In der Erinnerung - Dieter Forte - E-Book

In der Erinnerung E-Book

Dieter Forte

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Beschreibung

Im Sommer 1945 fällt der Blick eines zehnjährigen Jungen aus einem Kellerloch auf die deutsche Großstadt, in der er aufgewachsen ist. Vor ihm breitet sich ein riesiges Trümmermeer aus, eine vom Bombenhagel zerrissene und bis in die Fundamente aufgesprengte Steinwüste. In dieser Ruinenlandschaft vegetieren die Menschen unter elendsten Umständen dahin, körperlich und seelisch zerbrochen. Mit illusionslosem Blick registriert der Junge die Folgen der totalen Zerstörung um ihn und die hilflosen Versuche der Erwachsenen, sich aus dem Chaos in eine neue Ordnung zurückzutasten. Er hört den Veteranen zu, die unentwegt und tief verstört von ihren Fronterlebnissen berichten müssen, er verfolgt den Totengräber, der allmorgendlich mit seinem Handkarren zum Friedhof zieht, er beobachtet die Straßenbanden, die nach dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung die Macht an sich gerissen haben. Dieter Fortes Erinnerungsroman über die Nachkriegsjahre zwischen 1945 und 1948 ist unerbittlich. Er hat wenig übrig für den hemdsärmligen Optimismus, der die Versehrungen der Vergangenheit hinter dem Eifer des Wiederaufbaus verschwinden lassen möchte. Sein Buch liest sich wie das Libretto zu einem Totentanz von apokalyptischem Ausmaß. »In der Erinnerung« ist der dritte Roman von Fortes »Tetralogie der Erinnerung«, die er 1992 mit »Das Muster« begann, 1995 mit »Tagundnachtgleiche« (ursprünglich »Der Junge mit den blutigen Schuhen«) fortsetzte und 2004 mit »Auf der anderen Seite der Welt« abschloss.

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Seitenzahl: 278

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Dieter Forte

In der Erinnerung

Roman

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Inhalt

WidmungIIn der Erinnerung war [...]In der Erinnerung war [...]In der Erinnerung blieb [...]Friedrich sah aus dem [...]IIIn der Erinnerung war [...]

Für Marianne

I

Es müsste gleichzeitig die Geschichte

des Endes einer Welt sein – durchzogen von

der Sehnsucht nach jenen Lichtjahren.

 

Der erste Mensch

Albert Camus

In der Erinnerung war das Fenster viel größer, so groß wie die Welt, die er durch das Fenster sah, in den vielen Tagen und Nächten, die in der Erinnerung zu einem Bild wurden, zu einer unbewegten, atemlosen Zeit, lautlose Nächte und stumme Tage, die vergingen, wie sie erschaffen wurden, unter einer kalten Sonne, die vom Morgen bis zum Abend die Erde mit ihrem Licht überzog, versteinerte Überreste einer versunkenen Welt unter weiß leuchtenden Sternbildern, stumpfe Mauern, zerstörte Häuser, verschüttete Straßen, verglühte Kirchenschiffe, die Silhouette einer untergegangenen Stadt mit ihren schroffen Konturen im Mondlicht.

 

Wieder ein Sonnenaufgang, wieder ein Hoffnungsschimmer, obwohl sich doch nur die Erde nach den Gesetzen der Natur um die Sonne drehte, aber alle klammerten sich an das alte Bild vom neuen Tag, der aus der Nacht heraufsteigt; an das verheißungsvolle Licht, das auf die zerbröckelnden Mauerreste eingestürzter Häuser, auf den Schutt in unpassierbaren Straßen, auf die Ruinen einer Trümmerlandschaft schien, eine vergessene Wüstenstadt, vor langer Zeit zerstört und von den Menschen aufgegeben.

Staubwolken erhoben sich aus dem Geröll, zogen über die versteinerte Wüste, in der es keine Bäume und keine Gärten, keine Seen und keine Parkanlagen mehr gab, so dass man kein Blätterrauschen hörte, kein Plätschern der Wellen, kein Rascheln in den Sträuchern und im Gras, nur ein monotones an- und abschwellendes Sausen, verbunden mit dem dumpfen Poltern abstürzender Mauerteile, dem hohlen Klappern von Heizungskörpern an verbrannten Wänden, dem Flattern einer Gardine in einem leeren Fenster.

Staubwolken, die den Mund austrockneten, ihn verschlossen zu einer wortlosen Todesstille, in der kein Vogelschrei zu hören war, kein Flügelschlag; es gab keine Vögel mehr, wie es keine Hunde und Katzen mehr gab, deren Gebell und Geschrei schon vergessen war, erstorben zwischen den Grabhügeln aus grauem Gestein, verkohlten Balken, zerbrochenen Ziegeln, rostigen Eisenträgern. Eine erkaltete Welt im verwirrenden Flimmern aufleuchtender Glassplitter, nur belebt durch die Explosionen von Blindgängern, das morsche unheimliche Grummeln in sich versinkender Keller, aus denen Verwesungsdünste aufstiegen, die mit dem Wind zogen, verendete Tiere, erstickte, zerstückelte, aufgedunsene Menschen, ein süßlicher Gestank, der sich klebrig auf die Haut legte, anders als der scharfe Geruch der verbrannten Leichen, der die Augen tränen ließ. Und auf den eingestürzten Kellern, zwischen den in der Feuerluft versteinerten Bäumen, standen Blumen in exotischen Farben, Pflanzen, die man nicht berühren durfte, weil sie giftig waren, gedüngt mit Phosphor und Leichengift.

Eine von den Menschen erschaffene zweite Natur, von Feuerstürmen durchgeschüttelt, von Explosionen zerfetzt, mit einer aufgerissenen schorfigen Erdkruste, nackt und erstarrt im Licht der Sonne.

 

Das Drahtgestell, das sein Bett war, schwebte fast frei in der Luft zwischen den nach Rauch stinkenden, eingestürzten Mauern eines ehemals fünfstöckigen Mietshauses. Geschützt durch eine Mauerecke, sah er aus dem Erdgeschoss, durch verbogene dunkle Eisenträger und abgeknickte Gas- und Wasserleitungen, senkrecht in den freigelegten Himmel, wartete auf die Stunden der Sonne, die ungehindert durch Stockwerke und Dächer direkt auf sein Bett schien, wartete geduldig, auch wenn es Tage und Nächte regnete und er in seinen Kleidern nass unter der durch die Nässe immer schwerer werdenden Pferdedecke lag.

Vor einem Mauerloch links vom Bett hingen offene Wohnungen, die er vom Morgen bis zum Abend im wechselnden Licht betrachtete wie die wertvollen Schätze eines Museums. Sie erinnerten an die zur Straße offenen Stadtbilder mittelalterlicher Maler, die die Dinge nicht nach einer kunstvoll ausgeklügelten Perspektive, sondern nach ihrer Bedeutung darstellten. Sich dem Sonnenlicht öffnende Zimmer mit gestreiften, karierten, geblümten Tapeten, ornamentale Muster in verblichenen Farben, Lindgrün, Altrosa, Preußischblau, angebrannt und verrußt; Feuerbilder zwischen geborstenen Balken, die schwarz wie ausgetrocknete Mumien in den Himmel ragten. Auf den zersplitterten Möbelstücken und den zerrissenen Teppich- und Stoffresten lag in dicken Schichten bräunlicher Mörtel, so dass selbst die Sonne diese blinden Bilder nur mit einem ganz fahlen grauen Licht streifte.

An klaren Abenden hatte er bei Sonnenuntergang einen weiten Blick durch die Skelette der Häuser in den goldfarbenen Himmel, der die Bilder einrahmte, ehe die Nacht in der lichtlosen Stadt schnell hereinbrach, plötzlich da war mit ihrer frostigen Härte, die Welt in eine Gruft verwandelte, in Todesangst, die man ertragen musste. Manchmal, eine aufatmende Erleichterung, Schüsse in der Ferne oder auch ganz nah, das Brummen eines Motors, der Jeep der Militärpolizei, Menschen, die sich etwas zuriefen. Dann wieder die Stille, nur noch der Schrei eines im Schlaf Erschreckten, das mühevolle, quälende Röcheln eines Sterbenden, das auch verstummte. Später, nach Mitternacht, das schleichende Tappen und verlorene Piepsen der Ratten, die einem ins Gesicht sprangen, huschende Geräusche zwischen den knisternden Mauern. In der tiefen Nacht nur noch die Stimmen der Toten.

 

Wartend auf den Tag, wartend auf den neuen Atem, eingesponnen in seine Tag- und Nachtgeschichten, die die Zeit auslöschten, die zwischen der Realität und seiner Gedankenwelt nicht mehr unterschieden, musste er doch auch immer hellwach sein, falls Steine aus den abbröckelnden Mauern auf sein Bett fielen, ein Eisenträger wummernd tiefer rutschte, Risse im Boden sich erweiterten, zu gefährlichen Löchern wurden, eine halblaute Stimme auf der Straße etwas von Brot oder Kartoffeln rief. Wenn er aus dem Bett stieg, musste er genau auf den mittleren Balken treten, mit beiden Füßen sicher auf dem verbrannten Holz stehen, das über den Steinen der löcherigen Kellerdecke lag, und so, Schritt für Schritt, die andere Hälfte des Zimmers erreichen, in der auf einigen quergelegten Brettern die Familie hauste, die ihm das rostige Drahtgestell und die braune Rosshaardecke mit den zwei breiten roten Streifen überlassen hatte.

Das Bett stand unter dem Fenster, das eigentlich kein Fenster war, sondern ein Mauerloch zur Straße, das auch als Ein- und Ausgang zu dem Raum diente. Die kleineren Löcher im Mauerwerk, von den Bombensplittern, waren mit Steinen zugestellt, auf Steinen ruhte auch das Bett, das keine Beine hatte, das nur ein scharfkantiger Rahmen war, mit einem verbrannten Kopfende aus Eisen.

Der Raum lag offen in einer Hügellandschaft aus Schutt, direkt neben dem zerborstenen Giebel des Nachbarhauses, in dessen Spalten ein Dornengestrüpp wucherte. Kopflose Putten, mit den Resten eines Wappens in den Händen, versanken im staubigen Unkraut. Das Portal, von den Schuttmassen hochgedrückt, ragte in den Himmel wie ein ausgegrabener Tempel.

Das Rechteck zwischen den Hügeln, von der Familie als Glückstreffer bezeichnet, das sie einfach in Besitz nahmen und nicht wieder hergaben, das auch sofort gegen andere verteidigt werden musste, war der vordere zur Straße gelegene Raum einer ehemaligen Zweizimmerwohnung.

Der Keller unter diesem Raum war verschüttet, die Kellerdecke aber stabil, den daraufliegenden Schutt schoben sie mit Blechen auf die umliegenden Hügel, so hatten sie einen festen Untergrund, den sie mit halbverbrannten Balken auslegen und verstärken konnten. Die Brandmauer zum anderen Nebenhaus stand bis zum zweiten Stock sehr stabil, die Wand zur Straße mit dem Fensterloch hielt bis zum ersten Stock, so dass sie zwei Mauern mit einem festen Boden hatten und das Bett, das sie aus den Trümmern herauszogen. Sie nannten den Raum von nun an ihr Zuhause.

Die fünf Stockwerke über ihnen, die einmal das Haus darstellten, waren wie weggeblasen, waren einfach auseinandergeflogen und hatten das Dach mitgenommen. Die Familie lag an der Brandmauer auf einigen Brettern, aneinandergedrückte, gestrandete, dick aufgeplusterte Vögel unter ziehenden Wolken. Wenn man lange nach oben starrte, hatte man den Eindruck, der Raum fliege wie eine gekenterte Arche Noah durch das Weltall.

Die Mauer zum Hausflur war weggedrückt, da lag der Schuttberg der Nachbarwohnung, über den man direkt auf den Giebel des Nebenhauses gelangte. Auch die Mauer zum hinteren Zimmer hatte sich in Staub aufgelöst, eine Artilleriegranate hatte ein tiefes Loch bis zum Fundament des Hauses gerissen, ein Schritt genügte, um in eine Schlucht zu stürzen.

Von seinem Bett aus hatte er daher einen freien Blick auf die hinter dem Haus liegende Trümmerlandschaft, die mehrere Häuserblöcke und Straßen umfasste, erst am Horizont sah man wieder löcherige Fassaden. Davor lag ein flaches, unbegrenztes Feld mit vielen Trampelpfaden, teilweise ausgehöhlt, Ofenrohre ragten wie Wegmarken in einem unbekannten Gelände aus dieser Steinlandschaft hervor. Jedes Rohr bezeichnete die Lage einer Höhle, dick vermummte Menschen krabbelten daraus hervor, krochen mühsam wie unbeholfene Käfer mit Balken, Wellblech oder Säcken über das Feld.

Nachts sah er Feuer brennen, sie flackerten im Freien, zwischen den versteinerten Baumresten eines alten Obstgartens, drum herum die Schatten von Menschen, hochspringend und mit den Armen um sich schlagend, Menschen, die aus ihren Höhlen herauskletterten, sich um das Feuer lagerten, ihre hell angestrahlten Gesichter leuchteten im Dunkel. Mit dem kalten Nachtwind roch man den Rauch des Holzfeuers, unbestimmbares Fleisch und den herben Duft gerösteter Kartoffeln.

Am Tag näherten sich diese Menschen misstrauisch und vorsichtig wie Tiere der Wohnung, standen am Kraterrand des hinteren Zimmers, als nähmen sie Witterung auf, oder starrten durch das Mauerloch von der Straße in den vorderen Raum. Gesichter, grau wie die Steine der Stadt, verwittert, mit zersprungenen Lippen, aufgerissener Haut, wirren, staubigen Haaren und tiefliegenden Augen, eingehüllt in Decken, Planen, Zeltbahnen. Überhänge in Tarnfarben bedeckten Uniformreste sämtlicher bestehender und nicht mehr bestehender Armeen, Männer und Frauen waren nicht zu unterscheiden. Perfekt an ihre Umgebung angepasste Lebewesen, man bemerkte sie erst, wenn sie losrannten, mit ihren Umhängen wie ein Vogelschwarm flatternd, von einem zerstörten Haus zum anderen jagten, sie verschwanden in Mauerspalten, hockten auf den Steinhügeln, von den Steinen nicht mehr zu unterscheiden.

 

Die Familie, das waren einige kleine Erdhügel im Schutz der kahlen Brandmauer, bedeckt mit dunklem Ziegelstaub und weißgrauem Mörtel, der von der Mauer herabrieselte. Es fehlten eigentlich nur noch die Kreuze.

Zuweilen bewegte sich einer dieser Hügel, nahm eine andere Stellung ein, sackte wieder zusammen wie ein frisch aufgeschüttetes Grab. Von seinem Bett aus hörte er gedämpfte Stimmen, die aber rasch verstummten, sich undeutlich verloren in dem offenen Raum.

Gelegentlich regte sich etwas, schob die Lumpen von sich, kroch schnaufend und stöhnend zum Loch des hinteren Zimmers, verrichtete seine Notdurft, kroch in die wärmenden Lumpen zurück.

Morgens schälten sich alle aus ihren löcherigen Decken und Militärmänteln, einer ging mit einem Blecheimer zu einem Hydranten am Ende der Straße, wo alle ihr Wasser holen mussten, ein anderer zu einem offenen Feuer im Trümmerfeld, kochte dort mit den Essensresten des Vortages eine Wassersuppe, die Übriggebliebenen verschwanden, um etwas Essbares aufzutreiben, meist kamen sie mit Steckrüben zurück, die an einer Sammelstelle ausgegeben wurden.

Maria, seine Mutter, mit der er den Bombenkrieg und eine barbarische Flucht durch Deutschland überlebt hatte, kletterte auf die Trümmerberge und versuchte, aus zerstörten fremden Haushalten halbwegs brauchbare Dinge auszugraben, eine Schöpfkelle war eine seltene Trophäe, ein zerbeulter Kochtopf eine Sensation, ein Sieb etwas Unerhörtes.

Am Nachmittag legten sich alle, um Kalorien zu sparen, wieder an die Brandmauer, wickelten sich in ihre Lumpen ein, schwiegen, führten schon mal Selbstgespräche, erzählten unvermittelt grausige Details, ernüchternde Erkenntnisse, die der Sprechende sich selbst klarzumachen versuchte. Keiner achtete darauf, ob einer zuhörte, ob die anderen wach lagen oder schliefen, es ging nur darum, die eigene Stimme zu hören in der Stille, während die anderen, in einem Dämmerzustand liegend, im Unterbewusstsein ihre Erinnerungen dazutaten, manchmal auch ins Erzählen kamen, dann aber wieder abrupt schwiegen, als könnten sie ihre Erinnerungen, von denen ihre eigene Stimme erzählte, nicht ertragen, als sei die unmenschliche Stille das geringere Übel.

Oft waren da auch fremde Stimmen, Menschen, die hereinkamen, weil sie sonst auf der Straße liegen müssten, wie sie sagten, obwohl das angesichts des Zustands der Wohnung keinen Unterschied machte, man hätte genauso gut auf der Straße liegen können, aber vielleicht suchten sie nur die Nähe von Menschen, das Atmen eines Schlafenden in der Nacht, in der kein Licht war. Sie saßen aufrecht an der Brandmauer, weil sie nicht wussten, wo sie waren, Angst hatten, beraubt oder erschlagen zu werden; sie rauchten Zigarettenstummel, die im Dunkel mit jedem Zug aufleuchteten, erzählten zusammenhanglose Geschichten, die sich ständig wiederholten, keinen Anfang und kein Ende hatten, mit irgendeinem Befehl, den irgendein Oberleutnant gegeben hatte, begannen oder mit einem Granateneinschlag dicht neben ihnen oder mit einer Frau in einem anderen Ort; Geschichten, die sich im Kreis drehten, ohne Ausweg immer wieder dasselbe Geschehen. Überlebensgeschichten, die nur berichten sollten, dass sie durch einen grotesken Zufall noch lebten, ohne zu wissen wo und warum und wozu, sie redeten sich durch die Nacht, nahmen am Morgen ihren mit Bindfaden verschnürten Pappkarton, verschwanden ohne Gruß.

Er lag in dem engen Raum, in einem Ort ohne Zeit, wie vor der Erschaffung der Welt, ohne Aussicht, ins Leben zu finden, wären da nicht die Stimmen von Menschen gewesen, die wie ausgesetzte Lichter auf einem dunklen Fluss dahintrieben. Die Stimmen der Lebenden, die Stimmen der Toten. Er hörte sie, er vergaß sie nie. Die Stimmen der Lebenden übertönten bald die Stimmen der Toten, aber die Toten hatten recht, weil sie tot waren, und die Lebenden wussten sich nicht zu rechtfertigen, denn sie hatten nur durch Zufall überlebt. Die Gerechtigkeit hätte alle töten müssen, sagten die Toten. Die Lebenden sagten, die Gerechtigkeit hätte keinen töten dürfen. Einig waren sie sich darin, dass man auch die Gerechtigkeit getötet habe, dass die Ungerechtigkeit überlebt habe und dass alle, die nach der Nacht den Tag sehen würden, im Ungerechten lebten.

 

Das Morgenlicht erwachte in einem zersplitterten Spiegel, der auf der Straße lag, warf seinen hellen Schein auf einen verschütteten Hauseingang direkt gegenüber seinem Mauerloch, auf die stehengebliebenen Quader voller Zeichen und Namen und unverständlicher Abkürzungen; Hieroglyphen, dick mit Kreide aufgetragen, mit Nägeln und Messern eingeritzt, Familiennamen, Straßennamen, ineinandergeschrieben, über ältere Schriften hinweggeschrieben, verwaschen, schwer entzifferbar, Schriftzeichen an den Mauern einer versunkenen Stadt. Aber jeder beschriebene Stein bedeutete, ich lebe, bedeutete dem, der suchte, such mich da oder dort, ich lebe, frag die oder den nach mir, ich lebe, hoffte darauf, dass ein Mensch zu den beschriebenen Steinen kam, um die Lebenszeichen zu enträtseln, und immer wieder erneuerten Männer und Frauen die Inschriften, kratzten ihre Namen in die Mauersteine.

Die Sonne schien in den Spiegel, blendete ihn mit ihrem Feuer, erinnerte ihn an die Brandnacht in der Stadt, in der ein Mann das Feuer durch die Straßen trug, in einem Spiegel, den er retten wollte; während die Spiegelsplitter auf der Straße jetzt die offenen, schräg herabhängenden Wohnungen durch die heraufziehenden Wolken segeln ließen, ein harmonisches Bild in der kunstvollen Ordnung der Splitter, für ihn das natürliche Bild seiner Welt.

Die eingebrannten Lackreste am Kopfende des Bettes erglühten im Sonnenlicht in allen Farben des Regenbogens, Leuchtzeichen einer Ordnung hoch über dieser Welt, von der keiner mehr träumte. Farbige Punkte, die vor den Augen verschwammen, Irrlichter einer vergangenen Zeit.

Er lehnte sich aus dem Mauerloch und sah die lange Straße, die sich unregelmäßig durch das Quartier schlängelte, die Schutthaufen der eingestürzten Häuser, die geschwärzten Fassaden der ausgebrannten Ruinen, und inmitten der Straße, auf einem schmalen Pfad zwischen den Trümmerbergen, sah er Friedrich; sein Vater kam mit einem Brot unter dem Arm, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Ihm wurde schwindlig, er hielt sich an den Steinen fest, er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen, er hatte nur noch das Gefühl des Hungers, diese Betäubung des Körpers, die in ein schwereloses Dahindämmern übergeht. Er roch den unvergleichlichen Duft des frischen Brotes, das in den Dörfern gebacken wurde, in die man sie evakuiert hatte, er schmeckte die frische Butter, er spürte zum Greifen nah die Scheibe Brot mit Butter und Salz. Aber er halluzinierte das in einer so ohnmächtigen Lage, dass er das Bild nicht mehr mit seinem Zustand in Zusammenhang bringen konnte. Er sah wieder auf die Straße, da war kein Mensch, kein Vater, kein Brot, in dem zersplitterten Spiegel verblasste die Sonne.

 

Gustav, sein Großvater, stand breitbeinig über ihm auf der Mauer zur Straße, stand zwischen Himmel und Erde und schrie, die Erschaffung der Welt sei bitte schön nichts gegen ihre ständige Restaurierung, Gott, falls es ihn gäbe, in dubio pro reo, wie der tolerante Mensch sage, hätte sich nie mit altem Krempel abgegeben, hätte nie etwas wegräumen müssen, hätte wie ein berühmter Architekt nur mit niet- und nagelneuem Material gearbeitet und sei nach dem Richtfest mit unbekanntem Ziel verreist, ohne sich jemals um die Schäden der Zeit zu kümmern.

Maria rief von unten, er solle Gott aus dem Spiel lassen. Gustav konzentrierte sich schweißüberströmt auf einen verkohlten Balken, auf der gegenüberliegenden Mauer von Friedrich gehalten, der ebenfalls breitbeinig balancierend den Dialog mit seinen aus dem Krieg mitgebrachten deutsch-italienischen Flüchen begleitete: »Porca miseria. Mamma mia, papa roma, mio grande casa kaputt.«

Friedrich jonglierte mit Todesverachtung auf der von allen gemeinsam zum hinteren Zimmer hin errichteten neuen Mauer. Sie hatten die verschiedensten Steine herangeschleppt, den Mörtel mit anderen Steinen weggeschlagen, bis ihre Hände bluteten, denn sie besaßen keine Handschuhe und kein Werkzeug, sie legten die Steine so aufeinander, dass sie sich zusammenfügten, da sie aber nicht genau passten, war eine Mauer mit vielen Unebenheiten, Vorsprüngen und Ritzen entstanden, durch die man immer noch das Trümmerfeld sehen konnte.

»Gebaut für die Ewigkeit wie die Pyramiden«, sagte Gustav. Fin rief beschwörend: »Das hält nie, das hält nie, das hält nie!« Elisabeth meinte, das wäre dann ja auch egal, dann wäre eben alles wieder wie vorher.

Eine zweite Mauer entstand zum ehemaligen Hausflur hin, so dass sie nun vier Mauern hatten, auf die sie ein Dach setzen konnten. Gustav und Friedrich schoben die Balken, die sie aus den Trümmerhaufen gezogen hatten, auf die neuerrichteten Mauern, es knisterte gewaltig und furchterregend, allen stockte der Atem, die Steine drückten sich nach unten, Maria sandte ein Stoßgebet in den immer noch freien Himmel über ihnen, aber zur Überraschung aller ruhten die Balken, hielten die Mauern.

Wären sie zusammengebrochen, hätten sie Friedrich in das Granatloch gestürzt, in dem man ihn dann auch gleich hätte beerdigen können, tief genug war es. Aber daran mochte keiner denken, und Friedrich dachte sowieso nie an solche Schreckensbilder.

Alle krochen über die Balken und bedeckten sie mit verschieden langen Brettern, Wellblechstücken und Resten von Teerpappe, die er, auf seinem Bett stehend, hochreichte. Sie beschwerten das Sammelsurium mit Steinen, das einzige Material, das im Überfluss vorhanden war, und nannten es von nun an ihr Dach.

 

Auf der schmalen, sich nur langsam durch das Gescharre der vielen Füße verbreiternden Straße zogen von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Menschen an seinem Fenster vorbei. Sie kamen von weit her, eine Handbewegung zeigte in eine unbestimmte, hinter ihnen liegende Richtung, und zogen in eine ebenso unbestimmte Ferne, die sich auch nur vage andeuten ließ. Oft waren sie auch ohne Ziel unterwegs, weil es einfacher war, weiterzuziehen, wo sollte man anhalten, wo sollte man bleiben?

Erst waren es Einzelne, dann Gruppen, dann ganze Kolonnen, die in einem gleichbleibenden Tempo, wie schlafend, durch die Straße gingen, über Steine stolperten, sich wieder auffingen, weitergingen, überladene Holzwägelchen hinter sich herziehend, deren Räder über den Boden schleiften, aneinandergebunden, um sich nicht zu verlieren.

Da sie aus beiden Richtungen aufeinander zuliefen, die einen hoffnungsvoll dahin wollten, woher die anderen verzweifelt kamen, verhedderten sie sich oft, stritten sich um den schmalen Weg zwischen den Trümmern, blieben zu Knäueln geballt stehen, entwirrten sich nur mühsam.

Manchmal fiel einer schweigend um, blieb liegen, gehörte er zu einer Gruppe, wurde er auf irgendeine Weise mitgeschleppt, war er alleine, wurde er zur Seite geschoben, von den Füßen in die Trümmer gestoßen, dort lag er, bis eine Streife der Militärpolizei ihn fand. Treibgut eines müden Stromes, der in seinen Wirbeln alle gegeneinandertrieb und langsam weiterzog, eines Stromes, der sein Flussbett verlassen hatte und sich mäanderhaft immer neue Wege suchte, in immer neuen Schleifen und Kehren das mitgeführte Geschiebe ablagerte, schließlich irgendwo versickerte, mit dem Geräusch der scharrenden Füße spurlos im Erdboden versank.

Da alle das, was sie an Kleidung besaßen, übereinandergezogen hatten, Jacken, Hosen, Röcke, Mäntel, sahen sie aus wie ausgestopfte Puppen, die sich mit ihren nun seltsam kleinen Köpfen und Händen kaum umdrehen konnten, gravitätisch einherschritten, sich feierlich bewegten; Verhungerte, die als Übergewichtige daherkamen, Taube, die mit ihren unverständlichen Stimmen Lieder grölten, Blinde, die sich gegenseitig umrannten, Kinder wie kleine Stoffbälle, die hin und her trudelten oder als aufgedunsene Prinzen auf den Holzwägelchen wie auf einem Thron lagen, ein Totentanz als Kostümball.

 

Erst jetzt, nachdem sie einen Raum besaßen, weil es vorher doch wie ein Leben auf der Straße gewesen war, fiel ihnen auf, dass auch sie verkleidet herumliefen. In ihrer Wohnhöhle, zwischen den archaisch gebauten Mauern unter einem tropfenden Dach, wirkte ihre Kleidung unnatürlicher als auf der Straße.

Maria, die auf dem Rückweg aus der ehemals amerikanischen, dann russischen, in die britische Zone, auf ihrer Odyssee durch Deutschland, im Schlamm der Lager ihre Schuhe verloren hatte, barfuß über schneebedeckte Erde lief, besaß ein Paar braune amerikanische Soldatenschuhe, die ihr ein Schwarzer unterwegs aus einem Jeep zugeworfen hatte; sie trug sie immer noch, weil amerikanische Soldatenschuhe im Gegensatz zu deutschen Schuhen ewig hielten. Da sie keinen Mantel hatte, zog sie zwei Steppjacken übereinander, eine blaue der deutschen Luftwaffe, die aus einem bei Kriegsende immer noch gut gefüllten Wehrmachtsdepot stammte, eine grüne aus den Beständen der Roten Armee, die sie an einem Kontrollpunkt ergattert hatte. So kletterte sie wie ein Bergsteiger durch die Trümmer.

Friedrich, in Italien durch eine polnische Einheit in amerikanische Gefangenschaft geraten, sprach zur Verwunderung der Familie fast nur noch Italienisch, das er gelegentlich, wenn er wollte, ins Deutsche übersetzte. Unter seinem deutschen Militärmantel und einer kanadischen Militärjacke schlotterte eine amerikanische Militärhose, er hatte seine Fallschirmjägerstiefel gerettet und schmückte sich mit einem Bersaglierehut, dessen abgebrochene Federn ihm etwas Kühnes gaben. Er besaß ein Militärbesteck und ein verkratztes grünes Kochgeschirr, das er seinem Sohn später für die Schulspeisung feierlich überreichte, und, wertvollste Kriegsbeute, ein großes, schweres Nachtglas, durch das er ihm die Sterne zeigen wollte, das aber dann gegen Konserven eingetauscht wurde. Er sah aus wie eine Landsknecht-Karikatur aus dem Dreißigjährigen Krieg, wie eine Vogelscheuche, maulte Maria, während er meinte, etwas Besseres habe er noch nie getragen, und er werde es sich sehr überlegen, jemals etwas anderes anzuziehen.

Gustav rettete sich in den letzten Kriegstagen mit flüchtenden deutschen Soldaten in den Schwarzwald, in einen Ort, aus dem seine erste, früh verstorbene Frau stammte, war dort aber in die Hände der Franzosen gefallen, hatte sich wieder abgesetzt, war auf Umwegen, die er auch auf einer Landkarte nicht mehr rekonstruieren konnte, wieder zurückgekommen, hatte als Reisesouvenir einen dicken französischen Wollstoff mitgebracht, aus dem Elisabeth, Friedrichs Schwester, so etwas wie eine Mönchskutte schneiderte. Der Freigeist lief nun als Kapuzinermönch herum, da er auch noch bis zur Hüfte reichende Anglerstiefel trug, konnte er als biblischer Prophet auftreten. Er verteidigte diesen Aufzug als warm und wasserdicht, nahm den Zuschnitt aber trotzdem übel, denn Elisabeth hatte ihm einen Mantel versprochen, doch ohne Nähmaschine, ohne Garn, ohne Knöpfe könne man nur etwas Traditionelles herstellen, meinte sie und grinste dabei.

Nun war es wirklich egal, was man trug, keiner kümmerte sich um Kleidungsfragen, Hauptsache, man hatte etwas, das vor Kälte, Regen und Wind schützte. Viele mussten die wenigen Kleidungsstücke, die sie besaßen, noch mit einem anderen teilen, so dass nur einer auf die Straße gehen konnte, der andere im Bett bleiben musste. Jedes Stückchen Stoff war unglaublich wertvoll.

Elisabeth meinte, wenn sie die Familie anschaue, wäre es die interessanteste Kollektion, die sie je gesehen habe, sich damit an ihre Zeit als Direktrice eines Modehauses erinnernd. Diese Beurteilung traf zumindest auf ihre Garderobe zu, sie hatte sich aus mehreren angebrannten und zerrissenen Gardinen eine Art Hochzeitskleid einer Kronprinzessin umgebunden, das sie mit farbigen Stoffbahnen zusammenhielt, dazu trug sie Stoffschuhe mit Holzsohlen, wie man sie zu Kriegsende bekam, sie saß wie ein unausgewickelter Kokon in der Ecke und wartete entschlossen auf bessere Zeiten.

Fin, die nun schon lange mit Gustav zusammenlebte, besaß eine Uniform der Deutschen Reichsbahn, eine Uniform, die in dieser Zeit ihre Vorteile hatte, denn mit den passenden Passierscheinen, und Fin machte sie sich immer passend, überwand man sogar die Sperrstunden.

 

Sie unterschieden sich also nicht von dem Maskenball, der sich durch die Straße wälzte, diesem verkappten Totentanz, der sich im Kreis drehte, denn oft kamen Menschen durch die Straße, die schon einmal nach dem Weg gefragt hatten, die aus unbekannten Gründen wieder zurückgeschickt worden waren, nun auf einem zweiten Weg erneut in dieselbe Richtung wollten; während andere ihr ursprüngliches Ziel aufgegeben hatten, zurückströmten, um irgendwo, wo war ihnen inzwischen ganz egal, einen Platz zum Sterben zu finden.

Einzelne Gruppen lagerten manchmal vor dem Fenster, zeigten ein krankes schreiendes Baby, fragten höflich nach Wasser und Feuer, man zeigte ihnen die Wasser- und die Feuerstelle, sie bedankten sich, sagten, sie seien ehrbare und anständige Menschen, man könne ihnen die Hand abhacken, wenn sie stehlen würden.

Eine Frau stillte das Baby, das zuckende Bündel beruhigte sich, die anderen schlürften ihre Wassersuppe, die sie mit fast zeremonieller Umständlichkeit an der Feuerstelle zubereitet hatten; sie saßen noch eine Weile im Kreis, stumm, rauchten, tranken, sahen sich nicht an, blickten auf die Erde, rückten sich dann ein paar Ziegelsteine als Kopfkissen zurecht und legten sich auf die Straße zum Schlafen.

Immer wieder stellte sich auch ein Mann oder eine Frau vor sein Fenster, begannen zu erzählen, woher und wohin, erzählten ausführlich, waren froh darüber, dass er so geduldig zuhörte, dass sie das Durcheinander der Zeit und den Wirrwarr ihrer Gedanken in einer Geschichte einmal ordnen konnten, sich dadurch wieder in ihrem eigenen Leben zurechtfanden, das ihnen abhanden gekommen war und das sie nun wieder zusammenfügten, zumindest solange sie erzählten.

Die Männer kramten dabei alle Papiere aus, die sie besaßen, Berufszeugnisse, Diplome, Meldescheine, Militärpapiere, dokumentierten bürgerliche Existenzen, ein Haus mit Vorgarten, Direktor einer großen Firma, Inhaber eines Ladens, zum Militär eingezogen, da und dort in Europa gekämpft; ratlos falteten sie wieder die Papiere, die sich von selbst zusammenlegten, immer in denselben Knick, der schon zur Bruchstelle wurde und einriss. Auch die Fotos, die einen stämmigen, selbstbewussten, lachenden Mann vor seinem Haus oder seinem Geschäft zeigten, passten nicht mehr zu dem ausgehungerten, leicht vornübergebeugten, weißhaarigen Mann, der sein Leben nicht mehr mit seinen Papieren und seinen Fotos in Einklang bringen konnte, der mit seinem hageren, zerfurchten Gesicht verwundert auf den lachenden Mann sah, zwei Existenzen, die nichts mehr miteinander gemein hatten.

Die Frauen zeigten die Fotos uniformierter Männer, Dienstgrad, Feldpostnummer, Kompanie, Bataillon, Regiment, Division, Armee, sie leierten diese Angaben herunter wie eine Litanei. Angaben, die die größtmögliche Ordnung suggerierten, eigentlich hätte man den Gesuchten und so perfekt Eingeordneten auf Anhieb finden müssen, aber all die Nummern und Namen und Bezeichnungen endeten in den alten chaotischen Fragen: »Haben Sie diesen Mann gesehen? Haben Sie von ihm gehört? Kennen Sie einen von seiner Einheit?« Fragen, wie man sie vor Hunderten von Jahren schon gestellt hat, wenn man die Hafenstädte nach Schiffbrüchigen abfragte, die Oasen nach verschollenen Karawanen, wenn man den Gestrandeten die Vermissten beschrieb. Die größte Menschenorganisation, die es je gab, hatte so viele Menschen verschwinden lassen, dass jede Suche aussichtslos war, und doch suchten die Menschen noch viele Jahre lang, standen an Straßenkreuzungen und auf Bahnhöfen, zeigten ein verblasstes Foto und fragten Fremde im Vorbeigehen: »Haben Sie ihn gesehen?«

In der Erinnerung war diese Zeit in einem gleichmäßigen, sich kaum verändernden Dämmerlicht länger als die wirkliche Zeit.

Er lag auf seinem Bett in diesem grauen, regungslosen Licht, lag wie in einem vergessenen Grab einer aufgegebenen Ruinenstadt, in einer sich immer mehr ausbreitenden Totenstarre. Lieber hätte er auf der Straße gesessen, wo Tag und Nacht war, Licht und Dunkelheit, das mit der Zeit ablaufende Leben, die Stimmen der Menschen.

 

Eine alte abgeblätterte Wohnungstür stand vor dem Fenster, sie wurde nur beiseitegeschoben, wenn einer hinaus oder hinein wollte. Der Raum lag im Halbdunkel, das Tageslicht schien in schmalen Streifen durch die Mauerritzen, die Stimmen der Menschen waren undeutliche Geräusche. So wie er sich durch die Art der Lichtstreifen den hellen Tag vorzustellen versuchte, den Morgen, den Abend, so versuchte er die Herkunft der Stimmen zu deuten, die halbverstandenen Sätze, um gegen das fahle Licht und die Totenstarre anzukämpfen.

Als sie ein Fensterkreuz fanden, das sie einsetzen konnten, wurde der Raum wieder heller, aber sie hatten kein Fensterglas, nur eine Rolle fast undurchsichtigen Plastikdraht, die sie mit Heftzwecken an den Fensterrahmen anklemmten. Die Menschen auf der Straße schwammen daran wie Fische vorbei, näherten sie sich, bekamen sie aufgedunsene Gesichter, entfernten sie sich, liefen ihre Körper auseinander zu einem milchigen Schleim, aus dem sich neue Menschen formten. Sein größter Wunsch war eine Fensterscheibe, damit er, wenn er alleine war, durch das Fenster sehen konnte.

 

Wenn die Familie mit dem Tageslicht loszog, um auf unsicheren Pfaden, auf gefährlichen Wegen, durch eingestürzte Häuser und verlassene Stadtteile in dieser versteinerten Welt etwas Essbares, etwas Brauchbares zu erjagen, mit dem Blick urzeitlicher Jäger alles als Beute ansah, was in ihre Reichweite kam, blieb meist nur Gustav zurück, um den Raum mit ihm gegen Fremde zu verteidigen, die ebenfalls auf der Suche nach Beute waren oder sich auf diesem Lagerplatz festsetzen wollten. Neben seinem Bett lagen immer einige Steine, die er sofort warf, wenn ein Unbekannter hereinkletterte, und auch Gustav hatte für solche Fälle eine Eisenstange in Griffnähe.

Meist rumorte Gustav, laut vor sich hin redend, in ihrer Wohnhöhle herum, inspizierte die Mauern und Balken, prüfte die Lage der Steine, füllte die Ritzen mit Erde, dichtete die sich immer wieder bildenden Löcher im Dach, versuchte, aus verschieden großen splitternden Brettern, die von Schränken und Betten zerstörter Wohnungen stammten, mit einer Handvoll rostiger Nägel ein Regal zu zimmern, in das sie Töpfe, Teller und Tassen stellen konnten. Da er nur wenige Nägel besaß und keine Säge hatte, um die Bretter anzupassen, rutschte das Regal, ohnehin schräg gebaut, immer wieder zur Seite, fiel zusammen, und Gustav fing von vorne an, versuchte das Gleichgewicht der Bretter zu erkunden, um seine kostbaren Nägel nicht zu vergeuden, sondern sie an den strategisch entscheidenden Punkten mit einem Stein einzuschlagen.

Gustav fand auch ein schmales Stück Fensterglas für ihn. Er kroch hinter ihrer Wohnhöhle in eine Waschküche, in der Hoffnung, einen Waschkessel zu finden, sah dabei ein zugemauertes Fenster, das so dem Luftdruck der Bomben widerstanden hatte, baute es mitsamt dem Rahmen aus und setzte es in das Plastikdrahtfenster ein. Das war nun seine Luke zur Welt, sie ließ sich sogar öffnen, und er sah jetzt die Bewegungen der Menschen, ihre Gesten durch sein kleines Fenster wie unter einer Lupe. Er konnte wieder ihre Worte hören, nicht mehr nur ihre undeutlichen gedämpften Stimmen. Er sah auch wieder die Galerie der zerstörten Wohnungen, die in ihrer fortschreitenden Verwitterung und Auflösung sich ganz unnatürlich entblößten. Das Private und Intime persönlicher Räume, in denen man sich ungeniert bewegte, in denen man seine Besitztümer nach seinem Geschmack arrangierte, in denen der Fremde höflich und vorsichtig, um nicht als Eindringling zu gelten, in einem Wohnzimmersessel Platz nahm; all das lag jetzt für jedermann sichtbar da, wurde überwuchert von Holundersträuchern, junge Bäume schlugen Wurzeln, erste Mauersegler jagten kreischend durch die Wohnungen, bauten ihre Nester.

Offene Gräber mit anonymen Totengeschichten, leere Gehäuse, die er in Gedanken wieder mit Menschen bevölkerte, denen er ihre Geschichte erfand: geboren, gestorben, Kinder gezeugt und großgezogen. Dreißig Jahre hier gewohnt. Die Möbel auf Raten gekauft, für die Wäscheaussteuer gespart, alles für später geschont. Sonntags Kaffee und Kuchen. Werktags um sechs aufstehen, Ofen heizen, Betten machen, kochen. Nach Feierabend die Nachrichten, das Wunschkonzert im Radio, Zeitungsabonnement, Lesezirkel, Sterbeversicherung. Dunkle Flecken um den Lichtschalter einer Lampe, Spuren von suchenden Händen. Die eingedrückten Kissen eines Sofas vor einem Mauerloch. Die kostbare Nachttischlampe kopfüber an der zerrissenen Tapete. Der Schatten einer verkohlten Wanduhr mit den Umrissen des Perpendikels. Ein verbrannter Rahmen, in dem einmal ein Bild hing. Ein aufgeplatzter Kachelofen, zersplitterte Ehebetten, Reste eines Spiegelschrankes, in den sich ein Laufgitter gebohrt hatte. Alles bewahrt und geputzt und aufgehoben und gepflegt, und oft eine Ohrfeige: »Warum hast du wieder mit den Händen an den Spiegel – Warum tobst du auf dem Bett – Warum putzt du dir nicht die Schuhe ab –«

Eine Leiter stand vor den Wohnungen, die man für jetzige Begriffe als gut erhalten ansehen konnte, neue Besitzer kletterten hinein, warfen auf die Straße, was nicht mehr zu gebrauchen war, richteten sich in dem Rest ein, gingen vorsichtig an der Rückwand entlang, denn man konnte nicht wissen, ob der Raum nicht doch noch abstürzen würde.

 

Das Trümmerfeld hinter dem zerstörten zweiten Zimmer belebte sich mit Notunterkünften: Hütten, Baracken, Schreberhäuschen aus Holz, Pappe, Blech und Sackleinen, je nach herangeschleppten Materialien, halbrunde Nissenhütten aus Wellblech, die schon fast komfortabel waren, wenigstens nach Meinung derer, die in zugigen Hütten zwischen Kleiderschränken, Pappwänden und angelehnten Türen hausten, während die aus den Nissenhütten antworteten, sie wären dafür zusammengepfercht wie die Lemminge und würden ihre Flöhe und Läuse und Wanzen und die verdammte Krätze nicht los, und die anderen meinten, lieber Flöhe, Läuse, Wanzen und Krätze, als morgens erfroren oder verhungert aus dem Schreberhäuschen getragen zu werden, worauf die Nissenhüttenbewohner zurückgaben, bei ihnen würde man mit Tuberkulose, Typhus und Ruhr hinausgetragen.

Auf der zerstörten Stadt entstand, wie nach jeder Katastrophe in der Menschheitsgeschichte, eine neue Stadt. Zunächst behelfsmäßig, jeder baute, wie er wollte und wo er wollte, Straßen gab es nicht, nur Pfade von Hütte zu Hütte, wie in einem Goldgräberdorf. Es gab keinen Bebauungsplan, keine Stromleitungen, keine Kanalisation, keinen Gas- oder Wasseranschluss. Es gab auch keine Polizei, kein Amt, keine Behörde, die etwas vorschrieb, jeder machte, was er wollte, tat in vollkommener Freiheit das, was ihm gerade einfiel, dachte nicht mehr an Vorschriften, denn keiner fragte danach, wirklich niemand kam daher, hatte eine Uniform an oder einen Ausweis bei sich und sagte: »Was machen Sie da?«