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Paul Auster

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Beschreibung

Paul Auster nimmt den Leser mit auf eine lebhafte Reise durch die kurzen 29 Jahre von Stephen Cranes Leben. Crane war der strahlende Stern der US-Literatur zur Jahrhundertwende, ein Frühvollendeter in jeder Hinsicht – wichtigster Vertreter des amerikanischen Naturalismus und Autor des legendären Bürgerkriegsromans «The Red Badge of Courage» («Die rote Tapferkeitsmedaille»). In den wenigen Jahren, die ihm vergönnt waren, verfasste er neben diesem ikonischen Roman ein reiches Werk aus Lyrik, Kurzgeschichten und Novellen und führte ein abenteuerliches, ja fiebriges Leben u. a. als Kriegskorrespondent im Spanisch-Amerikanischen und im Griechisch-Türkischen Krieg. Er erlitt Schiffbruch vor der kubanischen Küste, wurde in eine skandalöse Liebesaffäre verwickelt, die ihn zwang, seine Heimat zu verlassen, bereiste mehrere Kontinente, wurde in Kriegseinsätzen beschossen – all dies vor dem Hintergrund des pulsierenden, sich rapide wandelnden Lebens im blühenden Industriezeitalter. Und so ist Austers liebevoll genaues und detailreiches Porträt des Schriftstellers Crane auch eines seiner Zeit und der Welt im Fin de Siècle des neunzehnten Jahrhunderts am Übergang zum zwanzigsten.

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Seitenzahl: 1570

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Paul Auster

In Flammen

Leben und Werk von Stephen Crane

Biographie

 

 

Aus dem Englischen von Werner Schmitz

 

Über dieses Buch

Paul Auster nimmt den Leser mit auf eine lebhafte Reise durch die kurzen 29 Jahre von Stephen Cranes Leben. Crane war der strahlende Stern der US-Literatur zur Jahrhundertwende, ein Frühvollendeter in jeder Hinsicht – wichtigster Vertreter des amerikanischen Naturalismus und Autor des legendären Bürgerkriegsromans «The Red Badge of Courage» («Die rote Tapferkeitsmedaille»). In den wenigen Jahren, die ihm vergönnt waren, verfasste er neben diesem ikonischen Roman ein reiches Werk aus Lyrik, Kurzgeschichten und Novellen und führte ein abenteuerliches, ja fiebriges Leben u. a. als Kriegskorrespondent im Spanisch-Amerikanischen und im Griechisch-Türkischen Krieg. Er erlitt Schiffbruch vor der kubanischen Küste, wurde in eine skandalöse Liebesaffäre verwickelt, die ihn zwang, seine Heimat zu verlassen, bereiste mehrere Kontinente, wurde in Kriegseinsätzen beschossen – all dies vor dem Hintergrund des pulsierenden, sich rapide wandelnden Lebens im blühenden Industriezeitalter. Und so ist Austers liebevoll genaues und detailreiches Porträt des Schriftstellers Crane auch eines seiner Zeit und der Welt im Fin de Siècle des 19. Jahrhunderts.

Vita

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen «Im Land der letzten Dinge» und der «New-York-Trilogie». Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.

 

Werner Schmitz ist seit 1981 als Übersetzer tätig, u. a. von Malcolm Lowry, John le Carré, Ernest Hemingway, Philip Roth und Paul Auster. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Er lebt in der Lüneburger Heide.

 

Stevie

1

Geboren am Tag der Toten und gestorben fünf Monate vor seinem neunundzwanzigsten Geburtstag, erlebte Stephen Crane noch fünf Monate und fünf Tage des 20. Jahrhunderts, dahingerafft von der Tuberkulose, bevor sich ihm die Gelegenheit bot, ein Automobil zu fahren oder ein Flugzeug zu sehen, sich auf große Leinwände projizierte Filme anzuschauen oder Radio zu hören, eine Gestalt aus der Welt der Pferdegespanne, ein Mensch, der die Zukunft versäumte, die viele der mit ihm Geborenen erwartete, nicht nur das Aufkommen dieser wundersamen Maschinen und Erfindungen, sondern auch die Schrecken der Epoche, nicht zuletzt die Vernichtung von Abermillionen Leben in zwei Weltkriegen. Seine Zeitgenossen waren Henri Matisse (zweiundzwanzig Monate älter als er), Wladimir Iljitsch Lenin (siebzehn Monate älter), Marcel Proust (vier Monate älter) und amerikanische Schriftsteller wie W.E. B. Du Bois, Theodore Dreiser, Willa Cather, Gertrude Stein, Sherwood Anderson und Robert Frost, die allesamt weit ins neue Jahrhundert hinein lebten. Und doch war Crane, der sich in seinem Schreiben um so gut wie keine der überkommenen Traditionen scherte, für seine Zeit so radikal, dass man ihn heute als ersten amerikanischen Vertreter der Moderne betrachten kann, als den Mann, der unseren Blick auf die Welt durch die Linse des geschriebenen Worts von Grund auf verändert hat.

Seinen ersten Atemzug tat er am Mulberry Place in Newark, New Jersey, neuntes überlebendes Kind von vierzehn, die seinen Eltern, den frommen Methodisten Jonathan Townley Crane und Mary Helen Peck Crane, geboren wurden, und da sein Vater Pfarrer war und in den späteren Jahren seiner langen seelsorgerischen Laufbahn von Gemeinde zu Gemeinde reiste, wuchs der Junge ohne die üblichen Bindungen an Wohnort, Schule und Freunde heran, zog mit drei von Newark nach Bloomington (das heute South Bound Brook heißt), mit fünf von Bloomington nach Paterson, mit sieben, als sein Vater zum Gemeindevorsteher der Drew Methodist Church berufen wurde, von Paterson nach Port Jervis, New York, einer Stadt mit neuntausend Einwohnern, gelegen im Dreistaateneck, wo New Jersey, Pennsylvania und New York aneinandergrenzen und der Neversink River in den Delaware mündet, und als, drei Monate nach Cranes achtem Geburtstag, sein Vater mit sechzig Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt starb und die Familie das Pfarrhaus verlassen musste, zog seine Mutter nach Roseville, New Jersey, eine an Bloomfield und East Orange grenzende gemeindefreie Ortschaft in Newark, der Junge und sein Bruder Edmund (vierzehn Jahre älter als Crane) zogen zu Verwandten auf eine Farm im Sussex County, bis die drei schließlich in Port Jervis bei einem weiteren Bruder, William (siebzehn Jahre älter), wieder zusammenkamen und die Mutter dann im Jahre 1883 ein Haus in dem Ferienort Asbury Park, New Jersey, («Das Sommer-Mekka der Amerikanischen Methodisten») kaufte, wo der junge Crane seine Laufbahn als Schriftsteller begann und erste kleine Texte, Sommerferiensatiren, für einen weiteren seiner Brüder verfasste (Townley, achtzehn Jahre älter), der eine regionale Nachrichtenagentur für die New York Tribune und die Associated Press betrieb. Unterdessen waren zwei weitere von Cranes Geschwistern gestorben: 1884, mit achtundzwanzig, starb seine Schwester Agnes Elizabeth, eine Lehrerin und Verfasserin von Kurzgeschichten, die ihm so sehr eine Mutter gewesen war wie die Mutter selbst und sein Interesse an Büchern geweckt hatte, an Meningitis, und 1886, mit dreiundzwanzig, wurde sein Bruder Luther, der als Signalwerker und Bremser bei der Erie Railroad arbeitete, von einem Zug überrollt. Nach einem lustlosen und vorzeitig abgebrochenen Collegejahr (ein Semester am Lafayette, gefolgt von einem Semester an der Syracuse University, wo er in der Baseballmannschaft spielte und sich für nur einen einzigen Kurs einschrieb) kehrte Crane zurück in den Süden, in die beiden Städte Asbury Park und New York City, um dort sein Glück als professioneller Schriftsteller zu suchen. Am 28. September, nur wenige Straßen entfernt von dort, wo Crane schon bald eine Wohnung in Manhattan beziehen sollte, starb der kaum noch gelesene und fast ganz in Vergessenheit geratene Herman Melville. Am 10. November, Tausende Meilen im Osten, im französischen Marseille, starb mit sechsunddreißig Jahren Arthur Rimbaud. Siebenundzwanzig Tage danach starb Cranes Mutter mit vierundsechzig an Krebs. Der nun verwaiste angehende Schriftsteller hatte selbst nur noch achteinhalb Jahre zu leben, schrieb aber in dieser kurzen Zeit ein Meisterwerk von einem Roman (The Red Badge of Courage), zwei ebenso eigenwillige wie großartige Novellen (Maggie: A Girl of the Streets und The Monster), zwei Dutzend unübertreffliche Kurzgeschichten (darunter «The Open Boat» und «The Blue Hotel»), zwei Bände mit den seltsamsten, wildesten Gedichten des 19. Jahrhunderts (The Black Riders und War Is Kind) und mehr als zweihundert journalistische Artikel, viele davon so gut, dass sie seinen literarischen Werken durchaus ebenbürtig sind. Ein junger Mann in Flammen, von seltener Frühreife, dem die Fülle des Erwachsenenlebens verwehrt wurde, ist er Amerikas Antwort auf Keats und Shelley, auf Schubert und Mozart, und wenn er ebenso weiterlebt wie sie, dann deshalb, weil sein Werk nicht gealtert ist. Hundertzwanzig Jahre nach seinem Tod leuchtet die Flamme Stephen Cranes noch immer.

2

Vielleicht übertreibe ich ein wenig. Dass Crane auch weiterhin leuchtet, steht außer Frage, doch ob er so strahlend fortlebt wie jene anderen allzu früh erloschenen Flammen, ist nicht so klar. Es gab Zeiten, da war The Red Badge of Courage an nahezu allen amerikanischen Highschools Pflichtlektüre. 1962, mit fünfzehn, als mir der Roman zum ersten Mal begegnete, war das eine atemberaubende Entdeckung, die mein Leben auf einen Schlag veränderte, mein Leben und auch das der meisten meiner Klassenkameraden (Jungen und Mädchen gleichermaßen), aber heute, aus Gründen, die ich kaum nachvollziehen kann, scheint das Buch nicht mehr auf der Liste der unbedingt zu lesenden Bücher zu stehen, mit der zweifachen Folge, dass Schülern eine wichtige literarische Erfahrung vorenthalten und Crane selbst in den Schatten verbannt wird, denn hätten meine Klassenkameraden und ich The Red Badge of Courage nicht kennengelernt, wären wir wohl kaum auf die Idee gekommen, uns andere Werke von Crane anzusehen, zum Beispiel die Gedichte (die einen bis ins Mark erschüttern können), oder die Kurzgeschichten, oder die brutale Schilderung des Lebens in den New Yorker Slums in Maggie. Ich habe nur Anhaltspunkte, aber als ich kürzlich meine dreißig Jahre alte Tochter fragte, ob sie das Buch an der Highschool lesen musste, sagte sie nein, was mich veranlasste, mich in ihrem Freundeskreis umzuhören, fünfzehn oder zwanzig jungen Männern und Frauen, die Highschools im ganzen Land besucht hatten, und ihnen dieselbe Frage zu stellen, die ich ihr gestellt hatte, und sie alle antworteten mit Nein. Noch überraschender: Nur einer meiner literarischen Bekannten aus nicht englischsprachigen Ländern hat überhaupt je von Crane gehört, nicht anders als die große Mehrheit meiner britischen Bekannten, obwohl Crane zu seinen Lebzeiten in England genauso berühmt war wie in Amerika. Meine Freunde außerhalb Amerikas kennen Twain, Poe, Hawthorne, Emerson, Whitman, Henry James sowie Herman Melville und Dickinson (beide lange Zeit nicht beachtet), doch Crane, der meiner Meinung nach in einem Atemzug mit diesen Göttern genannt zu werden verdient, sagt ihnen nichts.

Was nicht heißen soll, dass Crane nicht mehr existiert. Auf Englisch sind seine Hauptwerke in zahlreichen Taschenbuchausgaben leicht erhältlich, seine Gesammelten Werke, in den 1970er Jahren von der University Press of Virginia in zehn Bänden herausgebracht, sind weiter lieferbar, in der Library of America gibt es eine hervorragende, knapp 1400 Seiten starke Sammlung ausgewählter Prosa und Gedichte, seine Romane und Erzählungen sind noch heute Gegenstand von Collegekursen zu amerikanischer Literatur, und in der akademischen Welt ist Stephen Crane ein bedeutender Forschungsgegenstand. Dies alles ist beruhigend, zugleich aber habe ich den Eindruck, Crane befinde sich nur noch in den Händen von Spezialisten, fortgeschrittenen Literaturstudenten, Doktoranden und Lehrstuhlinhabern, während das unsichtbare Heer der sogenannten Durchschnittsleser, Menschen also, die keine Akademiker oder selbst Schriftsteller sind und auch heutzutage noch gern auf bewährte Autoren wie Melville oder Whitman zurückgreifen, Crane nicht mehr kennt.

Wäre es anders, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dieses Buch zu schreiben.

Ich gehe es nicht als Fachmann oder Wissenschaftler an, sondern als alter Schriftsteller, der das Genie eines jungen Schriftstellers bewundert. Nachdem ich mich in den vergangenen zwei Jahren mit jedem einzelnen von Cranes Werken intensiv beschäftigt, jeden einzelnen seiner veröffentlichten Briefe gelesen und alles an biographischem Material zusammengetragen habe, was ich finden konnte, fasziniert mich Cranes hektisches, widersprüchliches Leben ebenso sehr wie das Werk, das er uns hinterlassen hat. Es war ein irres, einzigartiges Leben, voller spontan eingegangener Wagnisse, mit häufigen Phasen erdrückenden Geldmangels und getrieben von einer starrsinnigen, hartnäckigen Hingabe an seine Berufung als Schriftsteller, die ihn von einer unwahrscheinlichen und bedrohlichen Situation in die nächste katapultierte – ein mit zwanzig geschriebener kontroverser Artikel, der den Präsidentschaftswahlkampf von 1892 durcheinanderbrachte, ein öffentlich ausgetragener Streit mit der New Yorker Polizei, der 1896 praktisch zu seiner Verbannung aus der Stadt führte, ein Schiffbruch vor der Küste Floridas, bei dem er 1897 um ein Haar ums Leben gekommen wäre, eine wilde Ehe mit der Inhaberin von Jacksonvilles elegantestem Bordell, dem Hotel de Dreme, Korrespondent im Spanisch-Amerikanischen Krieg auf Kuba (wo er mehrmals unter feindlichen Beschuss geriet), und dann seine letzten Jahre in England, wo Joseph Conrad sein bester Freund wurde und Henry James seinen frühen Tod beweinte – ein Schriftsteller, den man vor allem als Chronisten des Krieges kennt, der sich aber auch vielen anderen Themen widmete und sie alle mit ungeheurer Fertigkeit und Originalität behandelte, Geschichten über kleine Kinder und hungerleidende Künstler, Augenzeugenberichte über New Yorker Opiumhöhlen, Zustände in einem Kohlebergwerk in Pennsylvania und eine verheerende Dürre in Nebraska, und ganz ähnlich wie Edgar Allan Poe, der allzu oft bloß für unseren finsteren Lieferanten von Horror- und Kriminalgeschichten gehalten wird, in Wirklichkeit aber auch ein Meister des Humors war, konnte auch der düstere, pessimistische Crane umwerfend komisch sein, wenn er es denn wollte. Und unter dem Gebirge seiner Prosa, oder eher obendrauf, sind seine Gedichte, mit denen wenige innerhalb oder außerhalb der Hochschulen je so recht etwas anzufangen wussten, Gedichte, so weit entfernt von den traditionellen Normen des Versemachens im 19. Jahrhundert – einschließlich der normbrechenden Abweichungen eines Whitman oder einer Dickinson –, dass sie vielleicht gar nicht als Gedichte zu bezeichnen sind, und doch bleiben sie anhaltender im Gedächtnis als die meisten anderen amerikanischen Gedichte, wie zum Beispiel dieses, das mich verfolgt oder begleitet, seit ich es vor fünf Jahrzehnten zum ersten Mal gelesen habe:

In der Wüste

Sah ich ein Geschöpf, nackt, tierisch,

Das, auf der Erde hockend,

Sein Herz in den Händen hielt

Und davon fraß.

Ich sagte: «Schmeckt es, Freund?»

«Es ist bitter – bitter», sprach es:

«Doch ich mag es,

Weil’s bitter ist

Und weil es mein Herz ist.»[*]

3

Bevor wir zu Crane selbst kommen, ein kleiner Überblick über die amerikanischen Verhältnisse zwischen 1871 und 1900, Zeit und Raum seines Lebens.

Zu den Neuheiten, die in diesen Jahren in die Welt kamen, zählten unter anderem: Stacheldraht, Ohrenschützer, das Getreidesilo, Bluejeans, das Suspensorium, der Mimeograph, das Telefon, die Trockenbatterie, der Phonograph, die Kabelbahn, Heinz-Ketchup, Budweiser Bier, die National League of Professional Baseball Clubs, die Registrierkasse, die Schreibmaschine, die Glühbirne, die Teppichkehrmaschine, der Transcontinental Express (von New York nach San Francisco in 83½ Stunden), die Kinematographie, das automatische Klavier, das elektrische Bügeleisen, der Füllfederhalter, die elastische Filmrolle, die Universalkamera mit Fixfokus, das selbstladende Maschinengewehr, die Drehtür, der Wechselstrommotor und Transformator, die Heftklammer, das Salzwasser-Taffy, der Wolkenkratzer, der Münzautomat, der Strohhalm, der Flexible-Flyer-Schlitten, der Münzfernsprecher, der Rasierapparat, der Elektrolüfter, der elektrische Stuhl, die Lötlampe, die Linotype-Zeilensetzmaschine, der Straßenbahnwagen, Cornflakes, der Deckenventilator, Farbfotografie, die automatische Telefonzentrale, die Melkmaschine, Coca-Cola, drahtlose Telegraphie, der Geschirrspüler, Röntgen, Basketball, der Comicstrip, die Rolltreppe, die Tabelliermaschine, Shredded Wheat, der Rauchmelder, der Reißverschluss, das Wählscheibentelefon, der Kronkorken, die Zackenschere, die Mausefalle, Einmalhandschuhe, Volleyball, die Wahlmaschine, der vertikale Aktenschrank, die modernen Olympischen Spiele, der Boston Marathon, die tragbare Filmkamera, der Filmprojektor, die Fernbedienung, der Verbrennungsmotor, die Fliegenklatsche, die Reißzwecke und die Zuckerwatte.

In den Jahrzehnten zwischen dem Attentat auf Abraham Lincoln und dem Attentat auf William McKinley im September 1901, das zur Präsidentschaft Theodore Roosevelts führte (zeitweilig Cranes Freund und eifriger Leser und später sein unerbittlicher Gegner), durchlebten die Vereinigten Staaten eine lange Phase des Wachstums, der Unruhen und des moralischen Versagens, in der das rückständige, isolierte Land sich zu einer Weltmacht entwickelte, deren Führungspersonal jedoch mehr oder weniger unfähig oder korrupt oder beides war, weshalb die beiden großen, untrennbar mit dem amerikanischen Experiment verbundenen Verbrechen – die Versklavung schwarzer Afrikaner und die systematische Ausrottung der ersten Bewohner des Kontinents, einer enormen Vielzahl von Kulturen, die man unter der Bezeichnung Indianer allesamt in einen Topf wirft – niemals gebührend thematisiert oder gar gesühnt wurden, und mag auch die Sklaverei abgeschafft worden sein, so war doch von den Nachkriegsbemühungen der Reconstruction 1877 nichts mehr übrig, mit der Folge, dass die schwarze Bevölkerung in den Südstaaten unter einem zwar neuen, aber gleichermaßen schändlichen System von Unterdrückung, Elend, Isolation und Einschüchterung leben musste, bis hin zum Tod am Ende eines Stricks, der ihnen von den rassistischen Mitgliedern des Ku-Klux-Klans um den Hals geknüpft wurde. Und was die Indianer betrifft, so wurden sie in diesen Jahren von der Kavallerie der Vereinigten Staaten massenhaft abgeschlachtet (oft unter dem Kommando von Generälen, die im Bürgerkrieg zu Helden geworden waren), die Überlebenden von ihrem Land vertrieben und in von der Regierung kontrollierten Reservaten zusammengepfercht, entlegenen, trostlosen Landstrichen, einer Hölle auf Erden an Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Ende Juni 1876 kam es zur Schlacht von Little Bighorn (auch Custer’s Last Stand genannt), eine Woche vor Amerikas Einhundertjahrfeier, und so aufgebracht waren die weißen Bürger der Republik über die Niederlage gegen Wilde wie Chief Gall, Crazy Horse und Chief Two Moons, dass die allseits dazu ermutigte Armee sich entschloss, die Indianerfrage ein für alle Mal zu lösen. Ein Werk, das vollbracht war, nachdem man am 29. Dezember 1890, zwei Monate nach Cranes neunzehntem Geburtstag, eine Gruppe geistertanzender Männer, Frauen und Kinder bei Wounded Knee in South Dakota niedergemäht hatte.

Unterdessen füllte sich der dünn besiedelte Westen mit weißen Siedlern, dazu kamen Massen von Chinesen über den Pazifik, um in Kalifornien Arbeit zu suchen, während die Industriestädte an der Ostküste Millionen von Einwanderern aus allen Ländern Europas aufnahmen, dringend benötigte, billige Arbeitskräfte für die Manufakturen, Fabriken, Bergwerke und andere Ausbeutungsbetriebe. Die Bedingungen waren für alle hart. Die Siedler in der Prärie hatten oft Hunger zu leiden und mussten Sommertemperaturen bis vierzig Grad und Wintertemperaturen von dreißig, vierzig Grad minus ertragen. In San Francisco, Los Angeles und Seattle kam es zu Ausschreitungen gegen die Chinesen, die ohnehin mit gnadenloser Diskriminierung, blutrünstigen Übergriffen und spontanen Lynchaktionen wütender weißer Horden fertigwerden mussten. (Die Chinesenfeindlichkeit erreichte ihren Höhepunkt 1882, als der Kongress den Chinese Exclusion Act verabschiedete, der chinesischen Arbeitern für die nächsten zehn Jahre die Einreise verwehrte; 1892 verlängerte der Kongress die Sperre um weitere zehn Jahre.) Die europäischen Einwanderer drängten sich in schmutzigen, muffigen Mietskasernen, zu arm, um anderswo zu leben als in rauen, gefährlichen Slums, während sie für einen Hungerlohn in Zwölfstundenschichten arbeiteten, unter Bedingungen, die nicht weniger rau und gefährlich waren, ohne Gewerkschaften oder Arbeitsgesetze, die sie schützen konnten. Städtisches Leben am unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter: eine schöne neue Welt, in der sich Iren, Deutsche, Italiener, Griechen, Skandinavier, Ungarn und Polen gegenseitig und alle miteinander die Schwarzen und die Juden verachteten.

Die Reichen jedoch waren sehr reich, und die Reichsten unter ihnen, die sogenannten Raubritter jenes sogenannten Goldenen Zeitalters, scheffelten Vermögen, die in die Hunderte Millionen Dollar gingen (heute müsste man von unzähligen Milliarden sprechen). Bemerkenswerterweise sind uns die meisten ihrer Namen noch heute geläufig: J. P. Morgan, Andrew Carnegie, Cornelius Vanderbilt, John D. Rockefeller, Jay Gould, Leland Stanford und zahlreiche andere. Sie machten ihr Geld mit Eisenbahnen, Stahl, Öl und Banken, und sie alle waren kluge, zielstrebige, umtriebige, ehrgeizige Unternehmer und gelangten zu ihrer außerordentlichen Macht, indem sie mit allen legalen und illegalen Mitteln gegen ihre Konkurrenten zu Felde zogen. Es war die Ära der Trusts – einer neuen Form von Monopolen zur Umgehung der Antimonopolgesetze –, erfunden von einem von Rockefellers Anwälten (Samuel C. T. Dodd), und kaum hatte man in der Ölindustrie damit angefangen, zogen andere Industrien nach, zum Beispiel Kupfer, Stahl, Tabak, Zucker, Gummi, Leder und sogar Landwirtschaftsgeräte. Der Sherman Antitrust Act von 1890 sollte derart massiven Ballungen von Reichtum einen Riegel vorschieben, wurde aber nur halbherzig durchgesetzt und durch eine Reihe abschlägiger Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs weiter geschwächt. Wohl wahr, einige der größten Tycoons und ihre Erben haben sich später der Philanthropie verschrieben, doch ist nicht weniger wahr, dass Vanderbilts Sohn William (berühmt für die verschwenderischsten und teuersten Partys seiner Zeit, zweifellos die verschwenderischsten und teuersten seit dem Untergang des Römischen Imperiums) die Frage eines Reporters nach seiner Verantwortung für das Allgemeinwohl mit der Bemerkung konterte: «Die Leute sind mir egal.» Und der Eisenbahn-Magnat Jay Gould, einer der extravagantesten Gauner im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, soll geprahlt haben: «Ich kann die eine Hälfte der Arbeiterschaft anheuern, die andere Hälfte umzubringen.»

Entgegen Goulds Behauptung brachten die Arbeiter sich keineswegs gegenseitig um, sondern wurden Opfer eines Systems, das dazu gemacht war, auf Kosten der Gesundheit, Erwerbsfähigkeit und Sicherheit der Arbeitnehmer maximalen Profit zu erwirtschaften. Widerstand gegen den Kapitalismus hatte sich in Europa schon lange vor Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs geregt, doch mit den Einwanderern gelangten verschiedene Formen dieses Widerstands auch in die Neue Welt – Marx’ revolutionärer Sozialismus, Bernsteins evolutionärer Sozialismus, die subversiven Lehren des Anarchismus (McKinley wurde von dem Anarchisten Leon Czolgosz ermordet) –, und auch in der bereits einheimischem Bevölkerung bildeten sich oppositionelle Gruppen, manche davon progressiv und reaktionär zugleich, wie etwa die Populist Party und The Grange, die den kleinen Mann und die Bauern gegen die Ausbeutung durch das Großkapital verteidigten, jedoch von Einwanderern und (keine Überraschung) Schwarzen und Juden nichts wissen wollten, aber es traten auch einige fortschrittlichere und offenere Arbeiterorganisationen in Erscheinung, wie etwa der Noble Order of Knights of Labor (gegründet 1869), der in den 1880er Jahren auf seinem Höchststand siebenhunderttausend Mitglieder hatte, und die American Federation of Labor, die 1886 von Samuel Gompers gegründet wurde und sich für den Achtstundentag, die Abschaffung von Kinderarbeit, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen einsetzte. Neben diesen gemäßigten, praktischen Bestrebungen gab es die rabiateren Positionen der Sozialisten (etwa in Gestalt von Eugene Debs, der sich fünfmal um die Präsidentschaft bewarb), der Anarchisten (insbesondere Alexander Berkman und Emma Goldman, die beide schließlich deportiert wurden) und der Molly Maguires, einer Organisation, die in Pennsylvania mit gewalttätigen Guerillaaktionen die Besitzer von Kohlebergwerken terrorisierte, bis sie, von Agenten der Detektei Pinkerton unterwandert, zerschlagen wurde (zehn ihrer Mitglieder wurden im Juni 1877 wegen Mordes gehängt). Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts war aber nicht nur die Ära der Trusts, sondern auch die Ära der langwierigsten und mörderischsten Streiks der amerikanischen Geschichte. Der große Streik von 1877 begann im Juli mit einem Ausstand von Arbeitern der Baltimore and Ohio Railroad und breitete sich dann auf andere Eisenbahngesellschaften von New England bis zum Mississippi und schließlich über das ganze Land aus, was Fabrikarbeiter und Bergleute veranlasste, aus Solidarität ebenfalls die Arbeit niederzulegen. Als es in Martinsburg, West Virginia, zu Gewalttätigkeiten kam, wurde die Miliz des Bundesstaats herbeigerufen, und als die sich weigerte, auf die streikenden Arbeiter zu schießen, schickte der Kriegsminister Bundestruppen. In Baltimore wurden neun streikende Bergleute getötet und mehrere verwundet, als die dortige Miliz in die Menge feuerte. Es kam zu Krawallen, und in den folgenden Tagen wurden fünfzig weitere Menschen erschossen. In Pittsburgh lieferten sich Milizen und Streikende heftige Feuergefechte, und dann wurde ein echtes Feuer gelegt, das sich zu einer über fünf Kilometer langen Flammenwalze entwickelte und zweitausend Güterwaggons zerstörte, mit einem Schaden von über zehn Millionen Dollar. In Chicago attackierten örtliche Polizei und Kavallerie eine spontane Versammlung von Streikenden, neunzehn Personen wurden getötet. Die Solidaritätsstreiks griffen immer weiter um sich, und bis Ende Juli hatten in Scranton, Pennsylvania, vierzigtausend Bergleute die Arbeit niedergelegt. Auch wenn sich nach all diesen Schlachten für die Eisenbahnarbeiter kaum etwas änderte, konnten wenigstens die Bergleute in Scranton den Minenbesitzern eine Lohnerhöhung von zehn Prozent und weitere Zugeständnisse abringen. Wichtiger noch, die Ereignisse von 1877 zeigten dem Land, dass die Arbeiterbewegung jetzt stark genug und eine unübersehbare Größe im Leben Amerikas geworden war.

Weiter mit der Litanei. 1882: der drei Monate lange Streik der Eisen- und Stahlarbeiter; der Transportarbeiterstreik, der wochenlang den Güterverkehr auf der Schiene lahmlegte. 1886: der Streik gegen Jay Goulds Missouri Pacific Railroad, bei dem neuntausend Streikende die gesamte Strecke von siebentausend Kilometern dichtmachten. In diesem Jahr streikten über sechshunderttausend Arbeiter verschiedener Industriezweige. Im Mai rief ein Angriff auf Streikbrecher bei der McCormick Reaping Manufacturing Company in Chicago die Polizei auf den Plan, es gab sechs Tote und ein Dutzend Verletzte, was tags darauf zu den Haymarket-Square-Krawallen führte, in deren Verlauf durch eine Bombe sieben Polizisten getötet und fünfzig verletzt wurden. Vier Anarchisten wurden zum Tode verurteilt, vier weitere erhielten Gefängnisstrafen, drei davon lebenslänglich. Es ist anzunehmen, dass keiner der acht für den Bombenwurf verantwortlich war, doch angesichts von Schlagzeilen wie TERROR ERFASST DAS LAND spielte es kaum eine Rolle, wer dafür verantwortlich war und wer nicht. In den folgenden Jahren kam es zu zahllosen weiteren Streiks, besonders folgenschwer der Homestead-Streik von 1892 und der Pullman-Streik von 1894. Die Aktion gegen Andrew Carnegies Homestead Mill am Monongahela River in Pennsylvania dauerte fünf Monate, mit Dutzenden von Toten und Hunderten von Verletzten, weil das Management sich in typischer Manier nicht nur weigerte, mit den Gewerkschaften zu verhandeln, sondern auch zur Bekräftigung seiner unnachgiebigen Haltung den Gouverneur überredete, siebentausend Milizionäre des Bundesstaats anrücken zu lassen. Carnegies Partner Henry Clay Frick (derselbe Frick, der das Haus an der New Yorker Fifth Avenue mit der privaten Kunstsammlung bewohnte, die seit 1935 für die Öffentlichkeit zugänglich ist) ließ mit Winchester-Gewehren bewaffnete Pinkerton-Agenten anrücken und auf die Streikenden schießen, was ihn bei denen, die den Streik unterstützten, so verhasst machte, dass der Anarchist Alexander Berkman ihn in seinem Büro zu ermorden versuchte; Frick überlebte die zwei Schüsse und vier Messerstiche, der Streik wurde niedergeschlagen und Berkman zu zweiundzwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Tausende verloren ihren Job. 1894, in einem Jahr, als eine Dreiviertelmillion Beschäftigte die Arbeit niederlegten, wurde auch der Pullman-Streik in Chicago ohne greifbare Resultate beendet, aber für kurze Zeit herrschte Chaos, ein landesweiter Boykott brachte den gesamten Eisenbahnverkehr westlich von Detroit zum Erliegen, und Eugene Debs, der Anführer des Aufstands, erhielt eine sechsmonatige Gefängnisstrafe, weil er sich über eine gerichtliche Anordnung, die Arbeit der U. S. Mail nicht zu behindern, hinweggesetzt hatte, und wurde so zum Helden der Linken. Er lebte bis 1926 und ist heute wohl vor allem bekannt für seinen Ausspruch: «Solange es eine Unterschicht gibt, gehöre ich ihr an, solange es kriminelle Elemente gibt, gehöre ich dazu, und solange eine Seele im Gefängnis sitzt, bin ich nicht frei.»

Nicht zu vergessen inmitten all dieser Kriege zwischen Kapital und Arbeiterschaft war das heftige Auf und Ab des Marktes, der in den fraglichen Jahrzehnten zweimal zusammenbrach. Die «Panik» von 1873 zwang die New Yorker Börse, den Handel für zehn Tage zu schließen, fünf Jahre lang herrschte Depression, über zehntausend Unternehmen gingen bankrott, Hunderte Banken mussten schließen, und die Pläne für eine zweite transkontinentale Eisenbahnstrecke wurden aufgegeben. Man darf bezweifeln, dass der zweijährige oder auch der sechsjährige Crane von diesen Geschehnissen etwas mitbekam; anders sah es aber mit der «Panik» von 1893 aus. Als die bis dahin größte und schwerste Depression der amerikanischen Geschichte einsetzte (erst in den 1930er Jahren von der Großen Depression übertroffen), war Crane fast zweiundzwanzig und lebte bereits in New York, mitten in der längsten kreativen Phase seines Lebens (Abschluss und Veröffentlichung von Maggie, Arbeit an seinem ersten Gedichtband, erste Entwürfe für George’s Mother und The Red Badge of Courage, zu schweigen von etlichen Erzählungen, Skizzen und Artikeln), und er hatte bei einer Arbeitslosigkeit von dreißig bis fünfunddreißig Prozent in der Stadt genauso zu leiden wie alle anderen und war zwischenzeitlich so arm, dass er um Essen betteln musste und so schäbig gekleidet war, dass er sich schämte, auf die Straße zu gehen.

Es war auch die Ära von Jane Addams und der Settlement-Bewegung, die sich von Chicago aus nach Osten und Westen in über dreißig Bundesstaaten ausbreitete, ein idealistischer, aber auch praktischer Versuch, die Rechte von Kindern zu schützen und die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern. Der Erfolg von Hull House, dem Settlement-Haus in der New Yorker Henry Street, und zahlreichen weiteren karitativen Bestrebungen bewies, dass Frauen im bürgerlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle spielen konnten. Fraglos blieben Frauen zu der Zeit an den Rand verwiesen, aber eine Reihe bemerkenswerter Ausnahmen sollte nicht übersehen werden, Frauen wie Jane Addams, die sich durchsetzten und Wichtiges für die Gesellschaft leisteten: Susan B. Anthony, Elizabeth Cady Stanton, Mary Baker Eddy, Mother Jones, Clara Barton, Madame Blavatsky, die Malerin Mary Cassatt und die Journalistin Nellie Bly (Pseudonym von Elizabeth Cochran), eine von Amerikas ersten und furchtlosesten investigativen Reportern, die sich zum Beispiel wahnsinnig stellte, um Zutritt zu einem Irrenhaus zu erhalten, und, nachdem sie auf Verlangen ihres Arbeitgebers, Joseph Pulitzer von der New York World, freigelassen worden war, von der abscheulichen, unmenschlichen Behandlung berichtete, der man sie dort unterzogen hatte. Sie schlug auch Phileas Foggs erdichteten Rekord seiner Reise um die Erde in achtzig Tagen (in Jules Vernes gleichnamigem Roman), indem sie die Strecke in zweiundsiebzig Tagen bewältigte. Aber Frauen schlossen sich auch zu starken Massenbewegungen zusammen, die eine Änderung des Status quo verlangten, so etwa die National American Woman Suffrage Association und die Woman’s Christian Temperance Union (in der Cranes Mutter aktives Mitglied war und in drei verschiedenen Ortsgruppen als Präsidentin fungierte). 1919 erreichte die Union schließlich ihr Ziel mit der Verabschiedung des 18. Verfassungszusatzes, der die Prohibition unseligen Angedenkens einleitete, aber nur ein Jahr später war, nach kleinen Fortschritten auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene, das Frauenwahlrecht im ganzen Land durchgesetzt, und die jahrhundertelang fest verschlossene Tür begann sich endlich zu öffnen.

Staatliche Universitäten, Colleges für Frauen, Colleges für Schwarze, von verschiedenen Religionsgemeinschaften gegründete private Colleges, dazu der Bau von Bibliotheken, Museen, Konzertsälen und Opernhäusern, das alles hatte tiefgreifende Auswirkungen auf das intellektuelle und kulturelle Leben Amerikas, so sehr, dass erstmals auch schwarze und jüdische Bürger zu gesellschaftlicher Geltung gelangten: Paul Laurence Dunbar, Booker T. Washington, W.E. B. Du Bois, Louis Brandeis, Abraham Cahan und Emma Lazarus, um nur eine Handvoll der Bekanntesten zu nennen. Allein in New York kamen zu Cranes Lebzeiten hinzu: das Metropolitan Museum of Art, die Brooklyn Bridge, Grand Central Station, die Freiheitsstatue, Carnegie Hall, das American Museum of Natural History, der Campus der Columbia University und, von Frederick Law Olmstead wunderbar erdacht, der Central Park in Manhattan und der Prospect Park in Brooklyn. All das besitzen wir noch heute, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

Und dann war da der Westen, der den in New Jersey geborenen Crane sein Leben lang lockte. In seiner Kindheit verschlang er die Groschenromane, die aus den Kämpfern im rauen Neuland Legenden machten, jenen Männern, die im 20. Jahrhundert in Hunderten von Filmen zu Helden wurden, Wild Bill Hickok, Buffalo Bill Cody, Wyatt Earp, Jesse James und der minderjährige Mörder Billy the Kid, der 1881 von Pat Garrett erschossen wurde und bis heute als einer der Unsterblichen Amerikas auf seinem Thron sitzt. Aber der Westen war mehr als ein Landstrich, er war eine Idee, ein Mythos, ein Traumgefilde, das ausschließlich der Neuen Welt gehörte, ohne jede Verbindung zur europäischen Vergangenheit, das Land der Zukunft. 1895, nachdem er zuvor nie über New Jersey, New York und Pennsylvania hinausgekommen war, reiste Crane als Reporter für das Bacheller-Zeitungssyndikat nach Westen und verliebte sich in dieses Land. Es war sein einziger Besuch dort, aber die Erinnerung begleitete ihn bis zum Ende und inspirierte einige seiner raffiniertesten und denkwürdigsten Erzählungen, «A Man and Some Others», «The Bride Comes to Yellow Sky» und «The Blue Hotel».

Von den amerikanischen Romanschriftstellern, die zeitgleich mit Crane von den frühen Neunzigern bis zur Jahrhundertwende schrieben, werden heute nur noch wenige gelesen. Oben auf der Liste stehen Mark Twain, William Dean Howells und Henry James, die in diesen Jahren sehr erfolgreich waren und alle mit Crane Bekanntschaft machten, ebenso wie Ambrose Bierce, Kate Chopin, Frank Norris und Sarah Orne Jewett. Was die Malerei betrifft, so lebten einige der führenden Vertreter der Hudson River School noch (Thomas Moran, Frederic Edwin Church und Albert Bierstadt), inzwischen aber hatte sich eine jüngere Generation etabliert, und da Crane seine New Yorker Jahre größtenteils unter Künstlern, nicht unter Schriftstellern, verbrachte, und da er beim Betrachten von Kunstwerken fast ebenso viel über das Schreiben lernte wie beim Lesen von Büchern, dürfen die Namen dieser Künstler nicht unerwähnt bleiben: John Singer Sargent, Winslow Homer, Thomas Eakins, James Whistler sowie Ralph Albert Blakelock und Albert Pinkham Ryder, die zwei exzentrischen, aber durchsetzungsstarken Neuerer, die über das Goldene Zeitalter hinaus bis ins neue Jahrhundert wirkten.

Nicht zuletzt war dies auch die Zeit, in der Samuel S. McClure das erste internationale Nachrichtensyndikat gründete, die Geburtsstunde der großen auflagenstarken Zeitungen. Möglich wurde dies dank der soeben erfundenen Linotype oder Zeilensetzmaschine, die sechsmal schneller arbeitete als ein Setzer, sodass Tageszeitungen von einem Umfang gedruckt werden konnten, der die maximal acht Seiten der Vergangenheit bei weitem übertraf. In Manhattan übernahm Joseph Pulitzer die New York World, William Randolph Hearst das New York Journal, und damit begann der harte Konkurrenzkampf des Sensationsjournalismus, der den Umgang der Amerikaner mit ihrem eigenen Universum für immer veränderte. Nachdem Crane 1891/92 in die Stadt gezogen war, arbeitete er bis zu seinem Tod für die drei Genannten in ständigem Wechsel, schlug sich mit dem wenigen durch, das sie ihm zahlten, weil er seinen Lebensunterhalt unbedingt mit Schreiben verdienen wollte und sich weigerte, an irgendeine andere Arbeit auch nur zu denken. Eine noble Haltung, mag sein, aber bis auf kurze Phasen relativer Ruhe ging es ihm damit bis zum Ende ziemlich schlecht.

Die Linotype hat’s gegeben, die Linotype hat’s genommen.

4

Seine Eltern nannten ihn Stephen nach zwei seiner Vorfahren, einem Stephen Crane, der im 17. Jahrhundert einer der Gründerväter von Elizabethtown war, der frühesten englischen Siedlung in dem Gebiet, das später zur Kolonie New Jersey wurde (andere Cranes im 17. Jahrhundert, die nicht Stephen hießen, waren an der Gründung von Newark und Montclair beteiligt, Letzteres hieß ursprünglich Cranetown), und einem Stephen Crane im 18. Jahrhundert, Unterstützer der Revolution, Parlamentssprecher der New Jersey Assembly und Delegierter am Continental Congress in Philadelphia, wo er die Unabhängigkeitserklärung mit unterzeichnet hätte, wäre er nicht in dringenden politischen Angelegenheiten nach New Jersey zurückgerufen worden. 1780 wurde er von den Briten gefangen genommen und bajonettiert; wenig später wurde auch sein Sohn Jonathan von den Briten gefangen genommen und hingerichtet, weil er sich weigerte, ihnen den Standort von Washingtons Armee zu verraten. Ein weiterer Sohn jenes zweiten Stephen Crane, William, tat sich in der Revolution als Kommandant eines Regiments von New Jersey hervor und wurde zum Generalmajor ernannt, und dessen Sohn, ebenfalls William, diente im Krieg von 1812 als Marinekommandeur. Wie Crane selbst 1896 einem wissbegierigen Reporter vom Newark Sunday Call schrieb: «Die Familie wurzelt tief im Boden von Jersey (seit der Gründung von Newark), und ich bin so sehr ein Jerseymann, wie man sich nur vorstellen kann.»

Egal wie weit er sich vom Boden in Jersey entfernt haben mag, seine Familie war ihm äußerst wichtig, nicht nur die Heldengestalten aus der Crane-Vergangenheit (die ihn mit Stolz erfüllten), sondern auch die Cranes der Gegenwart, denn mochte er sich auch gegen den Methodismus seiner Eltern wenden, so wandte er sich doch nicht gegen seine Eltern selbst und hielt sein Leben lang engen Kontakt zu zweien seiner Brüder – Edmund und William, die beiden, die auf ihn aufgepasst hatten, als er klein war. Als der Journalist John Northern Hilliard ihn Anfang 1896 um biographische Informationen bittet, beginnt Crane seine halb ernst gemeinte, halb scherzhafte Antwort mit dem Geständnis, er sei «nicht besonders versiert darin, über sich selbst zu reden», und führt im dritten Absatz kurz und bündig zu seinen Eltern aus: «Mütterlicherseits wurde jeder, sobald er laufen konnte, methodistischer Geistlicher – von der guten alten wortgewandten, wohlbeleibten, stets ermahnenden Sorte. Mein Onkel Jesse T. Peck, D. D., L.L. D., war Bischof der methodistischen Kirche. Mein Vater war ebenfalls Geistlicher dieser Kirche, Verfasser zahlreicher theologischer Werke, Herausgeber verschiedener kirchlicher Zeitschriften. Er hat in Princeton studiert. Ein großartiger, feiner, schlichter Mann.»

Jonathan Townley Crane (Mit freundlicher Genehmigung der Syracuse University)

Jonathan Townley Crane, geboren 1819, im selben Jahr wie Melville und Whitman, war wie sein Sohn das jüngste von zahlreichen Geschwistern. Mit dreizehn verwaist und als Heranwachsender zu einem Newarker Koffermacher in die Lehre geschickt, konvertierte er mit achtzehn zum Methodismus und wurde schließlich zum Studium in Princeton (damals noch College of New Jersey) zugelassen, wo er großartige Leistungen zeigte, für einen Aufsatz ausgezeichnet und zum Präsidenten einer der beiden literarischen Gesellschaften auf dem Campus ernannt wurde. Nach der Graduierung schloss er sich der methodistischen Geistlichkeit an und verbrachte den Rest seines Lebens in dieser Kirche, wirkte dort im Lauf der Jahrzehnte sowohl in administrativen als auch in pastoralen Funktionen, wobei seine längsten Amtszeiten die neun Jahre nach seiner Verehelichung mit Cranes Mutter in Pennington, New Jersey, waren, wo er das Amt des Rektors des Pennington Seminary innehatte, einer von Methodisten geführten Schule für Jungen und Mädchen, und die acht Jahre als vorsitzender Ältester des Bezirks Newark. Ansonsten wurden ihm immer wieder auf ein oder zwei Jahre begrenzte Posten im Norden New Jerseys und im Süden des Bundesstaates New York zugewiesen, was ihn nicht daran hinderte, vierzehn Kinder zu zeugen (von denen fünf bereits im Kleinkind- und Säuglingsalter starben), zahllose Artikel für die Methodist Quarterly Review und den Christian Advocate zu verfassen und mehrere Bücher zu veröffentlichen, darunter An Essay on Dancing (1849), Popular Amusements (1869) und Arts of Intoxication: The Aim and the Results (1879), worin er nicht nur den leichtfertigen Zeitvertreib des Tanzens kritisierte (wie der erste Titel nahelegt), sondern auch andere Aktivitäten wie das Lesen minderwertiger Kitschromane, Kartenspielen und Trinken. Es dürfte kaum überraschen, dass sein jüngster Sohn es nicht unterließ, den beiden letztgenannten Lastern zu frönen, auch wenn er selten, falls überhaupt je, übermäßig trank, sondern einfach nur so viel oder so wenig, wie er Lust hatte, und eine lebenslange Leidenschaft für das Pokerspiel entwickelte, so heftig, dass man ihn ohne weiteres als Pokerfanatiker bezeichnen darf. Jedoch, ungeachtet seiner ständigen Ermahnungen war Cranes Vater weithin als warmherziger, humorvoller Mann mit starkem gesellschaftlichem Verantwortungsbewusstsein bekannt. Er war für das Frauenwahlrecht, er hatte sich lange vor Ausbruch des Bürgerkriegs öffentlich gegen die Sklaverei geäußert, und gegen Ende seines Lebens, nachdem die Familie 1878 nach Port Jervis gezogen war, hatten er und Cranes Mutter dort zwei Schulen zur Förderung der schwarzen Bevölkerung gegründet, die Mission Sunday School für Männer und die Drew Mission and Industrial School für Frauen und Kinder. Sein Tod 1880 war der erste empfindliche Schlag im Leben seines Sohnes. Reverend Crane weilte erst seit zwei Jahren in der Stadt, aber zu seinem Begräbnis kamen vierzehnhundert Menschen – mehr als doppelt so viel wie die Einwohnerzahl seiner Gemeinde. Soweit man weiß, war es die größte Beerdigung in der Geschichte von Port Jervis.

Cranes Mutter spielt eine größere Rolle in der Geschichte, wenn auch nur deshalb, weil sie ihren Mann um fast zwölf Jahre überlebte; auch sie starb, als Crane noch jung war, aber nicht gar so jung, nicht acht, sondern zwanzig Jahre alt, und als ihren letzten, unerwarteten Sprössling, ihr kleines Wunderbaby nach dreizehn vorangegangenen Schwangerschaften, diesen Nachzügler, acht Jahre nach ihrem vermeintlich letzten Kind, verhätschelte sie ihn auf eine Weise, wie sein Vater es nie getan hatte – oder hätte tun können. Mary Helen Peck Crane (1827–1891) wuchs in Wilkes-Barre, Pennsylvania, als drittes Kind und einziges Mädchen von insgesamt fünf Kindern der Familie Peck auf. Ihr Vater, Reverend George Peck, begann als methodistischer Wanderprediger in der Provinz, diente sich in der Kirche nach oben und wurde zu einem ihrer bedeutendsten Vertreter, Autor mehrerer Bücher und Herausgeber der Methodist Quarterly Review und des Christian Advocate, Publikationen, zu denen auch Cranes Vater beitrug. Die vier Brüder ihres Vaters waren allesamt methodistische Geistliche, einer davon der Bischof, auf den ihr Sohn sich in seinem Brief von 1896 bezieht, Jesse T. Peck, auch so ein Vielschreiber dieser Sippe und Mitgründer der Syracuse University, und zwei ihrer Brüder wurden schließlich ebenfalls Methodistenpfarrer. Die gesamte Familie Peck war in die Wasser der Religion getaucht – auch Cranes Mutter –, umso bemerkenswerter, dass nicht einer der sieben Crane-Jungen je in Versuchung geriet, dem Vater, dem Großvater oder den Onkeln in den methodistischen Teich zu folgen.

Als überzeugter Verfechter gleicher Rechte für Frauen hatte ihr Vater nichts dagegen, dass sie eine ordentliche Ausbildung machte, und so ging sie als Teenager von Pennsylvania nach Brooklyn ans Young Ladies Institute und von dort ans Rutgers Female Institute, das erste College für Frauen in New York City, wo sie 1847 ihren Abschluss erwarb. Im Jahr darauf, mit einundzwanzig, heiratete sie Cranes Vater und stand die zweiunddreißig Jahre dieser soliden, wenn auch ziemlich ruhelosen Ehe tapfer durch (so viele Häuser bezogen und verlassen, so viele Kinder geboren und gestorben); ihren Mann sprach sie zärtlich mit «Jounty» an, nicht mit «Mr. Crane», wie es zu der Zeit für eine Ehefrau üblich gewesen wäre, und trotz ihrer gewaltigen Verantwortung für die Familie engagierte sie sich zunehmend auch außerhalb des Hauses, und als sie Stephen Crane zur Welt brachte, stand sie als Autorin wie als Sprecherin an der Spitze etlicher sozialer und religiöser Bewegungen, reiste im Land umher, um die Massen zur Mäßigung im Trinken aufzufordern, und betätigte sich in ihrer Freizeit (man fragt sich: Welche Freizeit?) als Malerin, stellte vielbewunderte Wachsfiguren her und schrieb die eine oder andere Kurzgeschichte. 1885-86 erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Sechs Monate lang war sie außer Gefecht, dann nahm sie ihre früheren Aktivitäten mit voller Kraft wieder auf und schrieb allein in einem einzigen Jahr fünfundzwanzig Kolumnen für eine Lokalzeitung und über hundert Berichte für Associated Press und diverse New Yorker Publikationen.

Helen R. Crane, die älteste Tochter von Cranes Bruder Wilbur, die Journalistin wurde und ihren Onkel in ihrer Kindheit gut gekannt hatte, war vermutlich die Erste, die sich über Cranes Verhältnis zu seiner Mutter äußerte. In einem 1934 im American Mercury erschienenen Artikel schrieb sie: «Die Erinnerung an seine Mutter war ihm teuer, teurer als alles andere, und mag er ihre Eigenarten auch nie in Frage gestellt haben, wenn er sich außerhalb des häuslichen Kreises befand, so wunderte es ihn doch sehr, dass eine so gebildete Frau, eine Akademikerin, die regelmäßig für Zeitschriften und Zeitungen schrieb, sich dermaßen auf die ‹nichtssagende, sinnlose Psalmensingerei› einlassen konnte, die in jenen Tagen ‹für Gottesdienst gehalten wurde›.»

Mary Helen Peck Crane (Mit freundlicher Genehmigung der Syracuse University)

Wie auch immer, falls Crane sonst nichts von seinen Eltern gelernt haben sollte, eins lehrte ihn ihr Beispiel, dass nämlich die Welt ein Ort war, wo mündige Erwachsene am Schreibtisch saßen und schrieben, dass Schreiben eine wichtige, wenn nicht gar lebenswichtige Tätigkeit war. Oder, wie seine Nichte es ausdrückte: «Als Crane floss von Geburt an Druckerschwärze in seinen Adern.»

Es ist nicht überliefert, wie Crane auf den Tod seiner Eltern reagierte, auch gibt es kein gedrucktes Wort zu seiner Reaktion auf den Tod seiner Schwester Agnes und den Tod seines Bruders Luther. Was seine überlebenden Geschwister betrifft, so hatte er mit seiner Schwester Mary Helen («Nellie»), 1849 geboren und Malerin, und seinem Bruder George, 1850 geboren und Angestellter des Jersey City Post Office, nicht allzu viel zu tun, während die anderen vier für ihn zeitlebens eine wichtige Rolle spielten, und es lohnt sich, ihre Geschichten hier zu erzählen, weil ihre unterschiedlichen Schicksale das ganze Spektrum von bürgerlicher Ehrbarkeit bis zu schrulliger Kauzigkeit umfassen, von materiellem Erfolg bis zu grausamem Scheitern, von nüchterner Rechtschaffenheit bis zu Alkoholismus, von geistiger Gesundheit bis zur Einweisung ins Irrenhaus.

Wilbur (geboren 1859) studierte fünf Jahre lang Medizin am Columbia College of Physicians and Surgeons und flog von der Schule, nachdem er in der Anatomieprüfung durchgefallen und seine Dissertation über Typhus zweimal abgelehnt worden war. Arzt konnte er nicht mehr werden, also ging er nach Asbury Park zurück und arbeitete ein paar Jahre in der Nachrichtenagentur seines Bruders Townley. 1888 heiratete er zum Entsetzen seiner Familie ein Dienstmädchen seines Bruders William, später zog er mit seiner Frau und vier Kindern nach Binghamton, New York. Was für Geschäfte er dort trieb, lassen die Quellen offen, aber gerade als es bergauf zu gehen begann, wurde er von seiner Frau mitsamt den gemeinsamen Kindern verlassen. Als gebrochener Mann zog er in eine Kleinstadt in Georgia und starb 1918 an der Spanischen Grippe.

Noch trostloser ist die Geschichte des exzentrischen und talentierten Townley (ausgesprochen «Toonley»), des Mannes, der dem jungen Crane seinen ersten Job als Schreiber gegeben hatte. Geboren 1853, war er der Wilde in der Familie, ein aufsässiger, rebellischer junger Mann, der oft heftig mit seinem Vater aneinandergeriet, als Erwachsener dann aber zu einem erstklassigen Journalisten wurde. Sekretär des New York Press Club, gefragter Vortragsredner, Historiograph der Baseball National League, entschiedener Fürsprecher der Frauenrechte und Gründer einer eigenen Nachrichtenagentur, recherchierte er seine Artikel mit solcher Beharrlichkeit, dass man ihm den Spitznamen «Shore Fiend», Küsten-Dämon, gab. Er war ein unverbesserlicher Komiker, ein kauziger Typ, der ständig spöttelte und schräge Witze machte und bei der Arbeit grundsätzlich kein Hemd trug, sondern bloß ein langes Sakko und einen speckigen Schlapphut. Bei aller Schrulligkeit war er ein vielbewunderter Mann, der führende Zeitungsmann seiner Zeit, besaß aber auch ein Talent dafür, immer wieder in schreckliches Unglück zu geraten. Er und seine Frau verloren zwei Kinder, und 1883, nach nur fünfjähriger Ehe, starb seine Frau mit nicht einmal dreißig Jahren an einer Nierenentzündung. 1890 heiratete er erneut, und nach einem halben Jahr erlitt seine zweite Frau einen Zusammenbruch und kam in die Psychiatrie von Trenton, wo sie zwei Monate später starb. Eine dritte Ehe (1893) wurde geschieden. Um die Jahrhundertwende war er schwer alkoholabhängig und neigte zu Gewaltausbrüchen. Er war, wie ein Freund es nannte, zu einem «physischen Wrack» geworden und nicht mehr arbeitsfähig. Nachdem er zu Wilbur und dessen Frau (eben der Frau, von der Wilbur wenig später verlassen wurde) im Bundesstaat New York gezogen war, wurde er zweimal in das Binghamtoner Asyl für chronisch Geisteskranke eingeliefert – wo er 1908 völlig verarmt starb.

William, nur ein Jahr jünger als Townley, wurde zu einem ehrbaren Bürger mit abgeschlossenem Jurastudium und gutem Geschäftssinn, in ganz Port Jervis bekannt als Judge Crane (nachdem er ein Jahr als Sonderrichter im Orange County absolviert hatte), seit dem Tod des Reverend 1880 respektiertes Oberhaupt der Familie und quasi zweiter Vater für seinen jüngsten Bruder, mit allem Guten und Schlechten, was das mit sich bringt. Während seiner Jahre in New York City ließ Crane sich gelegentlich bei William und dessen Familie in Port Jervis blicken, bekam auch, wenn er völlig abgebrannt war, manchmal ein wenig Geld zugesteckt, aber das einzige Geschenk Williams, das ihm wirklich etwas bedeutete, war der freie Zutritt zum Hartwood Club, einem 1500 Hektar großen Naturpark knapp zwanzig Kilometer nördlich der Stadt, den William und eine Gruppe vom Mitstreitern seit Ende der 1880er nach und nach zusammengekauft und 1893 hatten eintragen lassen, denn sosehr Cranes frühe Schriften in den Straßen New Yorks verwurzelt lagen, im Grunde seines Herzens war er doch ein Junge vom Land und empfand es als Segen, sich in diese Wildnis zurückziehen zu können. Und bis ans Ende seines Lebens – auch nachdem er sich in England niedergelassen hatte – benutzte er Edmunds Haus in Hartwood, New York, als seine ständige Anschrift.

Von allen Brüdern war Edmund ihm am nächsten, derselbe Edmund, den Crane nach dem Tod der Mutter 1891 zu seinem gesetzlichen Vormund bestimmte (er musste noch ein Jahr warten, ehe er offiziell erwachsen war), derselbe Edmund, in dessen Haus in Lake View, New Jersey, Crane während seiner frühen Phase in der Umgebung von New York häufig zu Gast war und wo er im Sommer 1893 einen Großteil der ersten Fassung von The Red Badge of Courage schrieb, und als Edmund im Frühjahr 1894 seinen Bürojob in New York aufgab, um die Verwaltung des Hartwood Club zu übernehmen (wo er einem Brief Cranes an seinen Freund Willis Brooks Hawkins zufolge als «Postmeister, Friedensrichter, Eisverkäufer, Farmer, Mühlenbauer, Sandsteinbruch- und Waldarbeiter, Bahnhofsvorsteher für die P.J. M. und N. Y.R. R. und vieles andere tätig war, das ich vergessen habe»), ging es Crane bei seinen weiteren Besuchen im Norden ebenso sehr darum, Edmund zu sehen, wie darum, durch die Wälder zu reiten. Wer ihre Verbundenheit verstehen will, muss nur den kurzen Brief lesen, den Crane wenige Monate vor seinem Tod aus England an seinen neugeborenen Neffen schrieb – nachdem er erfahren hatte, dass Edmunds Frau Mary Zwillinge zur Welt gebracht, und sie einen der beiden auf den Namen Stephen getauft hatten.

Mein lieber Stephen: Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass ich Deine Ankunft freudig begrüßt habe. Du und ich, wir werden uns gemeinsam mit diesem Namen durchschlagen und das Beste daraus machen. Bis dahin sei daran erinnert, dass Du nach Kräften so erwachsen werden solltest wie Dein guter, freundlicher, liebenswerter Vater, und bitte, verfalle nicht in die Laster und Fehler

Deines Dich liebenden Onkels

Stephen Crane.

5

Alles, was über Cranes Kindheit bekannt ist, stammt von ein paar Fotos und einigen Augenzeugenberichten, die Verwandte und Freunde aufgeschrieben haben. Fast alle diese Texte wurden Jahre nach den geschilderten Ereignissen verfasst, und die Erinnerung kann nun einmal täuschen oder die Dinge verzerren. Wann immer jemand Crane direkt zitiert, müssen wir dies mit Vorsicht lesen; schließlich hätten die meisten von uns schon Schwierigkeiten, wörtlich wiederzugeben, was jemand vor fünf Minuten gesagt hat, erst recht vor fünf oder gar dreißig Jahren. Und das gilt nicht nur für Cranes Kindheit, sondern auch für alle anderen Phasen seines Lebens, denn viele, die ihn gekannt hatten, haben ihre Erinnerungen erst nach seinem Tod zu Papier gebracht, und es ist zweifelhaft, dass die Worte, die sie ihm zuschreiben, tatsächlich seine eigenen waren. Dennoch, da Crane nie Tagebuch geführt hat und da in seinen veröffentlichten Briefen nur sehr wenig Persönliches über ihn zu lesen ist, sind wir, so fehlerhaft ihre Reminiszenzen sein mögen, auf diese Zeugen angewiesen. Aber ob fehlerhaft oder nicht, wertvoll sind diese Erinnerungen allemal, denn letztlich haben sie uns viel zu erzählen.

Das erste Foto zeigt ihn als Kleinkind von etwa anderthalb Jahren, das ruhig in die Kamera blickt. Ein blonder Lockenkopf mit vollen Lippen und etwas überdurchschnittlich großen Ohren, oder wie sein Bruder Wilbur später schrieb: «ein schönes Baby».

Stephen Crane, um 1873 (Mit freundlicher Genehmigung der Syracuse University)

Das zweite Foto ist schon interessanter: Crane, etwa sieben Jahre alt, steht an einem Kiesstrand irgendwo an der Küste von New Jersey, man sieht ihn fast ganz, nur die Füße sind abgeschnitten, er trägt einen weißen Matrosenanzug mit kurzen Hosen, die ihm zwei, drei Zentimeter über die Knie reichen, und einen breiten, weit nach hinten geschobenen Strohhut, sein linker Arm liegt auf dem Rand eines Kahns, die linke Hand verschwindet darin, sein rechter Arm hängt kerzengerade herab, und seine Miene lässt sich entweder als mürrisch oder als Blinzeln im grellen Sonnenlicht deuten, aber in jedem Fall hat sie etwas Gereiztes, als ärgere es ihn, für das Foto stillstehen zu müssen, und man sieht ihm an, in seinem Kopf geht alles Mögliche vor, dies ist ein Junge, der bereits ein ungewöhnlich reiches Innenleben entwickelt hat.

Crane an der Küste von Jersey, um 1879 (Mit freundlicher Genehmigung der University of Virginia)

Alle, innerhalb und außerhalb der Familie, nannten ihn «Stevie», ein liebevolles Diminutiv, das ihn bis ins Erwachsenenalter begleitete; als er sprechen lernte, kam er mit dem s nicht zurecht und nannte sich selbst «Tevie». In einer Reihe rasch hingeworfener Notizen für eine mögliche Biographie, die nie geschrieben wurde, bemerkte Cora Taylor, die Gefährtin seiner letzten Lebensjahre (bekannt als Mrs. Crane): «… als ihn mit 2 ½ einmal jemand nach seinem Namen fragte, sagte er mit leuchtenden Augen: ‹Heiße Pe-pop-ty›, niemand wusste, wo er das herhatte, offenbar selbst ausgedacht …»

Er scheint ein kränklicher, aber auch robuster Junge gewesen zu sein, ein lebhaftes Kind, das aufgrund häufiger, manchmal ernster Erkrankungen viele Schultage versäumte, bis sein Zustand sich im Alter von acht Jahren stabilisierte, und wenn er bei guter Gesundheit war, stürzte er sich eifrig in sportliche Wettkämpfe und beeindruckte alle mit seiner Furchtlosigkeit. Edmund berichtet, er und seine Brüder seien, als die Familie von Newark nach Bloomington gezogen war, regelmäßig im Raritan River schwimmen gegangen, nicht nur die großen Jungen, sondern auch der winzige Crane.

Vom Südufer erstreckte sich eine flache Sandbank in den Fluss, am Ufer noch ganz seicht, zur Flussmitte hin immer tiefer. Stevie watete in dem seichten Wasser herum, einer von uns passte auf. Brusthoch im Wasser watend, breitete er die Arme aus, wedelte mit den Händen und brachte etwas zustande, das er «fimmen» nannte. Dann «famm» er auf Wee-Wee (Willie) zu, meinen nächstälteren Bruder, der weiter draußen im Fluss war. Das Wasser stieg immer höher, bis an sein Kinn, an seinen Mund, an seine Augen, aber er machte weiter, bis ich ihn, gerade als sein blonder Schopf unterging, keuchend, aber unversehrt heraushob. Wir Jungen waren natürlich begeistert von seinem Schneid.

Elizabeth Crane, die Frau von Cranes Bruder George, erinnert sich an ihren kleinen Schwager als «temperamentvolles Kerlchen … mit einer Leidenschaft für Sport im Freien und für alles, was mit dem Militär zu tun hatte … Schon als kleines Kind spielte er gern Soldat. Die meisten seiner Spielsachen waren Spielzeugsoldaten und -gewehre und Ähnliches … Später kamen Baseball und Football hinzu. In Asbury trat er einer Baseballmannschaft bei und wurde, obwohl der kleinste und jüngste Spieler, zu einer Hauptstütze des Clubs.»

In Coras hingehuschten Notizen findet sich auch dies: «… als Kleinkind am liebsten mit Knöpfen gespielt, die er Soldaten nannte & zu Armeen angeordnet herummanövrierte – die Knöpfe nach dem Spielen nie aufgesammelt.»

Edmund führt das weiter aus: «Drinnen spielte er allein für sich Krieg mit Knöpfen verschiedener Farbe, die für ihn Soldaten gegnerischer Armeen waren. Die ließ er auf dem Fußboden aufmarschieren, nach einem System, das mir unverständlich blieb. Damit konnte er sich, besonders an Regentagen, stundenlang beschäftigen.»

Edmund schreibt auch, Crane habe in Asbury Park «ein dressiertes Pony» besessen, «das er abgöttisch liebte und das seine Kunststücke, die es früher vermutlich in einem Zirkus gelernt hatte, zu Stevies Verblüffung und Entzücken immer wieder vorführte. Das Pony hatte ein großes B auf die Schulter gebrannt, und wir nahmen an, dass es einst dem verstorbenen P. T. Barnum gehört hatte.»

Wer weiß, was im Kopf des Kleinen vorging? Edmund versichert, er sei «aufgeweckt und sehr gelehrig» gewesen, und erklärt dazu, kurz nachdem Crane sprechen gelernt habe, «amüsierte ich mich damit, ihn fünf- und sechssilbige Wörter aussprechen zu lassen. Nach ein paar komischen Fehlversuchen gelang ihm die richtige Aussprache, indem er ein Wort in seine Einzelteile zerlegte und mir Silbe für Silbe nachsprach.» Im nächsten Absatz seiner Aufzeichnungen erzählt er eine Familienanekdote, die klarmacht, warum der kleine Bruder für ihn und seine Geschwister zum «Schoßkind und Unterhalter» wurde.

Als er ungefähr drei Jahre alt war, arbeitete einer seiner älteren Brüder, Townley, als Nachwuchsreporter für eine Newarker Tageszeitung … und wenn er seine Artikel zu Hause schrieb, fragte er seine Mutter oft nach der richtigen Schreibweise eines Wortes. Eines Tages malte Stevie mit einem Bleistift seltsame Zeichen aufs Papier und fragte seine Mutter exakt so wie jemand, der aus Gedankentiefen an die Oberfläche kommt: «Ma, wie schreibt man ‹O›?», was zufällig der Buchstabe war, mit dem er gerade Bekanntschaft gemacht hatte.

Alle beteuern, dass Crane mit vier Jahren fließend lesen konnte.

Darüber, wie er sich als Kind im Alltag benahm, ist nichts bekannt, ob er hilfsbereit oder verstockt oder eine Mischung von beidem war, aber aus den wenigen Zeugnissen, die wir besitzen, kann man schließen, dass er selbständiger war als die meisten Kinder, ein unterhaltsames, aber kein gar so lammfrommes Schoßkind mit einem Charakter, der eher zu Eigensinn als zu stummer Unterwerfung neigte und hin und wieder in ausgesprochenen Übermut ausartete. Mit sieben schoss er, beflügelt von einem Bild, das bei ihnen im Haus hing (eine Entenjagd, gemalt von seiner Mutter), einen Pfeil in die Leinwand. Ob er dafür bestraft wurde oder nicht, ist nicht überliefert.

Religion war natürlich von seiner Geburt an ständig um ihn herum, die konkurrierenden Strömungen des Methodismus – mütterlicherseits (streng) und väterlicherseits (etwas weniger streng) –, was bedeutete, dass er Woche für Woche die Sonntagsschule besuchen musste, und wenn man auch nicht weiß, wie oft oder regelmäßig er am Gottesdienst teilgenommen und den vielbewunderten Predigten seines Vaters gelauscht hat, steht doch außer Frage, dass die methodistischen Gebete und Kirchenlieder, die er seine ganze Kindheit hindurch gehört haben muss, in die tiefsten und innersten Winkel seines Gedächtnisses eingesunken sind. Mit neun oder zehn Jahren bekam er ein Buch geschenkt, What Must I Do to Be Saved?, geschrieben 1858 von seinem Großonkel Bishop Jesse T. Peck, und man darf annehmen, dass der Junge es gelesen oder wenigstens angesehen und teilweise in sich aufgenommen hat. Crane rebellierte früh genug gegen die Engstirnigkeit der Lehren seines Großonkels, aber das Buch behielt er bis ans Ende seines Lebens.[*]

Der Eigensinn, der sich zu einem seiner bleibenden Wesenszüge entwickeln sollte, gerann bald zu etwas, das man ein Lebensprinzipnennen könnte. Wilbur zufolge war «Stephens ausgeprägtester Zug seine absolute Wahrhaftigkeit. Er war oft in der Klemme, aber kein Gedanke an die Konsequenzen konnte ihn dazu bringen, sich mit Lügen herauszuwinden, und wer ihm vorwarf, ein Lügner zu sein, wurde für Stephen für alle Zeiten zur persona non grata.» Oder wie Helen R. Crane in ihrem Artikel für den American Mercury über eine ältere Version ihres Onkels schrieb: «Ich kann mir keine Situation vorstellen, in der er gelogen hätte. Er war einer dieser Menschen, denen es eine Wonne gewesen wäre, bei Sonnenaufgang erschossen zu werden oder etwas in dieser Art.»

Ein ehrlicher, aber nicht immer braver oder gehorsamer Junge, und tief im Innern seines hin- und hergerissenen Methodistenherzens lauerte ein stiller Rebell, der sich von Zeit zu Zeit in einen verwegenen Draufgänger verwandelte. Post Wheeler berichtet von einer solchen Episode, und sie zählt zu den bedeutsamsten Geschichten, die aus Cranes Kindheit überliefert sind. Es geschah im Sommer 1878, Wheeler war fast neun, Crane war sechseinhalb. Anfang der 1890er, über ein Dutzend Jahre später, kreuzten sich ihre Wege erneut, als sie beide in Asbury Park für New Yorker Zeitungen arbeiteten, und aus dem Wiedersehen entwickelte sich eine feste, dauerhafte Freundschaft. Schließlich gab Wheeler seinen Journalistenberuf für eine erfolgreiche Diplomatenkarriere auf, aber die Erinnerung an seine erste Begegnung mit Crane verließ ihn nie, und obwohl er die Geschichte erst als alter Mann in den 1950er Jahren niederschrieb, wirkt sie immer noch wahr. Vielleicht nicht der exakte Wortlaut, aber der Kern – und das Schockierende daran.

Anfang Juli 1878 verließen Crane und seine Mutter New Jersey, um ein paar Tage in Wyoming Valley, Pennsylvania, zu verbringen (nicht weit von ihrem Geburtsort); sie wollten sich dort einen Vortrag von Frances E. Willard anhören, der Präsidentin der Woman’s Christian Temperance Union, und dem zum hundertsten Jahrestag nachgestellten Massaker von Wyoming Valley beiwohnen, einer Schlacht des Revolutionskriegs, in deren Verlauf örtliche Siedler von einem Verbund aus Briten und Indianern angegriffen und ermordet wurden. Und dort begegnete er Wheeler, dessen familiäre Umstände den seinen bemerkenswert ähnlich waren: der Vater Methodistenpfarrer, die Mutter aktiv in der Temperenzbewegung. Wheelers Mutter hatte eine Verabredung mit Mrs. Crane in dem Hotel, wo er und seine Eltern übernachtet hatten, und die Frau aus New Jersey brachte ihren Jungen mit.

Das war meine erste Begegnung mit Stevie Crane. Er war ein blasser, blonder, hungrig aussehender Junge, etwas jünger als ich, und wir schlossen eine Freundschaft, die, als wir in den Zwanzigern waren, erneuert werden sollte.

Am nächsten Tag fuhren Mrs. Crane und Stevie mit zu uns nach Hause und blieben für zwei Tage als Gäste meiner Eltern. Das Eisenbahnabteil war voll, und wir Jungen durften im «Raucher» fahren, wo Stevie sich in aller Seelenruhe (aber nicht ohne verstohlen nach dem Abteil zu schielen, in dem seine Mutter saß) eine Sweet Corporal anzündete und auch mir eine anbot … Ich akzeptierte den Glimmstängel, und zu meiner Überraschung wurde mir nicht schlecht davon.

Der folgende Tag … war ein ganz besonderer für uns, mit Popcorn, Luftballons, Rattangerten und Zuckerstangen und fliegenden Händlern, die allerlei Krimskrams verkauften …

Aber das Beste sollte noch kommen. Am Ausgang hatte ein dicker Pennsylvania-Holländer ein Bierfass auf einer umgedrehten Kiste aufgestellt, daneben standen Glaskrüge und ein Schild mit der Aufschrift: Bier 10 Cents. Als Stevie zielstrebig darauf zuging und einen Zehner aus der Tasche kramte, blieb mir fast das Herz stehen. «Was hast du vor?», fragte ich mit belegter Stimme. Stevie antwortete nicht. Er legte den Zehner auf die Kiste und sagte: «Geben Sie mir eins.»

Ich sehe das runde Gesicht des Mannes noch vor mir, wie er sich über das Fass beugte und Stevies zwergenhafte Gestalt musterte. «He?», sagte er. «Ich sagte, geben Sie mir ein Bier», sagte Stevie.

Die Finger des Mannes hatten sich um die beredte Münze geschlossen. «Geben Sie mir ein Bier oder den Zehner zurück!», sagte Stevie in schrillem Falsett.

Der Mann reichte ihm den Krug mit einem Spritzer Schaum darin, und Stevie sah ihn mit feiner Verachtung an. «Das ist nicht mal halbvoll», sagte er entrüstet. «Auffüllen!»

Der Zapfhahn wurde aufgedreht, Stevie trank langsam aus, und ich sah ihm fassungslos zu. Wir gingen durchs Tor. «Wie hat es geschmeckt?», fragte ich.

«Auch nicht besser als Ginger Ale», sagte er. «Ich hab den Zehner dafür den ganzen Nachmittag aufgespart.»

Ich war noch immer wie betäubt, als wir die Straßenbahn erreichten. Bier! Und noch dazu vor allen Leuten … «Stevie», flüsterte ich, als der Fahrer den Pferden die Peitsche gab und die Glocken bimmelten, «wie konntest du das wagen?»

«Pah!», sagte Stevie. «Bier ist doch gar nichts.» Dann fügte er abwehrend, aber nachdrücklich, hinzu: «Wie soll ich wissen, wie es schmeckt, wenn ich es nicht ausprobiere? Wie kann man überhaupt über irgendwas Bescheid wissen, wenn man es nicht tut?»

Zigaretten rauchen mit sechs. Bier trinken mit sechs. Es ist nicht ungewöhnlich, dass neugierige Kinder derlei ausprobieren, wenn sie eigentlich noch viel zu jung dafür sind, aber die allermeisten dieser Neugierigen führen ihre Experimente heimlich aus und sind deutlich älter als sechs. Normaler Hergang: zufällig auf ein herrenlos im Haus herumliegendes Päckchen Zigaretten stoßen, sich eine herausnehmen, anzünden, und dann husten, grün anlaufen oder sich erbrechen – ausnahmslos gefolgt von dem Schwur, nie wieder zu rauchen. Nicht nur, dass Crane wieder rauchte, er hatte sogar eine ganze Packung Zigaretten in der Tasche (wo und wie ist er da herangekommen?) und besaß die Frechheit, sich vor allen Leuten eine anzuzünden. Was Bier betrifft, bieten sich jugendlichen Experimenten vermutlich sehr viel mehr Gelegenheiten: eine Flasche in der Vorratskammer (damals) oder im Kühlschrank (heute), ein noch halbvolles Glas, das dein Vater, Onkel oder großer Bruder auf dem Esstisch hat stehenlassen, und wenn keiner hinsieht, nimmt man einen Schluck, und entweder schmeckt es oder man findet es bitter, aber auch hier wieder, Crane trank seinen ersten Schluck Bier in aller Öffentlichkeit, wo Hunderte Leute ihn sehen konnten. Und das auch noch zweifellos genau zu dem Zeitpunkt, da seine Mutter und Wheelers Mutter dem Vortrag eines Temperenzlers lauschten.