In der Dämmerung Band II - Rebekka Jost - E-Book

In der Dämmerung Band II E-Book

Rebekka Jöst

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Beschreibung

Irland 1848. Die Insel erlebt die furchtbarste Hungersnot ihrer Geschichte, die das Land für immer verändern wird. Doch sie wird auch die Menschen verändern. An einem verhangenen, regenschweren Junitag besteigen die Schwestern Madeleine und Isabella Dubois eines der zahlreichen Segelschiffe, welche in dieser verzweifelten Zeit in die verheißungsvolle Neue Welt aufbrechen. Auch der Arzt Laurence Huton ist auf dem Weg zu diesem Schiff, entschlossen, seine Heimat unwiderruflich hinter sich zu lassen. Wie es dazu kam, davon handeln die ersten drei Bände von "In der Dämmerung". In der Dämmerung I Rising of the moon In der Dämmerung II Against the famine and the crown In der Dämmerung III Island of sorrows Historischer Roman

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Seitenzahl: 463

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Klappentext

Irland 1848.

Die Insel erlebt die furchtbarste Hungersnot ihrer Geschichte,

die das Land für immer verändern wird. Doch sie wird auch

die Menschen verändern.

An einem verhangenen, regenschweren Junitag besteigen die

Schwestern Madeleine und Isabella Dubois eines der

zahlreichen Segelschiffe, welche in dieser verzweifelten Zeit in

die verheißungsvolle Neue Welt aufbrechen.

Auch der Arzt Laurence Huton ist auf dem Weg zu diesem

Schiff, entschlossen, seine Heimat unwiderruflich hinter sich

zu lassen.

Wie es dazu kam, davon handeln die ersten drei Bände von "In

der Dämmerung".

In der Dämmerung I Rising of the moon

In der Dämmerung II Against the famine and the crown

In der Dämmerung III Island of sorrows

Historischer Roman

Die Autorin

Rebekka Jost ist gebürtige Hamburgerin, lebt jedoch in Mecklenburg-Vorpommern. Sie ist Rechtsanwältin und Schriftstellerin.

Von ihr erschienen sind zudem:

Das Versteck im roten Haus – Roman

Tiefes Vergessen – Roman

Murias Vermächtnis – Roman

Murias Vermächtnis – Kinderroman

Mathilda und der Mann auf der Bank – Kinderbuch

Von Zahlendrachen und Schulterzwergen - Kinderbuch

Stammbaum der Hutons

John

&

Elizabeth

1753

13.1.1793

1776

John

Jonathan

Alexander

Samuel

18.7.1793

1795

1799

1804

John

&

Catherine

1819

John

Jacob

Laurence

Eliza

3.3.1820

5.7.1821

15.10.1823

Old Irish Air (altes irisches Volkslied)

"Oh, Danny boy, the pipes, the pipes are calling

From glen to glen, and down the mountain side

The summer’s gone, and all the roses falling

‘Tis you, ‘tis you must go and I must bide.

But come ye back when summer’s in the meadow

Or when the valley’s hushed and white with snow

‘Tis I’ll be there in sunshine or in shadow

Oh, Danny boy, oh Danny boy, I love you so!

And when ye come, and all the flow’rs are dying

If I am dead, as dead I well may be

Ye’ll come and find the place where I am lying

And kneel and say an Ave there for me.

I shall hear, though soft you tread above me

And all my grave will warmer, sweeter be

For you will bend and tell me that you love me,

And I shall sleep in peace until you come to me.“

Später auch „Oh Danny boy“ genannt. Es gibt verschiedene Deutungen des Liedes. Es sei ein Vater oder eine Mutter, der oder die den Sohn in den Krieg verabschiedet oder in die Emmigration. Es könnte auch ein Geliebter sein, der unter Tränen verabschiedet wird. Wenngleich das Lied in seiner heutigen Form erst 1913 und damit nach der großen Hungersnot in Irland von 1845 - 1849 entstand, verbinden heute viele Iren das Lied mit diesem traumatischen Ereignis. Während der Hungersnot starben rund eine Million Iren und weitere zwei bis drei Millionen sahen sich gezwungen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren. Es war die englische Opernsängerin Elsie Griffin, die das Lied erstmals einem breiteren Publikum bekannt machte.1

1 Quelle: https://www.gruene-insel.de/blog/2019/oh-danny-boy-die-geschichte-hinter-irlands-heimlicher-hymne/

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

I.

Adhmaid House nahe Shanagarry, County Cork, Irland

Als Isabella an diesem Morgen die Augen aufschlug empfand sie einen Enthusiasmus, wie sie ihn niemals zuvor empfunden hatte. Sie drehte sich auf den Rücken, ließ ihr langes, dunkles Haar ohne besondere Sorgfalt über das Kissen fließen und gab sich ihren Gedanken hin, welche sogleich zum vergangenen Abend und zu dem zauberhaften Konzert wanderten. Ihr kam die flimmernde Atmosphäre des Konzertsaales, das flackernde, warme Licht, die Vielzahl festlich gekleideter Menschen, das große Orchester und der glänzende Konzertflügel, die eleganten Musiker und die eindrucksvolle Musik in den Sinn. Besonders jedoch die Erinnerung an ihre Begleiterin, die anmutige Jane Cahill, die Schwester des Lehrers, erfüllte sie mit einem ungekannten Glücksgefühl. Sie war bildschön gewesen.

Das Kleid musste ein Vermögen gekostet haben und nur ein ausgezeichneter Schneider verstand sich auf die Kunst, solch ein Kleid zu nähen. Doch besonders Jane's Antlitz hatte sich unauslöschlich in Isabellas Gedächtnis eingeprägt. Darüber hinaus hatte Jane auf Isabella den Eindruck gemacht, als besitze sie einen herausragenden Verstand, so gewandt, wie sie über allerlei Themen zu berichten wusste. Nun, sie war die Schwester eines Lehrers. Gewiss spielte dies keine unbeträchtliche Rolle. Doch im Übrigen ähnelte sie Mr. Cahill nicht besonders.

Im Anschluss an das Konzert hatten sie noch beisammen gestanden. Jane Cahill hatte sehr von der Musik geschwärmt und auch von dem Komponisten Chopin.

Bedauerlicherweise vermochte Isabella nur wenig zu dem Austausch beizutragen, da sie keinerlei Kenntnis von all diesen Themen hatte. Diese Unwissenheit betrübte sie auch jetzt noch in nicht geringem Maße. Sie hätte sich sehr gewünscht, sich besser in der modernen Kunst auszukennen und liebend gerne etwas Geistreiches beigetragen, doch keiner der Namen, die Jane Cahill so nonchalant erwähnte, war ihr geläufig gewesen.

Doch Isabella war entschlossen, dieses Defizit auszugleichen. Jane Cahill hatte für sie eine Tür zu einer anderen Welt aufgestoßen – einer bezaubernden und faszinierenden. Sie musste nur noch herausfinden, woher sie diese Kenntnisse schöpfen könnte.

In diesem Augenblick erklang ein Klopfen an der Tür und Isabella wurde aus ihren Gedanken gerissen. „Ja bitte?“, rief sie. Sie konnte sich denken, wer zu ihr wollte.

Die Tür öffnete sich und Madeleines Gesicht erschien im Türrahmen. „Bist du wach, Isa?“

Isabella lächelte versonnen. Madeleine würde ohne Zweifel auf die minutiöse Schilderung jeglicher Einzelheiten drängen. „Komm nur herein!“, rief sie, sich aufrichtend, und lehnte sich bequem in die weichen Daunenkissen zurück.

Madeleine war noch nicht vollständig angekleidet. Offenbar hatte sie nur hastig einen Überrock über ihr Nachthemd geworfen und war in ihre Pantinen geschlüpft.

Eilig lief Madeleine zu Isabellas Bett, schlüpfte geschwind aus den Pantinen, entledigte sich des Überrocks und kroch flugs zu Isabella unter die warme Decke.

Isabella erschauerte ob der Kälte, die mit Madeleine unter die Decke gekrochen war, zog Madeleine jedoch sogleich an sich, um sie zu erwärmen, wie sie es stets bei ihren Schwestern zu tun pflegte.

„Berichte schon, Isa, ich möchte alles in jeder Einzelheit wissen. Beginne von Anfang an. Die Kutsche ist abgefahren. Und dann?“, drängte Madeleine mit leuchtenden Augen.

Isabella begann also, ausführlich von ihrem Konzertbesuch zu erzählen, während Madeleine sich allmählich aufwärmte.

„Oh, ich bin so neidisch, Isa, du kannst es dir nicht vorstellen. Wie gerne würde ich selbst ein Konzert besuchen!“, seufzte Madeleine sehnsüchtig.

„Ich hoffe so sehr, dass Miss Cahill diesen Abend in Kürze zu wiederholen gedenkt!", erwiderte Isabella mindestens ebenso sehnsüchtig.

„Weshalb sollte sie denn nicht?“

„Nun, sie muss einen ganz furchtbaren Eindruck von mir haben. Ich wusste ja überhaupt nichts zu sagen. Ich fürchte, sie wird sich jemanden suchen, der weitaus klüger und interessanter ist, als ich es bin.“

„Niemand könnte klüger sein, als du", entgegnete Madeleine sehr ernsthaft.

„Du bist ein Schatz, doch selbst wenn es so wäre, wüsste es Miss Cahill nicht, weil ich es mir jedenfalls nicht habe anmerken lassen in meiner unerträglichen Eintönigkeit.“

„Wenn sie nicht selbst auf den Gedanken kommt, erneut in deine Gesellschaft zu suchen, dann lädst du sie eben ein. Bis dahin wirst du dich belesen haben und manches Wissenswerte zu berichten wissen“, erklärte Madeleine in jener unbefangenen und gleichsam entschlossenen Art, die ihr zueigen war.

Cork, Irland

Er hatte seine feinsten Kleider ausgewählt für diesen Anlass.

Bevor er den dunklen Raum betrat, atmete er tief durch und rückte seinen nagelneuen, einreihigen, dunkelgrauen Gehrock zurecht.

Seine zweireihige bunte Weste entsprach dem neuesten Trend aus London. Den Sitz seines Krawattenknotens hatte Jane überprüft, bevor er das Haus vor einer Stunde verlassen hatte.

Sein feinstes Assessoire indes war die edle Krawattennadel aus Paris.

Dann drückte er die Türklinke herunter und öffnete die Tür um einzutreten. Ihm schlug der schlechte Geruch abgestandener Luft entgegen, der übertüncht wurde von beißendem Zigarrenrauch.

Er trat an Warners großen Arbeitstisch heran und reichte seinem Vorgesetzten mit festem Blick in dessen Augen die Hand, großen Wert darauf legend, dass er dem Alten keinen Anlass gab, auch nur eine Spur von Unsicherheit an ihm zu vermuten. Es galt, das furchtbare letzte Vorsprechen im September wett, besser noch vergessen zu machen.

Dessen ungeachtet blickte Warner ihn, wie stets, von oben herab an.

William versuchte das unwohle Gefühl abzuschütteln, das ihn hier jedes Mal befiel. Schließlich gab es keinen Grund dafür. Heute zumindest nicht.

„Wie ich Ihren Auftritt deute, kommen Sie heute mit besseren Nachrichten?“, kam Warner ohne Umschweife direkt zur Sache.

William weigerte sich, die Spitze hinzunehmen. Darf ich mich setzen?“, erwiderte er frei heraus.

„Bitte", kam kurz und bündig die unterkühlte und trockene Antwort.

William ließ sich auf dem Stuhl Warner gegenüber nieder. „Wenn ich berichten darf: Es hat sich herausgestellt, dass meine Vermutung zutreffend war und ich über die Schmugglerbande einer Gruppe von Leuten auf die Spur gekommen bin, die an Anschlagsplänen arbeitet.“ Er blickte Warner fest an.

Warner blickte ebenso fest zurück. „Ich werde Ihnen wohl besser nicht die Frage stellen, ob das Ihrem Glück oder Ihrem Können geschuldet sein mag.“ Er setzte eine Pause. Dann sprach er weiter. „Bitte. Ich erwarte einen genauen Bericht.“

William spürte die Wut auf diesen Mann. Sie legte sich über das soeben noch empfundene Triumpfgefühl. Wie hasste er es, einem Vorgesetzten Rede und Antwort stehen zu müssen. Und dann noch diesem arroganten alten Idioten. Doch half es nichts. Er würde dessen Unhöflichkeit einfach hinnehmen müssen. Wie gut, dass er ihn nur selten sehen musste und wie gut, dass er nun auf der richtigen Spur war.

Er berichtete von Tadhg Brennan, den er nun einige Male getroffen hatte und der ihm immerhin anvertraut hatte, dass es eine Gruppe von Leuten gab, die sich regelmäßig trafen und die der - wie diese Leute es nannten – skrupellosen, britischen Politik etwas entgegensetzen wollten.

„Was sind Ihre nächsten Schritte?“ Warner sah ihn an, als sei er in Gedanken bereits woanders. William verstand diesen Mann nicht. War das etwa nichts? Weckte es nicht das Interesse dieses Menschen, der die Verantwortung für jene Angelegenheiten trug?

William unterdrückte seine Verunsicherung. „Ich werde an Brennan dran bleiben und ihn dazu bringen, mich mit zu einem dieser konspirativen Treffen zu nehmen. Dort werde ich Verbindungen knüpfen und versuchen herauszufinden, wer die Hintermänner sind. Bis ich das nicht weiß, werde ich behutsam vorgehen, um kein Misstrauen zu erregen.“

„Nun, das klingt für mich nicht sehr überzeugend. Ich trage mich mit dem Gedanken, diese Sache an einen anderen aus meiner Abteilung zu übergeben, der mehr Erfahrung auf diesem Gebiet hat. Wenn alles ist, wie Sie sagen, dann drängt die Sache. Oder können Sie mir zusichern, dass die Bombe nicht hochgeht, während sie noch auf einen weiteren Drink mit diesem Brennan warten?“

William konnte sein Entsetzen kaum verbergen. Das durfte nicht geschehen. Er musste verhindern, dass ihm die Sache aus der Hand genommen wurde. Wie sollte er jemals dieses Kaff verlassen können, wenn es ihm nicht gelang, so einen Fall zu klären, in dieser Sache den Erfolg einzuheimsen. Wann würde sich wieder eine solche Gelegenheit ergeben? Er war so weit gekommen. Jetzt durfte er sich keinen Fehler erlauben. „Ich ...“, stammelte er. Er holte tief Luft. „Ich bitte um Entschuldigung, jedoch halte ich es für kritisch, zu diesem Zeitpunkt andere auf Brennan anzusetzen. Die Schwierigkeit ... wissen Sie, die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, dass Vertrauen Brennans zu gewinnen. Er ist sehr ... nun, sehr misstrauisch. Wie sie eben sind, die Iren.“ Während er sprach sah er den ungerührten Blick seines Gegenübers. Er verspürte den dringenden Antrieb, ein wahrhaft bestechendes Argument vorzubringen. In keinem Fall wollte er sich mit einem Tölpel abfinden, welcher eigene Anschauungen hegte und sich anmaßte, in seine Methoden einzugreifen und ihm somit den wohlverdienten Triumph streitig zu machen. Sein Erfolg sollte einzig und allein ihm gebühren, sein Verdienst durch eigene Mühen erworben. „Die Ermittlungen werden unweigerlich stocken, wenn andere Personen sich einmischen. Es hat lange gedauert, bis er mir gegenüber den Mund aufgemacht hat. Gewähren Sie mir weitere vier Wochen, und ich werde Ihnen Namen preisgeben ... und noch tiefere Einblicke.“ Mit aller Überzeugungskraft sprach er diese Worte.

„Vier Wochen, Cahill?", entfuhr es Warner in aufgebrachter Stimmung. „Wie soll ich es rechtfertigen, sollte in dieser Zeit das Unheil seinen Lauf nehmen? Nach diesem Gespräch muss ich umgehend Maßnahmen ergreifen.“ Warner verharrte einen Augenblick in stillem Nachsinnen, bevor er fortfuhr: „Mein Kopf steht auf dem Spiel, falls Sie versagen sollten. Zwei Wochen stehen Ihnen zu. Wenn dies nicht ausreicht, wird Ihnen der Fall entzogen.“

Als William diesmal das Büro seines Vorgesetzten verließ, war seine Gemütsverfassung bei weitem heiterer, als es bei seinem letzten Besuch der Fall gewesen war. Die ersten Anzeichen des Zweifels in Warners Stimme waren ihm nicht entgangen. Diese Zweifel offenbarten, dass selbst Warner nicht mehr gewiss war, ob man nicht eine alternative Vorgehensweise in Betracht ziehen sollte. William war es gelungen, weitere Unsicherheiten zu säen. Er hatte es erreicht, dass Warner ihm eine Frist von vier Wochen eingeräumt hatte, anstatt der zunächst festgelegten zwei Wochen.

Durch seine Überzeugungskraft hatte William eine bedeutende Verlängerung erwirkt, was ihm einen unverhohlenen Triumph und eine wohltuende Genugtuung bereitete.

Tallwood Manor

Etwa zur selben Zeit betrat Laurence Huton den Speisesaal seines Elternhauses. Der Marquess blickte kurz von seiner Zeitung auf. „Guten Morgen, Laurence“, begrüßte er ihn knapp.

Laurence blickte seinen Vater einen Moment lang schweigend an. Es war niemand anderes zugegen. Es schien somit eine günstige Gelegenheit, ihm seine Entscheidung mitzuteilen. „Vater, kann ich Euch sprechen?“

Der Marquess blickte auf. Er musterte seinen Sohn. Er legte die Zeitung zusammen. „Gewiss, in welcher Sache?“

Laurence trat an den Tisch heran und nahm nahe des Marquess´Platz.

„Ich habe meinen Entschluss gefasst“, sagte er mit so fester Stimme wie er es vermochte.

„Das freut mich, mein Sohn!“, erwiderte der Marquess nun mit durchaus interessierter Miene.

In dem Moment ging die Tür auf und Alexander betrat den Saal. Er blieb abrupt stehen, als er seinen Bruder und seinen jüngsten Neffen am Tisch erblickte. „Guten Morgen, wollte ich sagen. Ich komme wohl ungelegen?“

„Nein, nein, gewiss nicht, Laurence? Dein Onkel kann sicher zugegen sein?“, winkte Lord John Huton mit auf seinen Sohn gerichtetem, fragendem Blick ab.

„Gewiss“, erwiderte Laurence.

„Dann lasst euch nicht stören, ich werde mir einen Kaffee nehmen und mich im Übrigen ganz still verhalten.“ Er deutete einen schleichenden Gang in Richtung Buffet an.

Laurence musste unweigerlich grinsen, weil Alexander dabei allzu albern aussah. Alexander zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Laurence wurde wieder ernst. Er wandte sich seinem Vater zu und setzte, tief Luft holend, von neuem an. „Ich habe mich entschieden, Eurem Wunsch zu entsprechen und Cara zu heiraten.“ Nun war es heraus. Nun würde es kein Zurück mehr geben.

Er spürte dem Gefühl nach, welches diese Gewissheit in ihm auslöste, doch er konnte es noch nicht deuten.

Der Marquess sah ihn mit freudigem Blick an. „Mein Sohn, ich bin darüber sehr erfreut. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Du wirst es sehen. Wir leben in einer Zeit, in der der Verbindung zwischen Mann und Frau viel zu viel beigemessen wird hinsichtlich der Gefühle. Als dein Vater, mit vielen Jahren auf dem Buckel, will ich dir versichern: Das Einzige was zählt ist, dass zum einen die Verbindung zweckmäßig ist und ihr euch zum anderen freundschaftlich verbunden seid, das sind die wesentlichen Dinge, die Bestand haben über die Jahre und es braucht diesen jahrelangen Bestand.“

„Lieber Laurie!“ Alexander war hinter Laurence getreten und hatte ihm die Hände auf die Schultern gelegt. Lieber Neffe! Darf ich dir meine Gratulation aussprechen? Doch ich will so unverfroren sein und dich, lieber Bruder, um eine Sache bitten, die du mir nicht ausschlagen darfst.“ Alexander blickte seinen Bruder mit Unschuldsmiene an.

Laurence fragte sich, was nun kommen würde.

„Bevor unser lieber Laurie sich für sein Leben bindet, möchte ich ihn noch auf eine Reise mitnehmen. Er soll seinem alten Onkel noch einmal Gesellschaft leisten und mich für ein paar Monate begleiten. Wird er erst verheiratet sein, wird es für ihn schwierig sein, sich für ein paar Monate von seinen Pflichten loszumachen.“

Laurence war vollkommen überrumpelt. Er ahnte jedoch, was Alexander bezweckte und flehte insgeheim den Himmel an, dass sein Vater zustimmen würde.

County Cork, Irland

Er lehnte sich nun weit vor und trieb Aodhán entschlossen an. Sein prächtiger Cleveland Bay wechselte mit Leichtigkeit vom Trab in den raschen Galopp, und während er durch das weitläufige Moorland jagte, zerrte der Wind an seinen Gewändern und seinem Haar.

Das Moor liebte er, ebenso wie die ruhige Schönheit des Abends, wenn der Horizont in feurigen Tönen erstrahlt und die kahlen Bäume sich in schwarze, gespenstische Silhouetten verwandelten, die gegen den farbenprächtigen Himmel ragten. Ebenso waren seine Pferde ihm eine Quelle tief empfundener Leidenschaft.

Es war dieses Gefühl ungezähmter Freiheit, das ihn beflügelte, während er durch die wunderschöne und raue Landschaft jagte – eine Landschaft, die einzig hier vorhanden war und nirgendwo anders, wo er je seinen Fuß hingesetzt hatte.

Alles nahm nun eine wohlgefällige Wendung. Er hatte es vermocht, jene Waren aus Frankreich anzufordern, welche sein Partner, Adrian Carter verlangte, und alle Zeichen ließen darauf schließen, dass dieser Handel ihm ein beträchtliches Vermögen einbringen würde. "Die Waren". Ein unwillkürliches Lächeln spielte auf seinen Lippen. Wie sehr ist der Mensch doch das Spielzeug des Schicksals. In den zurückliegenden Monaten hatte er unermüdlich gekämpft, um sich aus seiner misslichen finanziellen Lage zu befreien, und all seine Anstrengungen waren vergebens gewesen. Doch auf einmal wendete sich das Blatt, und er konnte sich kaum noch erinnern, wie bedrückend die Lage noch vor wenigen Wochen gewesen war.

Erst kurz vor Adhmaid House verlangsamte er sein Tempo und nahm wieder die vornehme, aufrechte Haltung ein, die ihm eigen war. Zu hoffen war nun einzig und allein, dass Marys Genesung Fortschritte machen würde.

Er beschloss, das Pferd unverzüglich zu Sheehan zu bringen und sodann Mary einen Besuch abzustatten

Als er die Tür zu ihren Gemächern öffnete, erblickte er sie in ihrem Sessel am Fenster. Sie saß mit dem Rücken zu ihm. Ihr ungebundenes Haar fiel ihr in langen dunklen Locken über den Rücken. Sie hatte sich ihr dunkelblaues Tuch um die Schultern gelegt.

Während er sie so betachtete, meinte er fast, sie sehe aus, wie vor ihrer Erkrankung, als er jedoch zu ihr trat und sie sich zu ihm umwandte, erschrak er unwillkürlich bei ihrem Anblick. Sie war schmal und blass. Ihre Wangenknochen staken hervor und ihre Augen lagen tief in den Augenhöhlen. Sie lächelte ihn an. „Isabella hatte einen wunderbaren Abend", flüsterte sie kaum hörbar.

Er griff nach einem Stuhl und nahm an Ihrer Seite Platz. „War sie hier?“

„Madeleine und Isabella waren beide hier.“

Jules wusste, dass seine Töchter jeden Tag zu Mary kamen und diese umsorgten. Er war froh, dass sie dies taten. Er selbst fühlte sich unfähig, die Ratschläge des Arztes zu befolgen. Und einerseits erfüllte es ihn mit einem unwohlen Gefühl, dass er zur Umsetzung jener Anweisung außerstande schien, andererseits hingegen erschien es ihm auch als durchaus passender, dass seine Töchter Mary pflegten, als wenn er es tat. Er empfand es als Last, dass Marys Gesundheitszustand noch immer derart desolat war. Er wollte mit ihr sein Glück teilen und nicht, dass ihre Krankheit immerzu die Freude über sein geschäftliches Glück trübte. Endlich waren die finanziellen Sorgen überwunden, ausgerechnet dann musste er sich um ihre Gesundheit sorgen.

Tallwood Manor

Laurence konnte es kaum fassen. Wenngleich er im Übrigen nicht deuten konnte, wie er empfand, so spürte er doch deutlich die Erleichterung hinsichtlich dieses einen Punktes.

Er wusste, dass es Betrug war, doch er konnte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, er musste sie beim Schopfe packen, bevor sie sich noch aufgrund irgendeines unerwarteten Ärgernisses in Luft auflöste. Er würde sein Elternhaus sogleich verlassen. Er musste nur noch einen Brief an Cara verfassen und sich von seiner Familie verabschieden, insbesondere von Eliza und von Alexander. Und als wenn es nicht bereits ein unerhörtes Glück bedeutete, dass der Marquess den vorgeblichen Plänen Alexanders entsprochen hatte, er hatte Laurence auch noch das überaus großzügige Geschenk der Hündin Lizzy gemacht, die er nun auf den kurzen Ausflug in das Leben, das er sich ersehnte mitzunehmen gedachte.

Zugegebenermaßen fiel der Brief an die arme Cara recht kurz und wenig glamourös aus, wenn man bedachte, dass er die Einwilligung in die Ehe enthielt, auf die Cara nun so lange gewartet hatte. Jedoch hatte Laurence mit Mühe und Not und nach einer beträchtlichen Zeitspanne, die er am Schreibpult verbracht hatte, so eben Worte gefunden, die, so hoffte er inständig, der Bedeutung angemessen waren. Durch weitere Ausführungen würde das Schreiben keinesfalls eine Verbesserung erfahren. Er hielt den Siegelstift über die Flamme der beträchtlich heruntergebrannten Kerze und versiegelte den Brief mittels eines kräftigen Aufdrucks kurz bevor der Lack in das Wachs tropfte, sorgfältig, um ihn sodann zur übrigen Korrespondenz des Hauses zu legen.

Anschließend machte er sich auf den Weg zu seiner Schwester. Er vermutete sie zu Recht in ihren Schlafgemächern.

„Begleitest du mich auf einem Abendspaziergang?“, fragte er.

„Ich will mir nur eben eine Mantille überziehen.“

Sie verließen das Anwesen in westlicher Richtung. Der Pfad, den sie gewählt hatten, führte sie durch parkähnliches Gelände. Er war gesäumt von Linden, deren wenige verbliebenen Blätter nun ein bräunliches Gelb angenommen hatten, das wie leuchtendes Gold erschien. Es war kühl, jedoch keineswegs kalt. Die Sonne stand bereits tief und färbte den Himmel in malerischen rosa Tönen.

Laurence schritt zunächst schweigend an der Seite seiner Schwester dahin, den Mantel fest um sich gezogen und die Arme vor der Brust verschränkt, weniger der Kälte wegen, mehr um sich Halt zu geben bei der Suche nach den richtigen Worten.

„Ich habe mich entschieden ...“, begann er stockend.

Eliza sah ihn überrascht an. „Ach, deshalb wolltest du mich sprechen?“

„Ich werde Cara heiraten.“

„Oh?!“, machte Eliza nur. Sie schien zu überlegen. Nach einer Weile nahm sie seinen Arm, hakte sich bei ihm unter und lehnte ihren Kopf an seine Schulter, während sie langsam weiter spazierten. Diese Geste bedeutete ihm mehr als tausend Worte. Er wusste, dass sie wusste, dass er mit dieser Entscheidung dem Wohlergehen der Familie den Vorrang einräumte, obgleich diese Heirat ihn zwang, seinen Lebenstraum aufzugeben. Es gab folglich nichts, was zu sagen gewesen wäre.

„Es gibt noch eine andere Sache,“ hob er erneut an. „Dies wird dir womöglich weniger zusagen, als mir ...“

„Was könnte das wohl sein? Wie könnte mir etwas nicht zusagen, was dir zusagt?“

„Alexander hat Seiner Lordschaft die Zustimmung abgetrotzt, dass ich Cara erst in einem Jahr heirate und solange mit ihm auf Seefahrt gehe.“

Eliza sah ihn überrascht an. „Du? Auf Seefahrt?“

„Jene Seefahrt stellt indes ein Alibi dar. Er möchte mir damit ermöglichen, zumindest ein Jahr lang in Dublin als Arzt zu praktizieren ...“

„Aber das ist phantastisch!“, rief Eliza. „Nur", sie wurde ernster. „Nur, wird es dir nicht noch viel schwerer fallen, wenn du im Anschluss daran alles aufgeben musst?“

Er erwiderte hierzu nichts. Was sollte er dazu sagen? Es würde sich zeigen, ob es ihm noch schwerer fallen würde, als jetzt. Vorzustellen vermochte er es sich nicht, angesichts dessen, wie schwer es ihm schon jetzt fiel. Er wusste, dass Alexanders Gedanke hierbei war, dass er es sich womöglich doch anders überlegte und seine Entscheidung revidierte. Der Gedanke jedoch, wenigstens ein Jahr lang zu tun, was er sich von allem am meisten zu tun ersehnte, war unwiderstehlich.

Er vermutete, dass Eliza die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen.

Schließlich sagte sie: „Wie kannst du nur glauben, dass mir dieser Plan nicht gefallen könnte.“

Er lächelte sie an. Er wusste, dass sie wusste, dass sie sich lange Zeit nicht sehen würden und dass sie in dieser langen Zeit mit ihren eigenen Sorgen allein stehen würde.

Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinander her.

„Wann reist du ab?“, fragte Eliza schließlich.

„Morgen in aller Frühe.“

Laurence hatte alles veranlasst. Er hatte sich von allen verabschiedet und war gemeinsam mit Alexander um fünf Uhr am nächsten Morgen mit der Kutsche aufgebrochen.

Er führte nicht viel Gepäck mit sich. Das Wichtigste waren seine Arzttasche und Lizzy.

Die Freude auf das Bevorstehende hatte jeden Gedanken an die Heirat mit Cara vollständig verdrängt.

Als ihr Bruder fort war, wusste Eliza, dass es nun auch an ihr war, eine Entscheidung zu treffen.

Seit dem schrecklichen Tag, an dem Tom Cartwrite ihren Vater hinters Licht geführt und sie in die Enge getrieben und damit in eine vielleicht ausweglose Lage gebracht hatte, waren bereits einige Wochen vergangen. Tom war kurz darauf abgereist und sie hatte ihn seither nicht mehr gesehen. Seine Briefe hatte sie ungeöffnet gelassen. Sie hatte den Entschluss gefasst, nicht über diese Sache nachzudenken, sondern sich nur ihrem Manuskript zu widmen.

Doch ewig konnte sie diese Angelegenheit nicht ausblenden. Das Ausharren und Ausblenden erschien ihr zudem sinnlos, wenn nicht wenigstens Laurie da war. Was sollte sie in diesem Haus mit diesen Menschen? Sie fühlte sich, als stünde sie zwischen zwei Räumen in einer zugigen Tür und könnte nicht vor noch zurück.

Ihre Eltern erwarteten, dass sie Tom heiratete, für Tom war die Sache ebenfalls beschlossen, sie selbst sehnte sich einen Ausweg herbei, doch wie konnte der aussehen?

Laurie hatte nun entschieden. Er hatte das Leben gewählt, dass die Aufgabe all seiner Träume bedeutete.

Konnte sie das auch? Es waren nicht nur die Träume, die sie an Toms Seite aufgeben musste, an der Seite von ihm würde sie ihr eigenes Inneres aufgeben müssen.

Laurie war abgereist. Sie wusste mit einem Mal, was sie tun wollte. Sie musste diesen Schwebezustand beenden. Sie würde einen letzten Versuch unternehmen, ihre Eltern umzustimmen. Wenn das nicht gelang, dann würde sie ebenfalls abreisen und nach London gehen. Dort würde sie womöglich endlich einen Zugang zu ihrem Innern erhalten und ihre nächsten Schritte überlegen können. Hier war sie wie gefesselt. Ja, es war gut, dass Laurie diesen Schritt getan hatte, nun konnte sie es auch.

Noch am selben Tag suchte Eliza ihre Mutter auf.

Lady Catherine empfing sie in dem kleinen Wohnzimmer, in welchem sie ihren Tee zu trinken beliebte.

„Setz dich zu mir, Eliza“, sprach sie freundlich.

Eliza nahm Platz. Die Polsterstühle waren durchaus bequem. Auf dem Tischchen dampfte eine Kanne Tee, daneben standen die zierliche, goldgerahmte Tasse ihrer Mutter und ein kleines Tintenfässchen und daneben lag ein kleines Büchlein, in das ihre Mutter sich Notizen machte, die sie dann mit der Haushälterin besprach. Bei dem Büchlein lag eine Feder. Eliza wusste, dass ihre Mutter die Teezeit dafür nutzte, sich Gedanken darüber zu machen, was alles zu tun war. So wusste sie auch, dass sie nicht gern gestört wurde, wenn sie sich um diese Zeit in ihre Gemächer zurückzog.

An der Wand tickte die filigrane Standuhr, die Großmutter ihr vermacht hatte. Das Glas und die Schnitzereien waren blank poliert und kein Staubkorn war darauf zu finden. Das Pendel ging gleichmäßig und unaufhörlich hin und her.

„Mutter, ich weiß. Es ist dein Wunsch, dass ich Tom Cartwrite heirate, dennoch ... ich bitte dich … Wir würden nie und nimmer miteinander glücklich ...“

Lady Catherine sah sie mit einem schwer zu deutenden Blick an. „Liebe Eliza, wir haben dir sehr viele Freiheiten gelassen, das wirst du nicht abstreiten können, doch irgendwann musste dies ein Ende finden. Dir muss doch klar sein, dass es gewisse Dinge gibt, die nicht zur Diskussion stehen? Dein Vater hat diese Verbindung seit Jahren im Auge und sie ist perfekt. Wir haben dir gestattet, jenen Zerstreuungen nachzugehen, die du beliebtest, wir haben deine Freundschaften geduldet und dir viel Zeit gelassen, da stets feststand, dass du einst Tom heiraten würdest. Und nun ist es an der Zeit, dass diese Ehe geschlossen wird. Du solltest dankbar sein. Tom Cartwrite ist eine sehr gute Partie. Er hat, allen Erwartungen nach, eine glänzende Zukunft vor sich. Zudem wird Laurence Cara heiraten und ihr werdet über diese Verbindungen auch in Zukunft in engem Kontakt stehen können. Ihr werdet eine Familie sein. Was könntest du dir mehr wünschen?“

„Mein Gefühl warnt mich, dass Tom möglicherweise eine weit weniger gute Partie ist, als er alle glauben macht ...", entgegnete Eliza behutsam, jene letzte Besprechung erinnernd.

Lady Catherines Blick bildete ihr Unverständnis unübersehbar ab. Ihr Ton wurde dunkel und scharf. „Wovon sprichst du? Wie kannst du so etwas behaupten? Er ist der Sohn des engsten Freundes deines Vaters und er hat noch nie Anlass gegeben, an seiner Ehrenhaftigkeit zu zweifeln.“ Ihre stechenden Augen durchbohrten Eliza förmlich, während Lady Catherine eine Pause setzte. Dann jedoch atmete sie tief durch und fuhr sie in versöhnlicherem Ton fort. „Lass dir von mir sagen, dass auch ich, als ich einst deinen Vater heiraten sollte, zunächst durchaus von Unsicherheiten ergriffen war und Zweifel an dieser Entscheidung verspürte. Meine Mutter, deine Großmutter jedoch hat mich ebenfalls darin bestärkt, meine Einwilligung zu geben und es war die richtige Entscheidung. In manchem haben Eltern den besseren Weitblick. Dies wirst du alsbald einsehen. Doch zum jetzigen Zeitpunkt ist deine Aufgabe, hierauf zu vertrauen.“

Eliza blickte ihre Mutter einen Moment lang schweigend an. Sie wusste, es war zwecklos weiter zu sprechen, jedoch wäre es gewiss auch zu einem späteren Zeitpukt vergebliche Mühe. Schließlich beschloss sie: Sie würde es noch dieses eine letzte Mal in aller Deutlichkeit zu verstehen geben, danach würde sie nie wieder etwas zu dieser Sache sagen. „Mutter, ich kann mir ein Leben an Toms Seite nicht vorstellen. Ich werde meinen eigenen Weg finden müssen, damit umzugehen, wenn ihr mich in diese Ehe zwingt.“

Nun sah ihre Mutter sie einen Augenblick lang schweigend und prüfend an. Dann beendete sie das Gespräch mit den Worten: „Das wirst du selbstverständlich tun. Das Einzige, was dein Vater und ich verlangen ist, dass du deiner Familie insoweit keine Schande bereitest.“

Eliza atmete tief durch. „Gut, ich werde heute Abend nach London abreisen und ein paar Tage bei meiner Freundin Mary Paithton verbringen.“

Ihre Mutter sah sie scharf an. „Dein Vater hat den zweiundzwanzigsten Mai für die Heirat bestimmt Bis dahin werden wir Zwei viel Arbeit haben, deine Garderobe auf einen angemessenen Stand zu bringen und deine Aussteuer vorzubereiten. Du wirst dir in London mein Hochzeitskleid anpassen lassen und wir werden Einladungskarten schreiben ...“

„Ich werde in wenigen Tagen zurück sein, Mary ist meine engste Vertraute“, erwiderte Eliza.

Adhmaid House nahe Shannagarry, County Cork, Irland

Der November ging zu Ende und mit dem Dezember fiel der erste Schnee. Die Schneedecke über der weiten Landschaft war von bezaubernder Schönheit, dabei bedeckte diese auch im County Cork zugleich eben jene Felder, die in diesem dunklen Jahr viel zu wenig Kartoffeln hergegeben hatten, die wenigen Häuser, in denen noch Hungerleider lebten und die zahlreichen Verlassenen, deren Besitzer ihre Heimat verlassen hatten. Er bedeckte auch diejenigen Häuser, deren Besitzer bereits verhungert waren und er bedeckte die zahllosen Landstreicher, die ihr Zuhause in diesem Jahr verloren hatten und die nun zu etlichen in den Straßengräben erfroren, wie es vielen bereits im vergangenen Jahr ergangen war. Und nicht zuletzt bedeckte er auch die Aschefelder, auf denen Landlords die Häuser ihrer Pächter niedergebrannt hatten, auf dass ihnen der Weg zurück versperrt wäre und sie nicht mehr heimkehren konnten.

„Es scheint mir, als deckte der Herrgott die Schande dieses ganzen Jahres zu, als wolle er vergessen machen, was sich in diesem elenden Land im vergangenen Jahr zugetragen hat“, stellte Margret in bitterem Tonfall fest, während sie aus dem Küchenfenster auf die weiße Landschaft blickte. Sie füllte eine Kelle Mehl in die große Keramikschüssel auf dem Küchentisch.

Madeleine biss sich auf die Zunge, wie hatte sie nur so leichtfertig die Schönheit der Natur bewundern können, im Beisein von Margret. Wie dumm sie doch war. „Es tut mir leid, Margret“, flüsterte sie beschämt.

Margret wandte sich ihr abrupt zu. „Ach Miss Madeleine, Sie haben doch Recht. Wo kommen wir hin, wenn sich die Herrschaften beim Küchenpersonal entschuldigen müssen, wo sie doch die Wahrheit sagen. Wissen Sie, Madeleine, ich sollte von Glück sagen, dass mein Colin in Land Amerika eine Anstellung gefunden hat.“ Sie hatte nun alle Zutaten beisammen für ihren Brotteig und begann mit dem Kneten. "Er wird nun tüchtig arbeiten, wie ich´s ihm beigebracht habe, und irgendwann wird er sein eigen Land bestellen. Das sind ganz andere Sitten da drüben über dem großen Wasser. Da kommt´s drauf an, ob einer arbeiten kann. Und dann wird auch was aus ihm. Und das soll er wohl verstanden haben, mein Colin. Das will ich wohl meinen."

„Doch ist er nun weit über den Ozean und du musst ihn doch auch einmal wiedersehen!“, stellte Madeleine fest.

„Ach Miss Madeleine, ich werde mich wohl damit abfinden müssen, dass wir uns erst im Himmel wiedersehen. Land Amerika ist gar allzu weit weg, und mich kriegen keine zehn Pferde auf so ein Schiff, ob´s nun segelt oder dampft.“

„Man sagt doch, in Amerika könne man reich werden - und dann besucht er dich womöglich gar hier im County Cork.“

Margret schnaufte nur, während sie den Teig weiter bearbeitete. "Wochenlang dauert so eine Schiffahrt. Das macht keiner zweimal im Leben mit. Und das man auf zwei Beinen drüben ankommt ist auch nicht gewiss. Nein, nein. Unser Wiedersehen wird im Himmel sein."

„Ich mag es mir nicht auszumalen, so weit fort zu sein von meiner Familie, von Isabella und von den Kleinen. Auch von Vater ...“ Madeleine überlegte kurz. „Doch ein großes Abenteuer wäre es gewiss! Mit dem Schiff über das Meer und dann in ein fernes und fremdes Land zu kommen und dort ein neues Leben zu beginnen, es erscheint mir beinahe wie die Abenteuer Alexander des Großen ...“ Sie dachte wieder einen Augenblick nach. „Dein Colin muss wahrlich ein mutiger Mann sein. Ich fürchte gar, mir würde der Mut zu solchen Abenteuern fehlen ...“

„Dem Himmel sei Dank, dass Euch ein solches Schicksal gewiss niemals zustoßen wird. Euer Vater sorgt dafür, dass es in diesem Haus an nichts fehlt und das ist kein Leichtes in diesen Zeiten.“ Der Teig war nun fertig und Margret legte ein sauberes Tuch über die Schüssel, damit er gehen konnte bevor sie ihn in den großen Backofen schob. „Der Tee ist fertig.“ Sie machte sich daran, die Kanne und eine Tasse, sowie eine Schale mit Plätzchen auf einem Tablett anzurichten.

„Vielen Dank, liebe Margret, ich werde es sogleich Mutter bringen.“

„Das soll ruhig Grace machen. Gehen Sie nur schon zu Ihrer Mutter hoch, das Tablett kommt gleich“, winkte Margret ab.

„Nein, nein, dies sind viel zu viele Umstände. Ich werde es mitnehmen.“ Madeleine sprang schwungvoll und wenig damenhaft von dem Küchenstuhl und machte Anstalten, dass Tablett anzuheben. Margret ließ sie seufzend gewähren.

Madeleine klopfte umständlich mit dem Ellenbogen an die Tür und stieß dieselbe anschließend mit demselben Ellenbogen auf.

Sie erblickte ihren Vater am Bett sitzend. Er erhob sich offensichtlich überrascht und sah seine Tochter dann mit entgeisterter Miene an. „Weshalb um alles in der Welt schleppst du dich mit dem Tablett ab?“

„Ich war soeben in der Küche, da habe ich es schnell hochgebracht ...“, erklärte Madeleine. Sie ahnte bereits, dass sie sich nun einen Vortrag würde anhören müssen. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihren Vater anzutreffen, sonst hätte sie das Tablett nicht gebracht.

„Madeleine, ich habe dir nicht erst einmal erklärt, dass in einem geordneten Haushalt Regeln gelten. Es gibt viele Personen und jede Person hat ihre Aufgaben und es ist gewiss nicht deine Aufgabe, Tabletts zu tragen. Es ist die Aufgabe des Personals. Weshalb hast du nicht Grace damit beauftragt?“

„Ich ... , Grace war gerade anderweitig beschäftigt ...“

Jules Dubois sah seine Tochter streng an. „Deine Mutter und ich lassen dir sehr viele Freiheiten. So sehen wir großzügig darüber hinweg, dass du dir deine Zeit in der Küche bei der Köchin vertreibst, doch unsere Großzügigkeit hat ihre Grenzen. Wenn ich den Eindruck gewinnen sollte, dass du vergisst, wer welchen Platz innehat und dass du nicht verinnerlichst, wie mit Dienstboten umzugehen ist, so müssen wir annehmen, dass dir der Umgang mit der Köchin schadet und dann werden wir diesen unterbinden.“

Madeleine erschrak bei diesen Worten ihres Vaters. Sie konnte nicht sagen, was sie mehr erschreckte. Die Sorge, Margret nicht mehr besuchen zu dürfen oder das schreckliche Gefühl, ihren Vater erzürnt zu haben. Sie bedauerte zutiefst, nicht auf Margret gehört und das Tablett mitgenommen zu haben. Mit zitternden Fingern stellte sie es auf einem Tisch ab. „Es tut mir leid, Vater, ich habe dies nicht bedacht ...“, flüsterte sie.

Cork, Irland, Dezember 1847,

In der grauen Stunde vor dem ersten Licht des Tages, als alles noch still und ruhig war, wurde Tadhg wach. Er stemmte sich empor und horchte auf. Sogleich stellte sich ein Gefühl tiefsten Unbehagens ein. Etwas stimmte nicht. Dann begriff er es. Es war kein Schnaufen und Röcheln zu vernehmen. Die ganze Nacht hindurch hatte das heftige Atmen des kleinen Will ihn und Caoimhe mit Besorgnis erfüllt, doch jetzt, wo es fort war, griff eine schreckliche Vorahnung nach ihm wie eine eisige Hand.

Ihm wurde kalt und seine Hände begannen zu zittern, während er sich zwang tief zu atmen und aufzustehen.

„Was ist?“, hörte er Caoimhe. Sie war ebenfalls erwacht.

Ohne sich umzuwenden trat er an das Bett der Kinder heran.

Da lag er, so still und regungslos, der kleine Will, in den Laken und Decken verwoben.

Ein Schauer des Grauens kroch Tadhg von den Zehenspitzen bis zum Herzen, als er die ausgestreckte Hand auf die Schulter des Kindes legte. Die kalte und steife Berührung machte das Unausweichliche klar.

Caoimhe, welche hinter ihn getreten war, erkannte die schreckliche Wahrheit in einem einzigen Blick und fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Tadhg war nicht schnell genug, um sie zu halten, und sie schlug hart mit dem Kopf auf.

Kurz lag sie ohne Regung da, dann erwachte sie und rappelte sich, blutend und verzweifelt auf, stürzte sich auf den leblosen Körper ihres Sohnes und sprach unverständliches, wirres Zeug.

Die übrigen vier Kinder kauerten sich weinend vor Schreck und Entsetzen in einer Ecke des Bettes zusammen.

Tadhg war wie erstarrt, unfähig zu handeln, bis ihm die harte Realität gnadenlos ins Gesicht schlug.

Schnell rief er Marga aus dem Nachbarhaus um Hilfe. Marga kümmerte sich um Caoimhe, während Tadhg den Doktor holte. Der Arzt stellte den Tod fest und sorgte dafür, dass der kleine Körper aus dem Haus geschafft wurde. Die anderen Kinder brachte Tadhg zu Nachbarin Betty. Alles gelang ihm in einem dumpfen Automatismus.

Doch konnte er nicht bestimmen, ob Caoimhe diesen Verlust verkraften könnte. Er hatte mit der Versorgung der anderen Vier, die ihren Bruder vermissten, alle Hände voll zu tun. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Caoimhe verließ nicht mehr das Bett. Sie konnte keinen Augenblick aufhören zu weinen.

Tag für Tag verging und irgendwann zwang sie sich, aufzustehen. Sie nahm ihre Hausarbeit wieder auf und die Versorgung ihrer Kinder. Tadhg wusste nicht, was in ihr vor sich ging. Er war nur erleichtert, dass sie das überstanden hatten.

Und er wusste nun, er musste den Strohhalm ergreifen, den Daoiri ihm geboten hatte. Er würde soviel Essen bringen, dass sie über den Winter kommen würden.

Wenn die Ware auf britischem Boden ankam, würde er da sein und helfen, sie zu verladen und gut zu verstecken, bis man von ihr Gebrauch machen würde. Damit hätte er dann auch schließlich nichts mehr zu tun. Das war nicht seine Sache und das musste er ja auch nicht verantworten. Er musste alles tun, um sicherzugehen, dass seine Familie über den harten Winter kam.

II.

Adhmaid House, nahe Shannagarry, County Cork, Irland

Sie schritt eine Weile rastlos auf dem Korridor auf und ab. Durch die Wände hörte sie Madeleine, welche das Präludium Nr. 9 von Johann Sebastian Bach spielte.

Schließlich ließ sich Isabella auf einen Stuhl am Ende des Ganges fallen. Hier würde sie warten, dass die Klavierstunde zu Ende ging.

Seit ihrem Konzertbesuch war es ihr schwergefallen, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Sie dachte immerzu darüber nach, ob Miss Cahill wohl noch einmal mit ihr ein Konzert besuchen würde, ob sie noch einmal die Gelegenheit bekam, einen Ausflug in diese andere, wunderbare Welt zu unternehmen. Mr. Cahill während des Unterrichts zu sehen, verstärkte ihre innere Unruhe. Das Gefühl, sie habe einen Fehler begangen, ließ sie nicht los. Die Tage zogen sich zäh und ermüdend dahin. Sie hatte sich auch mit dem Gedanken getragen, ob sie Mr. Cahill einen Brief für sie mitgeben konnte.

Auf den heutigen Abend hatte sie beinahe ebenso fieberhaft gewartet. Dr. Fitzgerald war der Einzige, der ihr in den Sinn kam, der ihr etwas über Fredérik Chopin und dessen Musik berichten konnte. Sie musste die Chance ergreifen, ihn zu sprechen, wenn die Klavierstunde zu Ende war. Wenn sie noch einmal mit Miss Cahill sprechen sollte, wollte sie befähigt sein, sich am Gespräch beteiligen zu können, doch sie wollte auch unabhängig davon etwas über diese Kunst erfahren. Seit ihrem Konzertabend sehnte sie sich nach dieser Musik. Ob Dr. Fitzgerald sich wohl damit auskannte? Möglicherweise war er vom alten Schlag und wollte nichts mit moderner Kunst zu schaffen haben? Madeleine lernte die Komponisten der vergangenen Jahrhunderte spielen ...

Endlich hörte sie Dr. Fitzgerald Madeleine die Aufgaben für die kommende Woche erteilen. Sie erhob sich, strich ihr Kleid glatt und atmete tief durch. Sie trat zur Tür und wartete, bis sie hörte, dass sich Dr. Fitzgerald verabschiedete. Dann öffnete sie und trat ein. Dr. Fitzgerald blickte überrascht zu ihr, Madeleine hingegen war eingeweiht.

„Dr. Fitzgerald, Sie kennen meine Schwester Isabella?“, fragte Madeleine.

„Ähm, nun, sicher, sicher“, erwiderte dieser.

„Dr. Fitzgerald, ich habe gehofft, Sie würden mir einige Fragen beantworten?“, begann Isabella zaghaft.

„Gewiss, gerne, wenn ich Ihnen weiterzuhelfen vermag?“

Isabella sah den Klavierlehrer einen Augenblick abschätzend an. Er war recht jung. Es war nicht abwegig zu vermuten, er selbst habe eine innere Einstellung zur moderneren Musik die nicht vollkommen von Ablehnung geprägt war. „Ich frage mich, ob Ihnen auch die neueren Komponisten bekannt sind?...“

Dr. Fitzgerald sah abrupt auf. „Wen meinen Sie denn mit jenen neueren Komponisten?“

Isabella konnte seine Mimik nicht deuten. „Ich ... ich meinte das nicht als Kritik ... Ich interessiere mich für diese Musik ...“, erklärte sie eilig.

Das Gesicht ihres Gegenübers hellte sich - wenngleich kaum merklich - auf. Er warf seinen Rock zurück und nahm am Pianoforte Platz, dabei ließ er Isabella nicht aus den Augen. Er legte in einer fließenden Bewegung seine Hände auf die Tastatur und atmete tief durch. Dann begann er, sichtlich hochkonzentriert, zu spielen. Seine Finger schnellten über die Tasten.

Eine vergleichbare Melodie hatte Isabella noch nie zuvor gehört. Ein Blick auf ihre Schwester verriet ihr, dass auch Madeleine solche Musik nicht kannte. Die linke Hand sprang auf und nieder während seine rechte eine Melodie erzeugte, die zugleich hübsch als auch komödiantisch klang.

Als das Spiel beendet war blickte Dr. Fitzgerald Isabella mit einem schelmischen Blick an. „Meinen Sie etwa Musik wie Chopins Etude in Ges-Dur op. 25 Nr. 9?“

Bevor die überraschte Isabella antworten konnte setzte er von neuem an.

Diesmal entlockte er dem Klavier ganz andere Töne. Es begann in der Tiefe und wurde dann leicht, aber keineswegs fröhlich. Nach wenigen Takten setzte eine traurige schlichte Melodie ein, die von Takt zu Takt komplexer wurde und Isabella bald völlig in ihren Bann zog. Dann steigerte sich die Musik zu einem Crescendo. Die Hände Dr. Fitzgeralds flogen über die Tastatur. Mit einem Mal verlangsamte sich das Tempo und wieder setzte eine schlichte aber einprägsame Melodie ein. Eine Melodie, von der Isabella meinte, sie werde sie immer wieder hören müssen, ihr Leben lang. Dann begann ein Crescendo, dass in einem vollendeten volltönenen Klang mündete und den ganzen Raum ausfüllte. Isabella war wie gebannt. Immer wieder veränderte sich das Tempo, setzten neue Variationen und Intervalle ein, die sich zu einer wunderbaren Komposition vereinten. Es war berauschend, direkt neben dem Klavier zu stehen. Der Klang durchdrang den Raum und die darin anwesenden Personen. Als Dr. Fitzgerald die letzten, präzise gesetzten Akkorde erklingen ließ, hätte sie sich am liebsten wieder an den Beginn des Stückes gewünscht.

„Dr. Fitzgerald, Sie spielen einfach phantastisch!“, rief Madeleine voll Überschwang.

Isabella sah ihre Schwester überrascht an. Solcherlei Gefühlsausbrüche mochten bei ihr nicht ganz selten sein, jedoch nicht im Beisein Fremder.

Dr. Fitzgerald vermochte ein Lächeln offenbar nicht zu unterdrücken.

Als Isabella dies bemerkte, entschied sie, dass es gewiss nicht abträglich wäre, ihm ebenfalls ihre Anerkennung auszusprechen, damit er möglicherweise einmal wieder etwas zum Besten gab. „Das war wirklich ganz ...“, ihr fehlte ein treffender und zugleich dem Anstand genügender Begriff. „Das war wirklich ganz hinreißend!“ Der Begriff traf es so gar nicht, doch sie konnte ihm unmöglich die Gefühle zum Ausdruck bringen, die die Musik bei ihr auslösten.

„Was ist das für eine Musik?“, fragte Madeleine zu Isabellas Glück und lenkte damit die Aufmerksamkeit weg von ihr.

„Das war die Ballade Nr. 1 in g-Moll op. 23, ebenfalls von Chopin.“

„Wer ist das? Ein Franzose?“, fragte Madeleine weiter.

„Nun, eigentlich ist er in Polen geboren, lebt jedoch beinahe ausschließlich in Frankreich. Sie haben vor einigen Tagen sein Konzert in Cork gegeben. Ich vermute, Sie Miss Isabella, waren dort und haben auf diese Weise seine Musik kennengelernt?“

Isabella nickte.

„Chopin ist ein ganz herausragender Komponist und Pianist. Für Sie, Miss Madeleine, ist er noch zu schwer zu spielen. Ich müsste auch zunächst mit ihrer werten Mutter sprechen, ob sie gestattet, dass ich Ihnen die Musik anderer, jüngerer Künstler nahebringe.“

„Gibt es weitere Komponisten, deren Lieder ich bereits spielen könnte?“

„Nun ja, ich denke da etwa an Franz Schubert, doch müsste ich gleichwohl zunächst das Einverständnis Ihrer Mutter einholen.“

„Bitte, spielen Sie doch ein Stück von diesem Herrn Schubert!“, rief Madeleine. Isabella hätte dies nicht gewagt, war jedoch insgeheim dankbar, dass ihre Schwester aussprach, was sie selbst nur dachte.

Später am Abend saßen Isabella und Madeleine noch lange beieinander. Sie hatten Dr. Fitzgerald schließlich eine ganze Stunde lang aufgehalten. Er hatte ihnen Stücke verschiedener Künstler vorgespielt und ihnen viel hierrüber zu berichten gewusst.

„Dr. Fitzgerald ist selbst ein großer Bewunderer dieser Musiker!“, stellte Madeleine fest.

„Ja, so ist es wohl und nun habe ich durch ihn eine Möglichkeit mich zu bilden und bei einem nächsten Treffen mit Miss Cahill weniger unwissend und langweilig zu erscheinen.“

Madeleine betrachtete ihre große Schwester nachdenklich. „Isa, warum fragst du nicht Mr. Cahill, ob seine Schwester dich nicht einmal besuchen möchte?“

„Ach Madeleine, das ist doch ganz unmöglich. Wie mag das erscheinen?“

„Wie soll sie denn aber wissen...“

„Ich bin nicht wie du. Dir erscheint das alles leicht. Doch ich ... ich werde einfach abwarten müssen. Genauso wie es hinsichtlich der Frage ist, ob ich jemals heiraten und dieses Haus hier verlassen kann.“

„Isabella, wovon sprichst du da?“

Isabella strich Madeleine sanft durch das Haar. Was sollte sie hierauf erwidern? Sie hoffte sehnlichst, dass sie ihr Elternhaus bald verlassen konnte. Zugleich hatte sie keinerlei Vorstellung, wie das gelingen sollte. Sie würde hier eingesperrt niemals einen geeigneten Kandidaten kennenlernen. Ihre Eltern machten indes keinerlei Anstalten oder Andeutungen, dass sie diesbezüglich etwas zu unternehmen gedachten. Und nun, da sie einen - wenngleich kleinen – Eindruck davon gewonnen hatte, was sie im Leben noch erwarten konnte, wenn sie nur erst aus diesem dunklen, kalten Haus entkommen wäre, nun wünschte sie es sehnlicher denn je ... Es gab eine Welt, eine schöne Welt, eine Welt, der sie angehören wollte, und die war woanders ...

Cork, Irland

„Vollblühender Mond! In deinem Licht, Wie fließendes Gold, erglänzt das Meer; Wie Tagesklarheit, doch dämmrig verzaubert, Liegt´s über der weiten Strandesfläche; Und am hellblau´n sternlosen Himmel Schweben die weißen Wolken,

Wie kolossale Götterbilder

Von leuchtendem Marmor." Jane ließ das kleine Büchlein achtlos zuklappen und drehte sich auf den Rücken. Nun sah sie zur Zimmerdecke hinauf. Sie seufzte. Nicht einmal Heine konnte sie lesen ohne an sie zu denken.

Wie war es möglich, dass sie über kolossalen Götterbildern sinnierte und sich in dieses Bild immerzu Miss Isabella Dubois drängte. Diese Person, die einenteils so gebildet zu sein schien und andernsteils doch nicht den geringsten Hauch einer Ahnung hatte von dem was zeitgemäß war, von dem was sich in den Künstlerkreisen abspielte, in den Salons und Kaffeehäusern, in Konzertsälen und Lesezirkeln. Ja, es galt gar zu bezweifeln, dass sie auch nur einen Deut wusste über das weltpolitische Tagesgeschehen.

Und diese Frau rief sich ihr immerzu in Erinnerung als wolle sie ihr unbedingt mitteilen, dass sie noch einmal gemeinsam ausgehen sollten.

Jane konnte es sich nur so erklären, dass sie sich so sehnlichst eine Freundin wünschte, mit der sie ihre kulturellen Interessen teilen konnte, dass ihr inzwischen eine jede Recht war.

Im selben Moment, in welchem sie diesen Gedanken gedacht hatte, schämte sie sich für ihn, da er geeignete war, Miss Dubois herabzusetzen. Auch dies war ihr unerklärlich. Hatte sie es doch stets genossen, im Geiste die Menschen ihrer Umgebung lächerlich zu machen, zu lästern und sie schlecht zu reden. Niemals hatten sie diesbezüglich Gewissensgebisse geplagt. Weshalb sollte das hinsichtlich dieser Person anders sein? Sie verstand sich selbst nicht mehr.

Um bei der Wahrheit zu bleiben, musste sie sich eingestehen, dass sie bereits am Abend des Chopin-Konzerts den unerklärlichen Wunsch verspürt hatte, Isabella Dubois wieder zu treffen, was lächerlich und geradezu vollkommen absurd war. Dieses Frauenzimmer verstand rein gar nichts von Kunst oder Kultur! Sie war eine sehr hübsche nichtssagende Hülle.

Jane konnte eben solche Weibsbilder für gewöhnlich nicht leiden, und doch, sie konnte sich diesem Wunsch nicht entziehen. Irgendetwas in ihr wollte partout Miss Dubois wiedersehen. Nein, es war zu albern ... sie durfte diesem lächerlichen Wunsch nicht nachgeben. Wozu auch? Nur um sich eine gleichermaßen ernüchternde Enttäuschung zuzumuten, wenn wiederum kein vernünftiges Gespräch möglich wäre?

Dublin, Irland

Er war zurück! Zurück in Dublin! Dublin, das er liebte.

Laurence legte sorgsam seinen weißen Kittel an und warf einen Blick in den Spiegel.

Der Arztkittel war sein liebstes Kleidungsstück. Ein edler Frack mochte ihm ebenfalls gut zu Gesicht stehen, dies war ihm keineswegs unbekannt, jedoch bedeutete ein Frack ihm nichts.

Nun endlich konnte er alles umsetzen, was er sich all die Jahre mühevoll angeeignet hatte. Bislang hatte er sich hinter den Professoren und Ausbildern verstecken können, doch diese Zeit war nun vorüber. Alles was er ab sofort tat, würde er selbst verantworten müssen.

„Sind Sie soweit?“ Dr. Lay streckte den Kopf zur Tür hinein und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ja, gewiss“, erwiderte Laurence. Er konnte es kaum erwarten, durch die Stationen geführt zu werden und die erste Einführung in seinen neuen Arbeitsalltag zu erhalten.

„So kommen Sie bitte.“ Dr. Lay machte ihm Platz, damit er durch die Tür treten konnte.

Laurence trat aus dem Umkleideraum und folgte dem älteren Arzt.

Wir haben in den vergangenen Jahren einiges auf unseren Stationen verändert, was die Organisation und die Arbeitsabläufe anbelangt. Wir orientieren uns an dem Konzept des Sankt-Bartholomäus-Hospitals in London. Kennen Sie es?“ Dr. Lay blickte ihn offenbar aufrichtig interessiert und mit durchaus scharfem Blick an.

Laurence konnte erleichtert lächeln, als er erklärte, dass er gut orientiert war über dieses Krankenhaus, da er in London einen Teil seiner Ausbildung absolviert habe.

Dr. Lays Blick wurde etwas weicher und er nickte bedächtig. Er erschien Laurence wie ein Arzt der ganz alten Schule, wobei er offensichtlich sehr auf Modernisierungen bedacht war. Diese Kombination sagte Laurence zu. Sie machte Dr. Lay in seinem Augen sympathisch.

Wir haben ebenfalls unsere chirurgischen Stationen in das Erdgeschoss verlegt und die medizinischen in die erste Etage. Jeder Schritt, jeder Arbeitsablauf, jede Handlung hat stets unter dem Gesichtspunkt zu erfolgen, dass sie in höchstem Maße der Hygiene dient. Darauf lege ich besonderen Wert und ich verlange die Beachtung dieser Regel jedem Mitarbeiter ab.

Laurence bemerkte, dass Dr. Lay nun eine Positionierung seinerseits erwartete. „Ich werde das selbstverständlich immer berücksichtigen“, sprach er mit fester Stimme. Diese Zusage verlangte ihm keinerlei Mühe ab, denn dies entsprach seiner eigenen Überzeugung. Ihm war indes bewusst, dass abzuwarten blieb, in wie fern dies tatsächlich im Alltag des Betriebs des Hospitals umgesetzt wurde.

Sie hatten eine Tür erreicht. Dr. Lay sah ihn einen Augenblick abwartend an, wobei Laurence nicht sagen konnte, worauf der Arzt wartete. Dann öffnete er die Tür und ließ Laurence eintreten. „Sie sehen, wir befinden uns im Erdgeschoss, dies ist einer unserer Operationssäle. In den Chirurgiesälen befinden sich jeweils zwölf bis vierzehn Betten, Sie dürfen mir das einfach glauben, ich werde das jetzt auch nicht nachzählen!“ Dr. Lay lächelte zum ersten Mal, seit Laurence ihn kennengelernt hatte. Nun war ihm Laurence Sympathie gewiss.

„Was allerdings stets zu überprüfen ist, ist der Abstand der Betten zueinander. Ich präferiere einen Abstand von zwölf Fuß. Andere Ärzte im Haus vertreten die Auffassung, dass auch neun Fuß genügten, doch solange ich hier das Sagen habe, werden zwölf Fuß eingehalten. Verstehen wir uns?“

Laurence nickte deutlich.

„Sehr zu achten ist außerdem auf eine gute Luft im Chirurgiesaal und dass das Holzparkett stets sauber gehalten wird. Hierfür verantwortlich ist die aufsichtsführende Schwester, der vier Schwestern unterstellt sind. Wenn Sie mir bitte folgen möchten?“ Dr. Lay öffnete die Tür und verließ den Saal.

Laurence folgte ihm weiter durch das große Gebäude, während er den Ausführungen lauschte.

Auf der zweiten Etage betraten sie ein Krankenzimmer.

Auch hier wurde auf ausreichende Abstände zwischen den Betten geachtet. Die Eisenbetten waren größer als die, die Laurence aus Paris kannte. Die Patienten lagen auf Strohsäcken und hatten jeweils eine Nackenrolle, mancher auch ein kleines Kopfkissen.

„Die Eisenbetten lassen sich sehr gut reinigen“, dozierte Dr. Lay. „Patienten mit Brüchen oder solche, die sehr lange bei uns bleiben, bekommen eine Rosshaarmatratze.“

Während Dr. Lay sprach, sah sich Laurence interessiert um. Über den Betten waren halbkreisförmige Stangen angebracht. An ihnen konnten 1,6 Yards hohe leichte Vorhänge angehängt werden, die dem Sichtschutz dienten.

„Ach ja, für Patienten mit Brandwunden haben wir natürlich besondere Betten. Wir füllen Holzkisten mit destilliertem Wasser und legen eine Gummimatte darüber. So sind die Verletzungen erträglicher.“

Laurence blieb vor einem breiten Kamin stehen. Eine Schwester war gerade dabei, Kohlen nachzulegen. „In Paris habe ich moderne Heizungen mit Heißluftleitungen gesehen“, teilte er seine Überlegungen mit.

„Und, würden Sie sagen, dass die Nutzung von Kaminen im Hospital veraltet ist?“ Dr. Lay sah ihn mit interessiertem Blick an.

„Ich würde nicht sagen, dass ich Modernisierungen allgemein kritisch gegenüberstehe, eher ist das Gegenteil der Fall, doch diesbezüglich ist mein Eindruck, dass die Beheizung mit Kohlefeuer eine angenehmere, bessere Luft erzeugt als die Beheizung mit Heißluft- oder Heißwasserleitungen.

Insgesamt ist jedenfalls zu konstatieren, dass die Sterblichkeit in den Hospitälern in Großbritannien deutlich geringer ist, als in den französischen Kliniken und der Verdacht ist naheliegend, dass dies den anderen Umständen zu verdanken ist, die wir mit unseren Methoden, die Hygiene zu verbessern, erzielen. Ich jedenfalls bin davon überzeugt.“

Gemeinsam mit Dr. Lay verließ Laurence den Krankensaal.

„Den zweiten Stock werden wir jetzt nicht besichtigen, er ähnelt dem ersten, jedoch werden dort die Patienten mit Geschlechtskrankheiten untergebracht. Ich bin zuversichtlich, dass Sie sich dort auch so zurechtfinden werden“, erklärte Dr. Lay. „Was für Sie hingegen durchaus interessant sein dürfte sind unsere Grundregeln für die Ernährung der Patienten. Sie stellen einen wichtigen Pfeiler in der Pflege dar. Wir achten auf eine reichliche und kräftige Kost. Patienten mit eitrigen Erkrankungen profitieren davon in besonderer Weise, doch auch solche mit Wunddiphterie, Skorbut und Erysipel. Ach ja, nicht neu wird Ihnen sein, dass wir das Verbinden auf das aller Notwendigste beschränken. Ganz nach den Grundsätzen Listons.“

„Wundheilung per primam intentionem“, sprach Laurence leise vor sich hin.

Lay blickte kurz auf und fuhr fort: „So, nun haben wir genug Zeit verstreichen lassen. Ihre erste Operation findet in einer knappen halben Stunde statt. Sie werden sie unter der Leitung unseres fähigen Arztes Dr. Thacker vornehmen. Er ist ein hochgeschätzter Kollege. Sie werden eine Beinamputation durchführen. Der Patient ist vor einer Stunde eingeliefert worden. Anschließend werden Sie für die Wundversorgung zuständig sein.“

Laurence atmete tief durch. Er hatte verstanden, was man von ihm erwartete. Man hatte ganz offensichtlich nicht vor, ihm den Anfang leicht zu machen. Amputationen waren die Herausforderung schlechthin und die Amputation eines ganzen Beines verkrafteten etwa sechs von zehn Patienten nicht.