In der Dämmerung Band 1 - Rebekka Jost - E-Book

In der Dämmerung Band 1 E-Book

Rebekka Jöst

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Beschreibung

Irland 1848. Die Insel erlebt die furchtbarste Hungersnot ihrer Geschichte, die das Land für immer verändern wird. Doch sie wird auch die Iren verändern, die - jeder auf seine Weise - ums Überleben kämpfen. An einem verhangenen, regnerischen Tag im Juni besteigen die Schwestern Madeleine und Isabella eines der zahlreichen Segelschiffe, die zu dieser Zeit in die neue Welt aufbrechen. Auch der Arzt Laurence Huton ist auf dem Weg zu diesem Schiff, um seine Heimat für immer zu verlassen. Wie es dazu kam, davon handeln die ersten drei Bände von "In der Dämmerung". In der Dämmerung I Rising of the moon In der Dämmerung II Against the famine and the crown In der Dämmerung III Island of sorrows Historischer Roman

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Seitenzahl: 485

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Klappentext

Irland 1848. Die Insel erlebt die furchtbarste Hungersnot ihrer Geschichte, die das Land für immer verändern wird. Doch sie wird auch die Iren verändern, die - jeder auf seine Weise - ums Überleben kämpfen.

An einem verhangenen, regnerischen Tag im Juni besteigen die Schwestern Madeleine und Isabella eines der zahlreichen Segelschiffe, die zu dieser Zeit in die neue Welt aufbrechen. Auch der Arzt Laurence Huton ist auf dem Weg zu diesem Schiff, um seine Heimat für immer zu verlassen.

Wie es dazu kam, davon handeln die ersten drei Bände von "In der Dämmerung".

In der Dämmerung I Rising of the moon

In der Dämmerung II Against the famine and the crown

In der Dämmerung III Island of sorrows

Historischer Roman

Personenliste:

Mr. Jules Dubois

Mrs. Mary Dubois

Isabella Dubois

Madeleine Dubois

Adrian Carter, Bekannter und Geschäftspartner von Mr. Dubois

Miss Coughlan, Haushälterin

Margret, Köchin

Miss Leahy

Grace, Stubenmädchen

Mr. Sheehan, Gärtner

Dr. Baker

Dr. Fitzgerald, Klavierlehrer

Lord John Huton

Lady Catherine Huton

John Huton

Jacob Huton

Laurence Huton

Eliza Huton

Lady Elizabeth Huton

Alexander Huton

Lord Thomas Thornton

Lady Joana Thornton

Lydia Thornton

Lord Albert Cartwrite

Elionora Cartwrite

Tom Cartwrite

Henry Cartwrite

Cara Cartwrite

Andrew Cahill, Lehrer von Isabella und Madeleine

William (Will) Cahill, Bruder von A. Cahill

Jane Cahill, Schwester von A. und E. Cahill

Mr. Warner, William Cahills Vorgesetzter

Kate, Bedienstete im Hause Cahill

Taghd Brennan (gesprochen: Tige)

Caoimhe Brennan (gesprochen: Kiewa

Daoiri O´Monroe, Freund von Taghd Brennen

Stammbaum der Dubois´am Ende des Romans!

The rising of the moon (altes irisches Volkslied)

"And come tell me Sean O'Farrell, tell me why you hurry so Hush a bhuachaill, hush and listen and his cheeks were all aglow

I bear orders from the captain, get you ready quick and soon For the pikes must be together at the rising of the moon At the rising of the moon, at the rising of the moon For the pikes must be together at the rising of the moon And come tell me Sean O'Farrell, where the gathering is to be At the old spot by the river quite well known to you and me One more word for signal token, whistle out the marching tune With your pike upon your shoulder at the rising of the moon At the rising of the moon, at the rising of the moon With your pike upon your shoulder at the rising of the moon Out from many a mud walled cabin eyes were watching through the night

Many a manly heart was beating for the blessed morning's light Murmurs ran along the valley to the banshee's lonely croon And a thousand pikes were flashing by the rising of the moon By the rising of the moon, by the rising of the moon And a thousand pikes were flashing by the rising of the moon All along that singing river, that black mass of men was seen High above their shining weapons flew their own beloved green Death to every foe and traitor, whistle out the marching tune And hoorah me boys for freedom 'tis the rising of the moon 'Tis the rising of the moon, 'tis the rising of the moon And hoorah me boys for freedom 'tis the rising of the moon“ Gesungen unter anderem von: Luke Kerry, The Dubliners, The Clancy Brothers und The High Kings.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

II.

„Geh mein Kind, suche dir ein eigenes Königreich, das deiner würdig ist.

Makedonien ist nicht groß genug für dich.“

(Plutarch, Alexander 6.)

Bei Caherdaniel, Irland, August 1847

Als William Cahill den Strand erreicht hatte und unter größter Anspannung seiner Sehkraft über den Sandstreifen zum Wasser starrte, konnte er ihre schemenhaften Gestalten im Mondlicht erkennen.

Es sind mindestens zehn Männer, schoss es ihm durch den Kopf. Da verdunkelte sich plötzlich alles und er hatte Mühe, sich zu orientieren. Verdammt.

Er musste unbedingt näher heran. Aber zunächst galt es, abzuwarten, bis der Mond wieder hinter der Wolke hervor kam. Andererseits würden sie ihn dann auch leichter entdecken.

Mit einem Mal erreichten ihn vom Wind herübergetragene obszöne Wortfetzen. Sie fluchten über die Dunkelheit. Es war das Vokabular der niedersten Gasse Dublins, was ihm ein Grinsen der Schadenfreude entlockte.

Dann wurde es wieder heller. Einige Yards vor ihm standen vereinzelte Sträuche, an deren Geäst der Wind zerrte. Ein Blick zum Himmel verriet ihm, dass in Kürze wieder Dunkelheit herrschen würde. Er würde den Moment abpassen. Es war ein gutes Stück über Sand und er musste sich beeilen. Er versuchte sich genau Entfernung und Strecke einzuprägen. Sein Herz schlug doch zu schnell. Ein erwachsener Mann, Detective einer Sondereinheit der Royal Irish Constabulary! Und doch Herzrasen wie ein Schuljunge beim Äpfelsteh... jetzt galt es! Los! Er duckte sich in dem Moment, als der Mond wieder hinter einer Wolke verschwand und sprang auf den Sand herab. Er strauchelte leicht, dann rannte er los, so schnell er konnte. So leise er konnte. Noch ein Stück. Jetzt musste er die Büsche doch erreicht haben? Er konnte nur hoffen, dass die Richtung stimmte. Der Wind schlug ihm entgegen und der Sand erschwerte jeden Schritt. Dann spürte er das Gestrüpp. Er hatte es genau getroffen.

Schnell warf er sich zu Boden und versuchte, seinen Atem zu drosseln. Unsinnig, besonders leise sein zu wollen. Da vorne und gegen den Wind, der vom Meer herüberwehte und vor allem unter der schweren Arbeit, unter großer Eile würden sie ihn auch nicht hören, wenn er sich mit jemandem unterhielte. Jedoch musste er zunächst wieder zu Atem kommen.

Von seiner Position aus blickte er über die Dünen und erkannte die Männer nun deutlicher. Ihre dunklen Schattengestalten hoben sich vor dem mondbeschienenen Meer ab.

„Macht schneller! Los jetzt!“, wiederholten sie miteinander in jener grobschlächtigen Weise, die seine Verachtung weiter anheizte. Elf Männer, ganz genau; er sah, wie sie schwerfällige Kisten aus dem Boot zogen, Mühsal gezeichnet in jeder Bewegung. Wieder schob sich eine Wolke vor den Mond und verdunkelte das verbrecherische Treiben am Strand. Wieder musste er ausharren und konnte er nur sein Herz pochen hören. Offenbar ein letzter Nachhall des schnellen Laufes über den Sand. Dann tauchten die Männer wieder im Mondlicht auf.

„Mach schneller! Los jetzt!“

Sie trugen die Kisten über den Strand, ein Stück entfernt an ihm vorbei. Hinten, wo der Strand endete, waren ebenfalls Männer. Sie verluden die Kisten vermutlich auf einen Pferdewagen und brachten sie fort. Drecksschmuggler! Dieses Pack. Doch gewiss waren es nur Handlanger. Die Hintermänner machten sich hier nicht die Hände ...

„Da bewegt sich was!“

Er fuhr aus seinen Beobachtungen auf. William hielt den Atem an, schmiegte sich tiefer in das bodennahe Dickicht.

Einer der Leute deutete in seine Richtung.

Er hatte sich nicht bewegt. Das Gestrüpp, das Gestrüpp musste sich bewegt und den Kerl alarmiert haben.

„Das sind nur die Sträucher!“, rief ein anderer.

„Ja, genau, das sind nur die Sträucher!“, hörte William sich selbst murmeln. „Macht nur weiter ... Ihr seid doch viel zu einfältig ...“ Er machte intuitiv eine Bewegung zurück. Doch jetzt im Mondlicht vermochte er sich nicht zurückzuziehen. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht herüber kommen und nachsehen würden.

„Das Zeug steht hier überall rum. Lasst uns weiter machen. Ich will nach Hause!“, rief eine der Gestalten.

„Meine ich auch. Pack die Kiste mit an. Wir müssen hier fertig werden, sonst haben wir tatsächlich bald Gaffer!“

„Ich sehe lieber nach.“ Der Kerl ließ sich nicht beschwatzen. Er machte einige beunruhigende, aber wenig zielstrebige Schritte auf William zu. Feigling, schoss es William durch den Kopf. Fast musste er lachen über diesen Kerl. Wollte seinen Leuten demonstrieren, wie mutig er war und bei dem Gedanken, dass da einer im Gestrüpp hocken könnte verließ ihn seine Verwegenheit. So waren sie, die Iren. Don´t wet your pretty cheaks with tears2. Er grinste unwillkürlich. Nur in der Horde konnten sie den Anschein erwecken, Schneid zu besitzen, aber waren sie auf sich gestellt, dann taugten sie nur noch zum Buckeln. Er schnaubte abfällig. Doch ganz ungefährlich war seine Situation nicht. Wenn dieser Schwachkopf näher kam, würde es ziemlich ungemütlich werden. Verflucht ... er kam näher. Jetzt war William nicht mehr zum Lachen zumute.

„Mann, lass gut sein, da is nix. Das ist nur die Angst vor deiner Alten, wenn du wieder nach Sonnenuntergang nach Hause kommst, die dir die Sinne trübt!“ Einer der Männer schien jedenfalls lieber die Arbeit zügig zu Ende bringen zu wollen. Doch auch er klang nun wenig überzeugt.

Der Wichtigtuer kam nun bedrohlich nahe. Gleich würde William sein Gesicht sehen können. Ein unbändiger Drang wollte ihn veranlassen, augenblicklich aufzuspringen und die Flucht zu suchen. Doch der Mann wirkte kräftig. Er hätte ihn schnell eingeholt. Oder sollte er die Flucht nach vorne wagen und den Kerl zu Boden werfen, bevor er das Weite suchte?

Zur Hölle! Jetzt musste William etwas einfallen ... etwas grandioses oder es ...

„Ist da was?“, gellte es vom Wasser herüber.

Der Mann reagierte nun nicht mehr auf seine Komplizen. Er war ganz mit der Situation befasst.

Da erkannte William tatsächlich bereits seine Gesichtszüge. Hervorstehende Wangenknochen, struppiges Haar, Mitte vierzig, oder älter? Oder jünger? So genau war das nicht zu sagen. Die Iren alterten schnell, ein bulliger Typ ... Tu was! William suchte drängend nach einem Ausweg.

August 1847, Adhmaid House nahe Shanagarry, County Cork, Irland

Andrew Cahill verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und zupfte mit geübter Hand die Ärmel seines tadellos sitzenden schwarzen Gehrocks zurecht. Dabei prüfte er sorgsam die Knopfreihe seiner feinen Weste aus festem Wollstoff, die sich geschmeidig über dem makellos weißen Hemd spannte. Seine dunklen Hosen, dezent gestreift und perfekt gebügelt, schmeichelten seiner stattlichen Figur. Die polierten schwarzen Schuhe glänzten im einfallenden Licht wie Ebenholz.

Mit einer bewussten Bewegung fuhr er sich über das Gesicht, welches von ordentlich zur Seite gekämmtem Haar gerahmt wurde, das seine hohe Stirn frei ließ. Andrew verstand die Kunst der Haarpflege, und die sorgfältigen Locken über seinen Ohren zeigten seine Bemühungen, ein respektables Äußeres zu wahren. Seine Side-Whiskers, denen er große Sorgfalt widmete, verliehen ihm eine würdige Aura, wie es sich für einen Mann seines Standes, einen Lehrer, geziemte. Sein akkurat getrimmter Schnurrbart war frei von jeglicher Eitelkeit oder extravaganten Zwirl; er war ein Mann der Einfachheit und des Ernstes. Das restliche Gesicht war glattrasiert und vermittelte eine Ruhe und Ernsthaftigkeit, die er sich bewusst aneignete.

Obwohl Andrew bereits ein Jahrzehnt seines Lebens dem ehrenvollen Beruf des Lehrers gewidmet hatte, erfüllte ihn die Erwartung, sich einer neuen Familie, deren Töchter seiner Obhut anvertraut würden, vorzustellen, mit nervöser Aufregung, die er kaum verbergen konnte. Er wusste nur zu gut, dass der erste Eindruck von größter Bedeutung war. Diese ersten Momente konnten über Monate und Wochen hinweg das Bild bestimmen, das man von ihm haben würde. Man vermag zu sagen, was man wollte, der erste Eindruck prägte die Beziehung in einer Weise, die nur mit großem Aufwand und über lange Zeit hinweg zu ändern war. Oft entschied er für alle Zeit.

Er verscheuchte solche wenig förderlichen Gedanken und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Es galt, sich von seiner besten Seite zu zeigen und den Ansprüchen der neuen Arbeitgeberin gerecht zu werden. Ein tiefes Atmen und ein innerliches Sammeln halfen ihm, die nötige Ruhe zu finden. So bereit, schritt Andrew zur Tür, an der in Kürze sein neues Kapitel beginnen würde.

Er wollte sich zwingen, sich auf die Einrichtung des Saales, in welchem er sich nun befand zu konzentrieren.

Grün gemusterte Tapeten, blank poliertes Parkett, alles machte den Eindruck, vollkommener Reinlichkeit und Ordnung. Sicher wachte eine penible Haushälterin auf die einwandfreie Ausführung der Hausarbeiten. Da wurden am Morgen, bevor die Herrschaften erwachten, die Dienstmädchen durch die Flure, Säle und Räume gescheucht und es durfte kein Staubkorn, keine Falte, keine Ungenauigkeit übersehen werden. Nun, darauf konnte er sich einstellen. Kurz ertappte er sich bei der Feststellung, dass ihn der Anblick langweilte, dann jedoch obsiegte sein Verstand. Alles war exakt so, wie es sich gehörte. Hier herrschte strikte Ordnung. Sein Blick schweifte weiter, aus dem großzügigen Fenster hinaus in den Garten. Doch anders, als er es erwartet hatte, blieb sein Blick nicht an gerade geschnittenen Hecken, kurzem Rasen und sauber angelegten Rosenbeeten hängen, sondern nur auf den ersten Blick erschien der Garten gepflegt. Bei genauem Hinsehen offenbarte er in jeder Ecke die Schludrigkeit des Gärtners. Andrew verwirrte diese Erkenntis. Sie passte nicht zu dem Bild, dass das Innere des Hauses abgab. Sie passte nicht zu dem Eindruck, den er ansonsten hatte.

Da öffnete sich eine der Türen.

„Sie werden gebeten einzutreten.“ Das Mädchen in der schlichten Uniform blickte zu Boden und ließ ihn passieren.

Er trat mit großen, schweren Schritten durch die Tür und verschaffte sich zügig einen Überblick über den Raum in den er getreten war.

Rot gemusterte Tapeten, Möbel aus Mahagoniholz mit Intarsien, ein schwerer Teppich auf blank poliertem Parkett, Gemälde in Überlebensgröße mit landschaftlichen Motiven. Schwere rubinrote Gardinen umrahmten die Fenster.

Vor dem Sekretär, der den Mittelpunkt des Raumes bildete, hob sich eine schlanke, hohe Gestalt ab. Das musste die Hausherrin sein. Mary Dubois. Sie trug ein hochgeschlossenes, mit Bändern verziertes, violett weißes Kleid, bestehend aus mindestens zehn Volants, so genau konnte er das nicht sagen, weil er sich nicht dabei erwischen lassen wollte, dass er die Volants seiner künftigen Arbeitgeberin zählte. Die Pagodenärmel wurden nach unten hin weiter und in der Armbeuge von breiten Schleifen geschmückt. Die Unterarme, die zwei Volants freigaben, wurden von mit Spitzen verzierten, weißen Unterärmeln bedeckt. Ein eleganter Hut bedeckte das Haar der Dame und rahmte zugleich ihr sehr feines Gesicht.

„Guten Tag, Mr. Cahill, willkommen in meinem Hause. Hatten Sie eine angenehme Anreise?“, fragte sie in leisem aber bestimmtem Ton.

Er erwiderte ihre Begrüßung und ließ sich, wie geheißen auf einem Stuhl nahe des Sekretärs nieder.

Sie setzte sich ihm gegenüber. „Mr. Dubois lässt seine Entschuldigung übermitteln. Er weilt derzeit außer Hauses, wird jedoch zu gegebener Stunde Ihre Bekanntschaft machen und Sie mit gebührendem Respekt willkommen heißen. Haben Sie das Zeugnis Ihrer letzten Anstellung bei sich? Ihre Referenzen habe ich sorgfältig geprüft und werde Ihnen diese sogleich zurückgeben. Sie sind, wie ich feststellen konnte, von einwandfreiem und untadelhaftem Charakter. Sollte es Ihnen genehm sein, wird Grace Ihnen alsbald die verschiedenen Räumlichkeiten zeigen. Nachdem Sie in etwa einer Stunde Ihre Anreise überstanden und eine angemessene Mahlzeit zu sich genommen haben, wird es mir eine Freude sein, Ihnen meine Töchter vorzustellen.“ Bei diesen Worten griff sie nach einem kleinen, eleganten Glöckchen und betätigte es mit leichter Hand. Fast augenblicklich öffnete sich die Tür, durch welche Andrew hereingetreten war, von Neuem.

Das Mädchen erschien.

Andrew Cahill hatte nicht den Eindruck, dass eine Erwiderung seinerseits erforderlich, ja erwünscht war. Er brauchte lediglich seine Zustimmung bekunden und alles geschah, wie angekündigt. Er deutete eine Verbeugung in Richtung der Hausherrin an und folgte Grace aus dem Raum.

„Ihre Räume befinden sich im Ostflügel. Dort ist auch das Personal untergebracht. Sie beziehen die Räume im ersten Stock. Dort werden Ihnen keine niederen Bediensteten begegnen. Lediglich Miss Coughlan, die Haushälterin, bewohnt diese Etage, wobei der Durchgang zu den Räumen von Miss Coughlan selbstverständlich verschlossen ist.“

Andrew Cahill folgte dem Mädchen und betrat schließlich einen hübschen kleinen Raum, an den sich, der Anzahl der Türen nach zu schließen, mindestens zwei weitere Räume anschlossen. Das Bett stand mitten im Raum. Ein Schrank, ein Tisch ...

„Ihr Arbeitsraum befindet sich hinter der linken Tür. Rechts befindet sich ein Waschraum. Ich werde Ihnen gleich eine Erfrischung bringen. Haben Sie noch Wünsche?“

Andrew verneinte und schloss hinter dem Mädchen die Zimmertür.

Er holte tief Luft.

Die erste Begegnung war überstanden.

Erleichtert ließ er sich auf das Bett fallen und streckte sich aus. Nun würde er noch die Töchter kennenlernen. Und den Herrn des Hauses.

Es war ein unprätentiöser Neubeginn im Hause Dubois.

Er hatte sich mit seinen wenigen Habseligkeiten in seinem neu zugewiesenen Heim mit Bedacht und einer gewissen Bescheidenheit eingerichtet. Er widmete sich seinen Pflichten als Hauslehrer der Töchter mit jener Sorgfalt und Hingabe, die er für angemessen erachtete. In den Stunden, da er sich von seinen Aufgaben frei machen konnte, begab er sich stets nach Cork, einem tristen und wenig einladenden Städtchen. Dort besuchte er Jane, die in einem kleinen, eigens angemieteten Stadthaus in der Shandon Street, nahe der ehrwürdigen St. Anne’s Church, lebte.

Während er gemächlich an den drei mannshohen, von schweren, dunklen Brokatvorhängen eingefassten Fenstern an der Außenwand auf und ab schritt, die Hände am Rücken gefaltet, blickte er vom einen zum anderen Mädchen.

Sie saßen an dem großen, spiegelblank polierten Teakholztisch, jede in ihre Arbeit vertieft. Die eine mit dunklem, die andere mit hellem Haar. Die eine ruhig und bedächtig, schweigsam und ernst, die andere noch mehr Kind als junge Dame. Und dies, obwohl zwischen ihnen kaum mehr als zwei Jahre Altersunterschied lagen.

„Miss Madeleine, ist Ihnen das Buch zu schwer verständlich oder zu langweilig?“

Sie sah wie ertappt, den Blick aus dem Fenster unterbrechend, zu ihm hinüber. „Verzeihen Sie, ich war nur einen Augenblick abgelenkt. Die Geschichte Alexander des Großen kann gewiss nicht als langweilig bezeichnet werden.“

„Dann müssen Sie sich durch den Text mühen?" Er wusste selbstverständlich, dass dies nicht der Fall sein konnte. Er war gewiss kein großer Menschenkenner, aber seine Schüler wusste er stets einzuordnen, und diese Mädchen waren alles andere als begriffsstutzig.

„Es kommt mir, offen gestanden, gelegentlich zu abenteuerlich vor, was dieser Mann durchgestanden haben soll.“ Madeleine blickte ihn vorsichtig an, als sei sie sich seiner Reaktion auf ihren Zweifel an dem historischen Werk über Alexander den Großen nicht sicher.

“Zweifeln Sie dieses historische Werk an, oder bezieht sich Ihr Zweifel auf die Möglichkeit, solche Abenteuer als Mensch bestehen zu können?“ Er sah das Mädchen forschend an.

Sie schien zu überlegen. Schließlich sagte sie: „Möglicherweise beides gleichermaßen … Plutarch mag ein Historiker sein, wenn er als solcher bezeichnet wird, dennoch erscheint es mir, als wolle er viel mehr mit seinen Schriften ausdrücken, nicht nur geschichtliche Ereignisse wiedergeben. Aber zugleich kann ich schwerlich glauben, dass einem Menschen all dies in seinem kurzen Leben widerfahren kann und er solche Abenteuer bestehen kann. Im Alter von nur 32 Jahren das Perserreich zu unterwerfen, Herrscher über die Welt zu werden, neue Gebiete zu erkunden …“ Sie hielt unvermittelt inne, als behalte sie eine weitere Anmerkung lieber doch für sich.

Andrew betrachtete die jungen Damen vor ihm mit wohlwollender Zufriedenheit. „In der Tat, Sie haben nicht unrecht, wenn Sie annehmen, dass Plutarchs Absicht über das bloße Aufzeichnen historischer Ereignisse hinausging. Ich habe Ihnen nicht ohne Grund das Vorwort vorenthalten. Doch was war sein eigentlicher Beweggrund? Was meinen Sie?“

Miss Isabella, die ältere der beiden Schwestern, hob ebenfalls den Blick und wartete, ebenso interessiert wie aufmerksam, auf die Antwort ihrer Schwester. Die jüngere Schwester zögerte, nachdenklich, wohl aus Furcht, etwas Unpassendes zu sagen.

Andrew erkannte jedoch die Aufgeschlossenheit und den wachen Geist der älteren Schwester. Er sah darin eine Gelegenheit, ihren scharfsinnigen Verstand zu fördern. „Miss Isabella, möchten Sie uns Ihre Gedanken zu diesem Thema mitteilen?“, fragte er sie in freundlichem Ton.

Miss Isabella antwortete ohne Zögern: „Mein Eindruck ist, dass Plutarch die Berühmtheiten in seinen Schriften als exemplarische Gestalten darstellt. Er möchte vermitteln: Handelt nach ihrem Vorbild oder meidet ihr Verhalten – er nutzt sie als moralische Leitbilder.“

In diesem Augenblick klopfte es leise an die Tür.

„Ja bitte?“ Er warf einen raschen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war Zeit für die Mädchen und ihn, sich frischzumachen und für das Dinner anzukleiden.

Madeleine betrat mit einem Gefühl der Erleichterung ihr Schlafgemach und schloss aufatmend die Tür hinter sich. Sie ließ sich rasch auf ihrem Lieblingsplatz am Fenster nieder.

Die Sonne war beinahe untergegangen. Der Horizont war bereits in rosa Töne getaucht, die blauen Wolken davor sahen aus wie ein Gebirge, dass sich vor dem Sonnenuntergang erhob, alles war in ein abendliches Licht getaucht. Leicht wippten die Blätter der Sträucher und Bäume in dem weitläufigen Park, der sich unter ihrem Fenster ausbreitete, im milden Abendwind.

Sie zog die metallenen Halterungen mit einem quietschenden Geräusch zur Seite und stieß die Fensterflügel weit auf. Leicht knarrten die Fassungen in den Rahmen. Sie genoss die frische salzige Brise, die von der See herüber wehte und nun in ihr Zimmer drang.

Wie gut dies tat. Seit dem Frühstück hatte sie die Stunden fast ausschließlich mit Lernen zugebracht. Es hatte lediglich eine Mittagspause von zwei Stunden gegeben. Sie war erschöpft von den langen Stunden, die sie über den Büchern gesessen hatte. Das Korsett engte sie nach solch einem Tag besonders ein. Über Stunden hatte sie so aufrecht gesessen, wie sie es vermochte, nun schmerzte ihr Rücken. Sie hatte den ganzen Tag über kaum ihre Beine bewegen können. Sie ließ sich in die Lehne sinken und schloss die Augen, als sich ihr Rücken löste.

Hier war niemand, der sie hätte korrigieren können. Wäre das Dinner nicht so nahe herangerückt, so hätte sie wohl ihr enges Mieder und das Korsett abgestreift und sich erschöpft auf ihr Bett fallen lassen.

Am Dienstag verlangte ihre Mutter ihnen immer die meisten Lernstunden ab, im festen Glauben, dass dieser Wochentag in besonderer Weise zum Lernen geeignet sei. Doch am Dienstag gab es nur zwei Dinge, die Erleichterung schafften: Ein halbstündiges Ausruhen oder ein belebender Ausritt mit Aodhán, um die vielen Stunden des stillen Sitzens auszugleichen.

Morgen jedoch würden sie und ihre Schwester Isabella bereits um vier Uhr nachmittags von ihren Studienpflichten entbunden sein. Dann würde nur noch Dr. Fitzgerald erscheinen, um sie am Piano zu unterrichten, eine Stunde, die ihr keinerlei Mühe bereitete. Im Gegenteil, diese Unterrichtsstunde zählte zu ihren liebsten. Insbesondere in den letzten Tagen, am Sonntag und an diesem Dienstag, hatte sie viel Zeit am Pianoforte verbracht und „Die Abendempfindung“ von Wolfgang Amadeus Mozart geübt. Zwar spielte sie Mozarts Werke sehr gerne, doch es war Johann Sebastian Bach, dessen Kompositionen sie noch mehr in ihren Bann zogen.

Die Übungen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ schätzte sie besonders, ebenso wie die melodischen Kirchenlieder, die Dr. Fitzgerald oft erwähnte. Er hatte ihr die Schönheit der Hallen von Kirchen beschrieben, wo diese Lieder in vollendeter Klangpracht widerhallten. Madeleine hatte bisher noch nie einer Messe beigewohnt, auch war sie niemals in einer Kirche gewesen, doch sie hegte den Wunsch, irgendwann einmal das Erlebnis zu haben, die erhabenen Lieder von Bach in solch einer Umgebung zu hören.

Noch mehr als Bach begeisterten sie die Lieder des deutschen Komponisten Franz Schubert, von dem sie bereits einige Stücke spielen gelernt hatte. Dr. Fitzgerald lud in regelmäßigen Abständen bekannte Sänger ein, die zu Madeleines Spiel sangen – diese Momente waren für sie die wunderbarsten.

Auch das Violinespiel wurde Madeleine und Isabella beigebracht, und auch dies war eine Quelle der Freude für Madeleine. Insgesamt fiel ihr das Lernen nicht schwer. Doch das Stillsitzen – endlose Stunden mit Büchern vor sich, während die Minuten zäh und unbeweglich verstrichen.

Das Reiten bereitete ihr stets eine ganz besondere Freude. Selbst das einfache Kochen in der Küche bei Margret ging ihr leicht von der Hand und bot ihr eine willkommene Abwechslung. Obwohl ihre Mutter der Meinung war, dass diese Tätigkeit einer Dame nicht ziemte, und es ihr missfiel, dass Madeleine so viel Zeit in der Küche verbrachte.

Alexander … mit 32 Jahren Herrscher über die damals bekannte Welt!

Und sie? Sie hatte in der halben Zeit noch nicht einmal ihr Elternhaus verlassen, abgesehen von einigen wenigen Besuchen in Cork bei der Schneiderin. Sie war ausschließlich umgeben von ihrer Familie, ihren Bediensteten und den Lehrern, die sie unterrichteten.

Und was würde noch auf sie zukommen? Sie würde heiraten und eine Familie gründen, in wenigen Jahren. Sie würde ihre Bediensteten anweisen, würde ihre Kinder großziehen und die Pflege des Anwesens überwachen.

Wie anders musste das Leben Alexanders des Großen gewesen sein, wie anders war er geartet, solch monumentale Abenteuer zu bestehen! Diese Gedanken hatten sie während der Vormittagsstunden eingenommen. Doch zum Glück vermochte sie, solche Ideen und Träumereien vorsichtig vor der Welt zu verbergen. Solche Gedanken waren nichts, was sie einem Lehrer gegenüber aussprechen wollte.

Isabella ging leichten Schrittes durch die Korridore des Hauses. Das Gehen war herrlich, nach den langen Stunden des Arbeitens im Sitzen. Ihre Beine bewegten sich fast von allein.

Doch es war nicht nur das, was sie beinahe hüpfen machte. Es war ein Gefühl, dass sie nicht oft verspürte, es war ein Ge-fühl von Fröhlichkeit. Sie führte es auf die Unterrichtsstunde zurück. Mr. Cahill, schien mit ihrer Antwort sehr zufrieden gewesen zu sein.

Ihr gefiel er. Er hatte eine angenehme Art zu unterrichten.

Anders als sein Vorgänger schien er es zu mögen, wenn sie und Madeleine sich Gedanken machten. Über Gedichte, über die Natur, über die Historie. Er forderte sie zu Überlegungen geradezu heraus. Dabei hatte sie tatsächlich manchesmal das Gefühl, als könne sie seinen Gedanken sehr gut folgen und als könne sie mit ihren Gedanken das Gespräch in die eine oder andere Richtung lenken. Dieses Gefühl war wunderbar. Ihr machte der Unterricht große Freude. Das war bislang nicht der Fall gewesen. Bisher war ihr das nicht so klar ins Bewusstsein gedrungen, weil sie die Lernstunden nicht anders gekannt hatte, doch mit diesem Lehrer war es etwas anderes.

Er ermahnte auch Madeleine nicht stets, wie es Mr. Farrell getan hatte. Isabella bemerkte in diesem Augenblick, wie ungern sie an Mr. Farrell zurückdachte. Er hatte Madeleine beinahe schon den Eindruck vermittelt, sie sei eine unbegabte Schülerin, lediglich da sie derart von Lebendigkeit war. Dies verübelte Isabella ihm zutiefst.

Unwillkürlich und fast ohne es zu bemerken, war sie durch die Korridore des Anwesens bis zu den Gemächern ihrer Mutter gelangt. Sie wünschte sich, ihrer Mutter mitzuteilen, wie wunderbar sie es fand, diesen neuen Lehrer zu haben. Doch würde diese jetzt Zeit für sie haben? So kurz vor dem Dinner? Sie wollte es versuchen. Mit gebührendem Respekt und einer Spur von Zaghaftigkeit klopfte sie an die massive Tür.

„Wer klopft da?“, erklang eine gedämpfte Stimme aus dem Inneren.

„Mutter, ich bin es, Isabella, darf ich eintreten? Ich habe etwas mit dir zu besprechen!“, rief sie mit einer Spur von Überschwang im Ton, der ihren Worten eine gewisse Dringlichkeit verlieh.

Einen Moment lang lag eine erwartungsschwere Stille in der Luft, dann vernahm Isabella die Stimme ihrer Mutter: „Isabella, dies ist wahrlich nicht der rechte Moment. Ich befinde mich in den Vorbereitungen für das Dinner. Gönne es mir, dass du mir zu einem späteren Zeitpunkt davon berichtest“

Die Worte trafen Isabella wie ein kalter Windstoß, der ihre fröhliche Gesinnung augenblicklich erstarren ließ. Sie spürte, wie die freudige Stimmung aus ihrem Inneren wich und einer bedrückten Schwere Platz machte. Ihre Fröhlichkeit war wie davon geweht.

So würde sie sich ebenfalls bereitmachen, um zumindest rechtzeitig beim Abendessen zu sein.

Das abendliche Dinner wurde stets im roten Salon serviert. Hierzu hatten sich alle Familienmitglieder um 18:30 Uhr einzufinden.

An diesem Abend war es Madeleine, die, wie so oft, als Erste in den Salon trat. Ihr Hunger zu dieser Stunde war in gleichem Maße regelmäßig wie der präzise Takt der alten Pendeluhr, die den Raum zierte und mit ihrem Schall belebte.

Sie schritt gemächlich an dem voluminösen Mahagonitisch entlang, der diesen Raum füllte, und ließ ihre Finger über die filigranen Schnitzereien gleiten, die die edle Tischplatte schmückten. Wie jeden Abend konnte sie auch heute kein einziges, winziges Staubkorn entdecken. Grace machte ihre Arbeit wahrlich gründlich. Mrs. Coughlan überwachte selbstverständlich jeden Handgriff, doch Madeleine hatte auch noch niemals wahrgenommen, dass Grace jemals eine Arbeit nachlässig verrichtet hätte, wenn Mrs. Coughlan sie nicht beobachtete.

Madeleine konnte sich nur schwerlich vorstellen, solch eine monoton wiederkehrende Arbeit Tag für Tag und Jahr für Jahr mit der gleichen Sorgfalt zu verrichten. Glücklicherweise würde ihr dies Schicksal erspart bleiben. Wie ihre Mutter würde sie dereinst als Dame des Hauses fungieren und mit der gebotenen Autorität Haushaltsdinge überwachen. Jedoch musste eine solche genauestens die Abläufe im Hause bis ins Detail kennen und überwachen, hörte sie in Gedanken ihre Mutter sagen.

Noch jedoch lag ein weiter Weg vor ihr, da sie, erst vierzehnjährig, vorerst keine eigene Haushaltspflicht zu führen haben würde. Zunächst würde Isabella verheiratet werden, die mit ihren sechzehn Jahren bereits ein heiratsfähiges Alter erreicht hatte.

Isabella war stets makellos in ihrer Haltung gewesen und würde die Rolle als Hausherrin mühelos auszufüllen wissen – so dachte Madeleine, die ihresgleichen bewunderte. Trotz dieser Reife hatte Isabella keinerlei Eile, vor den Altar zu treten, wie Madeleine wohl wusste, da Isabella ihr dies anvertraut hatte.

Isabella vertraute ihr alles an. So wie sie ihr alles anvertraute. Beinahe alles. Ob Isabella ihr auch nur beinahe alles anvertraute? Nein, Isabella hatte keine Geheimnisse, welche Geheimnisse sollte sie schon haben.

Just in diesem Moment öffnete sich die Tür, und Mrs. Dubois betrat den Raum. Dies riss Madeleine unvermittelt aus ihren Gedanken.

Die Tür war noch nicht geschlossen, als auch schon die Gouvernante Melissa und Elizabeth brachte und sich nahezu gleichzeitig Isabella einfand.

Mrs. Dubois ließ alle Platz nehmen und das Essen wurde aufgetragen. Hierfür war Grace zuständig.

Es gab im Hause Dubois nur Mrs. Coughlan, die Haushälterin, die die übrigen Bediensteten unterwies, die Köchin Margret, das Kindermädchen Miss Leahy, Grace und den Gärtner Sheehan.

An den Waschtagen kamen stets zwei Frauen aus der näheren Umgebung, und für spezielle Aufgaben, vor allem fürs Holzsä-gen und Hacken kamen einmal die Woche zwei Burschen, die Sheehan näher kannte und die auf diese Weise für ihre Familien etwas dazu verdienten.

„Vater wird erst spät zurückkehren. Wir speisen heute ohne ihn“, stellte Mrs. Dubois klar und verwendete nur einen Augenblick darauf, ihre jüngste Tochter Elizabeth mit einem strengen Blick zu bedenken, der dem ungeduldigen Hin- und Herrutschen auf dem rotgepolsterten Lehnstuhl geschuldet war. „Auch eine achtjährige Dame kann ruhig abwarten, bis das Dinner beginnt.“

Elizabeth nickte und bemühte sich sichtlich um Contenance.

Madeleine blickte ihre kleine Schwester liebevoll an. Sie war immer noch das Baby in ihren Augen. Doch ihre Mutter duldete keine Ausnahmen. Jeder, der im roten Salon zu speisen wünschte, hatte dieselben Regeln zu befolgen. Ansonsten konnte die Mahlzeit in der Küche bei Margret eingenommen werden. Jedoch wünschte dies keine der Duboischen Töchter. Die Mahlzeiten stellten die wenigen Momente dar, in denen die Familie sich zusammenfand.

„Isabella, mein Kind, welchen Eindruck hat Mr. Cahill auf dich hinterlassen?“, erkundigte sich Mrs. Dubois in einem ernsten, doch forschenden Ton.

„Der Unterricht mit Mr. Cahill ist überaus anregend. Seine Methodik, uns zahlreiche Fragen zu den besprochenen Themen zu stellen, erleichtert mir das Lernen ungemein“, erwiderte Isabella.

Mrs. Dubois ließ diese Worte unkommentiert an sich vorbeiziehen und wandte sich sodann an ihre zweitälteste Tochter: „Madeleine, wie würdest du den Unterricht bei Mr. Cahill beschreiben?“

„Die Stunden verfliegen regelrecht, und es fällt mir leichter, die erlernten Inhalte im Gedächtnis zu behalten“, antwortete Madeleine. Erst als sie diese Worte aussprach, wurde ihr vollumfänglich bewusst, wie treffend diese Beobachtung, die ihr zuvor nicht bewusst gewesen war, war.

„Mr. Cahill tut sich zudem durch seine Freundlichkeit hervor, weit mehr als es Mr. Farrell je vermochte!“, fügte Isabella eilig hinzu und konnte eine gewisse Begeisterung in ihrer Stimme nicht verbergen.

Madeleine blickte verwundert zu ihrer Schwester hinüber. Es war höchst ungewöhnlich, dass Isabella sich ungefragt äußerte, insbesondere gegenüber ihrer Mutter.

„Isabella!“ Mrs. Dubois Tonfall war unverkennbar tadelnd, wobei keinerlei Dankbarkeit für Isabellas Zwischenspiel anklingend zu spüren war.

Weiteres fügte Mrs. Dubois nicht hinzu – es war auch kaum nötig. Ihre knappe Reaktion genügte, um die angemessene Stille zu etablieren.

Sogleich senkte Isabella ihren Blick und musterte die Hände in ihrem Schoß.

Die verbleibende Zeit des Dinners verbrachten die Anwesenden in schweigsamer Zurückhaltung. Die Atmosphäre war von einer Schwere durchzogen, die dafür sorgte, dass selbst das leise Klirren des Bestecks wie ein störender Klang in der erhabenen Stille widerhallte und die Worte und inneren Empfindungen niemanden zu verlassen wagten.

Isabella rang mit all ihrer Kraft, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie hatte sich bereits von der Schlafzimmertür ihrer Mutter abweisen lassen müssen. Nun, hier am Tisch, hatte sie den festen Willen, ihrer Mutter zu berichten, wie es ihr erging; wie erleichtert sie doch gewesen war, dass der alte Lehrmeister durch einen anderen ersetzt worden war, der Madeleine mit weit mehr Güte begegnete.

Das Senken des Hauptes machte es nicht eben leichter, die Tränen zurückzuhalten. Sie musste sich beherrschen. Wenigstens vor ihren kleinen Schwestern. Das sollte ihr nicht wieder passieren. Allzu große Freude konnte zu unbeherrschter Sentimentalität führen. Dann fiel einem die Selbstbeherrschung bedeutend schwerer. Somit konzentrierte sie sich auf das Ein- und Ausatmen, doch das machte es auch nicht besser. Zwanghaft lenkte sie ihre Gedanken auf das Mahl vor ihr, auf das beständige Ticken der ehrwürdigen Standuhr, und auf das leise Klappern von Besteck und Geschirr. Endlich gelang es ihr, ihre Gedanken auf andere, belanglose Dinge zu richten und die innere Ruhe wieder zu finden. Nach einigen Augenblicken vermochte sie schließlich, ihr Haupt leicht zu erheben und mit einem zaghaften Lächeln die Runde zu mustern.

Da waren Melissas samtbraune Augen, die stets nach Isabellas Blick suchten. Mit größtmöglicher Freude lächelte sie ihrer Schwester zu. Melissa erwiderte dieses Lächeln mit kindlicher Unbeschwertheit. Elizabeth war tief versunken in der Beschäftigung, ein Stück Gemüse aufzuspießen, während Madeleine ihr ebenfalls lächelnd zusah. Jedoch wagte Isabella keinen Blick gen ihrer Mutter zu richten.

Nach dem Essen verabschiedeten sich alle voneinander.

Mrs. Dubois zog sich zurück und Miss Leahy kam, um Melissa und Elizabeth abzuholen, doch Isabella erklärte ihr, sie dürfe sich nun auch zurückziehen, sie würde die Schwestern zu Bett bringen.

„Ich werde euch später gute Nacht wünschen“, verkündete Madeleine den Schwestern leise. „Doch zuvor muss ich mich nochmals hinüber in den Pferdestall begeben."

„Tue dies, doch sei achtsam und reite mit Bedacht; die Dämmerung bricht bereits herein.“ Isabella war wohl bewusst, was Madeleine bezweckte. Wenngleich sie selbst dem Reiten weniger zugetan war als ihre Schwester, erfreute sie sich stets an Madeleines Ausgelassenheit, die mit deren Rückkehr von jedem Ausritt einherging.

„Mr. Sheehan wird sicher mit mir reiten.“ Mit diesen Worten entschwand Madeleine.

Isabella war sich im Klaren darüber, dass Madeleine ihr Dinnerkleid gegen ein praktisches Reitkostüm eintauschen müsste, bevor sie sich in den Stall begab.

„Danke, dass du uns zu Bett bringst, Isabella!“ Elizabeth hielt mit glücklichem Gesichtsausdruck die Hand der großen Schwester und hüpfte leicht auf und ab.

„Schhhh“, machte Isabella. Sie wollte keinen weiteren Unmut verursachen, indem sie den Mädchen gestattete, nach dem Dinner zu laut zu sein. „Ich werde euch beim Umkleiden und Waschen helfen und dann werde ich euch eine Geschichte erzählen. Was meint ihr: Die Geschichte vom Bär oder die Geschichte vom Hirsch?“

Beide Mädchen hatten sie erwartungsvoll angesehen, nun mussten sie kichern. „Aber Isa, das ist doch die gleiche Geschichte!“

Isabella lächelte geheimnisvoll. „Nun denn, so sollte die Wahl nicht schwer fallen!“

Madeleine trat hinaus in die aufkommende Dämmerung. Der Abend legte sich bereits schwer über das Anwesen, und es schien, als würde die Dunkelheit mit jedem Augenblick dichter und tiefer. Ein kühler Windhauch, der die Frische des Meeres in sich trug, strich über das Land, und kaum hatte sie die schwere Tür hinter sich geschlossen, umfingen sie sofort die wohlvertrauten abendlichen Geräusche.

Sie hegte eine tiefe Zuneigung für diesen Zeitpunkt des Tages und das vielstimmige Konzert der zirpenden Grillen. Ferne bellte ein Hund, und das sanfte Rascheln der Blätter in den Bäumen vermischte sich harmonisch mit den anderen Geräuschen

Ihr Reitkleid, das sie für ihren Ausflug gewählt hatte, war zum Gehen zu lang, sodass sie den Saum leicht anheben musste. Das Kleid saß bequem, da sie es nur lose geschnürt hatte. Die Enge der Korsagen war ihr stets zuwider, und wann immer es möglich war, mied sie das enge Schnüren. Ihre Mutter durfte dies jedoch nicht bemerken. Wenn sie dereinst heiratete, konnte sie sich das feste Schnüren noch immer angewöhnen.

Der Kies knirschte leicht unter ihren Stiefeln, als sie zum Stall eilte. Sie konnte es kaum erwarten, bei Aodhán zu sein.

Als sie die Stalltür öffnete, knarrte diese leise. Dann nahm sie den Geruch von Heu und Stroh und von Pferden wahr. Im Stall war es wärmer als draußen. Leises Wiehern zeigte an, dass die Pferde ihre Anwesenheit bemerkt hatten.

„Miss Madeleine, so lassen Sie sich doch helfen!“ Sheehan war plötzlich hinter ihr erschienen und half ihr nun, die schwere Tür weiter aufzuschieben.

„Vielen Dank, Sheehan. Werden Sie mich auf meinem Ausritt begleiten?“ Sie sah den Gärtner freundlich an. Cillian Sheehan war ein feiner Kerl. Gerade fünfzehn Jahre alt, hatte er vor einem Jahr die Arbeit seines Vaters übernommen, als dieser plötzlich schwer erkrankt war und nicht mehr im Garten arbeiten konnte.

Er war hochgewachsen, wie es nicht selten bei denjenigen vorkam, die sich hauptsächlich von der Kartoffel ernährten. Doch trotz seiner schmalen Gestalt besaß er eine beträchtliche Kraft. Scheu, hingegen, vor harter Arbeit war ihm fremd. Im Gegenteil, er schien seine anstrengenden Tätigkeiten mit einer Art von stiller Befriedigung auszuführen. Seine Haut, der Witterung beständig ausgesetzt, war bereits lederartig beschaffen. Das Haar, in wilder Unordnung von seiner Stirn abstehend, hatte eine Farbe, die schwerlich zu beschreiben war. Im Reiten glich er Attila, dem König der Hunnen, so sicher und furchtlos vermochte er ein Pferd zu beherrschen.

In diesem Jahr, in dem sie die Freuden zahlreicher abendlicher Ausritte mit ihm geteilt hatte, hatte Madeleine selbst ihre Reitfähigkeiten beträchtlich zu steigern vermocht.

„Selbstverständlich, Miss Madeleine“, sprach er mit der für ihn typischen Gelassenheit und dem Hauch eines Lächelns, das seinen Augen zu entspringen schien, während seine Mundpartie vielmehr gelassen wirkte.

Sheehan und sie waren ein eingespieltes Reitduo. Jeder kannte seine Handgriffe und in kürzester Zeit waren Aodhán und Cathal gesattelt und gehalftert. Die längste Zeit dieser wenigen Minuten hatte Madeleine damit vergeudet, zu entscheiden, ob sie anstandshalber den Damensattel, oder aus pragmatischen Erwägungen heraus den Herrensattel wählen sollte.

Ihr Kleid hatte sie bereits im Anschluss an den dritten Ausritt mit dem jungen Sheehan in mühsamer Handarbeit heimlich zurecht geschnitten und umgenäht, sodass man auf den ersten, zweiten und auch dritten Blick nicht zu erkennen vermochte, dass man es nun mühelos auch im Herrensattel tragen konnte.

In Sheehan hatte sie einen treuen und verlässlichen Verbündeten gefunden. Sie brauchte nicht zu fürchten, dass er ihr Vertrauen missbrauchte oder sie verriete. Für ihn stellte es ein ungemein wertvolles Privileg dar, die Möglichkeit zu haben, während ihrer Ausritte ein edles Ross wie Cathal zu reiten.

Madeleines Vater, stets von einer tiefen Leidenschaft für Pferde erfüllt, hatte einst vier prachtvolle Tiere aus einem der renommiertesten Gestüte der Region erworben. Im Gegensatz dazu war Callum, das Pferd, das er und sein Vater hielten, ein betagter Klepper von wenig Glanz.

Wie so oft hatte Madeleine auch dieses Mal den Herrensattel gewählt, welcher ihr eine größere Beweglichkeit auf dem Pferderücken ermöglichte und sie besser in die Lage versetzte, ihren treuen Aodhán zu führen.

Mit geschicktem Handgriff brachten sie die Pferde aus dem Stall und saßen nach wenigen Augenblicken auf. Die Strecke gen Meer war Madeleines liebste Route. Sie führte zunächst durch ein schattiges Waldstück und durch ein kleineres Moor.

„Die Sonne wird bald am Horizont verschwunden sein!“, rief Madeleine Sheehan zu.

Er wusste, was sie damit sagen wollte. „Wenn Sie galoppieren wollen, dann sollten wir das jetzt tun. Auf dem Rückweg ist es zu dunkel!“, erwiderte er deshalb ohne Umschweife.

Als Madeleine zurückkehrte, war sie vollkommen erschöpft, und gleichermaßen wohlauf. Sie kleidete sich um, so schnell es ihr gelingen mochte, wusch sich den Staub aus dem Gesicht und eilte zu dem Schlafraum ihrer kleinen Schwestern.

Beide waren bereits eingeschlafen.

Isabella saß noch bei ihnen.

Eine Kerze tauchte den Raum in gedämpftes, flackerndes Licht und man hörte nur den ruhigen Atem der schlafenden Mädchen.

Madeleine gesellte sich schweigend dazu. Es war ein Moment von vollkommener Ruhe und Abwesenheit jeglicher Anspannung. Niemand hegte Erwartungen an sie, und es gab nichts, dem sie Beachtung schenken mussten. Es herrschten einfach nur Stille und Frieden.

Alsbald verließ sie gemeinsam mit Isabella den Raum, während sich Miss Leahy mit einer Stickerei zu den Mädchen setzte.

Isabella begleitete Madeleine in ihr Schlafgemach. Auch Isabellas Lieblingsplatz war der Stuhl am Fenster. Sie nutzte die Gelegenheit, sich dort niederzulassen, während die Nacht nun gänzlich hereingebrochen war und die Dunkelheit das Fenster ganz erfüllte.

„Ich werde dein Haar kämmen!“, bemerkte Madeleine, immer noch beschwingt von dem wunderbaren Ausritt und der Ruhe des Kinderzimmers.

Isabella antwortete nicht, und so begann Madeleine behutsam, das Haar ihrer Schwester zu lösen und zog sodann den Elfenbeinkamm behutsam durch das weiche Haar.

„Ich wünschte, dass mir bald ein Antrag gemacht wird“, brach Isabella unvermittelt das Schweigen.

Madeleine hielt erschrocken inne. Der dunkle, ernste Klang von Isabellas Stimme ließ die Wirklichkeit mit einem jähen Ruck wiederkehren. Es fühlte sich an wie ein plötzliches Aufschlagen auf hartem Boden.

„Doch dann wirst du uns verlassen. Und du wirst deinen Zukünftigen zu jenem Zeitpunkt noch in keiner Weise kennen!“, erwiderte Madeleine ernst.

„Das ist mir einerlei. So ist es eben. Ich werde ihn kennenlernen, entweder während der Verlobungszeit oder erst nach unserer Hochzeit“, antwortete Isabella flüsternd.

2 Benetze deine hübschen Wangen nicht mit Tränen.

III.

„... Und unterm grimmen schwarzen Wind,