In Amors Auftrag - Marisa Liehner - E-Book
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Marisa Liehner

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Beschreibung

Keine Chance dem Klischee: Ein spannend-romantischer Roman mit einer Prise Magie In Pias Familie dirigiert das Amor-Gen das tägliche Leben. Während ihr kleiner Bruder die Rolle des Amor übernimmt, ist sie eine Klischeebeauftragte. Ihre Aufgabe ist simpel: verhindern, dass sich in der Welt zu viele Klischees anhäufen. Dementsprechend begeistert ist sie von allem, was mit Romantik und Kitsch zu tun hat. Das ändert sich auch nicht, als sie Joshua begegnet. Er soll das Gegenstück sein, das Amor für sie ausgewählt hat. Doch Pia hat gar nicht die Zeit, sich mit ihm und den dazugehörigen Klischees herumzuschlagen, denn eine weitaus schlimmere Gefahr hat sich in ihr Leben geschlichen. Eine Gefahr, die nicht nur ihre Familie/Liebsten, sondern auch die Liebe selbst bedroht. 

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Inhalt

Cover & Impressum

Klischee Nr. 001: Zusammenstoß mit Folgen

Klischee Nr. 002: Kuss im Regen

Klischee Nr. 003: Aus Hass wird Liebe

Klischee Nr. 004: Der magische Tanz (auch: Cinderella)

Klischee Nr. 005: Tragisches Geheimnis

Klischee Nr. 006: Ein Song für dich

Klischee Nr. 007: Die Wette

Klischee Nr. 008: Nichts Neues

Klischee Nr. 009: Blumen und Pralinen

Klischee Nr. 010: Liebe auf den ersten Blick

Klischee Nr. 011: Die erste Liebe

Klischee Nr. 012: Stimmungskiller

Klischee Nr. 013: Das Helden-Phänomen

Klischee Nr. 014: Superheldenkomplex

Klischee Nr. 015: Der Trick mit dem Arm

Klischee Nr. 016: Nur Freunde

Klischee Nr. 017: Einmal Eifersucht, bitte

Klischee Nr. 018: In falschen Händen

Klischee Nr. 019: Arschlochbonus

Klischee Nr. 020: Happy End

Klischee Nr. 001: Zusammenstoß mit Folgen

Person A und B stoßen zusammen, ihre Unterlagen fallen zu Boden und sie knien nieder, um diese aufzusammeln. Dabei kreuzen sich ihre Blicke.

Ungeduldig trommelte ich mit meinen Fingern gegen den Türrahmen. »Bram! Wie lange brauchst du noch?«

Ich war genervt. Vor zehn Minuten hatten wir losfahren wollen, doch mein liebenswerter kleiner Bruder schien das Memo verpasst zu haben.

Zwei Takte später polterte er die Treppe herunter und schlitterte an mir vorbei hinaus, wo unsere Eltern im Auto warteten Endlich!

Ich hatte keine Ahnung, wie er das anstellte, doch egal worum es ging – Bram war grundsätzlich zu spät. Mit einem Seufzer schloss ich unsere Haustür ab und folgte ihm.

Unser Haus lag in einem der Außenbezirke von Amsterdam – dort war es angenehm ruhig, aber auch das berüchtigte Großstadtleben war nicht allzu weit entfernt.

Ich öffnete die Türe hinter dem Beifahrersitz, wo es sich Bram gerade gemütlich gemacht hatte. »Rutsch rüber.«

Tatsächlich tat er, was ich sagte, und so saßen wir wenig später alle vier in unserem kleinen Wagen.

»Alle angeschnallt? Kann es losgehen?« Mein Vater, der sich bis gerade noch mit dem Radio beschäftigt hatte, drehte sich mit dieser Frage zu uns um.

Bram rief aus: »Alle bereit!«, während ich wie ein Pilot den Daumen in die Höhe reckte.

»Dann mal los.« Und damit trat er aufs Gas.

Unser Ausflug hatte ein ganz bestimmtes Ziel. Wir waren auf dem Weg zu einer befreundeten Familie, die ebenfalls hier in Amsterdam lebte. Wobei man diesen Besuch nicht als gewöhnlich bezeichnen konnte – gewöhnlich war bei uns rein gar nichts.

Aber das erkläre ich lieber von Anfang an. Wie wir und noch einige andere besaß die Familie, zu der wir unterwegs waren, das Amor-Gen. Klingt unromantisch, ist es auch. Das Amor-Gen wird von Generation zu Generation weitergegeben. Männliche Nachkommen werden damit zum sprichwörtlichen Amor (aka mein Bruder) und die weiblichen zu sogenannten Klischeebeauftragten oder KBs (aka ich). Auch wenn es die Bezeichnung nahelegt, ist unsere Aufgabe keinesfalls, mehr Klischees zu produzieren – dafür sorgten die Amors selbst schon zur Genüge – vielmehr sollen wir sie verhindern. So viel also dazu.

Und dieser Besuch, der auf unserem Plan stand? Das war eigentlich eine alljährliche Angelegenheit. Jedes neue Jahr am 1. Februar treffen sich die ortsansässigen Familien mit Amor-Gen, um die Aufträge für die nächsten sechs Monate zu verteilen. Erst danach kommen wir erneut zusammen. Ein ziemliches Event. Vier Familien samt Anhängsel, das sind nicht gerade wenige Leute.

Nach 20 Minuten parkten wir schließlich auf dem Gehweg vor unserem Ziel. Wir waren nicht die Einzigen, die Straße vor dem alten Backsteingebäude stand bereits voller Autos. Wir hatten Glück, noch einen Parkplatz zu finden.

Es war das Haus der Familie van Loon. Die van Loons lebten schon seit Generationen auf diesem Grundstück. Da ihre Villa so viel Platz bot, wurden unsere Amor-Treffen meist hier abgehalten. Ich starrte aus dem Fenster auf meiner Seite und betrachtete das alte Gebäude. Erinnerungen stiegen in mir hoch. Seit ich denken konnte, kamen wir Jahr für Jahr hierher. Die Backsteinfassade wurde von einem rechteckigen Element mit Spitzgiebel in zwei Hälften geteilt. Auf der linken Seite befand sich ein kleiner Wintergarten, in dem man bereits einige Personen ausmachen konnte.

»Jetzt steig schon aus, Pia. Oder auf was wartest du, den Valentinstag?«

Ich drehte meinen Kopf zu Bram, der inzwischen schon draußen stand. »Haha. Sehr witzig.«

Trotz meiner Bemerkung beeilte ich mich, aus dem Auto zu kommen. Ich war die letzte, die sich dazu bequemte. Unsere Eltern standen Arm in Arm neben dem Gartentor und warteten offensichtlich darauf, das Auto abschließen zu können. Bram und ich joggten zu ihnen hinüber.

»Und? Bereit, Kinder?« Unsere Mutter, die in diesen Wahnsinn eingeheiratet hatte, war wie jedes Mal aufgeregter als wir.

Bram und ich warfen uns einen verschwörerischen Blick zu. Es konnte losgehen. Gemeinsam schritten wir über einen gepflasterten Weg, der quer durch den Vorgarten führte, zur Haustüre. Die wirkte mit ihren Verschnörkelungen wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Klingel jedoch, die war auf jeden Fall aus dieser Zeit. Als unser Vater sie betätigte, ertönte eine hässliche elektronische Melodie, die man sogar hier draußen hörte. Ich hatte vergessen, wie sehr ich diese Klingel hasste.

»Und ich hatte gehofft, die van Loons hätten dieses Ding inzwischen mal ersetzt«, murmelte mein Bruder. Ich nickte zustimmend. »Oh ja, aber das wäre wohl zu schön gewesen, um wahr zu sein.«

Unsere geflüsterte Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, als eine Frau die Tür aufriss.

»Wen haben wir denn da? Die Gerittsens.«

»Hendrika! Schön dich mal wieder zu sehen.« Meine Mutter fiel der Dame um den Hals, die daraufhin auch meinen Vater und uns Kinder begrüßte. Hendrika war die aktuelle Klischeebeauftragte der van Loons. Da ihr Bruder und dessen Frau bisher nur einen Sohn hatten, blieb diese Aufgabe bis zur nächsten Generation an ihr hängen.

»Kommt rein, kommt rein. Die Anderen sind hinten im Wintergarten.« Sie scheuchte uns in das Haus. Der Geruch der Eingangshalle weckte in mir ein angenehmes Kribbeln. Es roch nach alten Büchern und irgendwie immer ein wenig nach Vanillezucker. Hier hatte ich in meiner Kindheit viel Zeit verbracht. Das Schöne an diesen Versammlungen war, dass wir Kinder eine ebenso große Rolle spielten wie die Erwachsenen. So waren immer genug Gleichaltrige da, um für Zerstreuung zu sorgen. Im Grunde war es wie ein riesiges Familientreffen. Wir waren alle zusammen aufgewachsen, hatten Freundschaften geschlossen.

Angeführt von Hendrika durchquerten wir das ausladende Wohnzimmer und landeten im daran anschließenden Wintergarten. Schon von Weitem hörte man das Geschnatter der vielen Besucher. Der Wintergarten war gut gefüllt und erst bemerkte man uns nicht. Kaum aber machte unser Vater Anstalten, sich zum Buffet an der Wand durchzuschlagen, fing die Begrüßungsrunde an. Bram und ich nutzten diese Ablenkung. Jeder von uns schnappte sich einen Häppchenteller und ein Getränk (während ich mir etwas von dem teuren Sekt nahm, blieb für meinen vierzehnjährigen Bruder nur der Orangensaft). Mit unserer Beute in den Händen schlichen wir uns wieder hinaus in die Eingangshalle, von wo aus wir die Treppe in den ersten Stock erklommen.

»Meinst du, Silas hat sein Zimmer wieder umgestellt?« Silas van Loon hatte die merkwürdige Angewohnheit, dauernd die Einrichtung in seinem Zimmer zu verändern. Und nie schien er wirklich damit zufrieden. Eigentlich schade, da es einige Versionen des Raumes gegeben hatte, die mir sehr zugesagt hatten. Vor zwei Jahren zum Beispiel wäre ich am liebsten selbst in die Mischung aus Bibliothek und Spielsalon eingezogen.

»Wir werden es gleich sehen.« Mit der Hand, die auch sein orangensaftgefülltes Sektglas balancierte, klopfte Bram an die Holztür, zu der uns die Treppe geführt hatte.

»Herein!« Die hohe Stimme gehörte auf jeden Fall Silas. Obwohl er nur ein Jahr jünger war als ich, schien seine Stimme nie im Stimmbruch angekommen zu sein.

»Mach auf! Wir haben die Hände voll«, rief mein Bruder zurück.

Nur wenige Sekunden später wurde uns die Türe geöffnet. »Bram, Pia – ich hoffe, ihr habt mir was mitgebracht.« Es war nicht Silas, der vor uns stand, sondern Merle. Sie war wie ich eine Klischeebeauftragte und heute hier zu Besuch.

»Also von mir kriegst du nichts.« Geschickt drückte Bram sich an ihr vorbei in den Raum. Merle und ich lachten.

»Wo ist dein Sofa hin?!« Mein Bruder hatte entgeistert innegehalten und sah Silas an, der sich auf dem Schreibtischstuhl hin und her drehte. Nun bemerkte auch ich, wie Silas’ Zimmer sich verändert hatte. Anscheinend war er auf den Minimalismus-Zug aufgesprungen, denn außer einer bloßen Matratze auf dem Boden, dem Schreibtisch und einem großen Regal gab es nicht viel an Einrichtung. So saß Nick, Merles kleiner Bruder, bereits im Schneidersitz auf dem Boden.

»Weg«, grinste Silas. »Hi, Pia!«

Ich nickte ihm zu und betrat nun auch den Raum. Bram, noch immer fassungslos über die Beseitigung des Sofas, ließ sich neben Nick auf dem Boden nieder. Merle und ich machten es uns auf der Matratze daneben gemütlich.

»Emil und Luuk sind noch nicht da?« Ich stellte den Teller mit Partyhäppchen zwischen mich und Merle, den Sekt auf den Boden neben der Matratze.

Silas verneinte. »Nein, die zwei haben sich noch nicht blicken lassen.«

»Typisch«, brachte Bram hervor, bevor er sich schon die erste Bruschetta in den Mund schob.

»Sagt der Richtige«, kommentierten Nick und ich gleichzeitig. Bram nahm grummelnd einen Schluck von seinem Orangensaft.

»Ich würde ja sagen, geht nicht immer auf die Jüngeren los, aber da Nick jünger ist als Bram …« Silas zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

»Um einen Monat! Nur um einen Monat!« Nicks Einspruch ging in unserem Gelächter unter. Er reagierte grundsätzlich allergisch auf Anspielungen sein Alter betreffend. Jedes Mal sprang er darauf an. Es machte einfach Spaß, ihn immer wieder aufs Neue zu provozieren.

»Ist ja gut, Nicki.« Merle zwinkerte ihrem Bruder zu.

»Wenn Silas nicht alles bis auf die Staubkörner aus seinem Zimmer geräumt hätte, würde ich was nach dir werfen, glaub mir.«

»Ja, apropos – wie kam es denn zu diesem minimalistischen Design?« Ich wandte mich mit dieser Frage an Silas, der sich noch immer auf dem Drehstuhl hin- und herbewegte. Er zuckte mit den Schultern. »Mir war einfach danach. Hab es in ein paar Zeitschriften so gesehen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Den Tick werde ich wirklich nie verstehen.«

»Das ist kein Tick! Das nennt sich Ausleben des eigenen Wesens«, verteidigte sich Silas halb im Scherz.

Merle winkte bei seiner Bemerkung lachend ab. »Ach halt doch die Klappe, du Besserwisser.«

Tatsächlich war unser Freund hier alles andere als dumm. Wenn er bald die Schule abschloss, würde er das wahrscheinlich als Klassenbester tun.

Es klopfte und wieder bat Silas den neuen Gast mit seiner unverkennbar hohen Stimme herein. Emils dunkler Haarschopf erschien im Türspalt: »Hey Leute. Ich soll euch holen, es geht los.«

Diese Worte brachten Bewegung in unsere kleine Runde. Es ging los, das hieß, uns würden die Aufträge zugeteilt werden. Aufregung machte sich in mir breit. Es war immer ein besonderes Gefühl, zu sehen, welche Leben man in diesem Halbjahr beeinflussen würde. Zwar war meine Aufgabe nicht ganz so fundamental wie die der Amors, aber dennoch wichtig. Wie uns KBs schon früh erklärt wurde, bestand die Welt aus einem empfindlichen Gefüge nicht greifbarer Einheiten. Aus einer ganz bestimmten Mischung aus Realität, Liebe, Hass und Wunder. Wenn diese Elemente alle im richtigen Verhältnis zueinander standen, dann herrschte Gleichgewicht. Schwankungen kamen immer wieder vor, wenn wir KBs unseren Job nicht gut oder gar zu gut machten. Dafür gab es sogar tatsächliche Beweise in der Geschichte. Allein die verschiedenen Epochen zeigten, dass in manchen Zeiten die Rationalität die Oberhand gehabt hatte, in anderen wiederum die Emotionen. Aufklärung, Sturm und Drang – das alles hing mit dem Gleichgewicht zusammen, für das wir Klischeebeauftragten sorgen sollten. Besonders die Anteile von Realität und Wunder waren es, die wir beeinflussten. Wurden zu viele Klischees erfüllt, stieg der Wunderanteil in unserem System, was bei einem zu großen Ausschlag schwere Folgen haben konnte. Damit so etwas nicht passierte, arbeiteten wir zusammen, Amors und KBs.

Endlich hatten wir uns alle aus Silas’ Zimmer gedrängt, um uns auf den Weg zur Versammlung zu machen. Ich gesellte mich zu Emil, der auf uns gewartet hatte. »Wo ist Luuk?«

Emil, der mich um einen Kopf überragte, steckte die Hände in die Taschen seiner Lederjacke, und sagte: »Er wartet unten. Wir sind eigentlich gerade erst angekommen. Papa hatte mal wieder fast die Unterlagen für die Besprechung vergessen.«

Emil und Luuks Vater war der demokratisch gewählte Vorsitzende unseres kleinen Rates. Er würde nachher die vorsortierten Aufträge verteilen. Deren Erstellung war eine recht dubiose Angelegenheit. Aus irgendeinem Grund kommunizierte die Entität, die normalerweise unter dem Namen Amor bekannt war, ausschließlich mit den Ältesten in unseren Familien. Das hieß Großeltern, Urgroßeltern und so weiter. Gesehen hatte den »richtigen« Amor jedoch noch niemand. Die Ältesten erhielten lediglich über Visionen die Informationen zu den Aufträgen, die sie für uns dann niederschrieben. Diese Informationen waren äußerst wichtig. Sie bestanden nicht nur aus Namen und Adressen unserer »Klienten«, wir bekamen auch eine kurze Charakterbeschreibung der Personen und schließlich das Wichtigste: Zeit und Ort, wo sich die Wege der zu Verkuppelnden kreuzen würden. Mal standen unter diesem Punkt mehrere Daten, manchmal nur eines. In solchen Fällen mussten wir besonders gewissenhaft arbeiten, um die Chance, beide zusammenzuführen, bloß nicht zu verpassen.

All diese Informationen wurden vom Ober-Amor (wie ich ihn gern nannte) gestellt, der Rat aber tat uns noch den Gefallen, die Turteltauben aufzuspüren und ein Foto anzufügen. So war es für uns viel leichter, unserer Arbeit nachzugehen.

Wir stiegen die Treppe hinab und gingen in das Wohnzimmer der van Loons, das bei Besuchen dieser Art als Versammlungsort fungierte. Da wir beinahe die letzten waren, die jetzt noch dazustießen, gab es für uns keine Sitzplätze mehr. Das ein oder andere bekannte Gesicht nickte mir zu und ich erwiderte diese Geste mit einem Lächeln. Ich sah auch meine Eltern, die sich gerade angeregt mit Merles und Nicks Mutter unterhielten. Langsam jedoch erstarb das Getuschel im Raum. »Ruhe. Ruhe, wenn ich bitten darf.« Emils Vater war nach vorne getreten, Klaas Koster. »So, da wären wir also wieder. Ich hoffe ihr hattet alle einen guten Start in das neue Jahr. Für die Liebe zumindest, sieht es gut aus. Wir haben wieder jede Menge neuer Aufträge, die es zu verteilen gilt.« Er klopfte auf die dicke Aktentasche, die er vor seinem Bauch hielt. »Wie immer haben wir darauf geachtet, euch Turteltauben in geografischer Nähe eures Wohnortes zuzuweisen, also keine Sorge.«

Er öffnete seine Tasche und zog daraus einen Stapel von Papieren hervor, bevor er sie beiseitelegte. »Nick Boer.«

Als er aufgerufen wurde, drängte sich Nick zu Klaas nach vorne und nahm die Unterlagen entgegen. Der nächste war mein Bruder. »Bram Gerittsen, bitte.«

Die Verteilung ging immer alphabetisch vonstatten. Nach Bram folgten Luuk Koster, Emils Bruder, und schließlich Silas van Loon. Die Akten bekamen immer die Amors, aber später würden die sich natürlich mit ihren KBs beraten. Ich stand also mit verschränkten Armen neben Emil, der ebenfalls keine Papiere erhalten hatte. Er hatte den Part des Amors nur sehr kurz innegehabt, dann war die Rolle an seinen jüngeren Bruder gefallen. Der Amor war immer der jüngste männliche Nachkomme. Im Gegensatz zu dem Amt der KB, das immer auf die erstgeborene Tochter fiel. Als alle Aufträge verteilt waren, sprach Klaas weiter: »Die Werte von Realität und Wunder haben auch im letzten Halbjahr nur minimale Schwankungen erfahren, ihr macht also alle einen wunderbaren Job. Gibt es irgendetwas, was ihr ansprechen wollt?«

Es blieb ruhig im Raum. »Wenn das so ist, wäre dieser Programmpunkt beendet. Lasst uns alle auf ein weiteres erfolgreiches Halbjahr anstoßen.« Gläser wurden gehoben. Ich hatte meines in Silas’ Zimmer gelassen und so prostete ich lediglich in Gedanken den anderen zu.

Daraufhin löste sich die Gesellschaft in lauter kleine Grüppchen auf. Bevor ich mich wieder zu Bram, Silas, Merle, Nick, Emil und Luuk gesellte, nutzte ich aber die Gelegenheit, um mich mit meinen Großeltern zu unterhalten. Auf dem Weg zu ihnen wurde ich jedoch immer wieder aufgehalten, da mich viele andere ebenfalls in kurze Gespräche verwickelten.

Eine ganze Weile blieb ich bei meiner Tante hängen, die vor mir den Job als Klischeebeauftragte in unserer Familie ausgeführt hatte. Von ihr hatte ich viele Kniffe gelernt, und auch jetzt brachte sie mich mit ihren Geschichten zum Lachen. Obwohl sie bereits über vierzig war, war sie jung geblieben.

Der Abend verlief wie erwartet und als wir spätnachts schließlich nach Hause kamen, fiel ich todmüde ins Bett.

Klischee Nr. 002: Kuss im Regen

Person A und B finden sich nach einer Auseinandersetzung im Freien wieder. Als es zum erlösenden Kuss kommt, öffnet der Himmel seine Schleusen und es schüttet in noch nie gekanntem Maße.

 

Den Kopf müde auf meine Arme gebettet beobachtete ich Brams Finger, die den goldenen Ring an seinem Mittelfinger hin und her drehten. Das Ding verlieh ihm die Fähigkeit, zwei Turteltauben zusammenzubringen – wobei er selbst ihm wiederum erst die Macht dazu gab. Ein bisschen wie bei einer Symbiose. Der Ring war aus Gold und hatte einen filigranen Pfeil samt Befiederung eingraviert. Es war klar, auf wen oder was dieses Symbol anspielte. Angeblich war er sogar aus dem Gold der Pfeile Amors geschmiedet. Praktisch daran war, dass der Ring immer die richtige Größe für den Träger hatte. So war es auch für einen Chaoskopf wie meinen Bruder möglich, das wichtige Artefakt nicht zu verlieren.

»Es ist viel zu früh«, grummelte ich, während mich der Hunger zwang, mir eine Schüssel Cornflakes zurechtzumachen. Nach der kleinen Feier gestern war es nun wieder an der Zeit, im richtigen Leben anzukommen. Ich war gerade mit der Schule fertig geworden und hatte mich dazu bereit erklärt, im familieneigenen Blumenladen auszuhelfen. Das hatte ich schon früher öfters in den Sommerferien gemacht, weswegen es mir wie eine gute Möglichkeit erschien, die Zeit bis zum Studium zu überbrücken. Wenigstens musste ich nicht in die Schule wie mein Bruder, der immer noch seinen Ring drehte und ins Leere starrte. »Hallo? Erde an Bram. Gehen wir heute Abend dann die ersten paar Aufträge durch?«

»Hm? Ach so, ja«, nickte er geistesabwesend.

Wir waren beide keine Morgenmenschen.

»Bram, bist du so weit? Ich will gleich los!«, rief mein Vater von irgendwo aus dem Haus und weckte meinen Bruder damit aus seiner Starre.

»Äh, fast!«, schrie der zurück, obwohl er noch immer im Pyjama vor mir saß. Zum Glück fuhr ich mit unserer Mutter erst später zum Blumenladen. Unser Vater arbeitete im Büro eines Elektrounternehmens und musste deshalb früh los. Ganz zum Leidwesen Brams, der die Mitfahrgelegenheit brauchte, um zur Schule zu kommen. Fertig mit meinem dürftigen Frühstück stellte ich die Schüssel in das Spülbecken und überließ meinen Bruder seinem Dilemma. Ich selbst musste mich ebenfalls umziehen und frisch machen, schließlich ging es für mich nachher zur Arbeit.

Gesagt, getan. Eine halbe Stunde später saß ich am Küchentresen und wartete auf meine Mutter. Bram hatte es anscheinend noch geschafft, sich rechtzeitig fertig zu machen, denn weder er noch unser Vater waren irgendwo zu sehen. Ich wusste auf jeden Fall, woher mein Bruder dieses Problem mit dem Zeitmanagement hatte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte, dass wir den Blumenladen bald öffnen sollten. »Mam?«

»Ich komme schon!«

Meine Mutter trampelte die Treppe herunter, während sie sich als letzten Schliff noch Ohrringe ansteckte.

»Bist du fertig, Pia?«

»Seit geraumer Zeit…« Ich verkniff mir gerade noch, die Augen zu verdrehen.

»Dann lass uns mal los.« Sie schnappte sich die Autoschlüssel unseres zweiten Wagens und verschwand durch die Haustür. In etwas weniger rasantem Tempo folgte ich ihr. Wir hatten das Glück, ein Geschäft recht nahe der Innenstadt gefunden zu haben. Dort war die Miete zwar alles andere als billig, dafür kam deutlich mehr Kundschaft vorbei als beispielsweise in dem Außenbezirk, wo wir wohnten.

Meine Mutter parkte in einem Parkhaus nicht weit entfernt und wir liefen den Rest des Weges. Im Coffeeshop nebenan legten wir noch eine kurze Pause ein, um uns mit Koffein zu versorgen. Ich hielt den Pappbecher meiner Mutter, während sie die Tür zum Laden aufschloss. Meinen eigenen Becher hob ich dicht an mein Gesicht; der warme, nach Kaffee duftende Dampf stieg mir in die Nase. Ich seufzte genüsslich. Auf der ganzen Welt gab es wohl nichts, das besser roch.

»Gehst du schon einmal nach hinten und bereitest alles vor? Ich mach hier noch schnell die Kasse. Ach, und wenn du schon dabei bist, leg doch gleich noch Musik auf.«

Mit größtem Vergnügen kümmerte ich mich um die Musik. Das hieß nämlich, dass ich eine CD aussuchen konnte. Auch wenn das bei der Auswahl, die meine Mam zu bieten hatte, nicht unbedingt eine lange Suche wurde. »Celine Dion, ABBA, Elton John… Mam, jetzt haben wir schon wieder vergessen, ein paar coolere Sachen von zu Hause mitzunehmen!«

Die Antwort bestand lediglich aus den gesummten Anfangstönen von »My Heart Will Go On«.

»Oh nein, das tun wir unseren Kunden sicher nicht an.« Damit entschied ich mich für ABBA, meiner Erfahrung nach das kleinste Übel. Als das erste Lied einsetzte, durchquerte ich das Hinterzimmer und öffnete die Türe des Kühlraums in dem wir die Schnittblumen aufbewahrten. Zusammen bereiteten meine Mutter und ich alles vor. Blumensträuße und -gestecke wurden neu sortiert und im Laden ausgelegt. Auch draußen vor dem Ladenfenster stellten wir ein ansehnliches Angebot auf. Alles leuchtete in Rosa, Weiß und Gelb. Zufrieden stemmte ich die Hände in die Seiten. Es sah gut aus, wir waren bereit für unsere Kundschaft. Ich verzog mich in den Bereich hinter der Kasse und wartete. Im Hintergrund vermischte sich das Papiergeraschel, das meine Mutter im Büro verursachte, mit ABBAs mehrstimmigen Ausrufen nach Geld. Ich summte leise vor mich hin.

Das Geschäft lief heute eher träge. Immer wieder verirrten sich Kunden zu uns, doch die meisten schauten sich nur um. Ich trommelte den Rhythmus der Musik mit meinen Fingern auf dem dunklen Holz des Verkaufstresens mit.

Am Nachmittag kam dann langsam Leben in unseren Laden. Meine Mutter und ich standen beide am Tresen und verpackten die verkauften Blumen in braunes Papier. Deswegen sah ich auch nur flüchtig auf, als die Klingel über der Tür wieder mal einen neuen Kunden ankündigte. Doch kaum ging mein Blick zurück zu der Arbeit vor mir, registrierte mein Gehirn die Person, die eingetreten war. Caja, meine beste Freundin – eigentlich gerade auf einem Roadtrip mit ihrem Freund – stand im Laden und grinste mich über die anderen Kunden hinweg an. Schnell kassierte ich ab und umrundete dann den Tresen. »Was machst du denn schon hier?« Bei unserem letzten Gespräch hatte sie mir gesagt, dass sie erst in einer Woche wieder da sein würde. Doch nun stand sie hier. Ich umarmte meine groß gewachsene Freundin, wobei ihre schwarzen Haare – ein Erbe ihrer libanesischen Eltern – in meinem Gesicht landeten. Lachend befreite ich mich von ihren Locken. »Alles in Ordnung? Wo ist Robin?«

»Ja, keine Sorge. Alles in Butter. Wir sind nur ein paar Tage früher zurückgekommen.« Sie löste den dicken Schal, den sie sich um den Hals geschlungen hatte. »Und da dachte ich: überrasch ich doch einfach mal kurz Pia auf der Arbeit.«

»Eine hervorragende Idee!«

»Pia.« Meine Mutter wies mit dem Kopf auf die Arbeit in unserem Geschäft. Seufzend begann ich, ein paar verstreut herumliegende Dinge aufzuräumen, während ich zugleich Caja nach ihrer Reise ausfragte. »Wie war es denn? Wo wart ihr überall?«

Cajas Blick verklärte sich für einen Moment. »Ach, es war echt schön. Als erstes sind wir nach Antwerpen, dort haben wir eine Nacht geschlafen. Dann ging es weiter nach Gent, auch eine echt schöne Stadt! Mit ein paar Zwischenstopps in kleineren Städten sind wir schließlich nach Paris gefahren. Da waren wir drei Tage – haben eben alles angeguckt, Romantik pur und so. Tja, und danach sind wir wieder zurück. Es war echt toll! Wenn man selbst mit dem Auto unterwegs ist, sieht man einfach viel mehr. So was müssen wir auch mal machen, Pia.«

»Das klingt echt nach einem gelungenen Urlaub.« Ihren letzten Satz ließ ich unkommentiert. Denn zum einen war es für mich als KB besser, bei meinem Bruder zu bleiben, und zweitens war ich sowieso nicht der Typ dafür, die weite Welt zu bereisen. Mir gefiel es hier bei meiner Familie.

Caja sah auf ihre Armbanduhr. »Gut, ich lass dich mal lieber weiterarbeiten, bevor deine Mutter mich noch zum Teufel jagt.« Meine Mam, die das gehört hatte, zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Ach was«, winkte ich ab.

»Ich muss sowieso weiter zu Robin, wir sind gleich noch verabredet.«

Ich lachte. »Obwohl ihr gerade erst von einem Urlaub zurückkommt, bei dem ihr mehrere Tage rund um die Uhr aufeinander gehockt seid?«

Caja tätschelte gespielt herablassend meine Schulter. »So ist das nun einmal, wenn man verliebt ist. Das wirst du noch früh genug selbst erfahren.«

»Genau.« Sarkastisch nickte ich ihre Worte ab. Caja lachte kopfschüttelnd. »Also gut, wir sehen uns. Ciao, Pia! Ciao, Frau Gerittsen!«

Sie verließ den Laden und ich sah sie durch das Schaufenster Richtung Stadt spazieren. Inzwischen dämmerte es und auch das Geschäft hatte sich größtenteils geleert. Ich half meiner Mutter bei den letzten Kunden und schon konnten wir das Schild an der Tür auf »Geschlossen« drehen. Nachdem alles aufgeräumt war, fuhren wir nach Hause.

Müde in den Beifahrersitz gesunken konnte ich es mir trotzdem nicht verkneifen, den Takt der Radiomusik auf meinem Schenkel mit zu trommeln.

»Ich bin so froh, dass wir dir nie ein Schlagzeug gekauft haben.«

Ich sah meine Mutter an. »Was soll das jetzt heißen? Hattet ihr das mal vor?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Gut, dass wir es nicht getan haben.«

»Hey, mein Taktgefühl ist gut!« Ich tat empört, doch sie kaufte mir die Rolle nicht ab.

»Ja, ja. Aber eine furchtbare Schauspielerin bist du.« Sie machte eine kurze Pause, als sie in unsere Straße einbog. »Haben du und Bram euch schon wegen der Aufträge abgesprochen?«

»Noch nicht, aber das wollten wir heute Abend machen.«

»Gut, er dürfte ja schon von der Schule zurück sein.«

Das Auto kam vor unserer Garage zum Stehen und ich stieg aus. »Mag sein, aber das heißt nicht, dass er besonders motiviert sein wird, seine Pflichten zu erledigen.«

Es war durchaus nicht einfach, einen pubertierenden Amor in der Familie zu haben. Dauernd passte ihm irgendetwas nicht, oder er hatte besseres vor. Erstaunlicherweise wusste er trotzdem ganz schön viel über dieses Konstrukt namens Liebe – wobei das vermutlich mit dem Amor-Gen zu tun hatte. Und wenn es darauf ankam, war auf Bram doch Verlass. Schließlich war es nicht leicht, in seinem Alter schon eine solche Verantwortung tragen zu müssen. Natürlich blieb auch etwas davon an mir hängen, doch der Hauptpart ruhte definitiv auf seinen Schultern.

Wir betraten das Haus, und ich steuerte sofort die Küche an, um zu sehen, was mein Vater gekocht hatte. Da meine Mutter und ich in der Mittagspause nur eine schnelle Mahlzeit zu uns genommen hatten, freute ich mich besonders auf das selbstgekochte Essen. Vor allem, da mein Vater ein außerordentlich guter Koch war.

Wenig später saßen wir zu viert am Tisch. Während ich mit dem Messer eine Rauchwurst auf meinem Teller zerteilte, erinnerte ich meinen Bruder an seine Pflichten: »Hast du dir die Aufträge schon angesehen? Welcher ist als erstes dran, beziehungsweise wann?«

Die Angaben über das bevorstehende Zusammentreffen der Turteltauben zwangen uns oftmals einen strengen Zeitplan auf.

Mit vollem Mund antwortete Bram: »Hab mal drüber geguckt. Morgen wäre der erste Termin mit so einem Banker.«

Ich stöhnte. »Schon wieder so ein arroganter Schnösel?«

»Laut seinem Steckbrief soll er wohl ganz in Ordnung sein«, sagte mein Bruder schulterzuckend.

»Also gut, setzen wir uns nach dem Essen gleich dran?«

Bevor Bram den Mund öffnen konnte, fuhr unsere Mutter dazwischen: »Nicht so schnell. Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?«

Bram zog eine Grimasse.

»Du kennst doch die Regeln. Erst die Schule, dann Amor.«

Ich rollte mit den Augen. Was das anging, waren unsere Eltern ziemlich streng. Da war nichts zu machen, egal wie fasziniert meine Mam noch immer von unserer Arbeit war. Falls sich also jemand wundert, warum er noch nicht den Deckel zu seinem Topf gefunden hat: Gut möglich, dass der liebe Amor erst noch seine Schularbeiten erledigen muss.

 

Und so kam es, dass ich die Wartezeit damit vertrödelte, durch das eher bescheidene Fernsehprogramm zu zappen. Jeder zweite Sender zeigte irgendeinen romantischen Schrott. Danke, aber das Zeug musste ich mir schon oft genug im echten Leben antun, mir war eher nach einem Film mit reichlich Action. Etwas, das nicht aus zwei klischeehaften Turteltauben bestand. Stattdessen blieb ich aber nach einiger Zeit an einer Doku über die Mafia hängen. Damit konnte ich auch leben. Zufrieden wickelte ich mich enger in meine Decke ein. Bald schon war ich von dem Thema völlig gefesselt, weswegen mich das plötzliche Räuspern hinter mir aufschrecken ließ.

»Hallo, Schwesterchen. Wärst du dann jetzt so weit, um mit unserer Arbeit zu beginnen?« Er grinste süffisant, zweifellos amüsiert darüber, dass er mich erschreckt hatte.

»Sicher, lass uns loslegen.«

Er umrundete das Sofa und ließ sich neben mich fallen. In seinen Händen hielt er den Stapel der uns zugeteilten Aufträgen. Er nahm die obersten zwei Zettel und reichte sie mir. »Ein Banker namens Johan und eine Dame, die Touren für Touristen organisiert. Ihre Wege kreuzen sich des Öfteren, da sie mit der gleichen Bahn zur Arbeit fahren. Morgen wäre wieder so eine Gelegenheit.« Er zeigt auf die Stelle im Steckbrief, wo diese Informationen vermerkt waren. Dort standen zuerst die genauen Koordinaten, an dem die zwei aufeinandertreffen würden (für die schwierigen Fälle hatten wir immer ein GPS-Gerät dabei), darunter war noch die Bahnlinie, Haltestelle und eine Uhrzeit notiert: 7:13 Uhr.

Zu der Zeit sollten wir also zur Stelle sein. Wie genau wir dann vorgehen würden, hing von der Situation ab. Die Hauptsache war, dass Bram beide mit seinem Ring berührte und zwar direkt hintereinander. Ich half ihm immer dabei, die Turteltauben geschickt zu positionieren, damit ja nichts schiefging. Aber eigentlich begann meine Arbeit erst nach Brams Eingreifen. Erst dann konnte ich spüren, wie es um die Klischees stand. Während mein Bruder seinen Ring hatte, um seine Aufgabe zu erfüllen, hatte ich andere Gaben. Die eine war eine Art sechster Sinn, was Klischees anging. Konzentrierte ich mich auf zwei bestimmte Turteltauben, dann wusste ich, wo und wann ein Klischee stattfinden würde. Aber da es diese ja meistens zu verhindern galt, besaß ich noch eine andere Fähigkeit: Wenn ich nahe genug an so einer Szene dran war und die Augen schloss, dann konnte ich das Bevorstehende ändern. Es hatte etwas von einem Theaterstück, das ich nach Belieben umschreiben konnte. Ein paar Korrekturen hier, ein paar Änderungen da und schon nahm das Geschehen einen anderen Verlauf. Klischee umschifft. Es war ja nicht so, dass jedes romantische Klischee schlecht war (objektiv gesehen), doch um der Balance willen sollten zumindest die Klischees vermieden werden, die sich vor dem ersten Kuss abspielten. Danach konnte man die Turteltauben sich selbst überlassen. Jedenfalls in der Regel. Es gab Ausnahmesituationen, in denen ein Kuss nur der Anfang war und bei denen die Klischees von da an erst so richtig ihren Lauf nahmen. Dann belief sich meine Bearbeitungszeit etwa auf den ersten Monat nach dem Vorfall. Pi mal Daumen galt: mindestens 2 von 3 der Klischees waren umzuschreiben. Ich hatte mich bisher eigentlich immer gut an das Pensum halten können. Zudem gab es auf der ganzen Welt jede Menge Klischeebeauftragte wie mich. Da wog ein einzelner Patzer nicht so schwer. Trotzdem nahm ich meine Berufung natürlich ernst. Wo kämen wir denn hin, wenn alle ihre Verantwortung auf die anderen abschieben würden?

»Wie sieht es bei dir morgen früh mit Schule aus? Klappt das, oder müssen wir einen anderen Termin suchen?«

»Passt perfekt. Die erste Stunde fällt morgen aus. Wir können das also gleich erledigen.«

»Super, wann steht der nächste Auftrag an?«

Bram blätterte kurz im Stapel. »Montag. Aber das ist auch wieder einer mit mehreren Chancen. Also nichts Dringendes.«

Ich runzelte die Stirn. »Okay, aber das besprechen wir dann noch mal. Sind ja noch ein paar Tage bis dahin. Konzentrieren wir uns erst mal auf den Auftrag morgen.«

»Ganz deiner Meinung. Ich habe jetzt sowieso noch ein Date mit meiner X-Box. Das lässt sich auch nicht verschieben.«

Mit einem wohlwollenden Augenrollen knuffte ich ihm in die Seite. »Schon gut, Amor. Ich hab verstanden.«

Grinsend stand er auf und ließ mich mit meiner Mafia-Doku allein zurück. Es war ein Dreiteiler.

 

Nach Jahren gemeinsam erledigter Aufträge hatten Bram und ich ein ganz eigenes System der Kommunikation entwickelt. Zusammen bestiegen wir die Straßenbahn, zwei Stationen bevor die beiden Turteltauben dazukommen würden. So früh morgens waren wir nicht nur Bram und ich unterwegs, es herrschte reger Berufsverkehr, die Bahn war voll. Und nicht nur ein bisschen – vielmehr fühlte ich mich wie eine Zutat in einem menschlichen Sandwich. Bram hatte ich im Gedränge aus den Augen verloren und ich hoffte, dass uns das nicht noch Probleme bereiten würde. Das war immer eine Herausforderung bei Jobs in Menschenmengen: einander nicht zu verlieren, aber auch die beiden Zielpersonen rechtzeitig zu finden, damit Bram sie mit seinem Ring berühren konnte – und zwar nur die beiden. Eine Präzisionsarbeit, die hier in der überfüllten Bahn durchaus schwierig werden konnte. Die Bahn hielt und die Passagiere verwandelten sich in Wackelkopffiguren – bildlich gesprochen natürlich. Noch eine Haltestelle, dann mussten Bram und ich die Ein- und Ausgänge gründlich im Blick behalten. Denn dann würde Opfer Nummer Eins, Johan, ebenfalls einsteigen. Ich reckte mich auf der Suche nach meinem Bruder. Zwei Meter weiter entdeckte ich seinen dunkelblonden Haarschopf. Als er endlich zu mir rübersah, hob ich fragend eine Augenbraue. Bram nickte. Wir verstanden uns auch ohne Worte. Es war so weit, wir fuhren an der entscheidenden Haltestelle ein. Während sich Leute an mir vorbei sowohl hinaus- als auch hereindrängten, hielt ich Ausschau nach Johan, dessen Bild auf dem Steckbrief ich mir genauestens eingeprägt hatte. Bram und ich hatten die Bahn aufgeteilt – ich beobachtete den vorderen Teil, er den hinteren. Bei mir war unser Banker nicht eingestiegen, doch ein Blick zu Bram bestätigte mir, dass er ihn gefunden hatte. Unauffällig wies er nach rechts, wo ein Mann im Anzug an eine Haltestange gelehnt stand und auf seinem Handy herumtippte. Das war Johan. Dunkles Haar, das sorgfältig nach hinten gegelt war, und eine Brille, die ihm fast von der Nase rutschte. Sehr gut, dann fehlte nun nur noch sein Gegenstück: Amelie. Die ließ auch nicht lange auf sich warten. Eine Station später stieg sie dazu, unter dem Arm eine fast überdimensional große Handtasche. Startschuss für Bram und mich. Die beiden Turteltauben standen viel zu weit auseinander, als dass mein Bruder sie mit dem Ring hätte zusammenführen können. Deswegen mussten wir uns schnell etwas einfallen lassen. Was das anging, hatten wir einiges in Petto. Kaum sah ich also, wie er seine Kopfhörer hervorholte und mich fixierte, wusste ich Bescheid. Der Namenstrick.

Ich rückte ein wenig näher an Amelie heran. Dann erhob ich meine Stimme. »Johan!« Rufend gestikulierte ich in die Richtung des Bankers. Der reagierte sofort auf seinen Namen. Er schaute sich suchend nach bekannten Gesichtern um. »Johan, jetzt komm schon her.«

Meine Einlage erntete bereits jetzt einige böse Blicke. Aber das war die übliche Reaktion. Dafür verhielt sich auch der Banker Johan wie erwartet: fragend zeigte er mit dem Daumen auf sich selbst. »Ja, was guckst du jetzt so dumm? Komm einfach rüber. Worauf wartest du denn? Johan!«

Die Eindringlichkeit in meiner Stimme reichte; als die Bahn erneut hielt, nutzte Johan die entstehenden Lücken, um sich zu mir vorzukämpfen.

»Entschuldigung, meinst du mich? Kennen wir uns?«

Ich unterdrückte ein Lächeln und schaute ihn mit erhobenen Augenbrauen an. Bevor ich antworten musste, trat Bram neben Johan. »Nein Mann, sie meint mich.«

Noch während er das sagte, zog er demonstrativ einen Kopfhörer aus seinem Ohr. Etwas verlegen machte der Banker einen Schritt nach hinten. »Oh, ich dachte…« Seine Stimme erstarb. Bram schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken und ich wusste, dass er dem Herrn gerade seinen Goldring an die nackte Haut zwischen Haaransatz und Anzugkragen presste. »Klar, ist doch kein Ding.«

Ich nickte auf den Blick meines Bruders. Jetzt nur noch die Frau. Zu unserem Glück hielt die Bahn just in diesem Moment – eine Ampel. Bram inszenierte ein Stolpern und berührte Amelie mit seinem Ring. »Sorry«, murmelte er, woraufhin wir uns zurückzogen. Unsere beiden Turteltauben lächelten einander verlegen an, ihre Mienen schienen zu sagen: Ach, die Kinder von heute. Ein guter Anfang. Brams Ring entfachte nicht sofort das Feuer der unsterblichen Liebe, es versprach keine Ewigkeit. Manchmal gab es Menschen, die wir mehrmals vermitteln mussten – Amor war keine Garantie. Er gab lediglich den Anstoß, den Funken, der jemanden dazu brachte, ein zweites Mal hinzusehen. Nervöse Blicke und verlegenes Lächeln, dafür waren die Amors verantwortlich. Das schleichende Gefühl des Sichverliebens. Und da eben diese Anfangsphase am klischeereichsten war, hatten die KBs da auch jede Menge zu tun. Johan und Amelie hatten zwar bisher noch kein Wort miteinander gewechselt, doch mein sechster Sinn sagte mir, dass sich etwas anbahnte. Doch bevor irgendetwas passieren konnte, wandte ich mich schnell an meinen Bruder: »Gut gemacht. An der nächsten Station steigst du aus und fährst Richtung Schule, verstanden? Weißt du, welche Linien du nehmen musst?«

»Ja, ja und ja. Keine Sorge, das ist nicht das erste Mal, dass ich so was mache. Und Frau Jonker ist eh locker drauf.«

Frau Jonker, seine Erdkundelehrerin. Über die hatte ich ja schon einige Geschichten gehört…

»Trotzdem. Guck einfach, dass du keinen Ärger bekommst. Sonst kriege ich Stress mit Mam.«

Er lachte. »Okay, Schwesterchen.«