In der Dämmerung III - Rebekka Jost - E-Book

In der Dämmerung III E-Book

Rebekka Jöst

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Beschreibung

Irland, 1847, im Schatten der Großen Hungersnot Sturmgepeitschte Wellen schlagen gegen die felsige Westküste Irlands. Der Wind trägt den Duft von Torfrauch und Verzweiflung über die Felder. Es ist jene Zeit, in der das Land von der Großen Hungersnot in die Knie gezwungen zu werden droht. Die Kartoffelfäule hat bereits 2 Jahre lang gewütet, Hunger, Krankheit und Tod greifen um sich, und die Hoffnung scheint so grausam zerstört wie die letzten übrig gebliebenen Pflanzungen. Inmitten dieses Elends wächst Madeleine Dubois auf Adhmaid House, dem Anwesen ihres Vaters auf, der so viele Geheimnisse birgt wie ihre Familie selbst. Währenddessen erlebt Laurence, Sohn eines britischen Lords in England, seine eigene innere Revolte im wohlgeordneten Haus seines Vaters. Leidenschaftlich wünscht er sich, als Arzt zu praktizieren. Doch sein Vater hat längst seine Zukunft ersonnen und eine Ehe arrangiert, die Laurence die Ausübung seines Berufes verbietet. So sieht Laurence sich gefangen in Zwängen einer Gesellschaft, in der Herkunft alles ist, und Verständnis für das Elend Irlands nicht existiert. In diesen Wirren ihrer Zeit nimmt das Schicksal seinen Lauf für Laurence und Madeleine. Laurence landet schließlich durch den Clou seines gewieften Onkels in Dublin. Doch er wird eine Entscheidung treffen müssen. Wird Madeleine rechtzeitig die Gefahren erkennen, die die Geheimnisse ihrer Herkunft bergen?

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Seitenzahl: 566

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Klappentext

Irland 1848. Die Insel erlebt die furchtbarste Hungersnot ihrer Geschichte, die das Land für immer verändern wird. Doch sie wird auch die Menschen verändern.

An einem verhangenen, regenschweren Junitag besteigen die Schwestern Madeleine und Isabella Dubois eines der zahlreichen Segelschiffe, welche in dieser verzweifelten Zeit in die verheißungsvolle Neue Welt aufbrechen. Auch der Arzt Laurence Huton ist auf dem Weg zu diesem Schiff, entschlossen, seine Heimat unwiderruflich hinter sich zu lassen.

Wie es dazu kam, davon handeln die ersten drei Bände von "In der Dämmerung".

In der Dämmerung I Rising of the moon

In der Dämmerung II Against the famine and the crown

In der Dämmerung III Island of sorrows

Es wird weitergehen mit:

In der Dämmerung IV Sailing out on the ocean

Historischer Roman

Die Autorin Rebekka Jost ist gebürtige Hamburgerin, lebt jedoch in Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist Rechtsanwältin und Schriftstellerin.

Von ihr erschienen sind zudem: Das Versteck im roten Haus – Roman Tiefes Vergessen – Roman Murias Vermächtnis – Roman Murias Vermächtnis – Kinderroman Mathilda und der Mann auf der Bank – Kinderbuch Von Zahlendrachen und Schulterzwergen - Kinderbuch

The Land o´ the leal (altes schottisches Volkslied)

I'm wearin' awa', Jean,

Like snaw-wreaths in thaw, Jean,

I'm wearin' awa'

To the land o' the leal.

There's nae sorrow there, Jean,

There's neither cauld nor care, Jean,

The day is aye fair

In the land o' the leal.

Ye were aye leal and true, Jean,

Your task's ended noo, Jean,

And I'll welcome you

To the land o' the leal.

Our bonnie bairn's there, Jean,

She was baith gude and fair, Jean,

And we grudged her right sair

To the land o' the leal.

Then dry that tearfu' ee, Jean,

My soul langs to be free, Jean,

And angels wait on me

To the land o' the leal.

Now fare ye weel, my ain Jean,

This warld's care is vain, Jean,

We'll meet and aye be fain

In the land o' the leal.1

Trad. schott. Lied. Der Text wird häufig Lady Caroline Nairne (1766– 1845) zugeschrieben, einer schott. Dichterin, die viele Lieder schrieb, die heute als Teil des schottischen musikalischen Erbes gelten. Das Lied hat sich im Laufe der Zeit als ein beliebtes Stück in der schottischen Volksmusik etabliert und wurde von vielen Künstlern interpretiert, einschließlich Andy M. Stewart, der für seine gefühlvollen Darbietungen traditioneller schott. Lieder bekannt war. Die Übersetzung ins Deutsche finden Sie am Ende des Romans auf Seite 390.

1 Quelle: https://en.wikisource.org/wiki/The_Book_of_Scottish_Song/Land_o%27_the_Leal , zuletzt abgerufen am 20.02.2025 um 20:33 Uhr.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

I.

„Das Sterben in der Dämmerung ist schuld An dieser freudenarmen Ungeduld; Herb ist´s, das langersehnte Licht nicht schauen Zu Grabe gehen in seinem Morgengrauen.“

Aus „Die Albigenser“ von Nikolaus Lenau2

Adhmaid House nahe Shannagarry, County Cork, Irland

Obgleich Madeleines Herz seit ihrem Entschluss, ihrem Vater zu trotzen, in höchster Aufregung schlug, erfüllte sie gleichermaßen ein erhebendes Gefühl der Freiheit, als sie sich leise an dem robusten, hölzernen Küchentisch niederließ. Sie betrachtete schweigend und mit einem Anflug stiller Freude Margret, welche ihr den Rücken zugewandt hatte und ihre Ankunft vorerst nicht gewahrte.

Die Zuneigung, die Madeleine für Margret hegte, glich jener, die sie wohl einer innig geliebten Großmutter gegenüber empfunden hätte, dächte man sich die Existenz einer solchen. Diese Einsicht nährte ihr aufrichtiges Bedauern darüber, Margret allzu lange vernachlässigt zu haben.

Würde Margret Madeleine jemals ihre lange Abwesenheit verzeihen? War es doch ihr gutes Recht, enttäuscht und verstimmt über ihre lange Vernachlässigung zu sein.

In diesem Augenblick wandte sich Margret um und zuckte erschrocken zusammen. „Ó uafás3, Sie haben mich erschreckt!“, entfuhr es ihr mit weit geöffneten Augen. Sodann musterte sie Madeleine schweigend und ein Ausdruck, der gleichermaßen Staunen wie zurückhaltende Freude in sich trug, legte sich über ihre Züge.

Eine Etage höher blickte Isabella erstaunt aus dem Fenster. Eine Kutsche fuhr soeben in den Innenhof des Anwesens ein. Vater und Mutter hatten kein Wort über einen angekündigten Besuch verlauten lassen.

Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete sie, wie der Kutscher behände vom Bock sprang und mit geübtem Griff das Gefährt öffnete.

Eine Dame entstieg dem Vehikel der Kutsche. Sorgsam ordnete sie ihre Krinoline, bevor sie den Blick hob und ihn über die Fassade des Hauses schweifen ließ. Isabellas Herz machten einen Hüpfer. Es war Jane.

Sie warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Rasch verließ sie ihr Gemach, eilte den Korridor entlang und stieg die Treppe hinab. Noch auf den Stufen vernahm sie das Klopfen am Portal. Auf der untersten Stufe verharrend, erwartete sie in gespannter Haltung, dass jemand vom Hauspersonal die Tür öffnen würde.

Hallende Schritte verkündeten, dass sich jemand näherte und Mrs. Leahy trat ins Foyer. Sie hatte Isabellas Anwesenheit wohl noch nicht wahrgenommen.

„Miss Cahill!“, rief Mrs. Leahy.

„Ich wünsche, Miss Isabella zu sprechen. Ist dies wohl möglich?“, hörte Isabella die Stimme Janes.

An Janes bestimmtem Unterton erkannte Isabella, dass ihre Freundin eine gewichtige Nachricht zu überbringen hatte. Sie trat hervor. „Jane, wie liebenswürdig, dass Sie mich besuchen!“, rief sie. „Treten Sie doch ein.“

Mrs. Leahy deutete höflich eine Verbeugung an und trat zur Seite, um Jane Einlass zu gewähren.

Jane wirkte sichtlich erleichtert beim Anblick Isabellas.

Nachdem Mrs. Leahy Jane die Mantille und den Hut abgenommen hatte, bedeutete Isabella Jane, ihr zu folgen. Sie suchten die Bibliothek auf. Dort wären sie ungestört. Vater war vor einigen Tagen erneut nach Dublin abgereist und wurde erst am Abend zurückerwartet, während Mutter sich aufgrund ihrer jüngst häufiger einsetzenden Unpässlichkeiten zurückgezogen hatte.

Im Kamin glomm ein Feuer, dessen spärliches Licht flackernde Schatten über die in den deckenhohen Regalen aneinander gereihten Bücher warf. Jane trat ein und ließ ihren Blick einen flüchtigen Moment unschlüssig über das Interieur der Bibliothek schweifen.

Isabella schloss sorgsam die schwere Eichentür und betrachtete Jane unschlüssig. Eine vage Angst nagte in ihr und löste das dringende Verlangen aus, den Anlass dieses unverhofften Besuches zu ergründen.

Jane wandte sich zu Isabella und ihre Blicke trafen sich.

Isabella suchte Janes Blick zu deuten, doch dies gelang ihr nicht, was ihre Sorge verstärkte, dass etwas Bedeutendes vorgefallen sein musste.

Während sie Jane betrachtete, überkam Isabella der sehnliche Wunsch, sie in die Arme zu schließen und Janes weiches Haar durch ihre Finger gleiten zu lassen, doch das unbestimmte Gefühl, dass etwas geschehen sein musste, hielt sie davon ab.

Jane schien es ähnlich zu ergehen, doch sie hatte offenbar keineswegs vor, sich ihrem Verlangen zu widersetzen. Sie trat zielstrebig auf Isabella zu und zog sie an sich.

Isabella schloss ihre Augen und ließ sich von der Wärme von Janes innigem Kuss einhüllen. Ein Schwindel der Glückseligkeit ergriff sie, doch die Intensität von Janes Umarmung verstärkte das schwere Gefühl in ihr, dass etwas Ernstes geschehen sein musste.

Schließlich fand Isabella den Mut, sich sanft doch entschlossen von Jane zu lösen und die brennende Frage in Worte zu kleiden: „Jane, hat sich etwas Erhebliches zugetragen?“

Jane tat einen tiefen Atemzug. „Ich musste dich einfach sehen.“ Sie zupfte ihre feinen, mit Spitzen besetzten Handschuhe von ihren Händen und warf sie energisch auf einen der gepolsterten Sessel. „Mein werter Bruder hat mir eröffnet, er sei der Ansicht, ich müsse nunmehr baldigst vermählt werden!“, offenbarte sie nach einer Weile des bedrückenden Schweigens mit gepresster Stimme.

Diese Worte durchbohrten Isabellas Herz wie eine scharfe Klinge. Ein düsteres Vorahnen legte sich wie ein Schatten auf ihr Gemüt, denn nichts war geeigneter, die Brüchigkeit ihrer tiefen Freundschaft augenscheinlich werden zu lassen, als diese Entwicklung. Kein Ereignis barg größere Gefahren für sie als der Entschluss von Janes Bruder, sie zu verheiraten und keine Vorstellung verursachte größere Ängste in Isabella als diese.

Für einen anhaltenden Moment schwiegen beide. Die Vergänglichkeit ihrer innigen Verbundenheit lauerte wie ein stummer Kontrahent im Raum.

Isabella, innerlich aufgewühlt, schwindelte. Sie sank in einen der Sessel. Unterdessen trat Jane ans Fenster und ließ ihren Blick hinaus in die graue Tristesse des Bildes hinter den beschlagenen Glasscheiben schweifen, an denen die Rinnsale des Regens in schlängelnden Linien hinabliefen. Der Wind rüttelte erbarmungslos an den kahlen Zweigen der Bäume, und der Regen, langgezogen und strähnig, fiel in gekreuzten Linien zur Erde hernieder.

Eine Weile verging, bis sich Janes Miene schließlich unvermittelt aufhellte. Ein entschlossener Glanz trat in ihre Augen, und sie kehrte zu Isabella zurück. Behutsam setzte sie sich an ihrer Seite nieder und umfing sanft ihr Gesicht mit den Händen. „Wir dürfen unsere Zeit nicht von solchen Sorgen trüben lassen. Es wäre töricht, meinem Bruder Andrew eine solche Macht über uns zu gestatten“, sprach Jane mit fester Stimme.

Isabella nahm das glückliche Gefühl von Janes Nähe in sich auf, doch zugleich konnte sie den beißenden Schmerz nicht verdrängen, der als unheilvoller Vorbote ihrer Tränen heraufzog. Es bedrückte sie zutiefst, dass ihre Liebe zu Jane ein streng gehütetes Geheimnis bleiben musste. Sogar vor den ihr nächsten Angehörigen war sie gehalten, die wahre Natur ihrer Freundschaft zu verbergen. Isabella war sich des Verbots ihrer Empfindungen nur allzu bewusst, und in diesem Augenblick wurde ihr schmerzhaft klar, wie verzweifelt und aussichtslos ihre Lage war. Sie kämpfte gegen das Aufsteigen der Tränen an. Zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie wahres Glück. Ein Glück, das sie sich unmöglich mehr aus ihrem Leben denken konnte. Jane aus ihrem Leben hinfort zu denken, war für sie unmöglich geworden. All dies war jedoch grundlegend falsch und musste unweigerlich in eine Katastrophe münden, wenn sie sich nicht entschließen konnte, es zu beenden. Doch sie vermochte es nicht – niemals würde sie es vermögen. In diesem Moment lösten sich schließlich ihre Tränen und liefen ungebremst über ihr Gesicht und ihren Hals hinab, wie der Regen an den Fensterscheiben. Sie verspürte Janes warmen Atem an ihrem Hals, als diese begann, sie zu küssen. Nun zog Jane Isabellas Gesicht an sich, küsste ihre Stirn, ihre Nase, dann die geschlossenen Augen, während Isabellas Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen rollten. Traurigkeit und Freude vereinten sich in einem Augenblick, der trotz allem Trost und Zuversicht spendete. Diese intime Verbindung, die sie miteinander teilten, sprach von der tiefen Wahrheit ihrer Zuneigung, die keine Macht der Welt brechen könnte. Dessen war sich Isabella in jenem Augenblick gleichwohl gewisser denn je.

In eben jenem Moment fuhr, von Isabella und Jane unbemerkt, eine weitere Kutsche in den Hof ein.

Jules Dubois sprang schwungvoll zu Boden und eilte zügig die Treppen zum Portal empor, dem schauderhaften Wetter entfliehend.

Nun, in Dublin war das Wetter nicht viel besser gewesen und es vermochte seine Stimmung ohnehin nicht zu dämpfen.

Oben angelangt, konnte ihm der peitschende Regen nichts mehr anhaben. Er nahm den Zylinder ab und schüttelte den Regen von dessen Filzkrempe herunter, bevor er den Hut erneut aufsetzte. Sodann betätigte er den Türklopfer aus glänzend poliertem Messing und zog sich seinen gestreiften Seidenschal enger um den Hals, denn der kalte Wind, der um die Türme von Adhmaid House pfiff, blies ihm rau entgegen, während er wartete, dass ihm Einlass gewährt würde.

Die Monate des ausbleibenden Erfolgs, die ihn an den Rand des Ruins gebracht hatten, schienen ihm nun wie ein ferner Albtraum, kaum mehr als ein dunkler Schatten, aus dem triumphale Hoffnung hervortrat. Das kürzliche Gespräch mit seinem Geschäftspartner Carter, hatte keinerlei Zweifel daran gelassen, dass ihr gemeinsames Unterfangen ein unvergleichlicher Coup werden würde.

Jules konnte sich eines siegesgewissen Lächelns nicht erwehren. Er hatte Carter mitgeteilt, dass er nunmehr sämtliche benötigten Leute versammelt habe, um die wertvolle Ladung sicher von den Häfen Frankreichs nach England zu schaffen. Der sorgfältig ausgearbeitete Zeitplan war festgelegt, ein sicherer Lagerplatz gefunden, und die Koordination der Transporte gelungen. Zu einem überragenden Teil würde die erdrückende Last der Verantwortung nun ohne sein weiteres Zutun vonstattengehen.

Diese vielversprechende Entwicklung war ein wohltuender Trost nach all den schrecklichen Monaten zuvor. So konnte er bereits früher als beabsichtigt und angekündigt nach Adhmaid House zurückkehren. Er würde sich sogleich in die Bibliothek begeben, wo er sich am knisternden Feuer des Kamins aufwärmen konnte. Jener Raum, mit seinen goldverzierten deckenhohen Wandregalen und jenem leise stechenden Geruch alter Folianten, war stets sein Rückzugsort gewesen. Nun endlich empfand er ihn wieder als jenen Ort, der ihm ein Ankommen bedeutete.

Doch lange würde er sich in dieser friedlichen Behaglichkeit nicht vergraben. Zu groß war der Wunsch, Mary aufzusuchen, um ihre zarten Konturen im weichen Licht zu betrachten und die Bestätigung seiner Neuigkeiten in ihrem Lächeln zu suchen.

Kurz flackerten Carter und dessen Forderung in seiner Erinnerung auf. Mit einem Ausdruck belustigten Amüsements erinnerte er sich daran, wie dieser darum gebeten hatte, dass ein gewisser Bekannter von ihm eine kleine Beschäftigung bei ihrem Projekt erhalten möge. Jules konnte nicht anders, als zu schmunzeln. Dabei hatte er durchaus wahrgenommen, dass dieses Anliegen keineswegs von solch nebensächlicher Bedeutung für Carter zu sein schien, wie er es hatte vermitteln wollen. Vielmehr schimmerte deutlich durch, dass dies für Carter von großer Wichtigkeit war. Jules hatte jedoch keine Muße, sich hierüber den Kopf zu zerbrechen. Carter, dieser scharfsinnige und manchmal faszinierend verrückte Kopf, war nicht nur klug, sondern bemerkenswert erfinderisch in seinen Einfällen und Plänen. Er würde gewiss seine Gründe haben.

In jenem Augenblick öffnete endlich Mrs. Leahy die Tür und er trat ins Haus, sogleich Hut, Mantel, Schal und Handschuhe abstreifend.

Mrs. Leahy nahm alles entgegen und unterwies den Kutscher, der das Gepäck hereintrug.

„Nun denn“, murmelte Jules, während er mit weit ausholenden Schritten den Eingangsbereich durchquerte und sodann die Treppen zur Bibliothek hinaufeilte.

Dort angelangt öffnete er und trat ein. Überrascht hielt er inne, den Türgriff noch in der Hand, als er gewahrte, dass sich dort seine Tochter Isabella und deren Freundin, Miss Cahill, aufhielten.

Sie saßen auf einem Sessel beim Kamin und waren offenbar in ein vertrautes Gespräch vertieft gewesen. Erschrocken starrten sie ihn an und nahmen hastig Haltung an.

„Mon dieu4!“, entfuhr es ihm vor Überraschung, ehe er sich rasch wieder fing. „Guten Tag, die Damen.“

Es war ihm nicht entgangen, dass seine älteste Tochter in innigster Vertraulichkeit mit der Schwester des Lehrers Umgang pflegte. Möglicherweise präsentierte es sich als keine schlechte Fügung, die beiden einander vorgestellt zu haben. Doch musste er unweigerlich erkennen, dass dieser Umstand zwar zu Isabellas Annehmlichkeit gereichte, indes kaum ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu befördern imstande war.

Bei diesem Gedanken wurde ihm wieder einmal bewusst, dass es unumgänglich war, in Bälde für Isabella eine vorteilhafte Heirat zu arrangieren.

Jules kam der flüchtige Gedanke in den Sinn, dass seines Tochters Blick von eigentümlichem Ausdruck war und ihre Augen gerötet wirkten. Überdies erschien ihm das Haar seiner sonst stets adretten Tochter etwas in Unordnung. Doch maß er diesen Beobachtungen keinen weiteren Wert bei. Es war zuweilen das Naturell der Damenwelt, sich in abgetrennter Gesellschaft etwas gehenzulassen. Eine Gegebenheit, über die er gönnerhaft hinwegzusehen bereit war. Nichtsdestotrotz war dies ein weiterer Beweis dafür, dass es an der Zeit war, für Isabella eine gesicherte Zukunft zu schaffen. Er würde sich in naher Zeit gründliche Gedanken hierzu machen.

„Dürfen wir mit Ihrer Anwesenheit beim Abendmahl rechnen, Miss Cahill?“, fragte er mit großer Höflichkeit.

Isabellas Gesichtsausdruck zeigte offenkundige Verwunderung. Jane indes richtete einen kurzen Blick auf Isabella und erwiderte sodann zustimmend.

Während ihrer Fahrt durch die nächtliche Dunkelheit nach Cork nahm Jane die Kälte, die durch die feinen Ritzen des Vehikels drang, kaum wahr. Ihre Gedanken weilten unablässig bei dem Abendmahl, bei Isabellas Familie und gleichermaßen bei ihrer eigenen. Wieder hatte sie jenes starke und bedrohliche Gefühl ergriffen, welches sie schon bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Isabellas Vater beschlichen hatte. Es hatte ihr unüberhörbar zugeraunt, dass ihr Glück mit Isabella allzu vergänglich war und sich nicht nur der Gefahr durch die von Andrew beabsichtigte Verheiratung Janes ausgesetzt sah. In wirren Bahnen schwirrten ihre Überlegungen ziellos in ihrem Kopf umher, während sie über Andrews Entschluss, über ihre beunruhigenden Empfindungen gegenüber Isabellas Vater und über ihre tiefen Gefühle für Isabella nachsann. Was hätte Mutter in dieser Situation geraten, getan, entschieden? Mit unerwarteter Heftigkeit bedrängten die Gedanken an ihre Eltern ihren ruhlos wandernden Geist. Nicht einmal zur Weihnachtzeit hatte sie in dieser Intensität an ihre Mutter gedacht, wie an diesem Abend. An die Zärtlichkeit ihrer Stimme, die Liebenswürdigkeit ihres Wesens, den Duft von Lavendel in ihrem Haar – all dies lebte klar und deutlich in Janes Geist.

Jane ließ ihre Augen sanft zufallen, lehnte sich zurück, fand indes bald lieber die Haltung wieder, die ihren Kopf freihielt, denn das ruppige Gerüttel der Kutsche schlug sie heftig gegen die hölzerne Wand. Sie spürte Tränen ihre Wangen hinablaufen und auf ihren Hals tropfen. Wie sehr sehnte sie sich ihre Mutter in diesem Augenblick herbei.

Es war nun bereits ihr halbes Leben her, dass ihre Mutter sie verlassen hatte, doch der Schmerz war unverändert heftig und brennend. Würde dies jemals ein Ende finden?

Sie wusste, dass sie sich die letzten Jahre mit ihrem leichtfertigen, unsteten Lebenswandel Ablenkung verschafft hatte.

Auch war ihr bewusst, dass sie William in dieser Hinsicht benutzt hatte. Wohl mochte es sein, dass dieser Umstand William gelegen gekommen war, doch, wenn sie ehrlich gegen sich selbst war, musste sie eingestehen, dass sie zum einen nicht wusste, ob das wirklich in seinem Sinne war, es hatte sie schlichtweg nie interessiert, zum anderen wusste sie auch ganz genau, dass sie sich bewusst niemals die Frage gestellt hatte, ob sie als Schwester nicht besser hätte dazu beitragen sollen, Williams eigenen fragwürdigen Lebenswandel nicht noch zu unterstützen, sondern diesem etwas Besseres entgegenzusetzen.

In ihren Gedanken kehrte sie zurück zu William. Dem jungen William, wie er einst war, als Mutter und Vater noch unter ihnen weilten.

Seither hatte sich William dermaßen gewandelt, als sei er ein anderer Mensch geworden.

Ihr Bruder, der seinerzeit der Mutter innig zugetan war, besaß einst ein künstlerisches, ruhiges und freundliches Gemüt. Oftmals hatte er sich mit Mutter über gewichtige Fragen des Lebens ausgetauscht, über Fragen, die Jane damals kaum begriffen hatte.

Doch seit dem Verlust der Eltern hatte sie William nie wieder auf diese Weise sprechen hören.

Er war Detective geworden und hatte nur noch davon gesprochen, dass gegen böswillige Umtriebe mit aller Härte vorzugehen sei.

Böswillige Umtriebe? Sie entsann sich eines Gesprächs, das sie einst belauschte, als Mutter William erklärte, dass Vaters Arbeit dem Recht und der Gesetzmäßigkeit zur Durchsetzung verhalf. Auch diesem Umstand hatte Jane damals keine tiefere Beachtung geschenkt.

Ihr Vater war ein hochgeschätzter Advokat gewesen. Er verbrachte die meiste Zeit in seiner Bibliothek, häufig suchten ihn bedeutende Persönlichkeiten auf, sodann wurden hinter verschlossenen Türen lange Gespräche geführt. Anschließend verlor er sich nicht selten in tiefen Gedankengängen.

Jane wischte die Tränen mit einer entschlossenen Geste fort und atmete tief durch. Wie gern hätte sie gewusst, was hinter dem Verlust der Eltern steckte.

Jenes düstere Ereignis war wie ein Schattenschleier über ihre Erinnerungen gebreitet worden. Ihre Eltern waren eines Tages gänzlich unerwartet nicht mehr heimgekehrt.

Für Jane hatte stets festgestanden, dass es nur zwei Möglichkeiten geben konnte: Entweder war ein Verbrechen an ihren Eltern verübt worden, oder es war ein schreckliches Unglück geschehen. Zwar war dies lediglich eine Annahme, doch eine andere Erklärung vermochte sie sich nicht vorzustellen.

Sie blickte aus dem Fenster der Kutsche in die Dunkelheit. In ebensolchem Dunkel würden wohl auch die Umstände des Verschwindens ihrer Eltern für immer bleiben.

Cork, Irland

Eine düstere Melancholie hing wie ein unsichtbarer Nebel über den klammen Gassen. Der Geruch von Rauch und Asche vermischte sich mit dem metallischen Hauch der Feuchtigkeit.

Das unnachgiebige Kreischen der Pferdekutschen und die scheppernden Räder auf dem, mit eisbedeckten, Pflaster konnten seine Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen.

Die Passanten eilten hastigen Schrittes, ohne ihn zu beachten, durch die engen Straßen, ihren Blick gesenkt, die Schultern hochgezogen.

Für ihn waren die Bürger Corks nichts weiter als verzweifelte Kreaturen, die in ihrem Elend verharrten, unfähig, sich aus dem Sumpf ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit zu befreien. Jede Geste, jeder Blick, der ihm zugeworfen wurde, verstärkte nur seine Abscheu vor diesem Ort und dessen Bewohnern.

Sein Blick fiel auf Tadhg Brennan, dessen Existenz ihm wie eine stete Erinnerung an die Unruhen und den Widerstand erschien, die zu bekämpfen sein Auftrag war. „Was für eine Torheit“, dachte Cahill mit stiller Verachtung, „zu glauben, dass er gegen die Krone aufbegehren könnte.“ Er beobachtete Brennan mit einer Mischung aus Überlegenheit und Berechnung. Zugleich vermied er jeden Gedanken daran, dass es wieder einmal vergeblich gewesen sein könnte, diesem Narr nachzustellen. Doch nach dem letzten Gespräch mit Warner stand fest, dass er nun in naher Zukunft Fortschritte erzielen musste und so konnte er nicht mehr nur abwarten, dass Brennan sich entschloss, ihm die Türen zu den Verschwörern zu öffnen. Zudem hegte er mittlerweile Zweifel, ob Brennan in seinem halsstarrigen Misstrauen nicht doch noch einen Rückzug erwog und sich aus der Unternehmung zurückzöge, so dass all seine, Williams, Bemühungen, über Brennan an die Hintermänner zu gelangen, vergeblich wären. Sein Instinkt sagte ihm, dass Brennan kein Mann klarer Entschlüsse war.

Cahill verachtete diese Schwäche. Ein wahrer Mann sollte sich nie von Zögern beherrschen lassen. Sorgsam hielt er sich im Schatten einer Unterführung, während Brennan missmutig die Straße auf und ab schritt, als warte er auf jemanden.

„Was für ein elendes Schauspiel“, dachte Cahill und schüttelte innerlich den Kopf. „Diese Menschen wissen nicht, was es bedeutet, wahre Disziplin und Verantwortung zu tragen.“

In jenem Augenblick bemerkte er plötzlich die Gestalt eines Mannes, der zielstrebig auf Brennan zusteuerte. Anfangs blendete er diesen Neuankömmling als unbedeutend aus, doch etwas im Auftreten des Mannes ließ Cahill innehalten und erneut hinschauen. Ein unbestimmtes Ziehen in seiner Erinnerung forderte seine Sinne heraus und machte ihn aufmerksamer. Konnte es wirklich sein, dass dieses Gesicht ihm aus völlig anderen Kreisen vertraut war? Cahill blinzelte, sein Blick schärfte sich, und er nahm eine tiefere Miene an, während der Fremde stetig näher kam.

Langsam begann die Erkenntnis in seinen Verstand zu sickern, wie Wasser, das durch poröses Gestein dringt. „Unmöglich“, flüsterte er fast unhörbar in den kalten Abendwind.

Cahill durchforschte fieberhaft seine Erinnerungen, suchte nach weiteren Bestätigungen für diese unglaubliche Möglichkeit. Mit jedem Schritt, den der Fremde auf Brennan zutrat, verstärkte sich Cahills Eindruck, um schließlich an Kontur zu gewinnen. „Doch, es muss ...“ Die Erkenntnis durchbrach endgültig die Oberfläche seines Zweifelns. Oder war es möglich, dass seine Augen und sein Gedächtnis ihm einen Streich spielten? Waren gar die Stunden des Wartens und Grübelns verantwortlich für diese vermeintliche Wahrnehmung?

Nein, die Züge waren zu prägnant, die Gestalt zu unverwechselbar. Cahill musterte jedes Detail, jedes Merkmal mit größter Sorgfalt und fand sich zunehmend in der unabweisbaren Gewissheit wieder: Dies war kein Irrtum, er kannte diesen Mann.

Tadhg Brennan sah mit einer tiefen Unruhe zur Turmuhr hinauf. Die kalte Luft biss ihm ins Gesicht und der Hunger zerriss ihm die Eingeweide. Zu Hause wartete Caoimhe auf ihn, sie brauchte seine Hilfe mehr als je zuvor. Wo auf Erden blieb Daoiri?

Plötzlich sah er ihn mit eiligen Schritten heranmarschieren. „Dia duit, mo chara5!“, rief Daoiri über die Straße.

„Go hifreann6, wo bleibst du?“, rief Tadhg zurück. „Ich habe nicht viel Zeit. Caoimhe erwartet mich zurück, ehe die Stunde vorüber ist.“

„Ah, tar ar aghaidh7, du wirst doch wohl einen Augenblick für deinen besten Freund übrighaben?“, entgegnete Daoiri mit einem gewinnenden Lächeln.

„Ah, du hast leicht reden, Daoiri! Du weißt doch nicht, welch ein Elend bei uns herrscht“, schnaubte Tadhg, seine Hände tief in den Taschen vergraben.

Daoiri erreichte ihn in diesem Augenblick und legte schwer seine Hand auf Tadhgs Schulter. Kurz war sein Blick ernst und seine Stimme schwer. „Ich habe von eurer Not gehört, und es bricht mir das Herz, was ihr durchmachen müsst. Doch höre, ich bringe dir gute Nachrichten. Wahrlich gute Neuigkeiten.“

„Dann rück schon raus damit“, antwortete Tadhg, wenngleich seine Stimme noch immer verbittert klang.

„Nicht hier. Lass uns einen Schluck im Pub nehmen, da können wir in Ruhe reden.”

„Das ist nicht möglich. Ich habe keinen einzigen Penny mehr in meiner Tasche”, gestand Tadhg in einem Ton der seine Bitterkeit nicht verbergen konnte. Nur vor Daoiri konnte er so offen sein.

„Seo, tóg é seo.8“ Daoiri griff in seine Tasche und hielt Tadhg eine Handvoll Münzen hin. „Keine Widerworte, mo chara9. Bald wirst du noch mehr davon erhalten.”

Tadhg zögerte. Sein Stolz kämpfte gegen seinen dringenden Bedarf. Es widerstrebte ihm zutiefst, eine Handreichung anzunehmen, auch wenn es von seinem engsten Freund kam. Doch der Hunger war unerträglich und seine Familie brauchte jede mögliche Hilfe. Jedoch wäre es nicht möglich, hiervon auch nur einen einzigen Penny im Pub auszugeben.

Daoiri schien seine Gedanken lesen zu können. „Mo chara, dies ist kein Almosen, sondern nur ein Vorschuss auf das, was du bei dem Auftrag verdienen wirst. Und den Whiskey, den trinken wir heute auf meine Kosten, denn wir haben etwas zu feiern.“

Tadhg zögerte noch immer, nahm dann aber doch das, was Daoiri ihm reichte. Es war mehr, viel mehr, als er erwartet hatte. Er steckte das Geld ein und fühlte sich augenblicklich stärker. Was Caoimhe sagen würde, wenn er es ihr zeigte?

„Nun komm.“ Daoiri klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Lass uns auf bessere Zeiten anstoßen.

Als sie das „The Mutton Lane Inn“ betraten, fühlte sich Tadhg angesichts der Münzen in seiner Tasche, so erleichtert wie seit langem nicht mehr. Der Raum war durchdrungen vom Duft geräucherten Torfs.

„Mach dir keine Sorgen“, sagte Daoiri. „Es geht voran.“

„Was bedeutet, es geht voran?“, fragte Tadhg, als er seinen ersten Schluck nahm. Der Whiskey brannte angenehm in seiner Kehle. „Ich hoffe darauf, dass Caoimhe und die Kinder bald in einer besseren Welt aufwachen werden.“

„Na aber sicher, Tadhg. Ich habe durchklingen gehört, dass sie bereits in Kürze Leute für den Transport benötigen.“

Mit zweifelndem Blick musterte Tadhg Daoiri. Ein innerer Zwiespalt tobte in ihm, denn er war hin- und hergerissen zwischen dem tief verwurzelten Vertrauen, das er zu seinem Jugendfreund hegte, und der Sorge, in Widerspruch mit den Gesetzen der Krone zu geraten. Zugleich übte die Sorge um seine Familie einen nicht unbeträchtlichen Druck auf ihn aus.

Daoiri sah ihn mit ernstem Blick an. „Mach dir keine Sorgen, Tadhg. Wir werden es schaffen. Die Gemeinschaft steht geeint.“

„Ich habe bereits zwei meiner Kinder begraben. Caoimhe wirst du nicht wiedererkennen, wenn du sie siehst. Sie steht kurz davor, den Verstand zu verlieren.“

Daoiri verharrte in Schweigen. Sein Blick wanderte von Tadhg zu seinem Glas, als ob er in dessen Tiefe Rat suchte. Nach einer Weile hob er den Blick. „Tadhg, bei allem, was mir heilig ist, ich beschwöre dich, du musst dir keine Sorgen machen. Die Sache wird gelingen und du wirst deine Sorgen hernach vergessen können. Reicht dir das nicht?“

Tadhgs Antwort kam knapp und bestimmt: „Nein, Daoiri, das reicht mir nicht.“

Daoiri wirkte nun, als ringe er mit sich.

Tadhg konnte nicht erahnen, welcher Art Daoiris Gedanken waren und eine schreckliche Sorge erfasste ihn. Wenn nun Daoiri einräumen würde, dass er selbst zweifelte? Dar le Dia10, möge dies nicht so sein. Tadhgs Nerven waren bereits zum Zerreißen gespannt.

Endlich brach Daoiri das Schweigen. „Gut, Tadhg, so sei es. Doch schwöre, dass du keinem gegenüber ein Wort darüber verlierst. Ich will dich ins Vertrauen ziehen. Wenn ich dich in dem Glauben ließ, nur am Rande mit der Sache zu tun zu haben, so tat ich dies, um dich nicht zu sehr zu involvieren. Meine Verwicklung in diese Angelegenheit reicht in Wahrheit weit tiefer, als du vermutest.“

„Was?“, entglitt es Tadhg in ungläubigem Erstaunen.

„Ich bin nicht bloß irgendein Mitglied der Organisation“, fuhr Daoiri leise fort. „Ich bekleide die Position eines Mittelsmannes.“

Tadhg versuchte zu ergründen, was das bedeuten mochte.

„Ich bin auch nicht irgendein Mittelsmann sondern der Mittelsmann. Während der Jahre, die ich in England, vornehmlich in Cambridge, verbrachte, habe ich bedeutende Verbindungen geknüpft. Solche Verbindungen, die es braucht, um etwas zu bewegen. Es liegt mir, die richtigen Personen zusammenzubringen und Handelsgeschäfte gewinnbringend zu koordinieren. Meine Verschwiegenheit und Verlässlichkeit sind in diesen Kreisen bekannt und hochgeschätzt. Der alte Handel mit Whiskey war mir irgendwann zu dreckig und bot auch wenig Aufstiegschancen“, erläuterte Daoiri mit einem nachdenklichen Ausdruck, „wenngleich meine Verbindungen zu den angesehensten Schwarzbrennereien mir beträchtliche Umsätze einbrachten, da deren Erzeugnisse in den feinsten Gesellschaften geschätzt wurden. Die Bekanntschaften, die ich damals pflegte, haben nun eine neue, weitreichendere Bedeutung erlangt. Ich habe meine wertvollen Beziehungen genutzt und begonnen, die richtigen Menschen einander vorzustellen. Verstehst du? Keine Entscheidung wird ohne mich getroffen, denn von all diesen Leuten bin ich es, der die Fäden zusammenführt.“

Tadhg schwirrte der Kopf ob der Enthüllungen, die Daoiri ihm soeben preisgegeben hatte. Mit solch tiefgreifenden Verstrickungen hatte er keineswegs gerechnet. Er war gänzlich ahnungslos gewesen. Mit unsicherem Blick betrachtete er seinen langjährigen Freund, und in seinem Inneren lauerte die quälende Frage: Hatte er Daoiri all die Jahre hindurch so schlecht gekannt?

„Du musst über all dies absolutes Stillschweigen bewahren“, mahnte Daoiri eindringlich, „denn andernfalls setzt du die gesamte Unternehmung und das Leben eines jeden von uns höchster Gefahr aus. Die Redcoats11 verstehen keinen Spaß, wenn sie Wind von solcherlei Machenschaften bekommen.“

„Ich hab' dir immer vertraut, Daoiri“, sagte Tadhg leise. „Und dabei habe ich anscheinend nicht viel von dir gewusst.“

Daoiri nickte ernst. „Aye, Tadhg. So ist es. Manchmal macht uns das Leben zu Schatten, die im Dunkeln agieren müssen, um das Licht zu bewahren. Doch du hast immer alles von mir gewusst. Alles von Bedeutung.“

Tadhg blickte Daoiri eine Weile schweigend an. „Und nun, nachdem du mir all dies anvertraut hast“, sagte Tadhg schließlich, seine Stimme nun fester, „vertraue ich dir noch mehr als zuvor.“

2 Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Der Vormärz, Reclam, S. 130.

3 Irischer Ausdruck des Erstaunens oder Entsetzens.

4 Die französische Redewendung „Mon Dieu!" lässt sich wörtlich mit „Mein Gott!“ ins Deutsche übersetzen. Sie ist ein Ausruf der Überraschung, des Erstaunens.

5 Begrüßung „Hallo mein Freund“ ausgesprochen ungefähr wie „dsie dets, me khar-ah“. (das 'r' wird im Irischen leicht gerollt).

6 „Zur Hölle“ ausgesprochen ungefähr wie: „gu hiff-rin“.

7 „Ach, komm schon“ ausgesprochen ungefähr wie "Ah, tar ar-aye".

8 „Hier, nimm das“ ausgesprochen ungefähr wie „Sho, toug eh sho“.

9 „Freund“ausgesprochen ungefähr wie „mo kharah”.

10 „Bei Gott“ ausgesprochen ungefähr wie „Dar le dsie“.

11 Die Bezeichnung „Redcoats” für die britischen Soldaten, und ihre Rolle in der irischen Geschichte sind gut dokumentiert und in verschiedenen historischen Quellen zu finden. Offizielle Dokumente und Aufzeichnungen aus dieser Zeit enthalten viele Hinweise auf die „Redcoats“ und ihre Einsätze. Dazu gehören militärische Protokolle, Regierungsberichte und zeitgenössische Zeitungen.

II.

„Wo ruhig sich und wilder

Unstete Wellen teilen,

Des Lebens schöne Bilder

Und Kläng´ verworren eilen,

Wo ist der sichre Halt? -

So ferne, was wir sollen

So dunkel, was wir wollen,

Fasst alle die Gewalt.“12

Joseph von Eichendorff

Adhmaid House nahe Shannagarry, County Cork, Irland

"Zweifel, Lady Mary, sind nunmehr gänzlich zerstreut, und Sie dürfen sich freuen“, verkündete Dr. Baker mit einem Lächeln.

Mary, die längst von der Ahnung beseelt gewesen war, fand nun ihre Annahmen bestätigt. Doch diese neue Erkenntnis brachte eine unklare Mischung der Empfindungen mit sich, da auf der einen Seite ihre Vorfreude für das Kommende in ihr wuchs. Auf der anderen Seite standen ihre Sorgen, Jules ins Bilde zu setzen und war bisher jeder Anlauf hierzu gescheitert. Eine unausgesprochene Angst hielt sie zurück, ihm die Nachricht zu überbringen.

Jules, ein Mann von neuem Elan und wachsender Zuneigung für sie, wie es schien, war freilich keiner, der Überraschungen mit Heiterkeit begrüßte.

In ihren Beobachtungen hatte sie zudem erkannt, dass sein Geist von manch anderem Gedanken schwer beladen war, ohne dass er hierüber mit ihr sprach.

Mary fühlte die schwere Last der Entscheidung, nicht wissend, wie sie die Botschaft zu Jules bringen könnte.

Obschon seine Zuwendung offensichtlich war, regierte eine selbstbezogene Rücksichtslosigkeit oft seinen Umgang und er war gleichwohl kein Mann von großem Einfühlungsvermögen. Mary fürchtete sich vor dem bevorstehenden Gespräch mit ihm und so lastete eine sorgenerfüllte Angst wie eine dunkle Wolke über ihrer Beziehung und ihrer gemeinsamen Zukunft.

Nachdem sie in den zurückgezogenen Refugien ihrer Gedanken lange verweilt hatte, drang jedoch mit unvermeidlicher Klarheit die Erkenntnis durch, dass es nunmehr nicht länger statthaft war, zu zögern und Jules in Unwissenheit zu lassen. So beschloss sie, ihn aufzusuchen. Sie machte sich sogleich auf den Weg zu seinem Arbeitszimmer.

„Mary, welch erfreuliche Überraschung. Welch Umstand führt dich zu mir?“, sprach er mit einer Mischung aus aufrichtiger Freude und maßvoller Neugier.

Mary, die durch die wohlwollende Wärme seines Tons einen Hauch von Erleichterung verspürte, zog die hölzerne Tür sanft ins Schloss und wandte sich ihm zu. „Es war der ehrwürdige Dr. Baker, der eben noch bei mir weilte“, begann sie bedächtig und mit einem leichten Zögern.

„Dr. Baker? Ist deine gesundliche Verfassung wiederhergestellt?“, erkundigte sich Jules mit freundlichem Interesse und ließ den Federkiel sanft auf die Tischplatte sinken.

„In der Tat“, erwiderte Mary, deren Lippen ein beschwichtigendes Lächeln zierte, das die Versicherung ihres Wohlbefindens übermittelte. „Die Untersuchung war darauf bedacht, die Genesung meiner Lunge zu bestätigen.“

„Ah, und welches Resultat hat sie ergeben?“, fragte Jules erwartungsvoll.

„Indes, Dr. Baker vermeldete auch, dass...“, setzte Mary mit einer kurzen Pause nach.

Jules musterte Mary mit besorgtem Interesse. Ihr war anzumerken, dass sie etwas Bemerkenswertes zu verkünden hatte. Ihm fehlte jede Vorstellung, um was es sich handeln mochte. „Ja?“, fragte er, als ihre Antwort auf sich warten ließ.

„Dr. Baker vermeldete, wir erwarten ein Kind.“

Die Worte trafen ihn wie ein Blitzschlag und die anfängliche Überraschung erweiterte sich schnell zu einem Gemisch widersprüchlicher Empfindungen. Bald jedoch erweiterten sich seine Gedanken zu einem Gemisch eindringlicher Besorgnis und verhaltener Hoffnung, als sich seinem Innern die Sorge auftat, ob Marys schwächelnde Gesundheit, deren Zustand weiterhin wie ein Schatten über ihnen lag, dieser Herausforderung gewachsen wäre und zugleich keimte in ihm eine Hoffnung auf – die Möglichkeit eines Sohnes, worauf er insgeheim immer gehofft hatte. „Mary, diese Botschaft kommt wahrlich unerwartet“, sprach er hin und hergerissen zwischen seinen widerstreitenden Gedanken, ohne dass diese Antwort in irgendeiner Weise geeignet gewesen wäre, den wahren Kern seiner Empfindungen zu umfassen.

Mary, der der feine Ausdruck des Entgeisterten aufs Gesicht geschrieben stand, blickte mit offenem, ungläubigem Staunen zu ihm hinüber, als suchte sie in seiner Miene eine versteckte Bestätigung oder ein leises Flüstern wahrer Freude. „Jules, möge es sein, dass dein sehnlicher Wunsch endlich in Erfüllung geht, und du den heißersehnten Sohn erhältst?", sprach sie mit sanfter Stimme, als wäre ihre Absicht, seine Aufmerksamkeit auf diesen erfreulichen Umstand zu lenken und ihn von durchaus berechtigten Bedenken abzulenken.

Er erhob sich zu voller Größe in einem tiefen Atemzug. „Gewiss, mo chra!", erwiderte er, trat näher an sie heran und ergriff ihre Hände mit zärtlichem Festhalten. „Gewiss, es war wahrlich mein erster Gedanke, gleichwohl fürchte ich um dein Wohlergehen."

Nun wandelte sich Marys Blick und der sorgenvolle Ausdruck entschwand. Sie sah ihn mit hoffnungsvollen Augen an. Er zog sie behutsam in eine Umarmung. „Wir können nicht in die Zukunft blicken. Wir wollen diesem Ereignis hoffnungsvoll entge gensehen.“

Cork, Irland

William Cahill stieß die Tür zum Pub mit einer überaus widerwilligen Handbewegung auf. Sogleich umfingen ihn ein ungestümer Wirbel lärmender Stimmen, und scharfer Torf - und Zigarrenrauch. Zumindest ließ sich konstatieren, dass es hier drinnen weit wärmer war als draußen. Sobald die Sonne sich hinter den Horizont zurückzog und der Wind stärker auffrischte, setzte die unbarmherzige Kälte dieser Jahreszeit ein.

William ließ seinen prüfenden Blick durch den Schankraum schweifen. War Brennan bereits zugegen? Obgleich ihn wenig Neigung dazu trieb, einen weiteren Abend in Gesellschaft jenes Mannes zu verbringen, hing an dieser Begegnung die vage Hoffnung, seinem Ziel, der Aufdeckung der Verschwörer, ein Stück näher zu kommen. Vor allem musste er erfahren, in welcher Verbindung Brennan mit jenem Mann stand, mit welchem er ihn beobachtet hatte. Diese Verbindung war ungeheuerlich. Es musste eine simple Erklärung geben, doch welche konnte dies sein? Am heutigen Abend galt es nichts weniger, als ein Rätsel zu lösen, welches ihm die letzten Tage schier den Kopf zerbrochen hatte.

Dabei hatte er unentwegt die Worte seines verfluchten Bruders im Kopf, der die Unverfrorenheit besaß, sich in seine, Williams, ureigenste Belange einzumischen und von ihm zu verlangen, sich alsbald zu verheiraten.

Gerade jetzt! Sollte er etwa gar eine Irin heiraten? Welch ein absurder Gedanke! Am besten noch eine Katholische. Mit rotem Haar und in kürzester Zeit hätte er eine Schar von fünf Kindern am Rockzipfel hängen. Um Himmels Willen, welch ein Schicksal!

Beinahe vermochte er seine eigene düstere Stimmung nicht länger zu ertragen. Mit einem Seufzer des Unmuts ließ er sich einen Cognac einschenken und suchte sich einen freien Tisch. Brennan würde vermutlich jeden Augenblick eintreffen.

Doch die Zeit verstrich unaufhaltsam. William hatte den ersten Cognac in einem Zug geleert, um sogleich einen weiteren zu bestellen, der sich ebenfalls wie Wasser trinken ließ, und schließlich gar einen dritten, der nun bereits halb geleert vor ihm stand.

Um ihn herum herrschte eine ausgelassene Stimmung, gänzlich im Gegensatz zu der Stimmung, die ihn im Griff hatte. In seinem Kopf schwirrten Zornestiraden umher wie ein Schwarm Wespen. Endlich spülte er auch den Rest des dritten Cognacs hinunter und bestellte sich den vierten. Allmählich begann er die Wirkung des Alkohols zu verspüren, eine angenehme Betäubung, doch selbst unter der leichten Benebelung seines Geistes vermochte er nicht vollständig die Gedanken an die unerträgliche Einmischung seines Bruders zu vertreiben. Welche Dreistigkeit, ihn zur Eheschließung zu drängen.

Er trank den Vierten und bestellte den Fünften. Diesen trank er jedoch, sich mit einer deutlich entspannteren Haltung zurücklehnend, gemächlicher, während er die Stimmung des Raumes auf sich wirken ließ. Ein leichter Nebel umgab ihn nun, und alles wirkte wie durch einen Schleier auf seinen Geist ein. Die Stimmen im Raum verschmolzen zu einem belanglosen Einheitsbrei. Langsam kehrte das Wohlbehagen zu ihm zurück, und das lange Warten störte ihn nun nicht mehr.

Er wandte seinen Blick erneut zur Tür, als eine Gruppe zu musizieren begann. Die Stimmung stieg schlagartig an. William verabscheute die irische Musik. Es war ihm jedes Mal ein unsägliches Graus, wenn er ihr im Pub ausgesetzt war. So auch heute. Sie spielten „Roddy McCorley“13.

„When he stepped up the narrow street

Smiling proud and young

Around the hemp, around his neck

The golden ringlets clung

There was never a tear in his blue eyes

But sad and bright were they

And young Roddy McCorley goes to die

On the bridge of Tuam today.“14

William spürte, dass Boden und Tisch vibrierten. Der Cognac im Glas schwappte gar leicht hin und her. Der Geräuschpegel war gewaltig.

In eben jenem Augenblick betrat Brennan endlich den Raum, hastig umherblickend und sichtbar in Eile.

William empfand keinerlei Verlangen danach, mit Brennan zu parlieren. Er sehnte sich vielmehr danach, die wohltuende Wirkung des Alkohols zu genießen, um den Ärger über Andrew zu betäuben. Wie befriedigend es wäre, von diesem tristen Ort weg zu einer Feier bei Cole aufzubrechen. Doch sogleich drängte sich ihm erneut die ungeheuerliche Erkenntnis auf, die es unverzüglich aufzuklären galt. Und der Teufel wollte es ohnehin so, dass Cole ausgerechnet an diesem Abend keine Feierlichkeiten ausrichtete. Erst am kommenden Sonnabend würde dort wieder das Parkett zum Schwingen gebracht werden. Indes sah er sich nun genötigt, sich mit der gegenwärtigen Situation auseinanderzusetzen. William atmete tief durch und winkte Tadhg resolut zu sich herüber, bereit, sich den ungeliebten Pflichten zu stellen, während seine Gedanken bereits um die ominöse Tatsache kreisten, dass seine ungeheuerliche Entdeckung den Schluss auf eine Verbindung dieses Mannes mit den glänzenden Salons Londons geradezu erzwang.

„Nimm mir meine Verspätung nicht übel, Cahill. Ich habe mich so sehr beeilt, wie es mir möglich war“, rief Brennan so laut er konnte gegen den allgemeinen Lärm an.

„Schon gut, Brennan. Setz dich. Nimmst du auch einen Cognac?“

„Ich nehme lieber ein Guinness, oder einen Whiskey, wenn es recht ist.“

„Trink, was dir beliebt. Ein Mann kann wohl wenigstens noch selbst entscheiden, was er trinkt!“, sprach William gereizt, wobei seine Zunge bereits ein wenig schwerfällig war. Diese Anspielung auf seinen Bruder Andrew konnte Brennan naturgemäß nicht verstehen, doch William scherte sich nicht weiter darum.

Nachdem Brennan einen Krug vor sich stehen hatte, suchte William vergeblich nach einem geeigneten Ansatz, das Gespräch zu beginnen. Sein benebelter Geist wollte ihm jenen Dienst nicht erweisen und der unsägliche Lärm der Kapelle machte es ihm noch schwerer, seine Gedanken zu ordnen und seine Arbeit zu tun. Zudem wog die Gefahr zu schwer, das Gespräch in diesem Zustand in unvorteilhafter Weise zu beginnen und Brennans Argwohn zu erregen. So hegte er die Hoffnung, Brennan würde einen Anfang finden, doch auch dies erwies sich als trügerische Erwartung. Brennan schien in den Untiefen seiner eigenen Gedanken versunken und machte keine Anstalten, ein Gespräch in Gang zu setzen. So verstrich der Abend in einer nur schwer zu ertragenden Öde und Langatmigkeit. Brennan sprach nicht viel, und das Wenige, was er äußerte, war von solch eintöniger Monotonie, dass William gegen die aufsteigende Müdigkeit ankämpfen musste. Der anfängliche, schöne Rausch seiner Trunkenheit hatte sich bedauerlicherweise in eine bleierne Schwere verwandelt.

Es war vermutlich töricht gewesen, zu meinen, in dieser Stimmung würde er irgendetwas Bedeutsames aus Brennan herausbekommen. Er hätte sich den ganzen Abend ersparen können.

Tadhg hätte gern gewusst, welche Stunde es war. Jedoch, er hatte keine Uhr, wie sollte er auch? Vielleicht könnte er Cahill fragen - der Mann war ein Gentleman, der sicher eine Uhr besaß. Doch Cahill wirkte abwesend, die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Tadhg überlegte, ob auch Cahill wohl bald den Heimweg antreten würde.

Daheim wartete Caoimhe auf ihn. Sie brauchte ihn, das wusste er, doch der Gedanke, nur einen Abend den Sorgen zu entfliehen, war verlockend. Die lebendige Stimmung im Pub zog ihn magisch an - die lauten, fröhlichen Stimmen, die Klänge der Fiddle und des Tin Whistle, die er so liebte, und das Stampfen der Füße, welches den Boden unter seinen Stiefeln zum Beben brachte.

Die Musiker spielten „Roddy McCorley“ - ein Lied, das jeder Ire kannte und das auch ihn ergriff. Tadhg fühlte, wie die ausgelassene Stimmung sanft von seinem Inneren Besitz ergriff, als ihn urplötzlich die Wirklichkeit wie ein unvorhergesehener Faustschlag traf und vor seinem inneren Auge die leblosen Gesichter seiner Kinder aufblitzten. Schlagartig erstarb jeglicher Hauch von Freude, und ein eiskalter Schauer kroch ihm den Rücken hinauf.

Er errang schwer die Fassung zurück, indem er seine Gedanken auf Caoimhe lenkte.

Wie es ihr wohl ergehen mochte, wenn ihm als Mann dies schon so zusetzte, wie mochte sie erst leiden? Von ihm wurde erwartet, dass er stark blieb, die harte Hand des Schicksals ertrug und weiterkämpfte. Gewiss, auch er legte diesen Maßstab an sich, doch es war schwerer, ihn zu halten, als er es sich einzugestehen vermochte.

Oh, wenn er doch nur diese trübsinnigen Gedanken abschütteln könnte. Ein Gespräch, das ihn und Cahill auf andere Ideen brächte, das wäre wohl das Beste. Doch worüber reden? Nur ein Thema beschäftigte ihn zur Zeit stark, ohne von düsterer Schwermut durchzogen zu sein. Doch das musste er für sich behalten, so schwer es auch fiel. Und doch, das Verlangen, sich jemandem anzuvertrauen, nagte an ihm und Cahill war an der Sache mächtig interessiert.

Es war kaum zu glauben, welch wichtige Rolle Daoiri in der Organisation spielte.

Und doch – die Erinnerungen an die Versammlung, bei der die anderen Daoiri wie einem alten Kumpan behandelten, kamen ihm wieder in den Sinn. Damals hatte er die Zeichen abgetan – jetzt erkannte er, dass er dies nie hätte tun sollen.

Wenn er doch nur sicher wüsste, dass Cahill sein Vertrauen wert war ... Gerade in diesem Augenblick hörte er Cahill sagen: „Ich werde wohl bald aufbrechen, denn der Tag war lang und überaus ermüdend. Auch du wirst sicherlich den Wunsch hegen, heimzukehren.“

Tadhg, zwischen seinen widerstreitenden Gefühlen zerrissen, nickte ihm zu. Einerseits bedauerte er, Cahill nicht ins Vertrauen gezogen zu haben, andererseits war er erleichtert darüber, dies nicht getan zu haben.

Cahill wiederum ärgerte sich darüber, dass er nicht in der Lage gewesen war, das Geheimnis zu lüften, welche Verbindung Brennan zu dem Mann hatte, mit dem er ihn beobachtet hatte.

Gerade als Cahill im Begriff war zu gehen, kam ihm ein Geistesblitz. „Sag, Brennan, ich wollte mich noch nach Daoiri O'Monroe erkundigen“, begann er scheinbar beiläufig. „Ich würde zu gerne einmal seine Bekanntschaft machen. Jener Abend, an welchem ich dich zur Versammlung begleitete, er war da verhindert, doch nach all dem, was du von ihm erzählst, hege ich den Wunsch, ihn unbedingt kennenzulernen. Es muss höchst anregend sein, ihm zuzuhören. Wird dies wohl eines Tages möglich sein? Was denkst du?“

Brennan zögerte einen Augenblick, doch konnte er seine Überraschung ob der unvermittelten Frage nicht ganz verbergen. Bald jedoch wich dieser Ausdruck einer erkennbaren Freude über das bekundete Interesse. „Nun, in der Tat habe ich ihn kürzlich getroffen“, entgegnete er zögerlich. „Er ist in diesen Tagen außerordentlich beschäftigt.“

In jenem Moment erkannte William Cahill eine günstige Gelegenheit. Vorsichtig darauf bedacht, sich nichts anmerken zu lassen, überlegte er, wie er auf geschickte Weise in Erfahrung bringen konnte, ob Brennan in dieser Woche weiteren Personen begegnet war. Ein hintergründiges Lächeln spielte um seine Lippen, während er sich für eine beiläufige Frage rüstete.

„Weißt du, Brennan“, hob Cahill an, „es scheint, als wäre hier ein jeder in stetem Austausch begriffen, wichtige Zusammenkünfte führend. Zuweilen beschleicht mich die Empfindung, ich könnte etwas Wesentliches versäumen. Da wird mir wieder bewusst, dass ich es versäumt habe, die rechten Männer kennenzulernen. Du kennst diese Leute und erfährst sämtliche Neuigkeiten aus erster Hand, doch mir dünkt, mein Leben gleitet wie ein träger Strom an mir vorüber und alles Bedeutsame spielt sich fern von mir ab. Gewiss, du hast selbst in der vergangenen Woche unzählige Gespräche mit Freunden und Gleichgesinnten geführt.“

Mit nachdenklicher Miene musterte Tadhg Brennan sein Gegenüber. „Ach, woher solche Gedankengänge? Wer hat nicht viel um die Ohren in diesen Tagen? Die Lage ist kein leichtes Spiel. Um bei der Wahrheit zu bleiben, der Einzige, dem ich begegnete, war Daoiri. Wir trafen uns vor zwei Tagen unten am Lee und verbrachten eine oder zwei Stunden im Pub. Abgesehen davon war ich damit befasst, Arbeit zu suchen und etwas Essbares aufzutreiben.“

William Cahill taumelte auf der Schwelle zwischen Triumpfgefühl und Ungläubigkeit. Das Treffen, welches er beobachtet hatte... Es konnte einfach nicht wahr sein. Wie konnte dieses Rätsel nur aufgehen? Wie vermochte eine derartige Verknüpfung überhaupt möglich zu sein? Er mühte sich redlich, seine äußere Fassung zu wahren, doch innerlich tobte ein wahrer Sturm an aufwühlenden Gefühlen. Brennans Aussage hallte in seinem Geist wider und er konnte das Gehörte nur schwerlich begreifen. Sollte tatsächlich stimmen, was Brennan ihm gerade mitgeteilt hatte, so war der Mann, den er unter einem anderen Namen kannte, tatsächlich Daoiri. Die schiere Ungeheuerlichkeit dieser Erkenntnis ließ ihn für einen Moment den Atem anhalten.

Ungläubigkeit rang mit triumphierender Freude in ihm um die Vorherrschaft. Zweifel an dem, was er soeben erfahren hatte, drängten sich ihm auf, doch es fügte sich sämtlich allzu nahtlos ineinander. Es musste wahr sein. Cahill war hin- und hergerissen zwischen Misstrauen und Genugtuung. Diese Entdeckung bedeutete eine geradezu unfassbare Wende in seinen Ermittlungen und verhieß, dass er dem Herzen der Verschwörung näher war, als ihm bisher je bewusst gewesen war.

Zugleich konnte er kaum fassen, dass er all die Zeit so nahe an Daoiri gewesen war, ohne dessen wahre Identität zu erahnen. In harmloser Konversation hatte er Champagner mit ihm getrunken, und Jane hatte sich auf einen Flirt mit ihm eingelassen, während dieser Mann insgeheim mit den Verschwörern gemeinsame Sache gemacht hatte.

Wenn er tatsächlich mit den Verschwörern paktierte, dann war diese Verschwörung von gänzlich anderer Dimension, als Cahill jemals vermutet hatte. Dies offenbarte einen Abgrund von bisher ungeahnter Tiefe.

Die Aufregung brodelte in ihm und es kostete ihn alle Beherrschung, sie nicht offen zu zeigen. Ein schweißkalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er versuchte, ruhig zu bleiben. Er versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren und seine Gedanken zu ordnen, während die durch diese Einsicht entstehenden neuen Möglichkeiten wie ein Regen-schauer auf ihn einprasselten. „Durchaus, du hast wahrlich recht. Es sind in der Tat schwere Zeiten“, sprach Cahill unter Aufwendung all seiner Contenance, während er Brennans Blick erwiderte. „Ich bedaure zutiefst, dass ich nun aufbrechen muss. Doch es lässt sich nicht ändern, fürwahr“, verabschiedete er sich hastig und trat hinaus in die kalte Nachtluft. Cahill konnte ein Lächeln kaum unterdrücken. Er hatte etwas Außerordentliches herausgefunden. Nun musste er diese Informationen klug nutzen, um weiter in das Netz der Verschwörung vorzudringen. Mit diesen Überlegungen machte er sich auf den Heimweg, seine Aufregung kaum zügelnd.

Dublin, Irland, eine Woche später.

Laurence stieß die schwere Tür des Hospitals auf, und sogleich empfingen ihn die Dunkelheit und der schneidende Wind des frühen Jahres. Er zog den Mantel dichter um sich, hob die Schultern und neigte den Kopf, um den Wind davon abzuhalten, in seinen Kragen zu dringen. Er sehnte sich nach den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings.

Die frische Luft tief einatmend, begann er, zügigen Schrittes den Heimweg anzutreten. Zwar verspürte er den Wunsch, eine Kutsche zu nehmen, doch wusste er, dass ein einsamer Spaziergang nach der Arbeit guttat. Er beschloss, seine Gedanken auf erfreulichere Dinge zu lenken, wohl wissend, dass der heutige Tag im Klinikum zu jenen erfreulichen Dingen zählte.

Er stellte sich vor, wie erholsam es wäre, gleich nach Hause zu gelangen und sich auszuruhen. Lizzy würde ihn wie immer voller Freude erwarten! -

Die Straßen waren nahezu verwaist. Normalerweise herrschte hier stets ein geschäftiges Treiben, das zu jeder Tages- und Nachtzeit die Stadt erfüllte. Doch der unbarmherzige Wind hatte die Menschen offenkundig dazu bewogen, sich klügeren Beschäftigungen zuzuwenden, als sich ihre Ohren abzufrieren.

Laurence wandte sich noch einmal prüfend um. War denn tatsächlich kein Mensch unterwegs? Doch, glaubte er, wenige Häuserblocks entfernt eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Dennoch konnte er keine menschliche Gestalt ausmachen. Da huschte plötzlich eine Katze lautlos über die Straße, als habe sie einem unsichtbaren Befehl gehorcht. Sie schien aus genau jener Richtung zu kommen, in der er zuvor die Regung bemerkt hatte. Gewiss, es musste diese Katze gewesen sein, die seine Sinne getäuscht hatte.

Mit dieser beruhigenden Gewissheit setzte Laurence seinen Weg fort, während die Dunkelheit der Nacht sich weiter ausbreitete und der Wind wie ein unsichtbarer Begleiter über die verwaisten Pflastersteine fegte.

Als er soeben um eine Ecke bog, nahm er abermals eine Bewegung in seinem Augenwinkel wahr. Dennoch, als er danach Ausschau hielt, woher sie gerührt haben konnte, sah er nichts. Nur einen kahlen Baum, dessen Äste und Zweige sich unter dem Wind bogen. Vermutlich lag dies an seiner Müdigkeit. Er hatte den ganzen Tag voller Aufmerksamkeit auf jede kleinste Regung achten müssen und keine Sekunde nachlässig sein dürfen. Jetzt spielten ihm seine Sinne Streiche. Er nahm sich vor, diese sonderbaren Gedanken zu vertreiben, denn sein Heim war nicht mehr fern. Seine Wangen brannten bereits unter der unnachgiebigen Peitsche des Windes, und seine Ohren waren von der Kälte beinahe taub geworden. Mit festem Entschluss beschleunigte er abermals seinen Schritt und brachte den letzten Rest des Weges schnell hinter sich.

Kurz vor seinem Ziel erblickte er zwei Kinder, die fröhlich lachend die Straße entlangliefen. Ihre ausgelassenen Stimmen hallten durch die sonst stille Umgebung.

Laurence beschritt die wenigen Stufen zur Eingangstür, hob den Türklopfer und schlug ihn gegen das schwere Holz. In dem Moment wandte er sich noch einmal um und blickte die Straße hinab. Dabei bemerkte er eine Gestalt, die um die Ecke bog, welche er selbst zuletzt passiert hatte. Für einen kurzen Augenblick schien es, als blickte die Gestalt in seine Richtung, nur um dann abrupt kehrtzumachen und aus seinem Blickfeld zu verschwinden.

Nein, das musste er sich eingebildet haben. Er schüttelte diesen sonderbaren Eindruck entschlossen ab, während sich die Tür öffnete.

Als er in sein Dubliner Zuhause eintrat, umfing ihn sogleich die Wärme, die sich vom Kamin ausgehend im Haus ausgebreitet hatte. Mrs. O’Sullivan schloss die Tür hinter ihm, sodass der Wind nur noch hilflos an der Verankerung zerren konnte, ihn aber nicht mehr erreichte. Er überlegte soeben, noch einen Blick zurückzuwerfen durch das Fenster an der Tür, als Lizzy eilig angelaufen kam. Sie verscheuchte alle Geister, indem sie mit einer lustigen Mischung aus Ungestüm und zärtlicher Anhänglichkeit seine Beine umkreiste. Ihre Begrüßung war gleichwohl so stürmisch, dass er Mühe hatte, nicht seiner eigenen Standfestigkeit verlustig zu gehen.

„Nun, du Große“, rief er mit einem Anflug von Heiterkeit. „Wie hast du deinen Tag verlebt?“

„Sie wird wohl durchaus einen angenehmen Tag verlebt haben“, bemerkte Mrs. O'Sullivan in ihrer gewohnt nüchternen Weise. " Versteht sie es doch meisterhaft, zu erhalten, was sie begehrt." Sodann wandte sie sich an Lizzy. "Nicht wahr, mo chrá15, du weißt darum. Doch hast du mich auch begleitet auf meiner Einkauftour sowie zum Schneider, ist es nicht so?"

Laurence schätzte die unverstellte Wesensart der Haushälterin und Köchin. Ihre Herkunft aus Donegal verriet sich an ihrem Akzent.

„Das Essen ist bereits bereit zum Servieren. Wünschen Sie, dass ich es auftrage?", fragte sie mit jener wohltuenden Bereitwilligkeit, während sie ihm den Zylinder abnahm und emsig versuchte, ihn auf den Hutständer zu setzen. Jene Szene spielte sich unveränderlich Tag für Tag ab, wenn er heimkehrte. Da sie jedoch kleiner von Statur war, erforderte das Aufhängen des Hutes stets einen beherzten Sprung, um diesen auf den dafür vorgesehenen Haken zu bugsieren. Laurence unterdrückte sein amüsiertes Lächeln.

Einst hatte sie ihm in einer stillen Stunde anvertraut, dass sein Anblick sie an ihren Sohn Eoghan erinnere. Doch Eoghan war dem blassen Schrecken der Schwindsucht erlegen, ebenso wie ihr treuer Gatte inzwischen das Zeitliche gesegnet hatte. Der Dienst in diesem Hause diente ihr nunmehr als letzter Lebensinhalt

Laurence nahm ihr Angebot mit höflicher Dankbarkeit an. Schon wenige Minuten später, nachdem er sich erfrischt und sein Haar geordnet hatte, begab er sich in den Speisesaal. Ein köstlicher Duft von gebratenem Fleisch und frisch gebackenem Brot erfüllte den Raum.

Laurence ließ sich an der kleinen Tafel nieder. Verglichen mit der prächtigen Opulenz von Tallwood Manor, war dieses Ambiente von einfacher Eleganz, was jedoch seinem Geschmack vollkommen entsprach. Jeglicher übertriebene Luxus wäre reine Verschwendung gewesen, die er nicht schätzte.

Er nahm das feingeschliffene Glas entgegen, als Mrs. O'Sullivan ihm Rotwein einschenkte.

Auch das Essen war wesentlich genügsamer als jenes, welches er von Tallwood Manor gewöhnt war und doch lebte es sich für sein Empfinden bedeutend angenehmer hier in Dublin.

„Haben Sie Dank, Mrs. O'Sullivan. Mögen Sie sich ebenfalls etwas nehmen und sodann Ihren Tagesabschluss begehen", sprach Laurence. Der Gedanke, dass die alte Köchin bloß seinetwegen ausharren musste, bis die Tafel abgedeckt war, schien ihm unangemessen. Auch dies war ein auffallender Unterschied zu den Gegebenheiten auf Tallwood Manor, wo zahlreiche Dienstboten solch persönliche Rücksichten kaum erforderlich machten.

Mrs. O'Sullivan knickste und verließ den Raum.

Längst wusste Laurence jedoch, dass sie solchen Befehl niemals befolgte. Abend für Abend vollzog sich der gleiche Ablauf. Sobald er sich zurückzog, begann sie sogleich damit, die Tafel mit geübter Hand abzuräumen. Das Licht ihrer Kerze erlosch nicht vor der späten Stunde von dreiundzwanzig Uhr und zu früher Morgenstunde, schon um sechs, gar zuweilen um fünf, sah er sie bereits wieder emsig bei der Arbeit. Hatte er Frühschicht, bereitete sie ihm mit rührender Sorgfalt bereits um vier Uhr seinen Kaffee und ein kleines Frühstück.

Nun leerte Laurence den letzten Rest des Weines aus seinem Glas und erhob sich. Er spürte eine schwere Müdigkeit über sich kommen. Doch war ein Spaziergang mit Lizzy unerlässlich, damit auch sie noch ihre Bewegung erhielt. Ihm graute es vor dem erneuten Gang in die eisige Kälte der Nacht, doch es führte kein Weg daran vorbei.

„Lizzy!“, rief er in die Küche, wo der Hund sich meist treu in der Nähe von Mrs. O'Sullivan aufhielt.

Kaum hatte er ihren Namen ausgesprochen und die Tür ein wenig geöffnet, da kam sie schon heraus. Doch sie eilte nicht freudig auf ihn zu, noch wedelte sie in freudiger Erregung mit dem Schwanz. Nein, sie schritt zur Tür und begann leise, aber deutlich drohend zu knurren.

„Lizzy?“, rief Laurence verwundert.

Doch der Hund zeigte keine Anzeichen des Verstummens.

Im selben Moment erinnerte sich Laurence an jenes beunruhigende Gefühl von Verfolgung, das ihn auf dem Heimweg beschlichen hatte.

Er ging zu Lizzy herüber und kniete sich zu ihr. „Lizzy, vermagst du mir zu sagen, was dich ergreift?“, flüsterte er ihr zu. Solch ein Verhalten des Hundes war ihm gänzlich fremd.

Während er so vor ihr kniete, in der Hoffnung, die wahren Ursachen ihres Unmuts zu ergründen, begann er, seine nächsten Schritte zu erwägen.

Sein Blick fiel schließlich auf das Fenster neben der Tür. Vielleicht, wenn er hinausschaute, würde er erblicken, ob sich tatsächlich jemand dort befand. Ein unbehagliches Gefühl kroch ihm über den Rücken, dennoch entschied er sich, das Gefühl der Furchtsamkeit abzuschütteln. Es war töricht, sich zu verstecken. Er trat dichter an das Fenster und bemühte sich, in die tiefschwarze Nacht zu spähen. Doch die Schwärze war allumfassend. Weit dunkler als es der Natur gemäß hätte sein sollen ... Und dann erstarrte er förmlich. Der Grund, weshalb er nichts erblicken konnte, offenbarte sich in Form einer dunklen Silhouette direkt vor ihm. Jemand war draußen und suchte, ins Innere zu spähen. Ein Schauer fuhr ihm eisig über den Rücken und für einen flüchtigen Augenblick stockte ihm der Atem.

Rasch und entschieden riss er sich vom Fenster los und presste sich gegen die schützende Wand daneben, außer Sichtweite des unerwünschten Beobachters. Hier, verborgen vor den forschenden Augen draußen, bemühte er sich, einen klaren Gedanken zu fassen und überlegte, wie er dieser beunruhigenden Situation beikommen sollte.

Cork, Irland

Isabella verspürte eine überwältigende Aufregung und war ganz und gar in Anspruch genommen von dem unablässigen Bemühen, jene sorgsam zu verbergen. Die Tatsache, dass sie diesen Abend im Beisein von Janes älterem Bruder William, verbrachten, machte dies keineswegs besser, sondern erfüllte sie vielmehr mit großem Unbehagen.

Ihr Blick richtete sich auf Jane, die jedoch, wie gewohnt, eine vollkommene Gelassenheit und Souveränität ausstrahlte. Ob sie Isabellas inneren Aufruhr nicht bemerkte oder nur vorgeblich darüber hinwegsah, vermochte Isabella nicht zu ergründen.

Auch William Cahill präsentierte sich in heiterer Stimmung. Noch bevor sie das Cahill´sche Haus verlassen hatten, hatte er sich zu ihnen gesellt und mitgeteilt, dass er in Bezug auf seine berufliche Unternehmung einen bedeutsamen Fortschritt erzielt habe und sich nun am Rande eines großen Durchbruchs befände. Auf Janes interessierte Nachfrage, ob er näheres darüber enthüllen könne, hatte er geantwortet, es sei ihm leider nicht möglich, weitere Einzelheiten zu offenbaren, sofern er das Gelingen seines Vorhabens nicht gefährden wolle.

Isabella hatte sich die Frage gestellt, welchem Beruf Janes Bruder wohl nachging, doch sie hatte nicht gewagt, sich derart indiskret zu zeigen und nachzufragen.

„Du kannst ganz unbesorgt sein. Heute Abend wirst du Bekanntschaft mit vielen interessanten Persönlichkeiten machen, und morgen wirst du das Gefühl haben, bereits ein Teil dieser Gesellschaft zu sein", sprach Jane mit einem aufmunternden Zwinkern zu Isabella.

Isabella jedoch schenkte ihren Worten wenig Beachtung. Ihr Blick wanderte rastlos umher. Vor dem prächtigen Anwesen hatte sich eine stattliche Anzahl von Gästen versammelt. Der Hof war von Laternen erhellt, so dass der Mond, umringt von zahllosen funkelnden Sternen, in seiner Pracht beinahe verblasste.

Alle Gäste waren in eleganter Abendgarderobe erschienen und strömten der breiten Treppe aus hellem Stein zu, die zum imposanten Eingangsportal führte. Isabella nahm die klirrende Kälte der Winterluft kaum wahr, so sehr überwältigte sie die Anspannung des Augenblicks.

„Ich entschuldige mich, die Damen!“, rief William Cahill unvermittelt. „Ich habe soeben jemanden entdeckt, den ich begrüßen will!“ Mit jenen Worten verschwand er.

Isabella blickte ihm verwirrt nach.

„Beachte ihn gar nicht. Ich ahne schon, wohin er strebt. Jedoch, das ist niemand bedeutendes.“ Jane ergriff vertraulich Isabellas Arm und zog sie dichter an sich, bevor sie leise weitersprach. „Cole ist geradezu unerhört wohlhabend, musst du wissen“, flüsterte Jane leise zu Isabella, "zudem scheint er Bekanntschaft mit jeglicher hohen Persönlichkeit zu pflegen. Sogar Daniel O´Connell16 ist hier bis vor wenigen Jahren ein und aus gegangen. Dies jedoch trug sich zu, bevor wir nach Cork kamen, sodass mir die Ehre, ihm zu begegnen, verwehrt blieb.“

Isabella war nicht bekannt, wer dieser Daniel O'Connell war, von welchem Jane sprach.

„Sir Robert Peel17 ist ebenfalls ein häufiger und geachteter Gast in diesem Hause und man erwartet sein Erscheinen auch an diesem Abend“, fuhr Jane fort.