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June ist 16 und hätte am liebsten ein ganz normales Teenager-Leben – zur Schule gehen, Freunde treffen, Fastfood essen. Aber bei ihren Hippie-Eltern gibt es nur regional angebaute Lebensmittel, selbst gemachtes Deo und auf einer Highschool war June auch noch nie. Damit kann sie leben. Doch Junes Eltern sind auch absolute Impfgegner. Und als sie sich mit den Masern infiziert, steckt sie auch ein neugeborenes Baby an, das die Krankheit nicht überlebt. June sieht keine andere Möglichkeit mehr, als sich rechtlich von ihren Eltern freisprechen zu lassen, um sich endlich impfen lassen zu können. Eine dramatische Entscheidung!
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Stell dir vor, deine fehlende Impfung hat das Leben eines Menschen gekostet.
Wie weit würdest du gehen, damit das nicht noch mal passiert? Wärst du bereit, dein gesamtes Leben auf den Kopf zu stellen?
Juniper schon.
»Marisa Reinhardt does it again. A brilliant, sharp, evocative story of a girl fighting for control over her body. Complex and emotionally nuanced, just like Marisa’s other work. So timely and relevant and an absolute must-read.«
Goodreads Review
für Kai –
mögest du immer neugierig bleiben.
Mögest du immer auf der Suche nach deiner Wahrheit sein.
Und egal, wie weit du wanderst, mögest du immer wissen, wo dein Zuhause ist.
Als ich zur Tür hereinkomme, sitzen Poppy und Sequoia schon am Küchentisch. Mit aufgeschlagenen Schreibblöcken und gespitzten Bleistiften. Die Bücher neben sich auf dem Tisch. An der Tafel, die mein Vater an Schultagen immer für uns aufstellt, stehen drei Aufsatzthemen. Eins für Zweitklässler, eins für Sechstklässler und eins für mich.
Alles Fragen, die sich darum drehen, was wir diesen Sommer erlebt haben, was wir daraus gelernt haben und warum uns das zu besseren Menschen macht.
Ich ignoriere die Aufgabenstellung und nehme mir einen Teller aus dem Küchenschrank. Darauf häufe ich die letzten beiden Blaubeer-Haferpfannkuchen und kröne sie mit einem Klacks frisch geschlagener Sahne. Natürlich ohne Zucker – weil meine Eltern eben meine Eltern sind.
»Gleich am ersten Tag zu spät zu kommen, ist nicht gerade ein guter Start in das neue Schuljahr, Juniper«, kommentiert mein Vater.
»Die zwei Minuten.«
»Zu spät ist zu spät. Du solltest schon gegessen haben und um Punkt acht auf deinem Stuhl sitzen. Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder und deiner Schwester.«
Für ihn scheint diese Regel allerdings nicht zu gelten, denn mein Vater schiebt seinen eigenen Stuhl zurück und steht auf, um sich einen Becher Kaffee einzuschenken. Ich nehme mir ebenfalls einen Becher vom Abtropfbrett neben der Spüle und halte ihn ihm auffordernd hin. Er zieht die Augenbrauen hoch. Dann stellt er die dampfende Kanne zurück auf die Wärmeplatte der Kaffeemaschine. »Vergiss es. Du bist erst sechzehn.«
»Ist doch nur Kaffee.«
»Kaffee ist nur für Erwachsene.«
»Andere in meinem Alter hängen den ganzen Tag bei Starbucks ab. Das ist quasi ihr erstes eigenes Zuhause.«
»Junkies.«
»Oh, bitte. Die spritzen sich nicht Heroin, die trinken Frappuccinos.«
»Wie auch immer, das ist einfach lächerlich.«
»Und warum trinkst du dann Kaffee?«
»Ich trinke meinen Kaffee schwarz und nur eine Tasse am Tag.« Er hebt stolz seinen Becher, trinkt einen Schluck und stößt ein selbstgefälliges Ahh aus. »Schwarzer Kaffee ist voller Antioxidantien und beugt Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson vor. Aber wenn Jugendliche sich da Sahne, Zucker und Sirup reinschütten, geht die gute Wirkung verloren.«
Ich häufe mir noch einen Klacks Sahne auf meine Pfannkuchen.
»Nimm doch ein Glas O-Saft«, sagt Poppy lächelnd und mir fällt auf, dass ihre vier Vorderzähne viel zu groß für das Gesicht einer Elfjährigen sind. »Hab ich heute Morgen für Extrapunkte gepresst.«
»War ja klar.« Wer außer Poppy würde schon am ersten Schultag des Jade-Hausunterrichts versuchen, sich Extrapunkte zu verdienen? Meine kleine Schwester ist wirklich eine Schleimerin. »Wo ist Mom?«
»Hinten im Garten«, sagt Sequoia und klemmt den Bleistift zwischen Oberlippe und seine mit Sommersprossen übersäte Nase.
»Heute ist Markt, schon vergessen?«, sagt Poppy.
»Schön wär’s.«
Wenn es darum geht, dass meine Mutter jeden Montagmorgen damit verbringt, frisch gepflückte Rosmarin- und Thymianzweige und alle möglichen anderen Superkräuter zu kleinen Sträußen zusammenzubinden, um sie zusammen mit ätherischen Ölen auf dem Parkplatz am Strand zu verkaufen, kann ich nur schwerlich Begeisterung heucheln. Schließlich wurde ich dort an jedem einzelnen Montagnachmittag in diesem Sommer so dermaßen auf dem Asphalt gegrillt, dass mir der Schweiß in Strömen den Rücken runterlief. Und nur ein paar Meter hinter mir lockten die kühlen Wellen des Ozeans. Komm her, flüsterten sie mir zu, wenn ich verstohlen Grüppchen von Gleichaltrigen musterte, die ein viel aufregenderes Leben führten, als mit ihrer Mutter Kräuter auf dem Markt zu verkaufen. Sie trugen Surfboards, Board Shorts, Bikinis und Strandtaschen und breiteten ihre Handtücher wie Sonnenstrahlen in einem Kreis aus, sodass sie in der Mitte die Köpfe zusammenstecken, reden und lachen konnten, wie man es mit sechzehn eben so tut.
Klar hätte ich auch an den Strand gehen können, wenn ich gewollt hätte – meine Eltern bestehen darauf, dass wir mehr draußen lernen als drinnen –, aber ich konnte ja schlecht mein Handtuch zwischen diese Fremden an einem kalifornischen Strand legen. Schließlich waren wir nicht befreundet. Sie kannten mich nicht. Ich war neu in der Stadt und die Freunde, mit denen ich sonst am Strand abgehangen hätte, lebten sechs Stunden entfernt.
Als wir noch in Northern California wohnten, haben meine Eltern sich mit anderen Familien getroffen, die ihre Kinder auch zu Hause unterrichteten. Hin und wieder haben wir gemeinsame Schulausflüge unternommen. Ins Museum, zu einem Aquarium und ins Theater. Und immer war Sasha dabei. Es tat gut, der Freakshow zu entkommen, die darin bestand, mit einem halben Dutzend anderer Kinder eine Shakespeare-Aufführung im Park anzuschauen, während unsere Eltern Kurkuma-Rezepte austauschten. Da wir beide abends um elf Uhr zu Hause sein mussten, verbrachten Sasha und ich auch die meisten Wochenenden zusammen. Tagsüber gingen wir Kajak fahren, wandern oder ins Freibad, abends stöberten wir im Buchladen im Zentrum oder fuhren mit unseren Skateboards auf einem leeren Parkplatz am Strand herum. Unsere Freundschaft war leicht und unkompliziert. Sie war aus den Umständen geboren, unter denen wir lebten. Sasha war da. Ich war da. Doch sie verstand mich nie so, wie ich es mir von einer besten Freundin erhofft hatte. Zum einen gefiel es ihr, zu Hause unterrichtet zu werden. Im Gegensatz zu mir bettelte sie nicht ständig ihre Eltern an, sie auf eine staatliche Schule zu schicken. Sie hatte nicht dieses Gefühl, etwas zu verpassen.
Da ich kein Handy haben durfte, aus Gründen, die von Krebs bis hin zu Sehnenscheidenentzündungen reichten, blieb Sasha und mir nach meinem Umzug nichts anderes übrig, als per Brief in Kontakt zu bleiben. Den gesamten April und auch noch im Mai überwachte ich unseren Briefkasten wie die besorgte Ehefrau eines Soldaten im Zweiten Weltkrieg und wartete gebannt auf einen mit Glitzerstift beschriebenen Umschlag. Leider sind Teenager nicht sonderlich gut darin, ohne Handy in Kontakt zu bleiben, und so wurden die Briefe von Sasha mit Beginn des Sommers immer weniger. Aus einmal pro Woche wurde schließlich nie. Ich kann es ihr nicht verübeln. Immerhin hat sie ihr eigenes Leben. Aber ich vermisse es, jemanden zu kennen, der mutig genug wäre, am Strand zu der Gruppe Jugendlicher zu gehen, die sich auf ihren Handtüchern aalen. Sie würde ihnen einfach irgendwelche Fragen stellen, durch die wir beinahe normal und cool genug rüberkämen, um mit uns befreundet zu sein.
Jetzt, wo das neue Schuljahr begonnen hat, haben meine Eltern auch hier wieder Kontakt zu anderen Eltern aufgenommen, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, und ich hoffe sehr, auf gemeinsamen Wanderausflügen ein paar neue Freunde zu finden.
Bis dahin sehe ich den anderen eben von außen zu, wie sie ein Leben haben.
Wie zum Beispiel heute Morgen, als ich die Viertelstunde zwischen meinem Weckerklingeln und unserem Unterrichtsbeginn um acht damit verbracht habe, durch mein Zimmerfenster die knallgelben Schulbusse zu beobachten, die an der Haltestelle der Playa Bonita Highschool hielten und eine Horde Schüler auf den Gehsteig spuckten. Andere kamen mit dem Fahrrad oder ihren Skateboards angefahren. Die Älteren aus der Mittel- und Oberstufe fuhren in voll bepackten Autos mit zwei Freunden auf dem Beifahrersitz und drei auf der Rückbank vor. Da die Stadt selbst jetzt in der letzten Augustwoche immer noch vor Hitze ächzt, trugen alle kurze Hosen oder Sommerkleider.
Dass es ein heißer Tag werden würde, spürte ich an meinen feuchten Achseln und den Schweißrändern, die sich schon beim Aufwachen auf meinem Tanktop gebildet hatten. Wie jeden Morgen schmierte ich mir Deo aus dem halb leeren Einmachglas, das auf meiner Kommode steht, unter die Achseln. Es klumpt, klebt und hinterlässt weiße, ölige Rückstände auf meinen T-Shirts. Ich habe Mom gefragt, ob ich endlich mal ein richtiges Deo haben darf. Oder wenigstens irgendwas aus der Naturheilabteilung bei Whole Foods.
»Tapiokamehl und Kokosöl wirken mindestens genauso gut«, lautet stets ihre Antwort. Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt, denn wenn ich den unangenehmen Körpergeruch an meiner Mutter wahrnehmen kann, dann stinke ich sicher ganz genauso.
Die Mädchen auf der PBHS duften bestimmt nach Erdbeeren und Freiheit. Wetten, dass sie sich jeden Morgen mit den parfümierten Duschgels aus diesem einen Laden im Einkaufszentrum einseifen, der wie ein Obststand riecht? Und ich wette auch, dass meine Mutter mir die Parabenkonzentration von jeder einzelnen Flasche herunterleiern kann. Meine Eltern würden mir nie erlauben, in diesem Laden oder überhaupt irgendwo im Einkaufszentrum Geld auszugeben.
Und genau deshalb sitzen diese Mädchen auf der anderen Straßenseite in einem Klassenzimmer und ich hocke hier. Chemikalien, Toxine, Quecksilberrückstände und die schrumpfende Ozonschicht haben meine Eltern dazu veranlasst, die Realität hinter sich zu lassen und in ihrer eigenen Welt zu leben. Bei uns ist alles Bio: vom Deo über das Essen bis hin zu unserem Waschmittel und den Möbeln. Ungeheuer wichtig, ich weiß. Aber man kann es auch übertreiben. Wenn es um ihre Überzeugungen geht, sind meine Eltern absolut fanatisch.
»Bio ist keine neue Mode, sondern das, was schon immer da war«, pflegt meine Mutter stolz zu sagen. »Wir besinnen uns auf eine ursprüngliche Lebensweise.«
Sie lebt in einer rosaroten Version der Geschichte, was auch dazu geführt hat, dass meine Schwester, mein Bruder und ich nicht geimpft sind. Deshalb dürfen wir in Kalifornien keine staatlichen Schulen besuchen. Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Als wir hergezogen sind, dachte ich, das könnte meine Chance sein. Schließlich lag die Schule direkt auf der anderen Straßenseite. Ich würde das Haus praktisch nicht verlassen. Ich bat und bettelte. Aber dank der strengen Impfvorschriften in Kalifornien sowie der Tatsache, dass meine Eltern der Ansicht sind, Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, lernen für ihr Leben gern und beten nicht einfach nur auswendig gelernte Prüfungsfragen herunter, fiel ihnen die Antwort leicht: »Wir entscheiden, was in die Körper und in die Köpfe unserer Kinder kommt.« Und darum sitze ich jetzt hier am Küchentisch und stopfe mir diese ekligen Pfannkuchen in den Mund, während ich gleichzeitig herauszufinden versuche, ob mich der Verkauf von Kräuterbündeln und ätherischen Ölen in diesem Sommer zu einem besseren Menschen gemacht hat.
Meine Vermutung: nein.
Fairerweise muss man dazu sagen, dass ich natürlich auch noch andere Dinge gemacht habe. Da war zum Beispiel die Wanderung durch den Yosemite-Nationalpark mit einem Rucksack auf dem Rücken, der fast so viel wog wie Poppy.
Und die achtstündige Zugfahrt nach Sacramento, wo ich Anfang des Monats für ganze drei Wochen meine Großeltern Mimi und Bumpa besucht habe – der Spitzname ist geblieben, seit ich als Kleinkind daran gescheitert bin, Grandpa auszusprechen. Es war das erste Mal, dass ich ganz allein gefahren bin, und es war so schön, dass ich es jederzeit wieder tun würde. Aber dazu müsste Mimi noch mal eine Hüft-OP haben, und das will ich natürlich nicht.
Einen Großteil des Sommers habe ich damit verbracht, davon zu träumen, dass mich endlich ein Junge küsst. Aber das kann ich natürlich auf keinen Fall aufschreiben und meinem Vater zum Korrigieren und Benoten geben. Stattdessen behalte ich die Uhr im Blick und zähle die Minuten bis zum Mittag, in die wir in unserer kleinen Küche einen ganzen Schultag mit mehreren Fächern quetschen. Aber sind diese vier Stunden endlich vorbei, dann gehört der Tag mir. Das ist immer der Moment, in dem mein Vater irgendeinen blöden Spruch rauslässt wie: »Fliegt aus, meine Vögelchen!« Und wir streunen in alle Himmelsrichtungen davon. Solange es nur darum geht, wohin wir unsere Körper bewegen, und nicht, was wir in sie hineintun, sind meine Eltern nämlich sehr für eine liberale Erziehung. Die freien Nachmittage ermöglichen es meinem Vater außerdem, seine Arbeit als Freiberufler von zu Hause aus zu erledigen.
Poppy zieht sich meistens bloß in die Welt ihrer Bücher zurück. Und Sequoia verschwindet im Garten, um imaginäre Drachen zu erlegen, wie man das als Siebenjähriger eben so tut.
Und ich?
Ich kann das Haus gar nicht schnell genug verlassen. Wohin auch immer.
Ich fahre zum Beispiel mit meinem Skateboard zur Bücherei, um im Internet die Teen Vogue zu lesen. Schließlich muss ich auf dem Laufenden bleiben, was in der Welt so los ist. Oder ich skate zum Strand und springe ins Meer.
Auf der anderen Straßenseite läutet die Glocke zum ersten Mal um Viertel nach acht. Ihr Gong zieht durch unsere viel zu warme Küche, hallt von den Arbeitsflächen und der wackeligen Tafel in unserem behelfsmäßigen Klassenzimmer wider und erinnert mich daran, wie anders es da drüben doch ist.
Die Klassenzimmer auf der anderen Straßenseite sind wahrscheinlich klimatisiert.
Und die Schüler haben nicht ihre kleinen Geschwister als Klassenkameraden.
Und sie werden in der ersten Stunde nicht von ihrem Vater unterrichtet, der sich mit seinem Man Bun und seinem Bart als Woodstock-Nachfolger sieht.
Es gab da nämlich zwei Woodstocks: das echte und das, auf dem meine Eltern waren. Das große Festival, das die ganze Welt vor Augen hat, wenn sie Woodstock hört, fand 1969 statt. Summer of Love, Jimi Hendrix hat die Nationalhymne mit seinen eigenen Riffs verfremdet und überall wurde davor gewarnt, braunes LSD zu nehmen. Aber dann gab es da noch ein anderes Woodstock. Im Jahr 1994. Mit viel Matsch und Regen, einer improvisierten Wasserrutsche und einem Auftritt von Green Day. Dahin sind meine Eltern gefahren. Zum Möchtegern-Woodstock. Und jetzt behaupten sie uns Kindern gegenüber, ihre Musik sei die beste überhaupt, und deshalb kennen wir die Lieder in- und auswendig.
Und weil sie verliebt und davon überzeugt waren, dass sie einander als zwei Einzelkinder auf eine Weise verstanden wie niemand je zuvor, heirateten sie ein paar Jahre später.
Anstatt dass meine Mom den Nachnamen meines Vaters annahm und sie sich den gesellschaftlichen Normen beugten, legten sich die beiden einen vollkommen neuen Nachnamen zu. Jade. Und zwar nur deshalb, weil mein Vater mit einem Jadestein statt einem Diamanten um die Hand meiner Mutter angehalten hat.
Ich mag meine Mutter und meinen Vater mit all ihren Macken. Ehrlich. Aber manchmal wäre ich trotzdem gern wie alle anderen. Ich wünschte, ich könnte das in meinem Aufsatz schreiben, aber damit würde ich meinen Vater nur verärgern. Er sagt immer, ich muss nicht nur lernen, für die Dinge dankbar zu sein, die ich habe, sondern auch für die, die ich nicht habe.
Als meine Mutter zur Tür hereinkommt, schreiben Poppy und Sequoia mit eifrig gebeugten Köpfen weiter an ihrem Aufsatz über die Sommerferien. Sie hält einen abgegriffenen Pappkarton voller Kräuter in den schmutzigen Händen und schiebt ihn auf die Theke, um mit der frei gewordenen Hand nach dem Saum ihres weiten Blumenshirts zu greifen und sich damit den Schweiß von der Stirn zu wischen.
»Ich wünsche euch einen schönen ersten Schultag«, sagt sie, sobald ihr Gesicht wieder zu sehen ist.
Mein Vater wirft ihr einen mahnenden Blick zu, der besagt, dass er gerade im Lehrermodus ist und nicht gestört werden möchte.
Ich zucke mit den Achseln und werfe ihr einen Blick zu, der besagt, dass das hier nicht wirklich aussieht wie eine Schule, aber angeblich eine sein soll.
»Wie läuft es mit den Kräutern?«, frage ich und mein Vater wirft mir den gleichen empörten Blick zu, mit dem er schon meine Mutter bedacht hat.
»Ruhe«, verlangt Poppy. »Ich muss mich konzentrieren.«
Meine Mutter schnappt sich den Pappkarton und bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Dabei wiegen sich ihre dunklen, mit grauen Strähnen durchzogenen Wellen. Färben kommt für sie nicht infrage, seit sie irgendwo gelesen hat, dass das angeblich krebserregend ist.
Mein Vater seufzt. Er hält unseren Stundenplan immer akribisch ein, schließlich muss er danach noch arbeiten. »Sie hat gerade Unterricht, Melinda.«
»Ach, du«, sagt meine Mom und gibt ihm einen spielerischen Klaps auf den Arm.
»Ich mein’s ernst«, sagt Poppy. »Seid jetzt mal still.«
Ich ziehe den letzten Bissen Pfannkuchen durch den letzten Klecks Sahne, stehe kauend auf und folge meiner Mutter ins Wohnzimmer. Mein Blick fällt auf das offene Fenster, wo unsere schäbigen Vorhänge fröhlich im Wind flattern. Als meine andere Großmutter – die Mutter meiner Mom – gestorben ist und wir das Haus geerbt haben, in dem meine Mutter aufgewachsen, hat mein Vater seine Festanstellung als Lektor gekündigt, um freiberuflich weiterzuarbeiten und Mom bei unserem Unterricht zu unterstützen. Unser Haus hätte in den Ecken dringend mal einen Putzlappen nötig und es könnte auch nicht schaden, aus den Regalen ein bisschen was von dem alten Krimskrams auszusortieren, aber meine Eltern sind froh, nicht mehr zur Miete zu wohnen, sondern ihr eigenes Haus zu haben, wo sie Gemüse anbauen, Kräuter verkaufen und ihren Kindern in der Küche Mathe beibringen können.
Vor dem Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind die Schulbusse inzwischen wieder weg. Die Schüler sind längst im Gebäude verschwunden und sitzen dort an langen Tischreihen, wo sie sich auf eine Art von ihren Sommerferien erzählen, wie ich es nicht kann. Wahrscheinlich scrollen sie durch ihre Handys und schmieden Pläne für das Feiertagswochenende am Tag der Arbeit, auch wenn es noch fünf Tage hin ist.
»Du hilfst mir doch heute, oder? Auf dem Markt?«, fragt meine Mutter.
Widerstrebend löse ich den Blick von der Schule und sehe sie an. Ich habe ihr den ganzen Juni und Juli über beim Verkauf geholfen, aber dann bin ich nach Sacramento gefahren. Und heute hat die Schule wieder angefangen. »Ich dachte, das wäre nur so ein Sommerding.«
»Nein, es ist ein Jobding.«
»Das ist aber kein richtiger Job.«
»An dem Job gibt es nichts auszusetzen.«
Vorsichtig löst sie ein paar Kräuterbüschel aus dem Pappkarton und legt sie in Bündeln auf den mit Zeitungen bedeckten Kaffeetisch.
»Jedenfalls ist es nicht die Art von Job, die mich interessiert.« Seit ich alt genug bin, um neben der Schule zu arbeiten, wünsche ich mir einen Job, den Jugendliche zusammen mit anderen Jugendlichen machen. Zum Beispiel bei Yogurtorium im Stadtzentrum Frozen-Joghurt-Becher, beladen mit fruktosehaltigen Toppings, in die Kasse eintippen. Oder den Gästen in irgendeinem schicken Hotel, wo manchmal Promis übernachten, flauschige, gestreifte Handtücher an den Pool bringen. Oder Fahrräder an sonnenverbrannte Touristenfamilien am Strand verleihen. »Schlimm genug, dass ich nicht auf eine richtige Schule gehen darf. Kann ich dann nicht wenigstens einen richtigen Job haben?«
»Jetzt reicht es mir aber, June. Warum musst du immer herumnörgeln?«
»Was hat das mit nörgeln zu tun? Ich will ja nur einen ganz normalen Job mit Gleichaltrigen. Das nennt man übrigens Leben. Viele Jugendliche in meinem Alter gehen arbeiten. Wenn ich einen Job hätte, würde ich vielleicht auch mal ein paar Leute kennenlernen.«
»Eins nach dem anderen. Setz dich erst mal hin und hilf mir mit den Kräutern.«
Resigniert lasse ich mich auf die verschlissenen grünen Samtkissen unseres Sofas plumpsen, nehme mir Schnur und Schere aus dem Karton und fange an zu schnippeln.
Der Wochenmarkt von Playa Bonita ist eine fröhliche Mischung aus Hippies und Bonzen. Wir stehen schon seit einer Stunde dort, und weil Mom den Sonnenschirm für unseren Stand zu Hause vergessen hat, verbrenne ich langsam, aber sicher in der heißen Nachmittagssonne. An meinem Haaransatz haben sich Schweißtropfen gesammelt, die ich verstohlen mit dem Handrücken abwische, während ich einer Kundin das Wechselgeld für ein Bündel Rosmarin gebe. Scheinbar macht die Hitze meinem Gehirn schwer zu schaffen, denn ich brauche drei Anläufe, bis ich den richtigen Betrag abgezählt habe.
Als ich fertig bin, nimmt meine Mutter einen Zehndollarschein aus ihrer Schürze und drückt ihn mir in die Hand. »Tust du mir einen Gefallen und holst mir Tomaten vom Gemüsestand? Heute Abend gibt es Spaghetti mit Tomatensoße.«
Erleichtert springe ich auf, löse die Schleife meiner Schürze und stopfe mir das Geld in die Hosentasche. Während ich meinen Weg durch die Menge bahne, stoße ich gegen Kinderwagen und dränge mich an den Warteschlangen vor den Ständen vorbei.
Das handbemalte Schild des Bio-Gemüsestandes ist zwischen den professionell gedruckten Bannern der anderen Stände leicht auszumachen. Heute arbeitet Mary. Darüber bin ich froh, denn sie kennt jede Menge Tratsch und ist weitaus unterhaltsamer als ihr Mann, der sein graues Haar immer in einem langen, dünnen Pferdeschwanz trägt und davon erzählt, wie er den Grateful Dead in den Siebzigern quer durchs Land gefolgt ist. Marys Geplauder ist mir wesentlich lieber als die langweiligen Konzertgeschichten. Die beiden sind Hippies aus der ersten Generation. Weite Röcke, Birkenstocks, gehäkelte Westen aus Makramee. Keine Möchtegern-Woodstocks wie meine Eltern. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum meine Mom sich von Anfang an zu Mary hingezogen gefühlt hat. Zum Glück war Mary so nett, sie unter ihre Fittiche zu nehmen und dafür zu sorgen, dass wir uns mit unserem kleinen Stand auf dem Markt wohlfühlen.
»Juniper Jade!«, begrüßt sie mich. »Was darf es denn heute sein, Schätzchen? Erdbeeren? Avocados?« Dann beugt sie sich vor und stößt mir verschwörerisch den Ellbogen in die Seite. »Oder vielleicht was Exotischeres?«
»Ich bin immer auf der Suche nach was Exotischerem als dem hier, das kannst du mir glauben.« Ich werfe einen Blick über die Schulter auf den gut besuchten Markt. »Aber heute bitte nur ein paar Tomaten. Für Moms Spaghetti.«
»Die gesündesten Spaghetti der Stadt.«
»Ja, das hab ich auch schon mal gehört.« Meine Mutter macht ihre Spaghetti aus Zucchini-Spiralen.
»Na dann, greif zu. Du kennst dich ja aus.«
Ich wühle mich durch die Tomatenkiste, indem ich prüfend eine runde Frucht nach der anderen betaste, um die reifsten und schönsten zu finden. Mary wendet sich währenddessen einer neuen Kundin zu, einer Mutter mit Baby, das sie sich in einem blassgelben Wickeltuch mit Marienkäfern drauf eng auf die Brust gebunden hat.
»Da ist sie ja endlich!« Mary klatscht vor Freude in die Hände und streckt ihren Körper über die Pfirsichkiste, um einen besseren Blick zu erhaschen.
Ich hebe den Kopf und mein Blick fällt auf das rosige, zerknautschte Gesichtchen des Babys. Es hat eine kleine weiße Schleife im fast nicht vorhandenen Haar. Es sieht ein wenig lächerlich aus und es tut mir leid, weil es noch zu klein und frisch auf der Welt ist, um sich dagegen zu wehren.
Die Frau beugt sich vor, damit Mary unter die Bahnen ihres Wickeltuches linsen kann. »Vier Wochen ist sie jetzt.«
»Ach, du meine Güte!«, ruft Mary aus. »Und da bist du schon mit ihr auf den Beinen. Was für eine Supermutter!«
»Das ist unser erster Ausflug. Mein Mann geht seit heute wieder arbeiten und mir fällt langsam die Decke auf den Kopf.«
Stillschweigend, um Marys Plauderei nicht zu stören, packe ich meine Tomaten in einen Beutel.
Eine weitere Frau kommt hinzu. Sie sticht aus der Menge heraus, weil sie einen für diesen Ort viel zu schicken, marineblauen Anzug trägt. Mary grüßt sie freundlich, doch sie antwortet ihr mit einem gequälten Lächeln, so als wäre sie körperlich gar nicht in der Lage für solch banale Nettigkeiten, wo sie doch wichtige Anrufe zu tätigen und an großen Konferenzen teilzunehmen hat. Doch als sie zu den Pfirsichen tritt, mildere ich mein Urteil. Sie trägt Flip-Flops. Anzug und Flip-Flops. Das macht sie mir direkt sympathischer. Sie kauft einen Pfirsich, beißt sofort hinein und eilt davon.
Ich wische mir über die Stirn. Selbst hier im Schatten schwitze ich. Der Schweiß sammelt sich auf meiner Oberlippe und hinter meinen Ohren. Ich wickle mein Haar zu einem Knoten auf, doch die frische Luft in meinem Nacken kühlt nicht so sehr, wie ich es gern hätte. Und da ich nichts dabeihabe, um meine Haare hochzubinden, fallen sie sofort wieder runter. Neidisch stelle ich fest, dass Mary weitaus weniger schwitzt als ich, denn ihr Stand liegt den ganzen Nachmittag im Schatten.
Die Frau mit dem Baby sieht mich an und lächelt.
Ich hebe den Beutel mit Tomaten in die Höhe und gebe Mary das Geld.
»Das ist übrigens Juniper Jade«, sagt Mary, während sie mein Wechselgeld abzählt. »Falls du jemals einen Babysitter brauchst, bist du bei ihr an der richtigen Adresse. Sie hat selbst zwei Kleine in der Familie und ich muss sagen, sie ist ein Naturtalent.«
Poppy und Sequoia kann man nicht mehr wirklich als klein bezeichnen, aber da mir jede Hilfe von Mary, um an einen normalen Job zu gelangen, überaus willkommen ist, nicke ich eifrig.
»Oh, danke«, sagt die Frau zu mir. »Im Moment kann ich mir noch nicht vorstellen, sie jemals allein zu lassen. Die Hormone, verstehst du. Aber wie finde ich dich, wenn wir so weit sind?«
»Ich bin jeden Montag da drüben beim Kräuterstand.«
»Oh, ich liebe diesen Stand!«
Ich lächle und schiebe das Wechselgeld in meine Hosentasche. »Danke. Das freut mich.« Das Baby bewegt sich und jammert leise. »Wie heißt sie?«
»Katherine. Genannt Kat. Mit K. Wenn sie sich in der Sonne rekelt, sieht sie wirklich aus wie ein Kätzchen, deshalb der Spitzname.« Lächelnd blickt sie auf ihr Baby hinunter. »Stimmt’s?«
»Sie ist wirklich süß.«
Kat windet sich und innerhalb von fünf Sekunden steigert sich ihr leises Gejammer zu einem ausgewachsenen, gesichtsverzerrenden Wutgeschrei.
»Oh, Mist.« Die Frau schaukelt ihr Kind genau wie Mom früher Sequoia. Als fanatische Anhängerin einer bindungsorientierten Erziehung hat sie ihn quasi Tag und Nacht mit sich herumgeschleppt. »Ich glaube, sie hat Hunger.« Panisch huscht ihr Blick über den Markt. Das hier ist ein Parkplatz. Keine Sitzmöglichkeiten. Keine Bänke oder Tische.
»Ich dulde keine hungrigen Babys an meinem Stand. Setz dich.« Mary zeigt auf den Klappstuhl in einer schattigen Ecke hinter sich.
Die Frau bläst sich den Pony aus dem Gesicht. »Oh, danke, Mary. Ich hab den Bogen noch nicht so ganz raus.«
Während sie versucht, ihre vielen Taschen zu schultern und gleichzeitig ihr schreiendes Baby aus dem Wickeltuch zu befreien, dreht sie sich nervös im Kreis. Ich komme ihr zu Hilfe, indem ich ihr die Wickeltasche und einen Leinenbeutel voller Obst abnehme. Als sie auf dem Stuhl Platz genommen hat, bücke ich mich, um die Taschen neben dem Stuhl abzustellen. Das Baby streckt die Hand aus, und bevor ich michs versehe, hat sie eine meiner langen braunen Locken mit ihrer kleinen Faust gepackt.
»Oh nein!«, sagt die Frau. »Ups!«
»Ist schon okay.« Ich versuche, die kleinen Fingerchen zu lösen, doch dabei grapscht die Kleine stattdessen mit erstaunlicher Kraft für ein Neugeborenes nach meinem Zeigefinger. Gutmütig lasse ich sie ein letztes Mal daran ziehen, bevor ich meinen Finger vorsichtig aus ihrer winzigen Faust befreie. Sofort stopft sie sich die Faust in den kleinen Mund. »Schön, Sie kennenzulernen. Und falls Sie mal einen Babysitter brauchen, denken Sie an den Kräuterstand. Immer montags.«
»Danke. Ich komme bestimmt auf dich zurück.« Sie hat sich schon im Stuhl zurückgelehnt und schiebt ihr T-Shirt hoch, um das Baby zu stillen. Augenblicklich beruhigt sich Kat und Erleichterung macht sich auf dem Gesicht der Frau breit.
»Grüß deine Mutter von mir«, ruft Mary mir hinterher, bevor ich in der Menge verschwinde.
»Mach ich!«
Ich gehe zurück an unseren Stand, lasse die Tomaten neben Moms recycelbare, BPA-freie Wasserflasche plumpsen und binde mir wieder eine Schürze um.
Mom sieht mich prüfend an und fühlt mit dem Handrücken meine Wange. »Alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus. Ganz rot im Gesicht und deine Wangen sind heiß.«
»Liegt bestimmt an der Sonne«, entgegne ich. »Es ist brüllend heiß heute.«
Das Kratzen in meinem Hals erwähne ich lieber nicht. Kommt wahrscheinlich nur vom Durst.
Als wir um fünf Uhr nach Hause kommen und ich aus unserem alten Van steige, den Dad auf Pflanzenölkraftstoff umgestellt und Bessie getauft hat, stürzt Sequoia mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Geistesgegenwärtig reiße ich den Beutel Tomaten in die Höhe, damit sie nicht an meiner Brust zerquetscht werden.
»Hey, pass doch auf.«
»Iih. Du bist ja ganz verschwitzt«, sagt er und weicht angeekelt zurück.
»Das war eine Affenhitze da draußen und wir hatten den Sonnenschirm vergessen. Sei froh, dass du hier im Schatten bei der Limo bleiben durftest.«
»Puh.« Erleichtert wischt er sich über die Stirn und hüpft vor meiner Mom und mir her ins Haus.
»Wo ist Poppy?«, fragt meine Mutter.
»Hinten im Garten. Macht irgendwas für Bio.«
»Und Daddy?«
»Er war heute früher mit der Arbeit fertig und liest einen neuen Krimi. Dö dö döönnn.«
Das hat er von unserem Dad. Er sagt immer: »Ich bin drüben im Wohnzimmer und lese einen Krimi. Dö dö döönnn.« Und dann sollen wir immer lachen, als hätten wir den Witz noch nie gehört.
Meine Mutter fährt Sequoia durch den zerzausten Haarschopf. »Tja, dann bist du wohl an der Reihe, mir bei der Tomatensoße zu helfen.«
»Au ja!« Sequoia reckt triumphierend die Faust in die Luft.
Ich gebe ein trockenes Husten von mir und meine Mutter dreht sich prüfend zu mir um. Sie zieht die Augenbrauen zusammen und fühlt mit der Hand meine Stirn. Danach ist ihre Hand nass vor Schweiß.
»Du wirst krank, June. Ich würde vorschlagen, du ruhst dich aus, und wenn Poppy mit ihrem Projekt fertig ist, bringt sie dir einen Tee mit Honig.«
»Okay.« Ich habe zwar keine Lust, krank zu sein, muss aber zugeben, dass ich mich wirklich nicht gut fühle. Vielleicht brauche ich einfach nur ein kleines Schläfchen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Da mir die helle Sonne in meinem Zimmer die Tränen in die Augen treibt, lasse ich die Rollläden herunter. Die Schule ist aus, also gibt es da draußen sowieso nichts Interessantes mehr zu sehen. Ich schalte den Deckenventilator ein, werfe meine Sandalen in eine Ecke und lasse mich aufs Bett fallen. Ohne das Sonnenlicht ist es dunkel in meinem Zimmer und der Wind des Ventilators kühlt meine erhitzte Haut. Ich vergrabe mich unter der Decke und schließe die Augen. Jetzt erst spüre ich, wie sehr mein ganzer Körper schmerzt. Als wäre ich mit blauen Flecken übersät und hätte überall Muskelkater. Eingewickelt in die Patchworkdecke, die meine Mom mir vorletztes Jahr zu Weihnachten genäht hat, kuschele ich mich tiefer in mein gemütliches Bett. Bald gleite ich in unruhige Träume ab.
Träume über Jungs, Strand und Sonne.
Sommermusik.
Meeresbrandung …
Urplötzlich fahre ich unsanft aus dem Schlaf und starre in Poppys Gesicht, die sich wie eine Axtmörderin über mich beugt. Sie hat das Licht eingeschaltet und mein Zimmer ist wieder viel zu hell.
»Tee«, sagt sie und wuchtet mir einen derart riesigen Becher entgegen, dass sie ihn mit beiden Händen halten muss. »Mit frischem Orangenblütenhonig.«
»Danke.« Ich setze mich auf, stopfe mir ein Kissen in den Rücken und nehme den Tee entgegen. Der erste Schluck läuft angenehm meinen kratzigen Hals hinunter.
»Deine Augen sind ganz rot«, sagt Poppy kritisch.
»Kein Scherz, Nancy Drew. Ich bin ja auch krank.«
»Nein, im Ernst. Knallrot. Echt unheimlich. Und total verklebt.« Sie schaudert.
»Okay. Du kannst wieder gehen.«
»Ich soll dir von Mom sagen, dass es in einer Stunde Essen gibt.«
Ich öffne den Mund, um Danke zu sagen, doch in dem Moment wird mein Körper von einem Hustenanfall geschüttelt. Heißer Tee schwappt über und hinterlässt feuchte Flecken auf meinem T-Shirt. Bevor ich alles verschütte, nimmt Poppy mir schnell den Becher ab und stellt ihn auf den Nachttisch.
»Das klingt übel«, stellt sie fest. »Bist du besessen oder so was?«
»Kannst du bitte wieder gehen? Ich will einfach nur schlafen.«
Es ist ein Wunder, aber Poppy macht tatsächlich das Licht aus und ich habe wieder meine Ruhe. Erleichtert drehe ich mich auf die Seite, ziehe die Knie an und stecke meine Arme unter die Decke, weil mir wieder kalt ist.
Außerdem bin ich klatschnass.
Ein Häufchen Elend.
Irgendwas stimmt nicht, aber ich bin zu erschöpft, um mir darüber Gedanken zu machen.
Ich starre auf einen roten Punkt.
Er funkelt mir aus unserem Spiegel entgegen, vor dem ich mich am Waschbeckenrand festklammere, um aufrecht stehen zu können. Heute ist Freitag. Mittlerweile bin ich seit vier Tagen krank. Meine Mutter hat entschieden, dass ich eine Grippe habe, mit der mein Körper allein fertigwird. Sie hat regelmäßig Fieber gemessen, mich mit jeder Menge Kräutertinkturen versorgt und besteht unerbittlich darauf, dass ich viel schlafe und trinke. Ich bin so kraftlos, dass ich es kaum noch bis zum Badezimmer schaffe, doch jetzt musste ich so dringend pinkeln, dass ich den Weg auf mich genommen habe.
Der Punkt sitzt an meinem Haaransatz über meiner linken Augenbraue. Zunächst halte ich ihn für einen Pickel. Aber dann entdecke ich noch einen, direkt neben meinem rechten Ohr. Und noch zwei darüber. Ich ziehe mein Shirt hinunter und sehe, dass sich in meinem Ausschnitt noch mehr verbergen.
»Mom!«
Poppy, die gerade an der halb geöffneten Badezimmertür vorbeikommt, macht auf dem Absatz kehrt und stößt sie weit auf.
»Wow«, sagt sie und betrachtet fasziniert mein Gesicht.
»Wo ist Mom?«
»Küche.«
»Hol sie mal.«
Poppy rast den Flur entlang und die Treppe nach unten. Das dumpfe Trappeln ihrer Schritte hallt bis zu mir ins Badezimmer. Ich bin ziemlich beeindruckt, wie anstandslos sie mir gehorcht hat. Und dann steht Mom in der Tür und starrt mich aus dem Spiegel an.
»Jucken die?«, fragt sie. »Oder brennen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht.«
Sie drückt mit dem Zeigefinger auf einen der roten Punkte. Als sie loslässt, wird die Haut erst blass und dann wieder rot.
»Wahrscheinlich einfach nur ein harmloser Ausschlag. Du warst ziemlich krank.« Sie hebt mein T-Shirt hoch und betrachtet meinen Rücken. »Hier hinten hast du auch ein paar.« Sie fährt am Hosenbund meines Pyjamas entlang, um meinen unteren Rücken zu inspizieren.
»Sieht aber komisch aus.«
»Vielleicht finde ich jemanden, der dich heute noch untersuchen kann.« Meine Mutter hat bisher noch keinen Hausarzt für Poppy, Sequoia und mich gefunden. Die meisten Ärzte weigern sich, nicht geimpfte Patienten aufzunehmen.
»Im Zweifel gibt es ja immer noch die Notfallambulanz. Aber lass uns erst mal abwarten. Vielleicht gehen sie ja von allein weg.«
Schön wär’s. Ein paar Stunden später haben sich die Punkte vermehrt.
Sie haben sich entlang meines Haaransatzes und um die Ohren herum ausgebreitet. Inzwischen bedecken sie mein gesamtes Gesicht und reichen bis hinunter zum Ausschnitt. Von dort aus sind sie über meinen gesamten Körper bis hin zu meinen Füßen verstreut, verschmelzen miteinander und färben mich scharlachrot.
»So was habe ich ja noch nie gesehen«, sagt mein Vater, während er staunend meinen Rücken betrachtet.
»Ich auch nicht«, erwidert Mom. »Meinst du, es ist eine allergische Reaktion?«
»Könnte ich mir vorstellen, wenn sie nicht so krank wäre. Du hast nicht zufällig was aus dem Supermarkt oder irgendwas industriell Verarbeitetes gegessen, Junebug?«
Ich schüttle den Kopf.
Meine Mutter steckt mich in ein Backpulver-Bad und reibt danach mit einem cremigen Haferflockengemisch meinen ganzen Körper ein. Nichts hilft. Um fünf Uhr bin ich ein wandelnder Krebs.
»Sie muss untersucht werden«, sagt meine Mutter schließlich. »Ich kann sie besser behandeln, wenn ich weiß, was es ist.«
»Ja, das scheint mir auch am vernünftigsten«, stimmt mein Vater zu.
Und so klettern Mom und ich eine Stunde später in Bessie und fahren zur Praxis der Notfallambulanz neben dem großen Supermarkt. Ich trage immer noch meine Pyjamahose und einen Kapuzenpulli, weil ich nicht die Energie hatte, mich umzuziehen.
Der Parkplatz ist voll, weshalb wir ganz hinten parken müssen. Der Weg zur Praxis kommt mir vor wie eine halbe Weltreise und ich muss mich auf Mom stützen, um ihn hinter mich zu bringen.
»Halte durch«, sagt sie.
Im Wartezimmer sitzen ein paar Kinder mit Rotznasen neben ihren Eltern, eine Frau Mitte dreißig, die immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt wird, und ein Typ Anfang zwanzig in Fußballtrikot, der sich das Knie mit einem Eisbeutel kühlt.
Meine Mutter meldet mich an, reicht meine Versichertenkarte über den Tresen und zahlt in bar. Währenddessen lasse ich mich auf einen Stuhl fallen und ziehe mir die Kapuze über den Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragt Mom, als sie sich auf den Stuhl neben mich setzt.
Ich bringe nur ein Grunzen und ein Achselzucken zustande.
»Keine Sorge, wir gehen der Sache jetzt auf den Grund. Das wird schon wieder.«
Nach uns tritt eine ältere Frau an die Anmeldung und nimmt dann direkt gegenüber von mir Platz. Ich kenne sie vom Wochenmarkt. Sie hat dort Gemüse und Blumen gekauft und ich habe mir ihr Gesicht gemerkt, weil sie mich ein bisschen an meine Großmutter Mimi erinnert. So adrett. Nur strenger, mit diesem hochgezurrten Dutt, bei dem mir schon beim Zusehen die Kopfhaut schmerzt. Als ihr Blick auf mich fällt, zuckt sie zusammen. Dann sieht sie erneut hin. Mustert mich. Ich ziehe an den Bändern meines Kapuzenpullis, um mein Gesicht zu verbergen und mich vor dem Licht der grellen Deckenlampen zu schützen, das mir in den Augen brennt.
Als ich schließlich aufgerufen werde, kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Meine Mutter und ich durchqueren das Wartezimmer und laufen einen Flur entlang, von dem fünf Türen in die verschiedenen Behandlungsräume abgehen. An einer Station im Flur misst eine Arzthelferin meinen Puls, gluckst über mein hohes Fieber und führt mich dann in einen Behandlungsraum von der Größe meines Kleiderschranks. Ich ziehe meinen Pulli aus, damit der Arzt meinen Ausschlag begutachten kann, und bin froh, darunter noch ein T-Shirt zu tragen. Der Doktor, der mit gesenktem Kopf den Flur entlang geht, könnte gut die Rolle des Arztes in einer von Mimis Seifenopern übernehmen, statt hier die Leute zu untersuchen. Er ist jung, hat dichtes schwarzes Haar und viel zu markante Wangenknochen für einen echten Arzt.
Als er schließlich meinen Behandlungsraum betritt, sieht er mich etwa für eine halbe Sekunde an und sagt: »Oh, oh. Du hast die Masern. Das geht nicht. Los, aufstehen. Raus. Hier kannst du nicht bleiben.«
»Was?« Meine Mutter klingt völlig geschockt. Ihre Stimme ist seltsam hoch. »Das ist nur ein Ausschlag. Die Masern kann sie gar nicht haben.«
»Das sind eindeutig die Masern.«
»Wie kann das sein? Die Masern gibt es doch gar nicht mehr.«
»Stimmt nicht«, entgegnet er. »Ist sie dagegen immun? Hat sie die MMR-Impfung bekommen?«
»Nun.« Nervös fingert sie an dem breiten Riemen ihrer Recyclinghandtasche herum. »Nicht direkt.«
»Was soll das heißen?«
»Sie ist nicht geimpft.«
»Gar nicht?«
»Das ist richtig.«
»Warum nicht? Hat sie besondere gesundheitliche Einschränkungen?«
»Ich muss mich vor Ihnen nicht rechtfertigen, warum ich mein Kind nicht habe impfen lassen.«
»Tja, sagen Sie das ihr.« Er zeigt mit Klemmbrett auf mich. »Schließlich ist sie diejenige, die hier mit den Masern sitzt. Sorgen Sie dafür, dass sie eine ordentliche medizinische Versorgung erhält, denn ich bin hier für einen solchen Fall nicht ausgestattet.«
»Aber … aber …« So aufgeregt habe ich Mom noch nie erlebt.
Abrupt wendet der Arzt sich an mich. »Du musst gehen. Ich kann nicht zulassen, dass du in meiner Praxis die Masern verbreitest. Hier kommen Säuglinge mit einem schwachen Immunsystem her. Patienten, die eine Chemotherapie erhalten und Komplikationen haben. Ich kann sie dieser Gefahr nicht aussetzen.«
»Und was sollen wir dann machen?« Meine Mutter wird so laut, dass uns inzwischen auch die Leute im Wartezimmer hören können. »Sie sind doch schließlich Arzt! Wir sind zur Behandlung hier! Die können Sie uns doch nicht einfach so verweigern.«
»Oh doch, das kann ich sehr wohl, wenn es um den Schutz meiner Patienten geht. Sie müssen in eine Einrichtung gehen, die für solche Fälle ausgestattet ist. Ich kann in der Notaufnahme des Städtischen Krankenhauses Bescheid sagen, dass Sie auf dem Weg sind.«
»Lass uns gehen, Mom.« Ich nehme meinen Pulli. Mir ist kalt. Während ich ihn über den Kopf ziehe, liest der Arzt meiner Mutter weiter die Leviten. Er hat eine Menge darüber zu sagen, warum sie nicht sofort erkannt hat, dass ich Masern habe und dass wir alle Leute in der Praxis gefährdet haben. Unter seinen Worten werde ich immer kleiner.
»Na, Sie erlauben sich was«, sagt meine Mutter.
Wie eine Dreijährige ziehe ich an ihrem Ärmel, doch sie reißt sich los. Meine Hände fallen wieder kraftlos herunter und ich schlurfe mit schweren Schritten aus dem Behandlungsraum, den Flur hinunter und durch das Wartezimmer in Richtung Tür. Durch den Fiebernebel in meinem Kopf höre ich sie immer noch mit dem Arzt streiten.
Komm schon, Mom.
Er will, dass wir gehen.
Er findet, dass ich geimpft sein sollte.
Er sagt, ich bin hochansteckend.
Menschen schwirren in einer dunstigen Wolke in meinem Kopf. Mein Bruder. Meine Schwester. Mary an ihrem Gemüsestand. Alle, denen ich am Montag Kräuter und Öle verkauft habe. War ich da schon krank? Also ansteckend krank? Schließlich habe ich eine Menge Bargeld in die Hand genommen und den Leuten gegeben. Und ich habe fast alle Tomaten in der Kiste an Marys Stand angefasst. Und nun habe ich alle Menschen im Wartezimmer angeatmet, angehustet und angeniest. Ich stoße die Tür nach draußen auf. Vielleicht liegt es am Fieber, doch bei dem Gedanken, alle anderen dieser Krankheit auszusetzen, würde ich am liebsten aus meiner Haut kriechen. Die Worte des Arztes hallen in meinem Kopf nach. Ich kann sie dieser Gefahr nicht aussetzen. Mit anderen Worten, ich bin die Gefahr.
Ein Typ mit Halskrause, ungefähr im Alter meines Vaters, steuert auf die Praxistür zu. Im Glauben, dass ich hineinwill, hält er sie für mich auf. Doch ich stehe nur da. Und dann höre ich die Arzthelferin.
»Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie alle dem Masernvirus ausgesetzt waren«, verkündet sie. »Wenn jemand von Ihnen nicht geimpft ist oder noch nie die Masern hatte, lassen Sie es mich bitte sofort wissen.«
Die ältere Dame, die mich vorhin so eingehend gemustert hat, springt auf und zeigt mit dem Finger auf mich. »Ich wusste es!«
Das Wartezimmer gerät in helle Aufregung. Alle reden durcheinander. Die Stimmen werden immer lauter. Ja, sie sind geimpft, doch viele wollen wissen, ob sie wirklich immun sind. Die Arzthelferin hat alle Hände voll zu tun, die Leute zu beruhigen. Der Mann mit der Halskrause macht auf dem Absatz kehrt und läuft den Gehsteig zurück.
Ich mache Anstalten, wieder hineinzugehen. Ich möchte mich entschuldigen. Aber dann entscheide ich mich dagegen. Es wissen ohnehin schon alle, dass ich es war. Das allein ist schon schlimm genug.