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In Abwesenheit ist eine frische, gruselige Kurzgeschichtensammlung von Laura Diaz de Arce.
Viel Spaß mit Naturgeistern, die ihre Gestalt wandeln, einer liebevollen Riesenkrake, einem alten griechischen Drama in der U-Bahn, einer Werziege, die Frank Sinatra liebt, einer Reise ins Museum der Hölle und mehr.
Was dieses elektrisierende Werk aus verschiedenen Genres, deren Ton und ihre Stimme vereint, sind die unterschiedlichen Formen von Trauer.
Wie bei der Geschichte über das MONSTROSITY, so finden sich auch unter den anderen Geschichten solche, die dem Leser sicherlich zu Herzen gehen, ihm aber gleichzeitig das Blut in den Adern gefrieren lassen.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Copyright (C) 2022 Laura Diaz de Arce
Layoutdesign und Copyright (C) 2023 Next Chapter
Veröffentlicht 2023 von Next Chapter
Cover: CoverMint
Dieses Buch ist frei erfunden. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie der Autorin oder werden fiktional verwendet. Jegliche Ähnlichkeit zu wirklichen Ereignissen, Orten oder Personen, lebend oder tot, sind rein zufällig.
Alle Rechte vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung, Verbreitung, egal in welcher Form, egal wie, elektronisch oder mechanisch, durch Kopieren, Aufzeichnen oder jedwedes Speichermedium und System, ist ohne die Zustimmung der Autorin nicht gestattet.
Für meine Großeltern.
Lieber Leser,
dieses Werk ist eine Zusammenstellung von Trauergeschichten. Die letzten paar Jahre war ich ständig in einem Zustand anhaltender Depression, die zwar erträglich, jedoch eine Last war, die mir zuwider war. Viele der Geschichten in diesem Buch spiegeln diese Zeit wider. Damals verarbeitete ich meine Unfähigkeit, mit Verlusten so umzugehen, dass diese gänzlich abgemildert wurden. Die Geschichten fallen meistens in die Kategorie Horror und spiegeln den Versuch wider, meine schwankenden Schatten der Trauer in etwas Bewegliches, Annehmbares zu verwandeln. Meine Versuche, diese Gefühle zu verarbeiten, führten dazu, dass ich über Themen und Szenarios schrieb, die für mich selbst schmerzhaft waren. Darunter fallen Tod, Verstümmelung, Kindstod und Verstümmelung, der Tod und die Verstümmelung von Tieren, Körperscham, Gewalt, Kannibalismus, Anspielungen auf Fehlgeburten und Verzehr von Rohkost. Bitte denke daran, wenn du weiterliest.
Laura Diaz de Arce
In Abwesenheit
Jene, die im Ruhigen Wasser Treiben
Frijoles
Ein Grosser und Einsamer Wind
Ein Mord im Flachland
Schmerzesser
Die Bestie mit den Vielen Gesichtern
Der Teufel Saß in der Letzten Kirchenbank
Aus dem Gedächtnis
Leguanjagd
Jod
Schwimmer
Herzstränge
Nächtliche Fremde
Tickets Unter der Zunge
Nur Träumen Kann Man Noch
Sehr geehrter Leser
Anmerkungen
Autorin
Informationen zu Veröffentlichungen
Mein Kopf schlug auf das Kissen und ich dachte, ich würde bald schon einschlafen. So war es nämlich in den anderen Nächten, nach einem anstrengenden Tag, gewesen. Meine Augen waren geschlossen, mein Atem flach, aber Minute für Minute, Stunde für Stunde, konnte ich nicht einschlafen. Ich warf mich aufs Bett. Ich wand mich. Viele verschiedene Positionen probierte ich aus. Die Stunden vergingen langsam. Ich konnte nicht schlafen.
In letzter Zeit hatte sich bei mir vieles verändert. Der Druck in meinem Bauch ließ nach, denn ein Einbruch blieb aus, sodass ich mich hinlegen konnte und der Schlaf mein Trost wurde. In ein paar Tagen war mein Leben, das zuvor noch aus kurzzeitigen Möglichkeiten und ständiger Gesellschaft bestanden hatte, ruhig und einsam geworden. Diese Art von Verlust, worüber man nicht nachdenken möchte, wurde zu einem Muster in meinem Leben. Sie wurde zu meiner zweiten Natur und verbrannte meine Erinnerungen zu einem Häufchen, das fortgeweht wurde. Dabei half mir der Schlaf. Eigentlich wäre es leicht gewesen, meine Augen zu schließen und alles zu vergessen. Stattdessen konnte ich die ganze Nacht nicht einschlafen.
Am Tag nach der ersten schlaflosen Nacht versuchte ich freundlich zu bleiben. Das war nicht immer erfolgreich und ich zeigte mein Unbehagen. In der zweiten Nacht legte ich mich wieder hin, konnte noch immer nicht schlafen und bekam Angst. Als die dritte Nacht kam, stieg Wut in mir auf. Diese Wut entlud sich nicht; sie setzte die Energie in mir nicht frei. Stattdessen staute sie sich an, als wäre ich in Rage, sodass ich am ganzen Körper zitterte und mich nicht entspannen konnte.
Nachts um zehn war ich im Delirium. Tag und Nacht hatten eine Bedeutung. Ich verlor keine Zeit, sondern schlenderte ziellos in meinem Haus umher. Regelmäßige Mahlzeiten nahm ich nicht zu mir, sondern aß, was im Kühlschrank und in Reichweite war. Die Zeit verging, ich spürte aber nichts davon. Ich war wie erstarrt und meine Handlungen glichen denen in einem verzögerten Video. Ich war hier. Dann wieder dort. Es gab keine Überleitung, keinen Übergang, nur das, was es einmal gegeben hatte, war da.
Als die Uhr Mitternacht schlug, schlief ich noch immer nicht. Ich betrachtete mich im Badezimmerspiegel, hatte Tränensäcke unter den Augen und meine Schultern waren schlaff. Mein Körper war mir fremd geworden und verhielt sich nicht mehr so, wie er es hätte sollen. Ich hatte Schmerzen, die ich nicht ignorieren konnte. Mir gegenüber sah ich einen Sprung im Spiegel und ich fuhr mit der Fingerkuppe über den zackigen Rand. Ein Blutstropfen lief den Spiegel hinunter. Ich tippte das Glas an und es zersprang nach und nach. Auch mein Gemütszustand wurde nach und nach schlechter. Mein Spiegelbild verwandelte sich in tausende kleine Scherben.
Hinter der Scheibe war keine Wand. Stattdessen gab es eine lange, verästelte Landschaft. Diese war grau, sowohl der Pfad als auch das Gras daneben. Auch der Himmel war grau, bedeckt von gräulichen und pechschwarzen Wolken. Ich kletterte über mein Waschbecken und trat mit blutenden Füßen auf den Kies. Ich hatte mich offenbar bewegt, denn kaum hatte ich mich umgedreht, war mein Badezimmer nicht mehr da.
Während ich immer weiter den Pfad entlang ging, fiel mir noch mehr Seltsames auf. Es gab Pflanzen, die ineinandergeschlungen waren. Verschlungene Bäume und verzwirbelte Büsche übersäten die Landschaft außerhalb des Pfads. Es gab keine Tiere, zumindest keine, die man sehen konnte. Nur hören konnte man sie. Wie aus dem nichts ertönten seltsame Schreie gleich denen von Vögeln. Dann hörte ich Flügelschläge oder das Summen von Insekten, aber weder das eine, noch das andere konnte ich sehen. Es war, als würde in der Landschaft eine Begleitmusik gespielt. Ein Abdruck dessen, was einst dort gewesen war, jetzt aber nicht mehr.
Dann kam ich zum Garten der Hände.
Die wuchsen paarweise an Handflächen und unterschieden sich in Form, Alter und Farbe. Vorne stand auf einem Schild:
NIMM PLATZ
-------
LASS EINEN PLATZ FREI
Daneben stand ein schöner Holztisch, auf diesem ein karierter Metzgerblock in dem ein großes Hackbeil steckte.
Meine Hände waren noch nie meine Freunde gewesen. Sie waren ungeschickt, klein und taten immer weh. Viele schöne Finger, in allerlei Farben und Formen, trieben aus den Handflächen. Es gab Handflächen, die den meinen sehr ähnlich waren, die aber stellenweise muskulöser waren, mit längeren, eleganteren Fingern. Sie hatten nicht die Narben, mit denen meine übersät waren.
Man konnte beide leicht aus dem Strunk ziehen, abziehen brauchte man nichts. Ich legte sie wieder auf den Tisch, die Hände daneben. Die rechte bewegte sich zum Messer und die linke deutete auf mich, ich solle meine Hände auf den Tisch legen. Mit zwei schnellen Schnitten waren meine echten Hände abgetrennt. Meine einstigen Hände wanderten vom Tisch und in die Handflächen und waren nicht mehr zu sehen.
Diese neuen Hände hatten junge Finger, die bereit waren, die Welt um sie herum zu berühren. Sie zogen mich nach unten, dann wanderten sie über das weiche Gras. Wir gingen zu ein paar Bäumen am Weg, ich und meine neuen Hände. Sie strichen über die raue, verknotete und zersplitterte Rinde. Sie zogen die wachsartigen Blätter beiseite und die Finger wanderten in die Maserung.
Ich hörte ein äußerst vertrautes Geräusch, das ich aber nicht richtig einordnen konnte. Es war ein lautes und quengelndes Miauen eines alten Katers. Er kam näher und ich sah sein Antlitz mit den schiefen Zähnen und Zahnlücken. Direkt vor mir hielt er an und setzte sich auf die Hinterbeine. Meine Händen tätschelten ihn und schließlich sprang er auf meine Handgelenke, als der Kater sich umdrehte und uns bat, ihm zu folgen. Die abgetrennten Hände stellten sich auf die Stümpfe meiner Handgelenke und wir nahmen die Einladung des Katers an.
Der Kater führte uns zu einem Orangenbaum. Fast alle seine Blätter waren verwelkt, die Früchte verkümmert und schrumplig. Ich pflückte ein paar Orangen vom Ast und zupfte die Schale ab, dann teilte ich sie in kleine, saure Schnitze. Die Orangen schmeckten bitter, aber bei jedem Bissen erinnerte ich mich allmählich an einen Traum von früher.
Ozeane sind niemals so ruhig, wie es den Anschein macht. Selbst bei gleichmäßigen Wellen und klarem Himmel lauert unten immer etwas. Wenn die Oberfläche heiß ist, die Sonne am höchsten steht und die nachmittäglichen Stürme noch nicht gekommen sind, filtert der Ozean das Licht nicht mehr. Unter diesen Bedingungen können die Wesen fast bis ganz nach oben blicken. Red Stripe konnte mit seinem feinen Sehvermögen hoch in den Himmel sehen, obwohl er die großen Wolken manchmal mit den langen Booten, die über das Wasser fuhren, verwechselte.
Auf dem Boden konnte sein kleines Auge sehen, wie sich andere Wesen bewegten. Keines von ihnen war so groß oder mächtig wie er. Obwohl er viele von ihnen fraß, stellte er fest, er war etwas angetan von diesen niederen Wesen. Als größter und mächtigster im Meer, wurde er als ihr Beschützer angesehen. Schleppten große Schiffe ihre Netze, wenn sie in diesen Breiten fischen waren, griff er die Wesen der Wasseroberfläche an, bis sie entweder flohen, oder als Futter endeten. Oft schlugen sie zurück und stachen ihn wie die kleinen unteren Wesen, die durch seine Anwesenheit verärgert waren, jedoch war keiner Armen wie den seinen gewachsen, die sich schlängelten und so hoch empor ragten wie die Wellen.
Eines Tages, als man kristallklare Sicht hatte, sah Red Stripe den Schatten von etwas, das sich langsam über den Boden bewegte. Er richtete sein großes Auge nach oben und sah ein kleines Boot, das aufgrund des ruhigen Gewässers an Ort und Stelle blieb. Die kleinen Boote der Wesen der Wasseroberfläche waren kein Störfaktor, denn sie zogen die kleinen Fische hoch und verschwanden alsbald wieder. Nur wenn einem solchen Boot ein größeres folgte, war er alarmiert. Er merkte, wie das Wasser sich änderte. Ein Geruch von Blut kam auf und über ihm kreisten die Wesen mit Zähnen um den Schatten, ihre schlanken Körper wogen wie Algen in der Strömung.
Red Stripes Neugier überwog und er wollte einfach wissen, ob mitten unter ihnen ein größeres Boot war. Mit nur einem Stoß schwamm er nach oben, wo es heller und das Wasser wärmer war. Er schaute weiter, wie das kleine Boot etwas wankte und sich dann das Wesen der Wasseroberfläche zur Seite lehnte. Red Stripe musste anhalten und sich treiben lassen, denn so neugierig war er noch nie gewesen. Er hatte schon viele Wesen der Wasseroberfläche gesehen. Genau wie er bewegten sie sich mit Gliedern, jedoch auf eine seltsame Art und sichtbar weniger wendig. Den Wesen der Wasseroberfläche mangelte es an der feinen Anmut, die man mit zehn Gliedern hatte. Dieses Wesen der Wasseroberfläche schien anders zu sein; seine alte Erscheinung faszinierte ihn.
Maggie schielte in die Ferne und schützte sich mit einer sonnengebräunten Hand bestens vor dem Sonnenlicht. Das Wasser war klar, meinte sie, aber das grelle Licht erschwerte ihre Sicht zu arg, sodass sie nicht mehr sehen konnte. Sie wusste, die Ferne, die sie überblicken konnte, war von nichts als Wasser umgeben. Nach zwei Tagen auf hoher See merkte Maggie, dass der Ozean viel weiter war, als sie es sich je hätte vorstellen können. Karten und Filme hatten ihn nicht annähernd beschrieben. Und unter ihr befand sich etwas, das war noch weit größer und gruseliger. Sie hatte großen Respekt vor Haien und wusste, dass eine Kopfverletzung, die sich immer wieder von Neuem öffnete und blutete, wenn sie sich hoch hievte, vermutlich eine Einladung für die Tiere war, die unter ihr schwammen. In den Stunden zwischen dem Verhungern, während sie unter der leichten Plane der Rettungsinsel lag, musste sie sich beschäftigen, das sie von ihren schmerzenden Verletzungen und der dauernden Langeweile ablenkte. Sie tat so, als überprüfe sie ihr Augenlicht, indem sie raus schaute. Beim Bootsunfall hatte sie sich die Stirn schwer angeschlagen und durch die Verletzung war ihr linkes Auge zugeschwollen. Zum Glück war für die Meerenge, die sie gerade durchfuhr, nicht viel Tiefenwahrnehmung nötig.
Die Sonne stand hoch, es war windstill und bis auf den ständigen Wellengang von unten her, schien sich nichts zu bewegen. Maggie schaute runter und trotz ihres getrübten Blicks hätte sie schwören können, sie sah einen ungewöhnlich langen Schatten. Etwas in der Größe eines Frachters. Als sie zur Seite schielte, betete sie, es möge ein großer, freundlicher Wal sein.
Red Stripe versuchte zu verstehen, warum er unter dem Wesen der Wasseroberfläche erstarrte. Es war seltsam, halb so groß wie sein Schnabel oder seine kleinste „Hand.“ Wie er auch, hatte das Wesen ein großes Auge und ein kleines Auge. Seine langen Flossenfollikel hatten eine helle Farbe, gleich denen der kleinen Doktorfische, die in den Riffen schwimmen. Das Wesen hatte einen roten Streifen, fast wie sein eigener roter Streifen. Sein Körper änderte die Farbe, sodass er zu ihr passte, und er wollte nicht auf das Ding einschlagen und das Boot in die Tiefen steuern. Stattdessen wollte er schwimmen und sich drehen und einen Arm um das Wesen der Wasseroberfläche schlingen. Er hatte sich nie lange Zeit gelassen, sich zu fragen, wie Wesen der Wasseroberfläche sich anfühlten. Sicher, er hatte viele fortgeschleudert und andere verspeist. Sie schmeckten gewöhnlich verdorben. Er hatte sich nie die Zeit genommen, eines zu betasten, bevor er sie von den Wesen mit Zähnen verschlingen ließ oder sie in seinen eigenen Schnabel schob. Hätte er die Chance eines der kleinsten Meereswesen zu berühren? Würde es sich anfühlen wie die Haut der springenden Wesen, die in sich hüpfen und an die Wasseroberfläche springen konnten?
Er schwamm näher heran.
Maggie bereute so vieles. Sie bereute es, sich vor der Hochzeit ihrer Freundin Sara nicht mit ihr vertragen zu haben. Sie bereute es, dass sie als Hauptfach Volkswirtschaft gewählt hatte, anstatt ihrer Leidenschaft für Musik nachzugehen. Selbst in einer solch einsamen Situation machte sie aus den Meeresgeräuschen dauernd Melodien, die sie gerne auf ihrem Klavier gespielt hätte. Was sie am meisten bereute, war vermutlich die Exkursion aus dem Resort. Besonders, da sie in einen Sommersturm geraten und auf etwas gestoßen waren, was dann dazu führte, dass sie das kleine Schlauchboot zu Wasser lassen mussten. Was auch zu einem Kampf um die beiden Rettungsflöße führte, die der Sturm in die entgegengesetzte Richtung geweht hatte. Sie bereute es, ein Floß mit der falschen Notausstattung ausgewählt zu haben. Eines mit lecken und ausgetrockneten Wasserflaschen, was bedeutete, dass das Wasser am Vortag alle war, ebenso wie die schimmligen Eiweißriegel, die sie trotzdem Stück für Stück aufgegessen hatte.
Auf anfängliche Angst, Schuld, Panik und Wut, folgte bei Maggie eine Art nihilistische Ruhe. Seit über 24 Stunden hatte sie weder ein anderes Boot, noch einen Vogel gesehen. Sie würde hier draußen sterben. Wenn es regnete, würde sie sehr wahrscheinlich verhungern und wenn es nicht regnete, sehr wahrscheinlich verdursten. Dass keine Wolke am Himmel war, weder hier noch weiter weg, war nicht hilfreich. Es gab auch eine geringe Chance, dass ein großer, weißer Hai sie entzwei biss. Hier war sie nun, ohne Sauerstoffflasche und Harpune, mit der sie sich verteidigen konnte.
Was sie nicht vorhersehen konnte, war, dass sie in den Fängen des riesigen Wesens unter sich sterben würde.
Red Stripes Schatten kam näher. Maggie flitzte wieder auf das Floß. Sie hatte noch immer die Hoffnung, dass unter ihr ein freundlicher Wal war, der nach oben schwamm, um Luft zu holen. Das Wasser wog sich und das Floß fuhr rückwärts, als der Kopf eines großen, gelben Kalmars aus dem Wasser ragte.
Das Meereswesen war massiv, wie etwas aus einem Science-Fiction-Film, mit einem großen gelben Auge, in das sie direkt hätte gehen können. Ein großer roter Streifen, etwa so groß wie ein Gehweg, verlief auf seiner Stirn. Maggies Panik wich einer Art Schock, gefolgt von einer gewissen Akzeptanz für das unvermeidliche. Ach, so also sterbe ich, dachte sie. Trotz des bleibenden Schreckens, den dieser fast mystische Riese bei ihr auslöste, merkte ein Teil von ihr, wie schön es war, als diese sonnenhelle Bestie aus dem Wasser kam und das Meerwasser an ihr hinunterfloss, sodass dieser kräftige, goldene Gott der Ozeane sichtbar wurde.
Die Wasseroberfläche war ruhig und grell, wodurch Red Stripes Auge schmerzte. Er zwang sich zu bleiben und das kleine Wesen mit den unförmigen Augen zu betrachten. Ein Glied an ihn gelehnt, kauerte es auf dem Boden, wie die hartschaligen Wesen weiter unten. Das war das erste Mal, dass er sich eines aus der Nähe anschaute. Was für seltsame Schuppen. Was für interessante Flossen. Wie kann es hier, im flachen Wasser, schwimmen?
Red Stripe bewegte sich zögerlich und griff nach ihm. Das Wesen machte Geräusche wie diese gleitenden Süß- und Salzwasserfische. Es sah nicht so aus wie diese Fische, die an der Wasseroberfläche tanzten und sprangen. Dieses Wesen würdigte ihn keines Blickes. Er hielt seinen Arm ruhig über seinen Kopf.
Maggie schrie. Instinktiv und zusammenhanglos. Dieser Riesenkrake zermalmte sie nicht mit diesem gewaltigen Tentakel. Er hielt sie fest und Meerwasser tropfte auf das Floß, es lag aber ruhig da, während sich der Ozean rund herum bewegte. Nachdem sie ihren letzten Schrei ausgestoßen hatte, schaute sie zu dem hellen, gelben Fangarm mit den Saugnäpfen, die langsam zuckten. Sie schaute zu seinem riesigen Auge, das ruhig blinzelte. Er schien zu warten. Maggie dämmerte in ihrem verwirrten Kopf, dass dieser Kalmar wollte, dass sie ihn berührte. Klar, wenn er sie hätte töten oder fressen wollen, hätte er es längst getan. Stattdessen hatte er sich ihr genähert, als wäre sie eine störrische Katze und er streckte nur die Hand aus, dass sie daran schnüffeln konnte. Sie legte ihre Hand sanft auf den Fangarm.
Der Fangarm bog sich unter ihrer Handfläche und sie sah, wie er seine Farbe sofort von grellem Gelb zu Braun wechselte, das zu ihrer Haut passte. „Hallo?“, sagte sie.
Das kleine Wesen machte wieder Lärm. Der Lärm hier oben klang nicht wie der unten. Red Stripe konnte ein leichtes Kribbeln am Körper spüren. Das kleine Glied des Wesens wanderte über seinen Arm, sanft wie der pulvrige Sand am Grund des Ozeans. Es tätschelte ihn nicht, versuchte auch nicht ihn zu kneifen oder ihm was zu tun.
Red Stripe dämmerte, dass ein solches Wesen vielleicht weder fürs Jagen, noch fürs Fressen geschaffen war. Es hatte keine Anmut wie die Wesen im unteren Wasser. Es bewegte sich so langsam, dass es an ein Wunder grenzte, dass es überhaupt selbst fressen konnte. Erst recht an der dünnen Wasseroberfläche. Ein solch kleines, klägliches Ding mit ein paar Gliedern musste man füttern. Er tauchte etwas unter und schnappte ein paar der Tiere nahe der Wasseroberfläche, die er ins Boot legte.
Maggie fand sich inmitten von lebenden Fischen wieder. Sie fragte sich, ob dieses Ding sie und ihr Floß zu einer Servierplatte machen wollte. Der Kalmar schaute sie an. Und sie hatte Hunger. Sie wusste nicht, wie man einen Fisch tötet oder ausnimmt. Das spielte aber keine Rolle, denn das würde sie lernen müssen, wenn sie überleben wollte. Sie steuerte das Floß mit der verbeulten, metallenen Thermoskanne, die sie noch hatte. Diese lag schwer in ihren geschwächten Händen. Dann nahm sie das kleine Überlebensmesser und näherte sich einem Fisch, der in ihre Richtung schwamm. Mehrmals versuchte sie, ihn festzuhalten, aber jedes Mal rutschte er weg oder wand sich und entwischte ihr so. Endlich hatte sie ihn und stach mehrmals vorsichtig auf ihn ein, um das Floß nicht zu beschädigen, bis er sich dann nicht mehr rührte.
Die übrigen Fische zappelten am anderen Ende des Floßes und sie konnte sie noch nicht mal ansehen, als sie die Schuppen unbeholfen abschabte. Sie dachte zuerst daran, die Fische in der Sonne zu trocknen, wusste aber nicht, ob sie dadurch nicht vielleicht verderben würden. Das wäre das wahrscheinlich frischeste Sushi das sie je bekommen würde. Mit der Messerspitze schabte Maggie etwas des frisch erlegten, blutigen Fleisches vom Fisch. Noch ein paar Schuppen hingen dran, denn sie hatte sie nur behelfsmäßig abgekratzt. Sie konnte nicht sagen, was für eine Art Fisch das war, als sie ihn probierte, denn er schmeckte, nun, wie Fisch. Er war süß und salzig zugleich.
Schon so lange hatte sie nichts Richtiges mehr gegessen, nur diese abgestandenen, fasrigen Powerriegel. Sie schlang so viel Fisch hinunter, wie sie nur konnte. Dann warf sie die Reste über Bord und machte sich über einen weiteren her. Sie gab ihr Bestes, die lebendigen Fische von ihrem Floß zu werfen, ein paar der Fische, die sie gerade getötet hatte, hob sie für später auf. Es war zwecklos, so viele Fische in der heißen Sonne auf dem Boot zu haben, wo sie verderben und sie krank machen würden. Außerdem wollte sie nicht mehr Tiere als notwendig töten, selbst wenn es ums Überleben ging.
Red Stripe schaute sie genau an. Sie bewegte ihre Glieder mit den klapprigen Bewegungen der harten Bodenfresser. Vielleicht war sie nicht imstande, sich in solch seichtem Wasser bewusst oder anmutig zu bewegen. So krächzte sie ihn an und rieb ihre Taille an ihm. Sie hatte jetzt mehr Energie, hatte aber nicht vor, zu einer Bedrohung zu werden. Red Stripe streckte wieder eines seiner Glieder aus und das Wesen streichelte ihn. Red Stripe musste feststellen, er mochte dieses kleine Ding.
Er tauchte etwas unter und spürte Aufregung in all seinen Extremitäten. Hier unten war es beruhigend und das Wasser noch immer warm. Er fragte sich, ob das Wesen die Temperatur mochte. Vielleicht würden sich seine kleinen Glieder und Flossen weiter unten natürlicher bewegen. Und wieder hatte er die anderen zappeln sehen wie getrocknete Seesterne, machte sich aber dennoch Gedanken.
Wenn seine Artgenossen sich paarten, schwammen und tanzten sie mit dem Partner. Seinesgleichen würde sich abstoßen und auf den Gliedern drehen. Sie würden sich umkreisen und in ihrem Tanz Strömungen erzeugen, während sie über den ganzen Ozean fegten. Konnte das kleine Wesen das auch? Konnte es mit seinen Gliedern eine kleine Strömung erzeugen, gleich der hier? Er übte in den tiefen, wechselnden Farben zwischen Hellgelb und Braun.
Es war dieselbe Situation wie am Meeresgrund, als er wieder an die Wasseroberfläche drang. Es stand nichts im Mittelpunkt außer der riesigen, glühenden Koralle, die so hoch oben war, dass er seine Glieder nicht ausstrecken und sie berühren konnte. Das Wesen kippte sich selbst über den Rand des kleinen Boots. Red Stripe dachte aufgeregt, dass es mit ihm zusammen ins Wasser kommt. Was es nicht tat. Stattdessen schoss es Tinte aus seinem Mund. Red Stripe streckte seinen Fangarm aus und wieder fuhr das kleine Wesen mit einem Glied darüber. Es war angenehm. Das kleine Wesen krächzte ihn an, diesmal weniger laut. Es sollte seine Glieder mehr in seine Richtung bewegen, dann umso mehr krächzen. Red Stripe dachte, dass dieses Wesen vielleicht auf diese Art und Weise mit ihm tanzte. Er tauchte unter und tanzte um seine eigenen Fangarme.
Als er wieder auftauchte, berührte ihn das kleine Wesen, dann ging es in das kleine Boot. Red Stripe ging fort, um zu fressen und seine Gewässer abzugehen.
Maggie würde sterben. Das wusste sie. Sie wusste nicht, ob aufgrund einer Lebensmittelvergiftung, die sie sich in der Bar geholt hatte, oder wegen des vielen rohen Fischs, den sie gegessen hatte oder vor Durst. Sie konnte das Essen nicht wirklich bei sich behalten und ihr Unterbauch schmerzte sehr. Die halbe Nacht verbrachte sie mit dem Versuch, die Riesenkrake zu überzeugen, sie an einen Ort voller Menschen zu bringen. Ein Wesen dieser Größe konnte sie nahe genug ans Land bringen, dass man sie finden konnte. Es war hoffnungslos, denn der Kalmar wollte ihr scheinbar seine Fangarme zeigen und gestreichelt werden. Schließlich streichelte sie ihn und erzählte ihm von ihrem Leben. Sie redete von ihren geschiedenen Eltern, ihrem liebsten Speiseeis, ihren Lieblingssendungen ... Sie schüttete ihr kleines Leben einer Bestie aus, welche sie nicht hören konnte.
Sie sagte: „Ich höre immer wieder Gutes von Criminal Minds, aber ich habe die Schnauze voll von Polizeiarbeit, weißt du? Schon komisch, dass ich die Folge Mein Lehrer, der Krake ansehen wollte, bevor ich auf Reisen ging ... magst du Oktopoden? Oktopusse? Oder ist da so etwas wie Rivalität zwischen Oktopoden und Kalmaren? Du bist ein Kalmar, nicht? Du hast diesen spitz zulaufenden Kopf.“
Sie deutete auf ihren Kopf. Der Kalmar nähert sich aus einem anderen Winkel dem Boot.
„Seid ihr mit Oktopoden befreundet? Oder ist es wie bei den Sharks und Jets aus Westside Story? Ha! Sharks! Was hältst du von Haien? Ich denke, ich kann behaupten, dass ich sie nicht besonders mag, aus verständlichen Gründen. Ganz sicher habe ich weiter unten ein paar gesehen, ich versuche aber nicht zu nah hin zu schauen. Als Kind habe ich mir die Haie im Aquarium gerne angeschaut. Komisch, dass dieser Albtraum jetzt wahr geworden ist.“
Sie lachte hysterisch. Red Stripe legte einen Fangarm um das Boot, sodass er sie besser betrachten konnte. Er merkte, dass sich, je mehr Tage vergingen, ihre Farbe geändert hatte, genau wie bei ihm. Sie machte all diese leisen Geräusche, denen er aufmerksam lauschte, während ihre kleinen Glieder über die seinen strichen.
Maggie war sehr wahrscheinlich benebelt und sie hätte schwören können, dass die Riesenkrake sie verstand. „Vielleicht haben wir uns in einem anderen Leben gekannt“, sagte sie. „Vielleicht waren wir Freunde oder so etwas. Vielleicht war ich eine Garnele und du eine Koralle. Ritter der Tafelrunde. Du Herr Kalmar und ich ... weißt du, an diese Geschichten könnte ich mich nie erinnern. Hast du mich deshalb noch nicht gefressen? Kennst du mich vielleicht von früher?“
Der Kalmar mit den schläfrigen Augen zuckte mit den Fangarmen.
Maggie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie ohnmächtig geworden war. Sie wurde vom Geruch eines weiteren Haufens von frischem Fisch geweckt. Nachdem sie das meiste ins Meer zurückgeworfen hatte, versuchte sie wieder zu essen, nur um festzustellen, dass ihre Glieder noch steifer als vorher waren. Ihre Finger und auch ihre Arme. Sie hatte nicht wirklich Appetit, schlang aber zwei Bissen hinunter, den Rest schmiss sie ins Meer zurück.
Sie legte sich in die Mitte des Boots und schaute zum klaren, wolkenlosen Himmel. Im Kopf reimte sie sich eine Geschichte von ihr und dem Kalmar zusammen. Hätte sie nur mit ihm sprechen können, wirklich mit ihm sprechen können, was hätten sie beide für Abenteuer erleben können. Sie hätten heldenhafte Piraten mit Dreispitz sein können, die Menschen aus dem Meer retteten. Oder hatten sie beide sich in einem anderen Leben gekannt? Vielleicht war er ein Mensch gewesen und sie das Meereswesen. Oder sie waren einmal Freunde gewesen, er war ertrunken und sie hatte dieses Leben hier damit verbracht, um ihn zu trauern. Vielleicht war es diesmal an ihr, auf dem offenen Meer zu sterben.
War der Himmel schon immer so hell?, dachte sie. War die Sonne schon immer so gelb? Maggie merkte nicht einmal, dass ihre Augen geschlossen waren.
Das kleine Wesen bewegte sich. Es hatte sich nicht bewegt, nicht einmal, als sie an einer leuchtenden Koralle und einer heißen Strömung vorbeigekommen waren. Sein Fangarm kam näher, dennoch schien es, als würde es nicht antworten. Seine Fangarme waren trocken und die Hitze oben wäre, soweit sich Red Stripes erinnern konnte, für kein Wesen gut. Wenn sie vielleicht das Wesen irgendwohin schafften, wo es kühler war und es mehr Wasser gab, würden seine Schuppen nicht austrocknen. Sanft legte er einen Fangarm um das feine Ding und brachte es nach unten.
Zunächst schien es, als ginge es dem Wesen allmählich besser. In seinem Griff zitterte und schüttelte es sich. Dann hörte es auf. Es bewegte seine Glieder nicht mehr. Es fuhr mit seinen kleinen Klauen nicht über ihn, wie er es mochte. Es bewegte sich mit ihm in der Strömung, aber nicht von allein.
Red Stripe versuchte, es zu füttern und tanzte mit ihm. Zusammen drehten sie sich im Wasser, aber nicht wie er es sich vorgestellt hatte. Es drehte sich nicht um ihn oder wand sich in seinen Gliedern. Es wurde in den Wellen gefangen. Es machte keine Geräusche mehr. Es rieb seine kleinen Glieder nicht an den seinen.
Als er es wieder an die Wasseroberfläche brachte, machte es keinerlei Geräusche. Es hing schlaff in seiner Hand, wie Seetang oder Algen.
Dennoch machte er weiter, als der Ozean weiter um ihn herum floss, denn er wollte den Körper seines kleinen Wesens der Wasseroberfläche für sich selbst.
Andere Wesen versuchten, sein kleines Wesen zu fressen. Entweder vertrieb er sie oder er fraß sie auf. Er merkte, die feinen, gelben Flossen fielen aus und die Schuppen lösten sich. Sie blätterten ab. Sein seltsames, kleines Wesen war tot, das wusste er, er konnte es aber nicht loslassen. Er konnte nicht loslassen, selbst dann nicht, als die Glieder abfielen und in die Strömung, in der er schwamm, gezogen wurden. Auch dann nicht, als nichts als Gräten übrig waren. Red Stripe hielt das Wesen fest, so lange er konnte, während er am Grund des Ozeans entlangschwamm. Die Überreste dieses kleinen Wesens steckten wie kleine Embleme in den Spalten seiner Saugnäpfe. Sie steckten fest und er weigerte sich, sie loszulassen.
Als er hoch zur Wasseroberfläche schaute und hin und wieder die Boote sah, die wie Wolken aussahen, fragte er sich, ob irgendwelche der kleinen Oberflächenwesen wussten, was er für sich selbst gestohlen hatte.