im dunstigen Licht ferner Hügelketten verschwammen oder auf denen sich hinter den Schleiern blauer Farbflächen Gestalten verbargen. Versunken wie früher in ihrer Unterwasserwelt war Imme einem Geheimnis auf der Spur, das sich ihr immer wieder von Neuem zu entziehen schien. Nach kritischen Äußerungen von Mitstudenten oder des Professors sah sie prüfend auf ihr Werk, aber meistens kam sie zu dem Schluss, dass es so und nicht anders zu sein hatte. Ein Stipendium half ihr, zwei Semester nur daran zu arbeiten, im Zeichnen ihren Blick zu schärfen und im Malen den Dingen näher zu kommen, für die sie keine Worte, sondern nur Gefühle hatte.

In dem Semester, das auf diese intensive Zeit folgte, stellte Imme fest, dass sich etwas verändert hatte. Ihre Energie war ins Stocken geraten und sie fröstelte öfter als sonst. Sie hätte nicht sagen können, warum. Es gab keinen Auslöser. Es war, als würde etwas in ihrem Inneren nach oben streben, etwas Unbewusstes, das sich von innen nach außen bohrte wie ein Wurm, der das Kernhaus des Apfels wieder verließ. Sie fragte sich, ob es mit Katinka zu tun hatte. Früher hatte sie sich manchmal ähnlich gefühlt. Aber Katinka hatte schon geraume Zeit keine Rolle in ihrem Leben gespielt und wenn, dann nur eine als unbewegte Statistin im Hintergrund.

Imme arbeitete weiter und versuchte, die Gedanken an das Stocken abzuschütteln, aber der innere Auftrag, ihre Sehnsucht zu erforschen, wich einer resignierten Müdigkeit. Wochenlang brachte sie kein blaues Bild zustande, nur das Zeichnen rettete sie über die Tage. Sie fragte sich, wie lange so eine Krise dauern durfte und wie sie in Zukunft ihr Geld verdienen sollte, wenn sich diese Mut- und Einfallslosigkeit wiederholen würde. Sie bekam Angst, mit der Kunst zu scheitern. Sie, die immerzu so gut alleine zurechtgekommen war, vermisste plötzlich den Austausch mit Menschen. Ihre Kommilitonen waren Individualisten wie sie selbst, mit denen sie hätte feiern können, wenn sie gewollt hätte, aber durch den Vorrang ihrer Arbeit hatten sich keine Freundschaften ergeben, die in die Tiefe gingen. Wenn sie weiter so wenig sprach, ahnte sie, würde sie weder Lebenserfahrung noch wesentliche Erkenntnisse zusammentragen. Mein Leben geht vorbei, dachte sie, und nichts passiert. Da tauchte Chrissie auf, zum richtigen Zeitpunkt.

5 Chrissie