Forever Yang - Barbara Biegel - E-Book

Forever Yang E-Book

Barbara Biegel

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Beschreibung

Mach dich bitte groß, mein Kind. Steh auf, meine Liebe. Forever Yang ist eine Anrufung. Der junge Mann Yang, Maria, die Frau mit asiatischen Zügen, und Viri, das Kind, sie alle kreisen um die Liebe, sie suchen nach Wurzeln und Geborgenheit und gehen tastend und zugleich kraftvoll ihren Weg. Yang lebt in großer Nähe zur Natur. Schon früh rollt sich die Landschaft für ihn aus wie kleine Teppiche und viele Bäume bieten ihm bereitwillig ihre Äste zum Klettern an. Weite Strecken seines Lebens begleitet ihn Maria, deren asiatischer Hintergrund es ihr schwermacht, sich zugehörig zu fühlen. Yangs Tochter Viri ist die ferne Adressatin der Briefe Marias, die sie beschwört, aufzuwachen und zu sich selbst zu finden. Das Buch wird jene, die müde geworden sind, sich den Problemen der Welt zu stellen, anstupsen und ihnen sagen, dass es sich lohnt, auf die innere Stimme zu hören, es wird diejenigen ermutigen, die ihre Wahrheit aus den Augen verloren haben, und seine Figuren werden den Lesenden zärtlich zuflüstern, wie beglückend es sein kann, von Liebe getragen zu sein.

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Für William

Inhalt

Wurzeln

In den Himmel wachsen

Felsiger Grund

Zweige

Höhlen

Ausbreiten

Wärme

Blattfall

Jahresringe

Wurzeln

Hör mir zu, ich werde dir eine Geschichte erzählen, damit du, wenn du erwachst, nicht gar so verloren bist.

Nein, du bist nicht Paula, meine Liebe. Nach langem Grübeln, wie ich meinen Brief an dich beginnen soll, habe ich die Schreibaufgabe ausgeführt: „Nimm ein Buch aus dem Regal, notiere den ersten Satz und schreibe damit eine eigene Geschichte weiter.“ Manchmal, wenn sich eine Blockade ankündigt, wenn sie heranzieht wie eine Regenfront, die die glatten, zur Saat bereiten Flächen verdunkelt, greife ich auf dieses Hilfsmittel zurück, um im Fluss zu bleiben, um nicht ans Ufer gespült zu werden und trocken zu fallen. Ich las die Worte und bin erschrocken über diesen ersten Satz. Paula von Isabel liegt in schwererem Schlaf als du, sie wird nicht mehr erwachen. Aber auch du schläfst, mein Kind, ich nenne dich so, weil unsere gemeinsam verbrachte Zeit mich ermutigt, es zu tun. Obwohl du dich bewegst in dieser Welt, schläfst du. Ich fühle es, wo auch immer du bist.

Die Geschichte, die ich dir in diesem Brief erzählen will, handelt von einer Frau. Vielleicht kannst du dich in ihr wiederfinden. Die erste Ahnung von ihr flog mich in einem Gespräch an, dessen Zeugin ich wurde, in einem Gespräch zwischen zwei Frauen. Die eine sagte zu der anderen, die sie eben erst kennengelernt hatte: „Ich sehe mich als Künstlerin und Heilerin.“ Was das mit dir zu tun hat? Ich bin überzeugt, mein Kind, dieser Satz passt auch zu dir.

Da sind deine dunklen Locken. Mit ihren Enden lässt sich das feinste Erschauern der Natur aus der Luft fischen. Kleine atmosphärische Störungen unter oder über der Erde bilden sich im Beben der Haarspitzen ab und du musst dem nur noch nachspüren, dich auf die Suche machen, dich erden oder himmeln, je nachdem, dann nimmst du wie eine zitternde Nadel die Ausschläge auf einer imaginierten Skala wahr, die Schönheit der Welt oder auch starkes Unwohlsein und den flehenden Ruf des Planeten nach Heilung. Wenn diese Zeit herannaht, wenn du dich deinen Ressourcen öffnen willst, werden alle Wesen dich unterstützen. Sie werden dir Eingebungen schenken, was zu tun ist, sie werden dich anleiten, sie werden deine Hände führen und deine Energie bündeln.

Es ist an dir, dich zu erinnern. An alles, was geschehen ist, an die Tage deiner Kindheit, die sich aneinanderreihten wie Perlen einer Kette, und daran, dass diese Kette riss, als deine Mutter dich verlassen hat. An das Weiter-Auffädeln von Wochen und Monaten auf den Zeitstrahl bis hin zu dem Tag, an dem du dem Tod begegnet bist, an einer Biegung des Weges, unerwartet und am hellen Nachmittag. Nichts hatte darauf hingedeutet.

Erst im Nachhinein kann man manche Fäden der Vergangenheit aufheben, neu verknüpfen und das Gewebe des Lebens aufscheinen lassen. Auch wenn es Risse im Stoff der Erzählung gibt und Löcher, wenn Fasern abstehen oder manche Stellen dunkler gefärbt sind, wird der große Zusammenhang deutlich, und somit auch dein Muster, dein Stoff und selbst das, woraus deine Träume gemacht sind, die früheren, die jetzigen und die zukünftigen. Denn dass du träumst, konnte ich schon sehen, als ich dich damals in deinem Kinderschlaf betrachtete. An dem Zucken deiner Augenlider und dem zarten Krümmen deiner Finger. Und an dem Herumwerfen in manchen Nächten. Besuchen sie dich immer noch, die Botschaften aus dem Anderswo?

Mag sein, du träumtest von dem kleinen rosafarbenen Rad mit den breiten Reifen. Auf ihm hast du gelernt, das Gleichgewicht zu halten, und hast, noch keine vier Jahre alt, darauf bestanden, dass die Stützräder entfernt wurden, weil sie dich behinderten. Von diesem Tag an bist du verschmolzen mit dem Rad, bist auf ihm mit wehenden Haaren den Feldweg bis ans Ende des Tälchens am Bach entlang geflogen, manchmal jauchzend, und hast bei jedem großen Haufen der schwarzen Waldameisen laut geklingelt.

Geht man heute diesen Talweg, bemerkt man viele Veränderungen. In den Baumkronen gibt es tote, abgebrochene Äste, die sich beim Herabfallen verhakt haben und sich nach und nach im Wechsel der Jahreszeiten auflösen. Die Rinden mancher Bäume haben sich Kleider aus rotem Pilzbefall übergezogen, die im Kontrast zum Grün interessant aussehen, aber nichts anderes als Leichenhemden sind.

So lange bist du bereits fort. Daran misst sich die Zeit. Ein deutlicher Gradmesser ist das. Dein Fortgehen war der Anfang. Dein inneres Strahlen fehlt von diesem Moment an. Die Spitzen der Gräser sehen weniger vorwitzig in die Welt, die Felsen ringsum sind verblasst, selbst die Tritte der Rehe auf den Feldern fallen zaghafter aus, als wäre der Grund verschwommener, die Kruste der Erde weniger tragfähig.

Doch, obwohl du weggegangen bist und ich besonders am Anfang sehr traurig darüber war, kam mir bald der Gedanke, es müsse sogleich dort, an dem neuen Ort, zu dem du aufgebrochen warst, die Heilung einsetzen. Dort würde sich nun jedes gesträubte Fell glätten und alle Blüten würden sich tiefer färben und alle Regentropfen ausgelassener auf den Oberflächen der Seen springen. War das der Fall? Wirst du es mir sagen, Kind, wenn du zu mir zurückkommst? Wenn du erwacht bist?

Von Anfang an rollten sich kleine Flecken Land für Yang aus wie weiche Teppiche, damit sich seine Fasern früh mit Anderem verbinden konnten als mit Menschen. Im Garten und im Wäldchen nahe der Wohnung baute er aus Zweigen und Steinen kleine Landschaften. Er hielt sich bei den Tieren auf dem Bauernhof am Rand der Siedlung auf und beobachtete viele Stunden lang, wie die Schweine mit sichtlicher Freude das frische Stroh durchwühlten. Offensichtlich liebten sie es, sich gemeinsam hinzulegen und in engem Kontakt miteinander zu sein. Besonders mochte Yang die munteren Ferkel, die Neugier, mit der sie in die Welt aufbrachen, und die Gründlichkeit, mit der sie alles erforschten. Menschen konnte man an Fingerabdrücken unterscheiden und Schweine an der Form ihrer Ringelschwänze. Yang gab ihnen Namen und freundete sich mit einem der Tiere an, das zum Gatter gerannt kam und den Kopf hob, um sich kraulen zu lassen. Als er erfuhr, dass die halbwüchsigen Jungschweine zur Mast an einen Bauern verkauft und geschlachtet wurden, weigerte er sich, Fleisch zu essen.

Er ernannte die Mäuse am Wiesengrund zu seinen Freunden, obwohl sie ihn bissen, wenn er sie bei Hochwasser von den Maulwurfshügeln rettete und in den Jackentaschen nach Hause trug, wo er sie zum Entsetzen seiner Mutter im Garten wieder frei ließ. Alljährlich erwartete er die Zeit der Schneeschmelze, um sich, manchmal überwölbt von einem Regenbogen, in die glitzernden Gewässer der überschwemmten Wiesen vorzutasten. Es gab Untiefen und man durfte den Flutgraben nicht übersehen, dessen Verlauf an den tiefer braun gefärbten Schlammwolken aus den Löchern der Bisamratten ablesbar war. Einmal blieb Yang mit einem Gummistiefel im Morast stecken und er verlor das Gleichgewicht. Heimlich zog er sich zu Hause um und trocknete die nassen Sachen auf einer besonnten Hecke.

Die Pappeln des nahen Wäldchens waren als Geldanlage gepflanzt worden zu einer Zeit, als das kurzfaserige Holz für die Herstellung von Streichhölzern hoch gehandelt wurde. Yang betrat die geheimnisvolle Insel aus Bäumen und tauchte in eine scheinbar alterslose Wildnis aus Gewächsen und Insekten ein. Dass sie in die Jahre gekommen waren, merkte er erst an den Lücken in ihren Reihen und nachdem die eine oder andere Krone vom Sturm umgeknickt worden war.

Obwohl die Pappeln sich schlank in die Höhe reckten, eigneten sie sich wegen ihres geraden und glatten Stamms nicht zum Klettern. Großzügig stellten ihm jedoch die Kiefern des nahen Waldes ihre Quirle als Leitersprossen zur Verfügung und ihre Nachbarn, die Buchen, die höckerigen Auswüchse auf ihrer Rinde. Bekrönt von den äußersten Zweigen von Obstbäumen thronte Yang nah am Himmel und kostete deren fruchtige Geschenke. Selten schloss er sich den wenigen Kindern der Siedlung an. Als Neunjähriger nahm er mit pochendem Herzen in der abendlichen Dunkelheit des Herbstes an einer Mutprobe teil und tastete Fuß für Fuß nach dem Weg. Nur das Rascheln von lockerem Laub verriet wegen des fehlenden Mondlichts den falschen Schritt. Nie vergaß er den Käuzchenschrei dicht über seinem Kopf und den nahen, fremd klingenden Ruf des Weibchens. Lange hielt er es für Frage und Antwort zweier Geistwesen.

Beim Übergang in die weiterführende Schule pflegten die älteren Mitschüler in einem jährlich wiederkehrenden Ritual die Fünftklässler in die Mülltonnen zu stecken, die an der Turnhallenwand etwas abseits vom übrigen Schulhof aufgestellt und wenig einsehbar für die Lehrer waren. Yang verschwieg seiner Mutter, wie viel Angst er vor diesem ersten Tag an der neuen Schule hatte, und bereitete sich in den Ferien darauf vor. Anstatt wie bisher Lineale oder Haselnussstecken mit der Hand herumzuwirbeln, so geschickt, dass sich vor den Augen ein Kreis auffächerte, übte er mit einem langen, angespitzten Stock. Beidhändig konnte er ihn zwischen den Fingern drehen und wenden, kreisen lassen, hoch werfen und wieder auffangen.

Seine Gegner damit zu beindrucken, gelang ihm nur kurz. Mit einem „Hey, damit kannst du im Zirkus auftreten, aber jetzt heißt es Abtauchen!“ kamen sie auf ihn zu und nahmen ihm den Stock ab. Verbissen teilte er Tritte und Schläge aus, bis sich der Anführer den Arm rieb, den zornigen Zehnjährigen in Kampfstellung musterte und sagte: „Na gut, Kleiner, ein andermal.“ Aber sie behelligten ihn nicht mehr.

Yang hatte ungewöhnlich starke Arme und Fingermuskeln. „Du wirst deiner Freundin einmal wehtun, wenn du nicht aufpasst“, sagte seine Mutter nach einer stürmischen Begrüßung kopfschüttelnd. Vielleicht war diese Kraft ein Erbe seines Vaters. Das abweisende Schweigen der Mutter pulverisierte die Fragen nach ihm zu winzigen Sandkörnern, die vergeblich versuchten, auf einem mächtigen, versteinerten Berg eine Lawine auszulösen und irgendwelche Wahrheiten freizulegen.

Yangs Lieblingslehrerin in der weiterführenden Schule hatte ihn beiseite genommen, war in die Hocke gegangen und hatte zu ihm gesagt, es gelänge selten, andere Menschen zu ändern, und sie und auch Yang müssten manchmal die Leute so nehmen, wie sie waren. Aber bei Ungerechtigkeiten müsse man seine Stimme erheben, und da würde sie ihn immer unterstützen. Das gab ihm Rückhalt. Einmal begleitete er seine Mutter zur Sprechstunde und wartete mit ihr gemeinsam vor der Klassenzimmertür, als eine andere Mutter dazukam und sich ruppig mit feindseligen Bemerkungen über Ausländer im eigenen Land vordrängte. Yang sah seine Mutter der Frau ruhig in die Augen blicken, was ihn beeindruckte, und dann einen Schritt zurücktreten, was ihm furchtbar weh tat. Da öffnete sich die Tür des Klassenzimmers und die Lehrerin wies die Frau zurecht, sie ignorierte deren Protest und bat seine Mutter freundlich herein.

„Sie ist nett, deine Lehrerin!“, waren die einzigen Worte, mit denen seine Mutter den Vorfall auf dem Rückweg zur Bushaltestelle kommentierte.

„Lasst mal den Yang in Ruhe!“, ermahnte die Lehrerin die anderen, wenn sie sich über ihn, seinen Namen oder seine Mutter lustig machten. „Was jemand kann, hat nichts mit seiner Herkunft, dem Aussehen seiner Eltern, seiner Größe oder Ähnlichem zu tun.“

Wegen dieser Unterstützung gefiel es Yang besser an der Schule. Der zweite Grund war Maria. Sie war ihm von Anfang an aufgefallen.

Maria saß zwei Reihen hinter ihm. Ihr Leben hatte im Vergleich mit seinem offensichtlich genau umgekehrte Vorzeichen. Sie hatte deutsche Eltern und keine chinesische Mutter. Sie war in der Kleinstadt aufgewachsen und sprach den Dialekt der Gegend, doch dass sie anders war, sah man gleich. Sie besaß einen dunkleren Teint und die mandelförmigen, schmalen Augen einer Asiatin unter einem dichten, schwarzen Pagenkopf.

Im Gegensatz zu Maria sah Yang normal aus. Wenn man einen schlanken Körperbau mit langen Gliedmaßen als normal bezeichnen wollte. Seine Haare kringelten sich, wenn er sie wachsen ließ, zu Locken. Die blauen Augen glänzten ebenso wie das Weiß seiner Zähne, wenn er lachte. Er war von einer Bedächtigkeit, die Lehrer manchmal dazu brachte, seinen Namen etwas lauter als üblich auszusprechen. Yang! Vor allem dieser Vorname war es, der ihn nicht dazugehören ließ. Und das Aussehen seiner Mutter.

Lass mich noch etwas anmerken, bevor es an das Eigentliche geht. Dass die Vögel wieder Nester bauen, rührt mich. Sie haben große, weißweiche Flaumfedern im Schnabel. Ihre Körpergröße und ihr Verhalten zeigen mir, welcher Art sie angehören. Es sind Grünfinken, die im Schutz der Efeublätter brüten wollen und sich durch ihren Gesang verraten, ein Geräusch wie das Aufziehen einer Uhr, weshalb manche Leute „Uhrmacher“ zu ihnen sagen. Gestern war das Eichhörnchen an dem efeuumrankten Ahorn. Auf dem Gehweg klatschte jemand in die Hände, um es zu vertreiben. Es erschrak kurz und zuckte zusammen, ließ sich aber ansonsten nicht stören und erkundete weiter sein Revier, schnupperte an der Rinde, setzte sich in eine Astgabel und putzte sich. Ich hoffe, dass der dichte Efeu es daran hindert, das Nest der Grünfinken zu erreichen.

Weiter unten in der Straße steht eine Birke, zu deren Krone Elstern seit Tagen Zweige tragen. Ich habe nachgelesen. Elstern bauen Nester mit Dach. Manchmal, wenn sie verlassen sind, halten sich Eichhörnchen darin auf, um zu schlafen. Beide rauben die Gelege von Singvögeln aus, ernähren sich von deren Eiern und Jungen. Auch die Welt der Vögel ist ein Geflecht aus Regeln und Abläufen und gehorcht Gesetzen. Ein Geben und Nehmen.

Wie beim Schreiben. Du siehst, ich schreibe noch. Diesen Brief und anderes. Auch mein Buch wächst. Ich gehorche den Gesetzen der Grammatik und werde, wenn es gut geht, mit stimmigen Bildern, die aus Worten gemalt sind, belohnt. Sie bereichern mich wie Kunstwerke, die in mir nachschwingen wie die Amsel, die jedes Mal nach dem Anflug auf die durchhängende Stromleitung lange rhythmisch hin und her schaukelt. Seit einiger Zeit können sich meine Auftraggeber wieder in meine Texte einschwingen und fremde Menschen rufen mich an und sagen: „Was ich gelesen habe, war sehr gut.“ Lange Zeit schob sich der Wortfluss nur zähflüssig aus mir heraus, Angst und Trauer drosselten das Tempo, ich war ihnen ausgeliefert. Erst seit ich in vollem Bewusstsein meiner selbst schreibe, mit dem Mut zu meiner Wahrheit und gerichtet auf dich, strömt dieser Fluss wieder kraftvoll und sich umschlingende Sätze werden an seine Oberfläche gespült.

Glaub mir, meine Liebe, auch dein Inneres darf nicht immerfort schlafen, zugedeckt, unentdeckt, wie verborgen in den Höhlen, die du als Kind gebaut hast.

Ich sehne mich nach dir. Und nach deinem Sommerhautgeruch. Im Frühjahr konnte ich es kaum erwarten, dass du mir lächelnd den Arm hin hieltst, sobald Sonnenstrahlen die Luft soweit erwärmt hatten, dass man die Jacke von den Schultern streifen konnte. Ich durfte an deiner Haut riechen und dieser besondere Geruch, nach dem ich mich den ganzen Winter über gesehnt hatte, kam mir entgegen wie ein Geschenk. Er gab sich plötzlich frei in meine Nase, nahm gleich tief in mir Platz, dehnte sich auf dem Grund meiner Lunge aus, nistete sich dort ein und stieg wohldosiert auf, wenn im April erneut Schnee die Luft erfüllte und wenn im Mai die Eisheiligen das junge Grün erfrieren ließen.

Wem wurde dieser Duft zuteil, seitdem du deinen eigenen Weg gehst?

Wie gern ich dich bei deinem Namen rufen werde, wenn ich eines Tages die Tür öffne und du vor mir stehst!

Früher glaubte ich, man könne seinem Vornamen nicht entkommen. Nimm Yang zum Beispiel. Yang, das männliche, und Yin, das weibliche Prinzip, Teile eines landauf, landab verbreiteten Zeichens, als Tattoo, auf Jutetaschen oder auf Flyern von TaiChi-Schulen, ein Zeichen, bei dem sich Weiß und Schwarz gegenseitig durchdringen, bei dem das Helle unablässig im Dunklen geboren wird und umgekehrt. Yin und Yang steigen und sinken unentwegt. Wie gut das zu Yangs Leidenschaft, dem Klettern, passte!

Namen haben sich im Lauf der Jahrhunderte mit Bedeutungen aufgeladen, davon kann man sich schwer lösen. Der Einstieg ins Leben ist kein weißes Blatt Papier, unberührt und bereit, sich erstmalig beschreiben zu lassen; es ist bedeckt mit unsichtbaren Zeichen, die nicht verändert oder getilgt werden können. Vergangenes kann man nicht wie Bleistiftspuren wegradieren oder wie markierte Bereiche eines Worddokuments durch das Drücken der Enter-Taste verschwinden lassen. Schönes und Schweres, die Gaben und Bürden unserer Ahnen bis hin zur Gewissheit des Todes sind auf dieser weißen Fläche bereits verzeichnet, ehe der Name dazukommt.

Nimm meinen Namen. Maria. Ein Name, von Anfang an verbunden mit Muttersein und Glaube. Maria ist in fast allen Sprachen zuhause, Maria ist ebenso aufgeladen wie Yang, nur schwerer durch Gebet, Tränen, flehende Bitten und ungezählte Wiederholungen, durch eine Fülle von Mantras. In der Figur der Maria hat sich eine Sehnsucht verkörpert, vielleicht die Sehnsucht nach der weiblichen Seite oder die nach der Heilung von Wunden, die der Erde und ihren Geschöpfen im Lauf der Zeit zugefügt wurden, vielleicht auch die Frage nach dem Schicksal und dem, was uns tröstet. Mother Mary. Bevor du in mein Leben kamst, mein Kind, habe ich mich nie mütterlich gefühlt. Eher wehrhaft und streitbar, Unabhängigkeit war mein oberstes Gebot.

Worte waren da, damit ich mich wehren konnte. Ich behandelte sie wie Diener, die sich mir zu fügen hatten, ich presste sie in kurze Satzkammern und ließ sie nicht mehr frei. Lese ich meine alten Tagebücher, springen mir die Worte entgegen wie ein Rudel kläffender, gereizter Hündchen, kurz und spitz. In Schulaufsätzen und Berichten für die Schülerzeitung habe ich sie auf andere Weise benutzt, ich habe sie ausgedehnt und an ihnen gezogen, um mich wichtig zu machen, ich habe sie mit Fremdwörtern durchsetzt und so die Inhalte verdunkelt. Seltsamerweise traf das auf Zustimmung, man wollte Texte, die sich geheimnisvoll gaben, damit man sich nicht mit ihrem Inhalt befassen musste.

Während des Praktikums in einem kleinen Verlag entdeckte ich die Wörter als Einkommensquelle, ich kam auf die Idee, aus ihnen Kapital zu schlagen, als ich einem Gespräch junger Frauen lauschte. Da hörte ich zum ersten Mal das Wort, das mir den Einstieg zum professionellen Schreiben eröffnete.

„Nimm Micha zum Beispiel“, sagte die eine. „Textbörsen sind eine super Möglichkeit für ihn, Geld zu verdienen. Dort fragen Auftraggeber an, die Texte brauchen für ihre Webseiten oder Produkte oder was auch immer.“

„Oh, ich wusste gar nicht, dass der Schriftsteller ist“, bemerkte ihr Gegenüber.

„Ist er auch nicht. Das Ganze ist ja anonym, wie auf einem Marktplatz, die Kunden kaufen Wörter wie Ware und weil er so vielseitig ist, kann er einen Haufen Kategorien bedienen. Ihm gefällt das, sagt er.“

Von da an verfolgte auch ich diesen Weg, machte ihn zu meinem, ging ihn unbeirrt und entschlossen trotz der vielen Schwierigkeiten in der Anfangszeit, als ich erst lernen musste, was Sprache auszudrücken imstande ist. Mein Horizont erweiterte sich im Studium. Ich schrieb für Magazine und für Privatleute, verfasste Katalogtexte und Nachrufe, lieferte Bewerbungstexte und Filmkritiken.

Dieser früh gelegten Spur folge ich bis heute. Sie hat mich bis zu diesem Brief an dich geführt, und aus den Wurzeln auf dem Weg, über die ich stolpere, speist sich und wächst mein Buch.

Meine Liebe, kannst du dich an das Nachbarhaus zur Linken mit dem großen Wintergarten erinnern? Die junge Familie, die seit einigen Jahren darin wohnt, ist von ihrer Weltreise zurück. Thailand, Australien und Neuseeland. Manche Orte und Erinnerungen wirst du mit ihnen teilen. Ich glaube, der kleine Junge wollte nicht weg, deshalb hat er sich knapp vor der Abfahrt noch schnell den Arm gebrochen, als wolle er sich mit dem Gips am Haus festbinden. Aber es half nichts, man braucht nicht unbedingt zwei heile Arme, wenn Helfer mitreisen. Nun sind sie wieder da, er sitzt seit Stunden in seinem Sandkasten und holt entgangenes Spielen nach.

Und du, meine Liebe, was wirst du nachholen, eines Tages? Wenn es nach mir ginge: eine lange Umarmung zwischen uns beiden!

Der alkoholkranke Mann, der seit einigen Jahren am Fahrradständer des Supermarkts steht, hat seinen Stammplatz verlassen und biegt langsam in unsere Straße ein. Seltsam, wie viele Dinge sich parallel ereignen. Wenn ich überlege, wie viele Gedanken ich mir zu den wenigen Ereignissen in meinem Umfeld mache, und da ist noch nicht einmal unsere Geschichte gemeint, wie viele Gedanken werden dann weltweit von den Ereignissen ausgelöst, die alle zur gleichen Zeit ablaufen und mein Bewusstsein nie erreichen? Aber ich schweife ab. Ich muss aufpassen, dass ich nicht ins Fabulieren komme, wie etwa die Frau, die lügt. Du weißt, die im Haus mit dem Nussbaum wohnt. Sie ist alt geworden und es ist mir immer noch ein Rätsel, wie ihr Kopf all diese Lügen hervorbringt. Ich stelle mir vor, sie verdichten sich zuerst wie Mehlklumpen in einer Soße und kochen anschließend über. Unablässig sprudeln hanebüchene Geschichten aus ihrem Mund. Sie fliege beständig zwischen hier und Tokio hin und her, um Vorträge zu halten. Sie habe Schlagzeug spielen gelernt und letzte Woche eine Band gegründet. Sie habe ihr Auto verschenkt. Das Tapezieren ihres Hauses koste mehr als ein Mittelklassewagen. Ich erspare dir Weiteres. Es reicht, wenn ich ihr zuhöre. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie sich danach besser fühlt. Mir tut es auf keinen Fall gut. Lügen dringen wie Schadstoffe durch meine dünngewordene Haut, lähmen selbst die rührigsten Gehirnzellen und bringen meinen Energiefluss zum Stocken.

Ich bin müde, meine Liebe. Es war ein langer Tag. Ich würde gern wissen, was du machst, jetzt, in genau diesem Moment. In welchem Land bist du im Einsatz? Mein Brief ist noch lange nicht fertig. Wann und wo wird er dich erreichen?

Schmiegt sich die Kette, die dich an Carmen erinnert, um deinen schlanken Hals? Trägst du den Goldplättchen-Anhänger mit der feinen Spirale ihres Fingerabdrucks, den sie dir geschenkt hat? Baumelt er vor den Augen deiner großen und kleinen Patienten? Erkennen sie sich selbst darin, als Menschen, die ebenfalls über diese einzigartigen Kennzeichen verfügen? Nimmt ihnen das ein wenig die Schmerzen? Geschieht das auch, wenn sie in deine Augen sehen? Bewirkt die Berührung deiner Hand immer noch diese außergewöhnliche Entspannung, so dass sich Wunden schneller schließen? Wann wirst du mir diese Fragen beantworten?

Schon früh hast du für Heilung gesorgt. Wahrscheinlich haftet dir der feste Glauben, durch Berührung heilen zu können, seit dem Tag an, an dem du als kleines Kind mit deinen Fingern den vermeintlich toten Spatz berührt hast, der an die Fensterscheibe geprallt war und wie leblos am Boden lag. Bei deiner Berührung flog er sofort auf und du hast ihm überrascht nachgeschaut und lange deine Hand betrachtet. Jede Katze, die du gestreichelt hast, schnurrte, jeder Hund warf sich vor dir zu Boden, und jeder Hamster erwachte am hellen Tag bereitwillig, um mit dir in Verbindung zu sein, um von einer deiner Hände in die andere zu laufen. Lebst du dort, wo du bist, noch Reste dieses Vertrauens? Oder hast du dich der Schulmedizin verschrieben?

Morgen mehr.

Es waren die Angeber, die sich die Überquerung des Flusses nicht zutrauten. In der Woche im Schullandheim wurde Yang bewusst, dass er es mit ihnen aufnehmen konnte. Seile überspannten das Wasser zwischen zwei dicken Weiden. Man konnte sich am oberen Seil festhalten und auf dem unteren laufen oder eines mit Händen und Beinen umklammern und sich vorwärtsbewegen. Die, die sonst immer vorne dabei waren, wagten weder das Eine noch das Andere und rannten am Ufer entlang bis zur nächsten Brücke.

Marias schwarze, dichte Haare schimmerten im Sonnenlicht und das blaue Band in der Haarsträhne schien auf den Fluss zu deuten, als sie ihre langen Beine ohne zu zögern um das obere Seil schwang und sich von einem Ufer zum anderen hangelte.

„Bei der ist‘s ja kein Wunder. Die kommt ja auch aus dem Dschungel!“, sagte ein Mädchen unter den Wartenden. Sofort reagierte die Lehrerin und fragte, weshalb es schlecht über jemand reden würde, der nicht da wäre und sich nicht wehren könne, und ob es wisse, wie verletzend das gewesen sei? Yang wurde wieder leichter ums Herz und das Mädchen senkte den Kopf.

Der Ausflug in ein bewohntes Museumsdorf war der Klasse als einer der Höhepunkte der Woche angekündigt worden. Um eine alte wehrhafte Kirchenburg in der Ortsmitte drängten sich uralte Häuser als suchten sie Beistand und Schutz vor der Gegenwart. Bauerngehöfte, Schulhaus und Laden versuchten, sich durch Vorführungen alter Handwerke und bäuerlichen Lebens in lang vergangenen Zeiten zu verankern. Die Klasse hatte den Vormittag zur freien Verfügung und sollte sich zur Mittagszeit im alten Schulhaus einfinden. Beim Aussteigen aus dem Bus waren schon die Hammerschläge eines Schmieds zu hören und bald stand Yang mit einigen Mitschülern vor einem bärtigen Zweimetermann mit rußgeschwärzter Schürze, um einen Nagel zu schmieden. Die Flammen des Feuers fauchten auf, wenn sie vom Blasebalg angefacht wurden. Der Hammer zwang das glühende Eisen mit seinen Schlägen in die gewünschte Form und entlockte ihm dabei laute Protestschreie, die sich mit den Schlägen auf den Amboss abwechselten, wenn das Eisen gedreht wurde. Yang versuchte, den Nagel mit der riesigen Zange festzuhalten, und dass er die Kraft hatte, mit nur einer Hand den schweren Hammer zu heben, erfüllte ihn mit Stolz. Es zischte, als er den fertigen Nagel in einen Wassereimer tauchte. Nach dem Abkühlen trug Yang ihn wie eine Trophäe in seinen Händen weiter bis zum Gasthaus, vor dem Händler ihre Stände aufgebaut hatten. Ein Korbflechter schien sich wegen seiner weidenähnlich hell- und dunkelbraungemusterten Kleidung hinter seinen ausgebreiteten Waren aufzulösen, eine Frau verkaufte mit bestickter Schürze Brettchen, Schalen und Löffel aus Holz, ein Imker bot Honig an zum Probieren. Mitmach-Angebote wie Lederarbeiten oder Filzen interessierten Yang weniger, er blieb an einem Stand mit einfarbigen und gefleckten Schaffellen stehen. Wie aufgeklappte Körper lagen sie auf Stapeln und streckten die Glieder suchend nach allen Seiten aus. Die Gestalt der Tiere, die in ihnen gelebt hatten, war nicht zu übersehen. Wie weitere Beweise für das beendete Leben der Schafe erhoben sich daneben Hügel aus gesponnener und nichtgesponnener Wolle, als wollten sie die einstigen Körper an die verlorene Form erinnern und ihnen zu neuem Leben verhelfen. Seitlich und etwas abseits davon entdeckte Yang noch einen großen flachen Korb. „Kaninchen“ stand auf dem dazugehörigen Schild, darunter der Preis. Im Korb erhob sich eine weiche Wölbung aus Fellen. Zuoberst lag eines mit einer Farbe von warmem Grau und mit hellen, an Wolken erinnernden Flecken.

„Mal anfassen?“

Der dünne, ältere Mann mit den vielen Querfalten auf der Stirn und den blauen Augen sah eher nach einem Professor aus einem Film als nach einem Kaninchenschlächter aus. Er hielt Yang das obere Fell hin. Der nahm es in die Hand. Noch nie hatte er etwas so Weiches berührt. Die Haare umflossen seine Finger und schenkten ihm augenblicklich innere Ruhe, ein wohliges Gefühl. Zwar zeigte ihm der Mann ungefragt noch andere Felle, aber bei keinem anderen gefiel ihm die Farbe und bei keinem anderen konnte er trotz der samtenen Zartheit das kraftvolle Wesen des Tieres erahnen. Als er sein Geld zählte, fehlte ein wenig. Er hielt es dem Mann hin, der nahm es und reichte ihm die weiche Rolle mit den Worten: „Hier, nimm es. Das ist in Ordnung so“.

Zuhause legte Yang das Fell auf seinen Schreibtischstuhl, spürte der Wärme nach, die seinen Körper erfüllte, wenn er darauf Platz nahm, und kraulte beim Nachdenken mit den Fingern selbstvergessen darin herum.

All die Jahre, die wir uns nicht mehr gesehen haben, jeden Monat, an jedem Tag und in jeder Stunde, versuche ich, zu erspüren, wie es dir geht. Hast du es bemerkt? Weißt du, was ich oft annehme? Dass du dich abgeschnitten fühlst vom Eigentlichen. Fremd. Ist das richtig?

Damit du das, wenn es so ist, besser verstehst, damit du die nötigen Schritte zu deiner eigenen Wahrheit gehen kannst, deshalb schreibe ich diesen Brief, deshalb zwinge ich mich, mich zu erinnern und meinen Weg von Anfang an zu beleuchten, nur für dich.

Mich hat Fremdheit immer begleitet. Am Anfang im Verborgenen und unentdeckt, dann lange Zeit groß und bedrohlich wie ein Schatten, dann wieder wie etwas, das zu mir gehörte, angenommen und Fundament meines Selbst. Fremd gefühlt habe ich mich oft. Im Kindergarten drang es in mein Bewusstsein.

„Meine Mama sagt, du hast keine richtige Mutter!“

Mit großen Augen wartete der Junge auf meine Antwort. Was er sagte, war ungeheuerlich. Natürlich hatte ich eine Mutter. Als er nicht aufhörte damit, schubste ich ihn, er fiel hin und weinte. Die Erzieherin sagte nichts. Zuhause berichtete ich empört, was geschehen war. Da ging Mama in die Hocke und nahm mich in die Arme. Die Art, wie sie ihre Stirn auf meiner kleinen Schulter ablegte, und ihr Schweigen machten mir Angst.

„Mama?“

„Wenn Papa nach Hause kommt, Maria, dann setzen wir uns mal hin und...“, sie suchte nach Worten.

„Spielen?“, warf ich ein. Schnell sollte die eigenartig schwere Stimmung sich verabschieden, etwas Schönem und Heiterem Platz machen. Seltsamerweise erinnere ich mich genau an diese Szene. Scheinbar hat das Gedächtnis in jenen Tagen nur darauf gewartet, mit dem Sammeln von Beweisen dafür zu beginnen, dass ich nicht dazugehörte.

An diesem Abend erfuhr ich, warum ich anders war. Dass meine „Schlitzis“, wie ich später als Jugendliche meine Augen bezeichnete, nicht der Norm entsprachen. Dass ich wirklich kein Kind dieses Landes, sondern auf einem Schiff von weit her gekommen war. Abtransportiert, oder, wie meine zweite Mutter sagte, gerettet aus einem Land, in dem die Armut so groß war, dass Mütter nicht für ihre Kinder sorgen konnten. Sie gaben sie in Heime, aus Liebe, denn dort bekamen Kinder zu essen und mussten nicht verhungern oder unter schrecklichen Umständen ein hoffnungsloses Leben führen. Ich hatte keinerlei Erinnerung von meinem ersten Leben in das folgende hinübergerettet.

Aber das ist meine Geschichte. Du, mein Kind, bist erwachsen und brauchst dich nicht fremd zu fühlen. Du kannst wählen. Doch du bewegst dich in der Welt wie Millionen andere, ohne dir deiner selbst bewusst zu sein. Ich spüre es. Für ein Leben mit Leib und Seele brauchst du indes deine ganze Kraft, sonst fegen dich Sturm und Gegenwind hinweg, sonst gerätst du auf Irrwege, fällst in Gruben, und erkennst deiner Blindheit wegen die Schätze nicht, die dir begegnen. Ich will nicht, dass es so kommt. Ich möchte, dass du klar siehst und die Schicht abstreifst, die dich von dem Lebendigen trennt. Vielleicht kann dieser Brief der Impuls sein, der alles anstößt und ins Fließen bringt. In deinem Inneren liegt die Antwort bereit.

Ich träume am helllichten Tag und sehe es vor mir. Auf der Suche nach deiner Ganzheit berührst du das Land, das Land in dir und das Land außerhalb deiner selbst. So wird es sein. Bewusst wirst du allem begegnen. Wiesen werden sich ausbreiten, helle Wege werden aufscheinen und du wirst voranschreiten. Du wirst selbst bestimmen, wann du stehen bleibst, welcher Blume, welchem Wesen oder welcher Wolke du deine Aufmerksamkeit schenkst. Du wirst wissen, was gut und richtig für dich ist. Die Wärme, die aufsteigt aus deinem Sonnengeflecht, wenn du mit dir im Einklang bist, wird in alle deine Fasern ausstrahlen. Mit jedem Schritt wird sich die Landschaft der Trauer aufhellen, Regenbogen werden zu Zeichen werden, Bilder und Worte sich immer tiefer erschließen lassen wie Brunnen.

Als Kleinkind sah ich nur wohlmeinende Gesichter, Gesichter, die meinen Namen riefen, damit ich herschaute. Auf den Fotos sehe ich mit meinen schmalen Augen, dem schwarzen Pagenkopf und den Pausbäckchen aus wie eine Puppe. Diese Helmfrisur ist mir bis heute geblieben, auch wenn sich unter die dicken schwarzen Haare graue gemischt haben. Während der Schulzeit verflocht ich oft ein dünnes blaues Band mit einer meiner seitlichen Strähnen. Wie ein kleiner Bachlauf glitt er an meiner Schläfe hinab und Yang sagte, das gefiele ihm besonders, weil der Reflex dieser Farbe in meinen dunklen Augen sie noch mehr leuchten ließe, als sie es ohnehin schon taten. Als er das sagte, wölbte sich hinter ihm wie ein Echo die blaue Kuppel seines Zelts, er hatte die Ellbogen auf den Knien aufgestützt und hielt in den Händen ein Croissant und eine Banane, das weiß ich noch. Er mochte Bananen schon damals, vor allem gebratene, und er liebte Reis, zu jeder Tages- und Nachtzeit, am liebsten mit Kokossoße. Ich frage mich, wo er seine Kraft hernahm. Die Muskelkraft für das Klettern auf der einen Seite und die innere Kraft auf der anderen, die Kraft, zu sein, wie er war, mit dieser besonderen Mischung aus Hingabe, Reife und Gelassenheit.

Du, mein Kind, hast ebenso viel Kraft. Innen wie außen. Das habe ich schon gespürt, als ich dich das erste Mal sah, als Dreijährige. Du warst bereits eine Persönlichkeit, ernst und gleichzeitig ein Wirbel aus Vorhaben. Du wusstest, was dir in deinem Schmerz half, und bautest dir Höhlen, Bunker für das Auf- und Ab deiner Gefühle, Dämme gegen die Außenwelt, um allein mit dir zu sein. Wann fingst du an, all das zu vergessen und zu verlieren? Seit wann lebst du verschattet? Du hast studiert und Karriere gemacht, du hast viel Kluges gesagt und getan, deine Schönheit hat sich vermehrt und die dunklen Locken, um die dich halb Asien beneidet, haben nichts von ihrer Lebendigkeit verloren und von der Gabe, wie Antennen oder Sonden Unsichtbares zu orten. Besinne dich darauf! Manches aus den Genen der Vorfahren lässt sich nicht schmälern, auch wenn man es am liebsten abschütteln möchte. Aber irgendwo auf deinem Weg muss dir etwas Wesentliches, ein Teil deiner Ursprünglichkeit abhanden gekommen sein.

Als Yang mich zum Klettern in einen Steinbruch mitnahm, habe ich es das erste Mal gesehen. Yang rollte auf der Decke neben mir sein Seil zusammen, da bemerkte ich das Zucken unter der Haut seiner Beine, das unvermittelt an wechselnden Stellen auftrat, mal am Unterschenkel, dann auf dem Fuß, als nächstes oberhalb des Knies.

„Krass, da zuckt was bei dir!“ Fasziniert starrte ich auf seinen Körper.

„Ach, das“, sagte er beiläufig, „das hab ich schon immer. Keine Ahnung, warum. Ich spür das nicht, es tut nicht weh.“

Manchmal, meine Liebe, überlege ich, ob sich bei dir Ähnliches zeigt, ob auch deine Nerven unter der Haut zucken. Ich habe mich jedenfalls damit angesteckt. Erinnerungen an Yang durchzucken mich bei vielen Gelegenheiten. Aber im Gegensatz zu seiner Aussage geschieht es nicht schmerzfrei, es tut weh, vor allem im Herzen. Du wirst wissen, warum. Aber das Wichtigste ist doch: Mit Yang bin ich fest verbunden. Er tut das Seine. Er reicht mir von der anderen Seite die Hand. Im Garten hat er den weißen Flieder mit vollen Blütenrispen geschmückt, die sich alle in meine Richtung neigen, wenn ich vorbeigehe. Sie nicken mir zu und bestärken mich, sie schenken mir Kraft. Sicher kennt er den Grund, warum die große Birke abgestorben ist, die so lange am Ende des Zauns das weitläufige Grundstück bewacht hat. Da sie weiß ist, müsste sie doch seiner Welt angehören. Binnen weniger Jahre hat sie ihre Frische und ihren Glanz verloren und ist nur noch ein Gerippe. Kann es sein, dass sie meine Trauer in sich aufnahm? Sie über die Wurzeln ansaugte und hochpumpte bis in die Blätterherzen, an die höchsten Bereiche der Krone? Ich trauere nicht nur um Yang, musst du wissen, geraume Zeit trauerte ich auch um meine unerfüllte Sehnsucht, woanders zu sein. Denn lange Jahre wollte ich weg von hier. Besonders am Anfang. Und dann wieder, nachdem du fortgegangen warst. Da kam alles zusammen, ich hielt es hier nicht mehr aus und bin in den Wald gezogen. Weshalb ich danach doch hierher zurückgekehrt bin, wirst du verstehen, wenn ich dir mehr erzähle, mehr von mir und meinem Nichtankommen.

Wann hatte Yangs Liebe zu Bäumen begonnen? Vielleicht hatte es mit seinem Lieblingsbuch zu tun, dem „Herrn der Ringe“. Wenn er als Zwölfjähriger das Haus verließ, dann als Frodo, der aufmerksam seine Umgebung betrachtete. Auf den Obstbäumen, Kiefern und der großen Buche mit der glatten Rinde am Waldrand war er Legolas, der Elb, und beim Umherstreifen verwandelte er sich in Aragorn, den Waldläufer. Der Wald bestand aus Ents, den großen, baumartigen Wesen, die laufen konnten und deren Wissen weit in die Vergangenheit zurückreichte.

Deutlich trat seine besondere Zuneigung für Bäume zu Tage, als er das kleine Apfelbäumchen im Garten rettete. In der Nacht hatte ein Hase ein großes Stück der Rinde abgeknabbert. Erst hatte das Tier sich, so hoch seine Vorderpfoten reichten, an dem kurzen Stamm aufgerichtet und alle jungen Triebe in Reichweite abgebissen, dann hatte es Geschmack an der Rinde gefunden und rundum große Stücke abgenagt. Die Zahnspuren hoben sich als helle Wunden mit schmalen orangefarbenen Rändern vom Grau des Stämmchens ab.

„Der ist nicht mehr zu retten“, meinte der Gartennachbar und Yangs Mutter seufzte und sagte:

„Dann werden wir ihn am besten gleich herausreißen oder ausgraben, bevor er vor sich hin kümmert.“

„Warte mal, Mam!“, rief Yang. „Ich will nachlesen. Vielleicht hat er eine Chance.“

„Das überlebt er nicht“, wiederholte der Nachbar. „Nirgendwo ist die Rinde noch durchgängig heil. Das Bäumchen kann die Nährstoffe nicht weitertransportieren.“

Yang verschwand im Haus und kam mit der Information zurück, man müsse dem kleinen Stamm einen Verband anlegen, aus Mullbinden, in flüssige Lehmerde getaucht. Der Nachbar schüttelte den Kopf. Yang holte sich einen Eimer aus dem Schuppen und lief los, um nach lehmhaltigem Boden zu suchen. Auf dem Weg vorbei an den Gärten traf er auf ein Ehepaar und fragte, wo in der Gegend Lehm zu finden sei.

„Da hast du Glück, junger Mann. Das einzige Vorkommen weit und breit ist dort hinten in unserem Garten. Du kannst dir gern einen Eimer voll mitnehmen. Neulich habe ich die Mauer von Brennnesseln freigemacht, du kannst dir ungehindert etwas abstechen.“

Yang lieh sich eine Schaufel und schleppte kurz darauf den schweren, halbvollen Eimer zurück. Er zerstieß die großen Brocken in kleinere und goss aus den Regenfässern Wasser dazu, bis eine breiige Masse entstand, in die er die aufgewickelten Mullbinden aus dem alten Erste-Hilfe-Koffer seiner Mutter tauchte. Damit umwickelte er das Bäumchen vom Boden bis zum ersten Querast, als verarzte er ein Bein. Dunkelbraun passte sich der Verband an die Farbe des Stamms an.

Im nächsten Frühling sah das Bäumchen gesund aus und nach zwei Jahren blühte es prächtig innerhalb des Zauns, mit dem die Mutter es umrundet hatte, um den Hasen abzuhalten. Der Verband ähnelte braunem Schorf, der mit der Zeit an einigen Stellen Risse bekommen hatte und mürbe geworden war.

Die Mutter rief Yang in den Garten und legte ihm den Arm um die Schulter. Dann sagte sie, an den kleinen Baum gewandt: „Bäumchen, spreng deinen Schutz und befreie dich, sobald du stark genug bist. Ich wünsche dir Glück. Und dein Retter bekommt einen Kuchen. Welchen soll ich backen?“

Yang lachte: „Rettern des Auenlands gebührt ein Marmorkuchen.“

Gerade wollte ich zu schreiben beginnen, da wurde ich unterbrochen. Die Frau, die lügt, hat bei mir geklingelt. Ich bin zur Tür gegangen und habe nach einem langen Zögern, weil ich hoffte, sie würde wieder gehen, geöffnet.

„Sehen Sie? Meine Frisur!“, sagte sie und drehte sich einmal um die eigene Achse. Ihre Haare waren dünn und formlos wie immer. „Hat mich eine schöne Stange Geld gekostet!“ Vertraulich beugte sie sich vor und flüsterte: „Ein Mittel, das sie kräftigt, zum Einnehmen, wissen Sie? Ich hab es ausprobiert, und ich finde, man sieht schon etwas, finden Sie nicht auch?“

Ich drückte mich um die Antwort: „Sie werden das Richtige tun, davon bin ich überzeugt.“

Ich sagte, ich müsse weiterarbeiten und mit einem „Selbstverständlich, ich verstehe, ich lasse Sie allein!“ reichte sie mir die Hand und fügte im Gehen an: „Heut war der Mann bei mir und hat mich besucht.“

„Welcher Mann?“ rief ich ihr nach, und bekam wegen eines vorbeifahrenden Autos nur etwas mit, das sich wie „Der Mann, der trinkt“ anhörte. Sie ging die Straße hinunter und ich dachte, dass das nicht sein kann. Die Frau, die lügt, bekommt Besuch von dem Mann, der trinkt. Wenn das wahr ist, ist das Stoff für eine Geschichte, findest du nicht auch?

Nach dieser Begegnung hat es nur noch für eine Art Gedicht gereicht, meine Liebe:

Ich wünsche mir sehr, du wärst wie der Dampf bei Tauwetter über der Hochebene, zu der ich so oft aufsteige, ich wünschte, du würdest dich ebenso erheben. Dieser Dampf hat seine ganz eigene Schönheit, seine ganz eigene Botschaft, seine Aufgabe. Er, den die Sonne aus Gefrorenem zaubert und auffordert, in die Welt zu gehen – „Es ist Zeit, sagt sie, ich bin über die Hügel in der Ferne geklettert, um die Eiskristalle zu erlösen“ - er formt sich, ohne zu zögern und breitet sich aus. Er macht sich groß, nur für mich.

Mach dich bitte auch so groß, mein Kind. Steh auf, meine Liebe.

Marias Sportlichkeit imponierte Yang ebenso sehr wie ihre Stachligkeit. Wenn sie sich gekränkt fühlte, feuerte sie blitzartig mit scharfer Zunge Worte ab, um deren Treffsicherheit er sie manchmal beneidete. Die schwarzen Haare, die etwas kantigen Bewegungen und vor allem die schrägstehenden Augen erinnerten ihn an etwas sehr Vertrautes. Im Alter von fünfzehn, sechzehn geriet sie in eine unausstehliche Phase, in der sie jede Ruhe verlor, sich mit jedem anlegte und gegen alles aufbegehrte, zu Hause und in der Klasse. Yang warf sie vor, er sei bequem und nur an Bäumen und Klettern interessiert, die wirklich wichtigen Dinge fänden anderswo statt. Sie begann, für die Schülerzeitung zu schreiben und scharte eine Gruppe Mädchen um sich, die allesamt ziemlich wild auftraten. Nach ein oder zwei Jahren, kurz vor dem Abitur, war die Gruppe wieder auseinandergefallen, Marias Angriffslust hatte sich gelegt und brach nur während der Streitigkeiten hervor, die sie mit ihren Eltern ausfocht. Auf langen Spaziergängen mit Yang ließ sie sich über deren Unverständnis aus, während er zuhörte. Weil er sie ungern zu Hause abholte, hatten beide einen Treffpunkt vereinbart, eine Bank am Rand des kleinen Wäldchens hinter den Gärten.

„Entschuldige, diesmal bin ich zu spät!“ Maria ließ sich erhitzt neben Yang auf die Bank fallen.

„Was war denn los?“, wollte er wissen.

„Ach, das Übliche. Ich hab mich mit meiner Mutter gestritten.“ Unwillig scharrte sie in dem staubigen Oval vor der Bank mit den Füßen und kickte missmutig einen Kronkorken weg.

Yang schwieg.

„Die bringt mich echt auf die Palme. Ich kann gar nichts dafür!“, beschwerte sich Maria in der Hoffnung auf Zuspruch.

„Worum ging’s denn diesmal?“, fragte er nach.

„Sie fing wieder an mit der Vietnamreise. Sie hat tatsächlich Geld gespart und will mit mir hinfliegen.“

„Aber du nicht.“ Yang kannte die Einstellung Marias. Er hatte sie oft genug gehört.

„Nein! Ich lass mich nicht erpressen. Und dir muss ich das ja nicht nochmal erzählen.“

„Nein.“

Maria schnaubte, aber sie wollte sich deswegen nicht auch noch mit Yang streiten. Sie zuckte mit den Schultern und wechselte das Thema.

„Außerdem bin ich spät, weil ich noch etwas ganz Süßes beobachtet habe. Stell dir vor, ich gehe über die kleine Brücke am Bach und sehe, wie sich eine Ente mit sage und schreibe elf flaumigen Entenküken daran macht, den kleinen Wasserfall hinunter zu schwimmen. Erst hat sie ihren Nachwuchs versammelt, es sah aus, als hätte sie erklärt, wie man sich bei einem Wasserfall verhält, dann stürzten sich alle hinunter und schwammen bis zu der Engstelle mit dem kleinen Felsen. Dort haben alle angehalten bis auf ein Entchen, die Strömung hat es einfach mitgerissen, zack, war es weg, und ist weiter unten auf einer Art Insel aus Ästen gestrandet.“

„Und die Anderen?“, wollte Yang wissen.

„Die sind mit der Mutter in einer Reihe an ihm vorbei und weiter geschwommen. Da steht es wahrscheinlich immer noch, ist völlig geschockt und traut sich nicht weiter.“

„Was?“ Yang stand auf.

„Was hast du vor?“

„Ich will nachsehen.“

„Yang, das ist fast fünfzehn Minuten her. Das ist sicher weg inzwischen.“ Maria sah ihn mit großen Augen erstaunt an.

„Trotzdem!“

Der Ton, in dem er das sagte, machte ihr klar, dass es ihm ernst war. Er ging los und wollte das Entenküken retten.

„Yang, was willst du mit einer Ente?“, rief sie ihm nach, aber dann nahm sie doch ihre Tasche und eilte hinterher. Als sie die Brücke erreichten, hielten sie vergeblich Ausschau nach dem Küken. Maria hatte recht gehabt. Es war fort.

„Können wir jetzt los gehen?“, fragte sie schließlich. Yang nickte.

Bisher hatte sie sich für Bäume nicht sonderlich interessiert, aber Yang zuliebe wollte sie sich von ihm eine große Eiche zeigen lassen, die eine Dreiviertelstunde Fußweg entfernt als Naturdenkmal auf einer Wiese stand. Sie war umzäunt, damit sie niemand anderer berühren konnte als Insekten, Vögel, Regen und Wind. Das beständige Rauschen der Papierfabrik drang Tag und Nacht zu dem Baum empor, ebenso der Autolärm von der an ihr vorbeiführenden Straße. Leise fächelte der Wind durch die Blätter und beschwor den Klang eines Zwiegesprächs herauf, ein Geräusch, das existierte, seit es Bäume gab, ein. Der Stamm erinnerte an die Haut eines Elefanten, die Borke war grau und faltig aufgeworfen. Einige Äste reichten in dicken Biegungen bis zum Boden und ließen sich von der Erde stützen.

„Oh, der ist wirklich unglaublich dick! Und riesig!“, staunte Maria, als sie den Baum gemeinsam umrundeten.

„Lass uns über den Zaun steigen!“, forderte Yang sie auf. An einer Stelle waren Querlatten angebracht, die man wie eine Leiter benutzen konnte. Maria lehnte seine angebotene Hand ab. Langsam gingen sie durch das hohe Gras bis dicht an den Stamm und berührten die Rinde.

„Einige hundert Jahre steht er hier schon und wirkt trotz allem, was er gesehen hat, so stark und ruhig“, sagte Yang bewundernd. „Er hat sicher jede Menge zu erzählen und man kann viel von ihm lernen.“

„Ja, sogar für mich hat er was Beruhigendes und das will was heißen“, scherzte Maria und sagte nach einer Pause: „Ich komme mir klein vor, aber es fühlt sich gut an.“

„So geht es mir auch beim Klettern“, stimmte Yang zu. „Da ist gar nicht so viel Unterschied. Es ist schön, draußen zu klettern. Man klebt an der Wand und sieht alles ganz deutlich, alle Ritzen und Wölbungen. Es gibt kaum Spinnennetze“, fügte er wie zu Marias Beruhigung an. „Man hört die Geräusche der Natur, spürt, wie der Wind geht, fühlt sich dazugehörig. Ich werde dann ein Teil des Felsens, so komisch das klingt. Es ist eine Art Einssein. Man kann süchtig danach werden.“

Maria breitete die Arme aus, als wolle sie den Baum umarmen.

„Jaa, mein Guter!“ Sie schmiegte den Kopf an die Rinde, nicht ohne vorher auf Ameisen geachtet zu haben, und schloss die Augen. „Soo ein lieber Baum.“ Dann sagte sie: „Ich muss was für die Schülerzeitung schreiben. Nimmst du mich mit, wenn du mal draußen kletterst? Ich würde es auch gern versuchen.“

Yang konnte nicht verbergen, dass er sich freute.

„Guck doch mal, ein Falke!“ rief sie auf dem Rückweg begeistert und deutete mit ausgestrecktem Finger auf eine dicke Ringeltaube, die mit ihren typisch welligen Flugbögen über sie hinweg auf die andere Talseite flog.

Beeindruckt stand Maria vor den drei glatten, hoch aufragenden Wänden des Steinbruchs. Wie riesige Balgfalten einer Ziehharmonika erhoben sie sich senkrecht aus klarem Wasser, das unbewegt dalag wie ein Spiegel aus türkisfarbenem Glas.

„Was für ein toller Ort!“

„Nicht wahr?“, rief Yang vom geöffneten Kofferraum zu ihr herüber. „Und heute wirkt es besonders, weil gerade niemand außer uns da ist. Bestimmt wird es später noch voll hier.“

Maria wollte unbedingt vor dem Klettern das Gelände erkunden.

„Vielleicht kann man da hoch.“ Sie sah zur Abbruchkante hinauf. „Von oben muss es toll aussehen!“

„Weshalb, glaubst du, klettern die Leute hier?“, fragte Yang.

Mit den Worten „Durch Klettern komme ich da nie hin!“ war sie schon losgelaufen.

Er folgte ihr auf den steilen Trampelpfad, der sich seitlich des Steinbruchs nach oben schlängelte. Lose Steine und fehlende Wurzeln oder Sträucher, an denen man sich hätte festhalten können, erschwerten den Aufstieg und es dauerte eine Weile, bis sie sich nach oben gekämpft hatten. „Naturschutzgebiet“ stand auf dem Schild vor der weitläufigen Hochfläche, auf der sich blassgelbe Gräserrispen dicht an dicht wie ein Fell reihten.

„Puh!“ Eben noch schweratmend an das Schild gelehnt, begann Maria, die Arme locker um den Körper zu schlenkern und auf und ab zu hüpfen. Ihre schwarzen Haare wippten und glänzten im Sonnenlicht blau.

„Ich stelle fest, das war eine gute Aufwärmübung. Meine Arme und Beine wollen mehr davon und mein Kopf hat sich schon ein bisschen an die Höhe gewöhnt.“ Sie grinste gutgelaunt und kniff die mandelförmigen Augen zusammen. Yang stand im Gegenlicht und schien auf etwas zu hören.

„Ein Trommeln.“ Er deutete in die Richtung über den Bruch, dorthin, wo der Bereich welliger Abraumhügel in einen flachen, breiten Streifen Brachland überging, der an einen Kiefernwald grenzte. Maria stand still und lauschte. Dann nickte sie.

„Ich höre es auch.“

„Da treffen sich öfters Leute“, erklärte Yang. „Am Waldrand ist ein Lagerfeuerplatz.“