Mit Fremden sprechen - Paul Auster - E-Book

Mit Fremden sprechen E-Book

Paul Auster

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Beschreibung

"Mit Fremden sprechen" ist eine vom Autor selbst zusammengestellte Auswahl seiner besten Essays und Schriften aus fünfzig Jahren, die sowohl berühmte Texte als auch bislang Unveröffentlichtes enthält. Beginnend mit einer kurzen philosophischen Betrachtung, die er mit zwanzig schrieb, und schließend mit einer Reihe von politischen Texten über Themen wie Obdachlosigkeit, 9/11 oder den Zusammenhang zwischen Fußball und Krieg, bieten die 44 Stücke dieser Auswahl einen großen Überblick über Austers Ansichten zu klassischen und zeitgenössischen Schriftstellern, zur Hochseilartistik von Philippe Petit, zu seinen Kunstaktionen mit Sophie Calle und dem langen Weg, den er mit seiner geliebten mechanischen Schreibmaschine zurückgelegt hat. Ebenfalls enthalten sind jüngere Texte über die Notizbücher von Nathaniel Hawthorne, die Filme von Jim Jarmusch, eine Vorlesung zu Edgar Allen Poe, eine Tirade gegen den ehemaligen New Yorker Bürgermeister und Trump-Gehilfen Rudy Giuliani sowie die lustigste Einführung zu einer Dichterlesung, die in Amerika je gehalten wurde.. Hochintelligent und zutiefst menschlich - eine unverzichtbare Kollektion für alle Leser und Fans des "angesehensten amerikanischen Schriftstellers seiner Generation". (The Spectator)

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Seitenzahl: 461

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Paul Auster

Mit Fremden sprechen

Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren

Essays

Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Marion Sattler Charnitzky, Andrea Paluch, Robert Habeck und Alexander Pechmann

Über dieses Buch

«Mit Fremden sprechen» ist eine vom Autor selbst zusammengestellte Auswahl seiner besten Essays und Schriften aus fünfzig Jahren, die sowohl berühmte Texte als auch bislang Unveröffentlichtes enthält. Beginnend mit einer kurzen philosophischen Betrachtung, die er mit zwanzig schrieb, und schließend mit einer Reihe von politischen Texten über Themen wie Obdachlosigkeit, 9/11 oder den Zusammenhang zwischen Fußball und Krieg, bieten die 44 Stücke dieser Auswahl einen großen Überblick über Austers Ansichten zu klassischen und zeitgenössischen Schriftstellern, zur Hochseilartistik von Philippe Petit, zu seinen Kunstaktionen mit Sophie Calle und dem langen Weg, den er mit seiner geliebten mechanischen Schreibmaschine zurückgelegt hat. Ebenfalls enthalten sind jüngere Texte über die Notizbücher von Nathaniel Hawthorne, die Filme von Jim Jarmusch, eine Vorlesung zu Edgar Allan Poe, eine Tirade gegen den ehemaligen New Yorker Bürgermeister und Trump-Gehilfen Rudy Giuliani sowie die lustigste Einführung zu einer Dichterlesung, die in Amerika je gehalten wurde.

 

Hochintelligent und zutiefst menschlich – eine unverzichtbare Kollektion für alle Leser und Fans des «angesehensten amerikanischen Schriftstellers seiner Generation» (The Spectator).

Vita

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen «Im Land der letzten Dinge» und der «New-York-Trilogie». Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.

Inhalt

NOTIZEN AUS EINER KLADDE 7

 

DIE KUNST DES HUNGERS 13

Die Kunst des Hungers 15

Babel New York 29

Hugo Balls Tagebücher 39

Ideen und Dinge 48

Wahrheit, Schönheit, Schweigen 53

Von Kuchen zu Steinen 66

Dichtung im Exil 74

Unschuld und Erinnerung 87

Das Buch der Toten 96

Kafkas Briefe 105

Reznikoff × 2 111

Bartlebooths Narreteien 136

 

POES KNOCHEN & OPPENS PFEIFE 143

I 145

II 161

 

DIE GESCHICHTE MEINERSCHREIBMASCHINE 171

 

VERMISCHTES 185

Antwort auf eine Frage des  New York Magazine 187

Fünfundzwanzig Sätze, die die Worte  Charles Bernstein enthalten 188

Gotham Handbook 192

Postkarten für Georges Perec 196

In Gedenken an Beckett 199

Über Bücher 202

 

VORWORTE 209

Französische Dichtung im 20. Jahrhundert 211

Mallarmés Sohn 252

Auf dem Hochseil 264

Geleitwort des Übersetzers 276

Ein Abend im Shea Stadium 284

Das «National Story Project» 287

Eine kleine Anthologie surrealistischer  Gedichte 298

Die Kunst, sich Sorgen zu machen 299

Hawthorne zu Hause 307

Night on Earth: New York 340

Joe Brainard 347

Ein Leben in der Kunst 363

 

Zu BESONDEREn ANLäSSen 369

Gebet für Salman Rushdie 371

Appell an den Gouverneur von  Pennsylvania 374

Der beste Ersatz für Krieg 377

Verbotene britische Kunst in New York 383

Gedanken über einen Pappkarton 385

Ungeordnete Notizen –  11. September 2001–4 Uhr nachmittags 390

Untergrund 392

Columbia 1968 399

 

MIT FREMDEN SPRECHEN 403

 

Quellenverzeichnis 409

Notizen aus einer Kladde

1

 

Die Welt ist in meinem Kopf. Mein Körper ist in der Welt.

 

2

 

Die Welt ist meine Vorstellung. Ich bin die Welt. Die Welt ist deine Vorstellung. Du bist die Welt. Meine Welt und deine Welt sind nicht dieselben.

 

3

 

Es gibt keine Welt außer der menschlichen. (Unter menschlich verstehe ich alles, was gesehen, gefühlt, gehört, gedacht und vorgestellt werden kann.)

 

4

 

Die Welt hat keine objektive Existenz. Sie existiert nur insoweit, als wir sie wahrnehmen können. Und unsere Wahrnehmung ist zwangsläufig begrenzt. Folglich hat die Welt eine Grenze, irgendwo hört sie auf. Aber wo sie für mich aufhört, hört sie nicht unbedingt auch für dich auf.

 

5

 

Keine Theorie der Kunst (falls es überhaupt eine geben kann) lässt sich von einer Theorie der menschlichen Wahrnehmung trennen.

 

6

 

Aber nicht nur unsere Wahrnehmung ist begrenzt, auch die Sprache (unser Mittel, jene Wahrnehmung auszudrücken) ist begrenzt.

 

7

 

Sprache ist nicht Erfahrung. Sie ist ein Mittel, Erfahrung zu ordnen.

 

8

 

Was also ist die Erfahrung von Sprache? Sie gibt uns die Welt und nimmt sie uns. In einem Atemzug.

 

9

 

Der Fall des Menschen ist keine Frage von Sünde, Frevel oder moralischer Verworfenheit. Sondern von Unterwerfung der Erfahrung durch Sprache: Der Sturz der Welt in das Wort; Erfahrung sinkt vom Auge zum Mund. Eine Strecke von etwa acht Zentimetern.

 

10

 

Das Auge sieht die Welt im Fluss. Das Wort ist ein Versuch, den Fluss anzuhalten, ihn zu stabilisieren. Und doch mühen wir uns beharrlich, Erfahrung in Sprache zu übersetzen. Daher Dichtung, daher die Äußerungen im Alltag. Dieser Glaube verhütet allgemeine Verzweiflung – und ist auch deren Ursache.

 

11

 

Kunst ist der Spiegel des menschlichen Geistes (Marlowe). Das Spiegel-Bild ist treffend – und zerbrechlich. Zerschlage den Spiegel und setze die Teile neu zusammen. Das Ergebnis wird immer noch Abbild von etwas sein. Jede Kombination ist möglich, beliebig viele Teile können fortgelassen werden. Einzige Bedingung: Mindestens ein Teil muss bleiben. Wenn in Hamlet der Natur der Spiegel vorgehalten wird, entspricht dies genau der Bemerkung Marlowes – vorausgesetzt, die obige Beweisführung gilt. Denn alles in der Natur ist menschlich, selbst wenn die Natur selbst es nicht ist. (Wir könnten nicht existieren, wenn die Welt nicht unsere Vorstellung wäre.) Mit anderen Worten, unabhängig von den äußeren Umständen (Altertum oder Moderne, Klassik oder Romantik) ist Kunst ein Produkt des menschlichen Geistes.

 

12

 

Glaube an die Welt nenne ich klassisch. Zweifel an der Welt nenne ich romantisch. Der Klassiker glaubt an die Zukunft. Der Romantiker weiß, dass er Enttäuschung erleben wird, dass seine Wünsche niemals erfüllt werden. Denn er glaubt, dass die Welt nicht zu beschreiben ist, nicht mit Worten zu benennen.

 

13

 

Von Sprache entfremdet zu sein ist nichts anderes, als seinen Körper zu verlieren. Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von nichts. Du verschwindest.

 

1967

Die Kunst des Hungers

Die Kunst des Hungers

Wichtig scheint mir nicht so sehr, eine Kultur zu verteidigen, deren Vorhandensein noch nie einen Menschen vor dem Hungern bewahrt hat, als vielmehr aus dem, was man Kultur zu nennen pflegt, jene Ideen zu extrahieren, deren zwingende Kraft mit der des Hungers identisch ist.

Antonin Artaud

Ein junger Mann kommt in eine Stadt. Er hat keinen Namen, kein Zuhause, keine Arbeit: Er ist in die Stadt gekommen, um zu schreiben. Oder genauer: Er schreibt nicht, sondern hungert fast zu Tode.

Die Stadt heißt Christiania (Oslo); man schreibt das Jahr 1890. Der junge Mann streift durch die Straßen: Die Stadt ist ein Labyrinth des Hungers, und seine Tage sind einer wie der andere. Er schreibt unverlangte Artikel für eine Lokalzeitung. Er sorgt sich um die Miete, um seine zerfallenden Kleider, um die nächste Mahlzeit, die stets nur unter Schwierigkeiten zu erlangen ist. Er leidet. Er wird beinahe verrückt. Er befindet sich ständig am Rand des Zusammenbruchs.

Dennoch schreibt er. Ab und zu gelingt es ihm, einen Artikel zu verkaufen, zeitweilig eine Verschnaufpause in seinem Elend zu finden. Aber er ist zu geschwächt, um regelmäßig zu schreiben, und kann die Stücke, die er begonnen hat, nur selten beenden. Zu seinen gescheiterten Werken zählen ein Essay mit dem Titel «Verbrechen der Zukunft», ein philosophisches Traktat über die Willensfreiheit, eine Allegorie über einen Brand in einer Buchhandlung (Bücher sind Gehirne) und ein im Mittelalter angesiedeltes Schauspiel, «Das Zeichen des Kreuzes». Er befindet sich in einem unentrinnbaren Dilemma: Um zu schreiben, muss er essen. Wenn er nicht schreibt, hat er nichts zu essen. Und wenn er nichts zu essen hat, kann er nicht schreiben. Er kann nicht schreiben.

Er schreibt. Er schreibt nicht. Er streift durch die Straßen der Stadt. Er führt Selbstgespräche in der Öffentlichkeit. Die Menschen meiden ihn. Als er zufällig zu ein wenig Geld kommt, verschenkt er es. Er wird aus seinem Zimmer geworfen. Er isst etwas und erbricht es wieder. Einmal hat er einen kurzen Flirt mit einem Mädchen, doch ergibt sich daraus nichts als Demütigung. Er hungert. Er verflucht die Welt. Er stirbt nicht. Am Ende heuert er ohne ersichtlichen Grund auf einem Schiff an und verlässt die Stadt.

 

So weit das grobe Gerüst von Knut Hamsuns erstem Roman, Hunger. Es ist ein Werk ohne Plan, ohne Handlung und – vom Erzähler abgesehen – ohne Figuren. Nach den Maßstäben des 19. Jahrhunderts ist es ein Buch, in dem nichts geschieht. Die radikale Subjektivität des Erzählers ignoriert sämtliche Grundanliegen des traditionellen Romans. Als der Held in einem seiner Essays auf das Problem von Zeit und Raum stößt, beschließt er, einen «unsichtbaren Umweg» zu machen, und ganz ähnlich verzichtet Hamsun selbst auf die Einhaltung der historischen Zeit, des Grundordnungsprinzips der Literatur des 19. Jahrhunderts. Er berichtet nur von den schlimmsten Kämpfen seines Helden mit dem Hunger. Weniger problematische Epochen, in denen er den Hunger hat stillen können – manchmal eine ganze Woche lang –, werden mit wenigen Sätzen abgetan. Die historische Zeit wird zugunsten innerer Dauer aufgehoben. Mit seinem willkürlichen Anfang und ebenso willkürlichen Ende liefert der Roman eine treue Schilderung der Launen und Grillen des Erzählers: Jeder Gedanke wird von seinem geheimnisvollen Ursprung an durch alle Kehrtwendungen und Abschweifungen verfolgt, bis er schließlich verschwindet und der nächste Gedanke kommt. Was geschieht, darf geschehen.

Der Roman kann nicht einmal für sich beanspruchen, einen versöhnlichen gesellschaftlichen Wert zu besitzen. In Hunger wird uns das Elend schonungslos vorgeführt, aber das Buch bietet keinerlei Analyse dieses Elends und enthält erst recht keinen Aufruf zu politischem Handeln. Hamsun, der im Alter, zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, zum Faschisten wurde, hat sich niemals mit dem Problem der Klassenunterschiede beschäftigt, und sein Erzählerheld ist wie Dostojewskis Raskolnikow nicht so sehr ein Benachteiligter als vielmehr ein Ungeheuer an intellektueller Arroganz. Mitleid kommt in Hunger nicht vor. Der Held leidet, aber nur, weil er selbst sich für das Leiden entschieden hat. Hamsun beherrscht die Kunst, beim Leser keinerlei Mitgefühl für seine Figur aufkommen zu lassen. Von Anfang an wird klargestellt, dass der Held eigentlich keinen Hunger leiden müsste. Es gibt Lösungen – wenn auch nicht in der Stadt, so doch zumindest außerhalb. Doch befeuert von einem zwanghaften, selbstmörderischen Stolz, verrät die Handlungsweise des jungen Mannes eine nie schwankende Verachtung seiner eigenen Interessen.

Ich begann zu laufen, um mich zu bestrafen, legte springend eine Straße nach der anderen zurück, trieb mich mit verbissenen Zurufen vorwärts und schrie mir innerlich stumm und wütend zu, wenn ich anhalten wollte. Auf diese Weise war ich weit hinauf in den Pilestraede gekommen. Als ich endlich stillstand, beinahe losheulend vor Zorn, weil ich nicht länger laufen konnte, bebte ich am ganzen Körper, und ich warf mich auf eine Treppe hin. Nein, halt!, sagte ich. Und um mich richtig zu quälen, stand ich wieder auf und zwang mich stehen zu bleiben, und lachte über mich selbst und ergötzte mich an meiner eigenen Verkommenheit. Endlich, nach Verlauf mehrerer Minuten, gab ich mir durch ein Nicken Erlaubnis, mich zu setzen; aber auch da wählte ich mir noch den unbequemsten Platz auf der Treppe.[*]

Er wendet sich dem zu, was in ihm selbst am problematischsten ist, sucht Schmerz und Not, wie andere Menschen Vergnügen suchen. Er hungert, nicht weil er muss, sondern aus einem inneren Drang heraus, so als träte er gegen sich selbst in Hungerstreik. Noch bevor das Buch beginnt und der Leser zum privilegierten Zeugen seines Schicksals wird, ist der Weg des Helden festgelegt. Es ist bereits ein Prozess in Gang, welcher der Kontrolle des Helden entzogen ist, was aber nicht bedeutet, dass er sich seines Handelns nicht bewusst wäre.

… ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich Einflüssen unterliege, über die ich nicht Herr bin … Trotz meiner Entfremdung von mir selbst in diesem Augenblick, und obwohl ich nichts anderes war als ein Schlachtfeld für unsichtbare Mächte, war ich mir der Vorgänge um mich her in jeder Einzelheit bewusst.

Nachdem er sich in nahezu vollständige Einsamkeit zurückgezogen hat, ist er ebenso Subjekt wie Objekt seines eigenen Experiments. Hunger ist das Mittel, das diese Spaltung bewirkt, sozusagen der Katalysator eines veränderten Bewusstseins.

Ich hatte sehr deutlich bemerkt, dass wenn mein Hunger ein wenig zu lange dauerte, es jedes Mal so war, als ob mir das Gehirn aus dem Kopf laufe. Mein Kopf wurde ganz leicht. Ich konnte sein Gewicht nicht mehr auf meinen Schultern spüren.

Es ist ein Experiment, freilich keines nach der wissenschaftlichen Methode. Es gibt keine Kontrollen, keine festen Bezugspunkte – nur Variablen. Auch lässt sich diese Trennung von Geist und Körper nicht auf eine philosophische Abstraktion reduzieren. Wir befinden uns hier keineswegs im Reich der Ideen. Nein, dies ist ein körperlicher Zustand, hervorgerufen von einem Zustand äußerster Not. Geist und Körper sind geschwächt; der Held hat die Kontrolle über seine Gedanken und seine Handlungen verloren. Und doch versucht er hartnäckig weiter, sein Schicksal zu kontrollieren. Das ist das Paradoxe, das Spiel mit dem Zirkelschluss, das auf den Seiten dieses Buches durchgespielt wird. Der Held steckt in einer unmöglichen Situation. Er hat sich vorsätzlich in Gefahr begeben. Wenn er das Hungern aufgäbe, wäre das kein Sieg, sondern bloß das Ende des Spiels. Er will überleben, aber nur zu seinen Bedingungen: Er sucht ein Überleben, das ihn vor das Angesicht des Todes führen soll.

Er fastet. Freilich nicht so, wie ein Christ das tun würde. Er verzichtet nicht auf das irdische Leben, um das himmlische vorwegzunehmen; er weigert sich einfach, das Leben zu leben, das ihm gegeben wurde. Und je weiter er sein Fasten treibt, desto stärker drängt sich der Tod in sein Leben. Er nähert sich dem Tod, kriecht an den Rand des Abgrunds, und dort angekommen, klammert er sich daran fest; er kann weder vor noch zurück. Der Hunger, der die Leere aufreißt, hat nicht die Macht, sie zu verschließen. Ein kurzer Augenblick Pascal’schen Schreckens ist zu einem dauerhaften Zustand geworden.

Sein Fasten birgt demnach einen Widerspruch. Darin zu verharren, würde in den Tod führen, und der Tod würde das Ende des Fastens bedeuten. Folglich muss er, wenn auch nur einen Schritt vom Tod entfernt, am Leben bleiben. Um sich die ständige Möglichkeit des Endes zu bewahren, widersteht er der Versuchung, seinem Leben ein Ende zu machen. Weil sein Fasten weder ein Ziel postuliert noch irgendeine Erlösungsverheißung bietet, muss der inhärente Widerspruch ungelöst bleiben. Als solches ist es ein Bild der Verzweiflung, erzeugt von der gleichen selbst verzehrenden Leidenschaft wie die Krankheit zum Tode. Die Seele strebt in ihrer Verzweiflung danach, sich selbst zu verschlingen, und da sie das nicht kann – und zwar genau deshalb, weil sie verzweifelt ist –, versinkt sie noch tiefer in Verzweiflung.

Im Gegensatz zu religiöser Kunst, in der Selbsterniedrigung eine letztlich läuternde Rolle spielen kann (wie etwa in der meditativen Poesie des 17. Jahrhunderts), simuliert der Hunger lediglich die Dialektik der Erlösung. In seinem Gedicht «In den Tiefen meiner Sündigkeit» blickt Fulke Greville in einen «unheilvollen Spiegel des Übergangs», der «den Menschen als Frucht seiner Entartung zeigt», aber er weiß, dies ist nur der erste Schritt in einem zweifachen Prozess, denn in diesem Spiegel offenbart sich Christus, der «für dieselben Sünden gestorben / Und gekommen ist, mich aus der Hölle, die ich fürchte, zu befreien …» In Hamsuns Roman hingegen bleibt, nachdem die Tiefen ausgelotet wurden, der Spiegel der Meditation leer.

Der junge Mann bleibt ganz unten, und kein Gott wird kommen, ihn zu befreien. Er kann sich nicht einmal auf die Stützen der gesellschaftlichen Konventionen verlassen. Er hat keine Wurzeln, keine Freunde, selbst Gegenstände fehlen ihm. Es gibt für ihn keine Ordnung mehr; alles ist nur noch dem Zufall preisgegeben. Sein Handeln ist ausschließlich von Launen und unbändigen Zwängen bestimmt, von der endlosen Frustration anarchischer Unzufriedenheit. Er versetzt seine Weste, um einem Bettler ein Almosen zu geben, mietet eine Kutsche, um einen fiktiven Bekannten aufzusuchen, klopft bei Fremden an die Türen und fragt mehrmals Polizisten nach der Uhrzeit, einfach weil es ihm gerade in den Sinn kommt. Er hat jedoch kein wahres Vergnügen an solchem Tun. All das bleibt für ihn zutiefst beunruhigend. Während er einerseits wütend versucht, sein Leben zu stabilisieren, seinem Umherstreifen ein Ende zu machen, ein Zimmer zu finden und endlich wieder zu schreiben, wird ihm dies gerade von seinem Fasten unmöglich gemacht. Hat der Hunger einmal angefangen, gibt er sein Opfer erst wieder frei, wenn er ihm eine unauslöschliche Lektion erteilt hat. Der Held wird gegen seinen Willen von einer selbst herbeigerufenen Macht gefangen gehalten und ist gezwungen, sich ihren Forderungen zu beugen.

Er verliert alles – sogar sich selbst. Am Grund einer gottlosen Hölle verschwindet die Identität. Es ist kein Zufall, dass Hamsuns Held keinen Namen hat: Er wird im Lauf der Zeit buchstäblich seiner selbst beraubt. Die Namen, mit denen er sich behängt, sind alle frei erfunden, wie sie ihm gerade einfallen. Er kann nicht sagen, wer er ist, weil er es nicht weiß. Sein Name ist eine Lüge, und mit dieser Lüge verschwindet die Wirklichkeit der Welt.

Er späht in die Dunkelheit, in die ihn der Hunger getaucht hat, und findet dort ein sprachliches Vakuum. Die Wirklichkeit ist für ihn zu einem Wirrwarr dingloser Namen und namenloser Dinge geworden. Der Zusammenhang zwischen Ich und Welt ist zerrissen.

Eine Zeitlang blieb ich liegen und sah in die Finsternis, in diese dicke Massenfinsternis, die keinen Boden hatte, die ich nicht begreifen konnte. Meine Gedanken konnten sie nicht erfassen. Sie schien mir über alle Maßen dunkel, und ich fühlte mich durch ihre Nähe bedrückt. Ich schloss die Augen, begann halblaut zu singen und warf mich auf die Pritsche, um mich zu zerstreuen; aber ohne Erfolg. Die Dunkelheit hatte mein Denken ergriffen und ließ mich keinen Augenblick in Frieden. Wie, wenn ich selbst in Dunkelheit aufgelöst und eins mit ihr würde?

Genau in dem Augenblick, da er die größte Angst empfindet, sich selbst zu verlieren, stellt er sich plötzlich vor, er habe ein neues Wort erfunden: Kuboaa – ein Wort, das es in keiner Sprache gibt, ein Wort ohne Bedeutung.

Ich war in den frohen Wahnwitz des Hungers verfallen, war leer und schmerzfrei, und meine Gedanken waren ohne Zügel.

Er versucht sich eine Bedeutung für sein Wort auszudenken, findet aber nur heraus, was es nicht bedeutet; «Gott», «Tivoli», «Tierschau», «Anhängeschloss», «Sonnenaufgang», «Auswanderung», «Tabakfabrik», «Strickgarn» – all das bedeutet es nicht.

Nein, eigentlich war das Wort geeignet, etwas Seelisches zu bedeuten, ein Gefühl, einen Zustand – ob ich das nicht begreifen könne? Und ich besinne mich auf etwas Seelisches.

Aber das gelingt ihm nicht. Stimmen, nicht seine eigene, mischen sich ein, verwirren ihn, und er sinkt nur noch tiefer ins Chaos. Nach einem schlimmen Anfall, in dem er zu sterben glaubt, wird alles still, und er hört nur noch seine eigene Stimme, die ihm von der Wand entgegenschallt.

Diese Episode ist wohl die schmerzlichste des ganzen Buches. Sie ist jedoch nur eines von vielen Beispielen für die Sprachkrankheit des Helden. Seine Streiche nehmen immer wieder die Form von Lügen an. Als er bei einem Pfandleiher seinen verlorenen Bleistift wiederfindet (er hatte ihn versehentlich in der Tasche der versetzten Weste gelassen), erzählt er dem Mann, mit just diesem Stift habe er seine dreibändige Abhandlung über die philosophische Erkenntnis geschrieben. Ein unscheinbarer Bleistift, gibt er zu, aber er sei ihm nun einmal sehr ans Herz gewachsen. Einem alten Mann auf einer Parkbank erzählt er die phantastische Geschichte eines Herrn Happolati, der angeblich das elektrische Gebetbuch erfunden habe. Als er in einen Laden geht und bittet, man möge ihm seine letzte Habe einpacken, eine zerlumpte grüne Decke, für die er sich schämt und die er nicht in der Öffentlichkeit herumtragen will, behauptet er, dass er eigentlich nicht die Decke eingepackt haben möchte, sondern die zwei kostbaren Vasen, die er in die Decke gewickelt habe. Nicht einmal das Mädchen, dem er den Hof macht, ist vor solchen Erfindungen sicher. Er denkt sich einen Namen für sie aus, einen Namen, der ihm ob seiner Schönheit gefällt, und weigert sich fortan, sie mit irgendetwas anderem anzureden.

Diese Lügen haben eine Bedeutung über den augenblicklichen Scherz hinaus. Im Reich der Sprache verhält sich die Lüge zur Wahrheit, wie sich im Reich der Moral das Böse zum Guten verhält. So ist die allgemeine Übereinkunft, und wenn wir daran glauben, funktioniert sie auch. Doch Hamsuns Held glaubt an gar nichts mehr. Lügen und Wahrheiten sind für ihn ein und dasselbe. Der Hunger hat ihn ins Dunkel geführt, und einen Rückweg gibt es nicht.

Diese Gleichung von Sprache und Moral wird zum Angelpunkt der letzten Episode des Buches.

Meine Gedanken wurden klar, ich verstand, dass ich im Begriff war, mich aufzulösen. Ich hielt die Hände vor und stieß mich von der Mauer ab; die Straße tanzte immer noch um mich. Vor Wut begann ich zu schluchzen, und ich stritt aus innerster Seele mit meiner Schwäche, hielt tapfer stand, um nicht umzufallen; ich wollte nicht zusammensinken, ich wollte stehend sterben. Ein Lastkarren rollt langsam vorbei, und ich sehe, dass Kartoffeln auf dem Karren liegen, aber aus Wut, aus Halsstarrigkeit, behaupte ich, dass es durchaus nicht Kartoffeln seien, sondern Kohlköpfe, und ich schwor grausam darauf, dass es Kohlköpfe wären. Ich hörte gut, was ich sagte, und bewusst beschwor ich immer wieder diese Lüge, nur um die angenehme Befriedigung zu haben, dass ich einen groben Meineid begehe. Ich berauschte mich an dieser beispiellosen Sünde, ich streckte meine drei Finger in die Luft und schwor mit zitternden Lippen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, dass es Kohlköpfe seien.

Und das ist das Ende. Dem Helden bleiben jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: leben oder sterben. Und er entscheidet sich für das Leben. Er hat nein zur Gesellschaft gesagt, nein zu Gott, nein zu seinen eigenen Worten. Später an diesem Tag verlässt er die Stadt. Es gibt keinen Grund mehr, das Fasten fortzusetzen. Es hat sein Werk getan.

 

Hunger: oder ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Doch hat diese Lehrzeit wenig gemein mit den frühen Kämpfen anderer Schriftsteller. Hamsuns Held ist kein Stephen Dedalus, und von ästhetischer Theorie findet sich in Hunger kaum ein Wort. Die Welt der Kunst ist in die Welt des Körpers übertragen worden – ohne Rücksicht auf den ursprünglichen Text. Hunger ist keine Metapher, sondern buchstäblich der Kern des Problems selbst. Während andere, wie Rimbaud mit seinem Programm für die freiwillige Verstörung der Sinne, den Körper zum ästhetischen Prinzip erhoben haben, verwirft Hamsuns Held standhaft die Möglichkeit, seine Schwächen zum eigenen Vorteil zu nutzen. Er ist schwach, er hat die Kontrolle über seine Gedanken verloren, und dennoch strebt er in seinem Schreiben weiterhin nach Klarheit. Aber der Hunger beeinflusst seine Prosa ebenso, wie er sein Leben beeinflusst. Er ist bereit, alles für seine Kunst zu opfern, sich den schlimmsten Erniedrigungen und der größten Not zu unterwerfen, doch hat all das nur zur Folge, dass ihm das Schreiben vollkommen unmöglich wird. Es hilft alles nichts, mit leerem Magen kann man nicht schreiben. Es wäre freilich ein Fehler, den Helden von Hunger als einen Narren oder Verrückten abzutun. Der Augenschein trügt: Der Mann weiß genau, was er tut. Er sucht nicht den Erfolg. Er sucht das Scheitern.

Hier geschieht etwas Neues; in Hunger wird ein neuer Gedanke über das Wesen der Kunst vorgetragen. Zunächst einmal geht es um eine Kunst, die vom Leben des Künstlers nicht zu unterscheiden ist. Und es ist hier nicht die Rede von einer Kunst des autobiographischen Exzesses, sondern vielmehr von einer Kunst, die der unmittelbare Ausdruck der Bemühung ist, sich selbst auszudrücken. Mit anderen Worten, es geht um eine Kunst des Hungers: eine Kunst der Not, des Mangels, des Verlangens. Gewissheit weicht Zweifeln, der Vorgang selbst wird wichtiger als die Form. Ordnung lässt sich hierbei nicht erzwingen, und doch besteht mehr denn je die Verpflichtung, Klarheit zu erreichen. Eine solche Kunst beginnt mit dem Wissen, dass es keine richtigen Antworten gibt. Und deshalb kommt man nicht daran vorbei, die richtigen Fragen zu stellen. Man findet sie, indem man sie lebt. Um Samuel Beckett zu zitieren:

Ich will damit nicht sagen, dass es künftig keine Form mehr in der Kunst geben wird. Es wird lediglich eine neue Form geben, und diese Form wird das Chaos zulassen und nicht die Behauptung aufstellen, dass das Chaos in Wirklichkeit etwas anderes sei … Eine Form zu finden, die sich dem Chaos anpasst, das ist die Aufgabe des modernen Künstlers.[*]

Hamsun gibt das Porträt dieses Künstlers in den ersten Stadien seiner Entwicklung. Doch erst in Kafkas Erzählung Ein Hungerkünstler wird die Ästhetik des Hungers bis ins Tiefste ausgelotet. Hier werden die Widersprüchlichkeiten des Fastens, wie Hamsuns Held es betreibt – und auch die künstlerische Sackgasse, in die es führt –, zu einer Parabel von einem Künstler gefügt, dessen Kunst das Fasten selbst ist. Der Hungerkünstler ist Künstler und Nichtkünstler zugleich. Er möchte zwar, dass seine Vorstellungen bewundert werden, besteht aber darauf, dass sie nicht bewundert werden sollen, weil sie nichts mit Kunst zu tun haben. Er hat sich allein deswegen zum Fasten entschlossen, weil er niemals etwas zu essen finden konnte, was ihm schmeckte. Seine Vorstellungen sind daher keine Spektakel zur Unterhaltung anderer, sondern sie stellen Versuche dar, eine intime Verzweiflung zu entwirren, und Zuschauer werden dabei lediglich geduldet.

Wie Hamsuns Held hat der Hungerkünstler die Kontrolle über sich verloren. Abgesehen davon, dass er in seinem Käfig wie auf einer Theaterbühne sitzt, unterscheidet sich seine Kunst in keiner Weise von seinem Leben, nicht einmal von dem Leben, das er geführt hätte, wenn er kein Darsteller geworden wäre. Es geht ihm nicht darum, irgendjemanden zufriedenzustellen. Tatsächlich können seine Vorstellungen nicht einmal verstanden oder irgendwie beurteilt werden.

Niemand war ja imstande, alle die Tage und Nächte beim Hungerkünstler ununterbrochen als Wächter zu verbringen, niemand also konnte aus eigener Anschauung wissen, ob wirklich ununterbrochen, fehlerlos gehungert worden war; nur der Hungerkünstler selbst konnte das wissen, nur er also gleichzeitig der von seinem Hungern vollkommen befriedigte Zuschauer sein.

Dies ist jedoch nicht die klassische Geschichte vom missverstandenen Künstler. Denn das Wesen des Fastens selbst widersetzt sich dem Verständnis. Es weiß von Anfang an um seine Unmöglichkeit und verurteilt sich zum sicheren Scheitern, und so ist es ein Vorgang, der sich asymptotisch dem Tode nähert und von vornherein weder Erfüllung noch Vernichtung erreichen kann. In Kafkas Erzählung stirbt der Hungerkünstler, allerdings nur, weil er seiner Kunst entsagt und nichts mehr von den Beschränkungen wissen will, die ihm sein Impresario auferlegt hatte. Der Hungerkünstler geht zu weit. Aber dies ist das Risiko, die Gefahr jedes künstlerischen Handelns: Man muss bereit sein, sein Leben hinzugeben.

Letztlich kann man die Kunst des Hungers als existenzielle Kunst bezeichnen. Es ist eine Möglichkeit, dem Tod ins Auge zu sehen, und unter Tod verstehe ich den Tod, wie wir ihn heutzutage leben: ohne Gott, ohne Hoffnung auf Erlösung. Der Tod als das abrupte und absurde Ende des Lebens.

Ich glaube nicht, dass wir heute sehr viel weiter sind. Es ist sogar möglich, dass wir viel länger hier verweilt haben, als wir bereit sind zuzugeben. Und doch haben in all dieser Zeit nur wenige Künstler dies erkennen können. Es braucht Mut dazu, und nicht viele von uns wären bereit, alles für nichts zu riskieren. Genau dies aber geschieht in Hunger, einem Roman aus dem Jahre 1890. Hamsuns Figur befreit sich systematisch von jedem Glauben an jedes System, und am Ende steht er mittels des Hungers, den er sich selbst auferlegt hat, vor dem Nichts. Es gibt nichts mehr, das ihm Anlass geben könnte weiterzugehen – und doch geht er weiter. Er geht direkt ins 20. Jahrhundert hinein.

1970

Babel New York

Im Vorwort zu seinem Roman Le Bleu du Ciel macht Georges Bataille eine wichtige Unterscheidung zwischen Büchern, die als Experiment geschrieben werden, und solchen, die aus Notwendigkeit entstehen. Literatur, erklärt Bataille, ist eine im Wesentlichen zerstörerische Kraft, ein Phänomen, dem mit «Furcht und Zittern» begegnet wird und das uns die Wahrheit des Lebens und seiner exzessiven Möglichkeiten enthüllen kann. Literatur ist kein Kontinuum, sondern eine Kette von Verwerfungen, und die Bücher, die uns am meisten bedeuten, sind in der Regel die, die sich im Widerspruch zu jenem Begriff von Literatur befinden, der zur Zeit ihrer Entstehung geherrscht hat. Bataille spricht von einem «Moment der Raserei» als dem Zündfunken aller großen Werke: Dieser Moment lässt sich nicht bewusst herbeiführen, und sein Ursprung ist immer außerliterarisch. «Wie können wir», fragt er, «bei einem Buch ausharren, von dem wir spüren, dass sein Autor nicht gezwungen war, es zu schreiben?» Bewusstes Experimentieren ist im Allgemeinen das Ergebnis einer echten Sehnsucht, die Grenzen der literarischen Konvention niederzureißen. Aber die meisten Werke der Avantgarde haben keine Überlebenschance; sie bleiben, ob sie wollen oder nicht, Gefangene ebender Konventionen, die sie zu zerstören trachten. Die Dichtung des Futurismus zum Beispiel, die ihrerzeit für solches Aufsehen gesorgt hat, wird heutzutage praktisch nicht mehr gelesen, allenfalls noch von Studenten und Professoren, die sich mit dieser Epoche beschäftigen. Andererseits sind gewisse Autoren, die im literarischen Leben ihrer Zeit keine oder nur eine kleine Rolle gespielt haben – Kafka zum Beispiel –, nach und nach als zentrale Gestalten anerkannt worden. Ein Buch, das unseren Sinn für Literatur wiederbelebt, das unser Gefühl für die Möglichkeiten der Literatur erneuert, verändert unser Leben. Wir können kaum glauben, dass es so etwas gibt, es scheint wie aus dem Nichts gekommen, und da es so rücksichtslos außerhalb aller Normen steht, bleibt uns nur übrig, eine neue Kategorie dafür zu ersinnen.

Le Schizo et les Langues von Louis Wolfson (erschienen 1971) ist ein solches Buch. Es ist nicht nur überaus eigenartig, sondern auch vollkommen anders als alles früher Dagewesene. Es reicht nicht zu behaupten, es stünde in den Randbezirken der Literatur: Streng genommen steht es in den Randbezirken der Sprache selbst. Von einem Amerikaner auf Französisch geschrieben, lässt sich ihm nur ein Sinn abgewinnen, wenn man es als amerikanisches Buch betrachtet: Allerdings ist es aus Gründen, die noch darzulegen sind, ein Buch, bei dem an eine Übersetzung überhaupt nicht zu denken ist. Es befindet sich in der Schwebe zwischen den beiden Sprachen, und nichts wird es jemals aus diesem prekären Zustand befreien können. Denn wir haben es hier nicht einfach mit einem Schriftsteller zu tun, der aus freien Stücken in einer fremden Sprache schreibt. Der Autor dieses Buches hat auf Französisch geschrieben, weil er gar keine andere Wahl hatte. Die schiere Notwendigkeit hat ihn dazu getrieben, und das Buch selbst ist nichts Geringeres als das Ergebnis eines Kampfes ums Überleben.

Louis Wolfson ist schizophren. Er wurde 1931 geboren und lebt in New York. Mangels einer besseren Kategorie würde ich sein Buch als Autobiographie in der dritten Person bezeichnen, als Erinnerungen aus der Gegenwart, in denen er von den Umständen seiner Krankheit und der höchst bizarren Methode berichtet, die er entwickelt hat, um damit zurechtzukommen. Indem er sich als «schizophrenen Erforscher von Sprachen», als «geistig kranken Forscher», als «schwachsinnigen Erforscher von Idiomen» betitelt, verwendet Wolfson einen Erzählstil, in dem Elemente aus klinischem Report und phantasiereicher Dichtung gleichermaßen zur Geltung kommen. Nirgends in dem Text finden sich auch nur die kleinsten Spuren von Wahnsinn oder «Verrücktheit»: Ein Satz wie der andere ist präzise, freimütig und sachlich formuliert. Je tiefer wir bei der Lektüre ins Labyrinth der Obsessionen des Autors eindringen, desto intensiver fühlen wir mit ihm, und schließlich identifizieren wir uns mit ihm nicht anders als mit den Verschrobenheiten und Seelenqualen eines Kirilow oder Molloy.

Wolfsons Problem ist die englische Sprache, die für ihn unerträglich qualvoll geworden ist und die er weder sprechen noch hören möchte. Zehn Jahre lang ist er in Nervenheilanstalten ein und aus gegangen, hat standhaft jede Zusammenarbeit mit den Ärzten verweigert, und jetzt, als er dieses Buch schreibt (Ende der sechziger Jahre), lebt er bei Mutter und Stiefvater in deren beengter ärmlicher Wohnung. Tag für Tag sitzt er am Schreibtisch, beschäftigt sich mit Fremdsprachen – in der Hauptsache Französisch, Deutsch, Russisch und Hebräisch – und schützt sich vor etwaigen Attacken des Englischen, indem er sich die Finger in die Ohren steckt oder über Kopfhörer in seinem Transistorradio fremdsprachigen Sendern lauscht; oder er verwendet eine Kombination dieser beiden Methoden, den Finger in einem Ohr, eine Kopfhörerhälfte am anderen. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahmen kann er die Invasion des Englischen jedoch nicht immer abwehren – wenn zum Beispiel seine Mutter ins Zimmer platzt und ihm mit ihrer schrillen, lauten Stimme etwas zuschreit. Dem Forscher wird klar, dass er das Englische nicht einfach vertreiben kann, indem er es in eine andere Sprache übersetzt. Es ändert nichts an einem englischen Wort, wenn er es in dessen fremdsprachiges Äquivalent umwandelt; damit ist das Wort nicht zerstört, sondern nur beiseitegeschoben. Es ist immer noch da und bedroht ihn.

Das System, das er als Reaktion auf dieses Problem entwickelt, ist komplex, doch kann man ihm, wenn man sich einmal damit vertraut gemacht hat, ohne Mühe folgen; denn es gründet ja auf einer Reihe in sich konsistenter Regeln. Die Sprachen, die Wolfson gelernt hat, versetzen ihn in die Lage, englische Wörter und Sätze in phonetische Kombinationen von fremden Buchstaben, Silben und Wörtern zu verwandeln, die neue linguistische Gebilde formen, und die ähneln dem Englischen nicht nur von der Bedeutung, sondern auch vom Klang her. Seine Schilderungen dieser Wortakrobatik sind sehr detailliert – oft bis zu zehn Seiten lang –, aber vielleicht kann das Endresultat eines der einfacheren Beispiele eine Vorstellung von der Methode vermitteln. Der Satz «Don’t trip over the wire!» wird auf folgende Weise verändert: «Don’t» wird zum deutschen «Tu’ nicht», «trip» wird zu den ersten vier Buchstaben des französischen «trébucher», «over» wird das deutsche «über», «the» wird das hebräische «èth hé», und «wire» wird zum deutschen «Zwirn», dessen mittlere drei Buchstaben mit den ersten drei Buchstaben des englischen Wortes übereinstimmen: «Tu’ nicht tréb über èth hé zwirn.» Am Ende dieses Passus schreibt Wolfson, erschöpft, aber zufrieden mit seinen Bemühungen: «Wenn auch der Schizophrene kein Gefühl der Freude empfand, an diesem Tag diese fremden Wörter zum Auslöschen einiger weiterer Wörter seiner Muttersprache gefunden zu haben (denn vielleicht war er ja einer solchen Gefühlsregung gar nicht fähig), so hat er sich doch gewiss viel weniger elend gefühlt als sonst immer, zumindest für eine Weile.»

Das Buch ist freilich weit mehr als bloß ein Katalog solcher Umwandlungen. Zwar stehen sie im Zentrum des Werkes und bezeichnen in gewissem Sinn seinen Zweck, aber der wahre Gehalt liegt anderswo: in den menschlichen Situationen und Alltagsszenen, innerhalb deren sich Wolfsons intensive Beschäftigung mit Sprache abspielt. Es gibt wohl wenige Bücher, die ein so unmittelbares Gefühl von dem vermitteln, was es heißt, in New York zu leben und durch die Straßen dieser Stadt zu gehen. Wolfsons Blick fürs Detail ist peinigend genau, und jede Nuance seiner Beobachtungen – sei es die gefängnishafte Atmosphäre des Lesesaals der Bücherei in der 42. Straße, der Albtraum einer Highschool-Tanzveranstaltung, die Prostitution am Times Square oder ein Gespräch mit seinem Vater auf einer Parkbank – wird mit Aufmerksamkeit und Autorität dargestellt. Unablässig ist eine seltsame Tendenz zur Objektivierung am Werk, und ein Großteil der Faszination dieser Prosa ist das Ergebnis dieses Distanznehmens, das den Leser wie ein Köder immer stärker hinzieht zu dem, was da geschrieben steht. Indem er von sich selbst in der dritten Person spricht, kann Wolfson zwischen sich und sich einen freien Raum erschaffen und so sich selbst von seiner Existenz überzeugen. Der französischen Sprache kommt im Wesentlichen die gleiche Funktion zu. Er betrachtet seine Welt durch eine andere Linse, er verschiebt seine – ins Englische eingemauerte – Welt durch Wortspiele in eine andere Sprache, und so kann er sie mit neuen Augen und auf eine Weise, die für ihn weniger bedrückend ist, sehen, als ob er wenigstens ein kleines bisschen Einfluss darauf nehmen könnte.

Seine evokativen Fähigkeiten sind phantastisch, und mit seinem tonlosen, trockenen Stil gelingt ihm eine Schilderung des Lebens unter den armen Juden, die so schauderhaft komisch und lebendig ist, dass sie jedem Vergleich mit den Anfangsszenen von Célines Tod auf Kredit standhält. Es scheint außer Frage zu stehen, dass Wolfson weiß, was er tut. Seine Ziele sind nicht ästhetischer Natur, doch hat er mit seiner beharrlichen Entschlossenheit, alles aufzuzeichnen und die Tatsachen so genau wie möglich festzuhalten, die wahre Absurdität seiner Situation entlarvt, einer Situation, auf die er häufig genug mit ironischem Sinn für Distanz und Launigkeit zu reagieren weiß.

Seine Eltern ließen sich scheiden, als er vier oder fünf Jahre alt war. Sein Vater hat den größten Teil seines Lebens am Rand der Welt verbracht: ein Arbeitsloser, der in billigen Hotels wohnte und seine Tage Zigarren rauchend in Selbstbedienungsrestaurants verbrachte. Er behauptet, bei der Eheschließung habe er «die Katze im Sack gekauft», denn erst hinterher habe er erfahren, dass seine Frau ein Glasauge hatte. Als sie schließlich erneut heiratete, verschwand ihr zweiter Mann bald nach der Hochzeit und ließ ihren Diamantring mitgehen – sie spürte ihn jedoch auf, und als er tausend Meilen entfernt aus einem Flugzeug stieg, wurde er verhaftet und durfte das Gefängnis nur unter der Bedingung verlassen, dass er zu ihr zurückkehrte.

Die Mutter herrscht in dem Buch wie ein tyrannisches Gespenst, und wenn Wolfson von seiner «langue maternelle» schreibt, ist klar, dass sein Abscheu vor dem Englischen in direktem Zusammenhang zu seinem Abscheu vor der Mutter steht. Sie ist eine groteske Gestalt, ein Monster an Vulgarität, eine Frau, die sich über die Sprachstudien ihres Sohnes lustig macht, immerzu nur Englisch mit ihm redet und stets genau das Gegenteil von dem tut, was sein Leben erträglich machen könnte. In ihrer Freizeit spielt sie mit voll aufgedrehter Lautstärke Schlager auf einer elektrischen Orgel. Während er mit den Fingern in den Ohren über seinen Büchern sitzt, sieht er den Lampenschirm auf seinem Schreibtisch zittern und spürt die Vibrationen der Musik im ganzen Zimmer, und wenn er dann von dem betäubenden Lärm durchdrungen ist, muss er zwangsläufig an die englischen Texte dieser Songs denken und gerät in heftigste Verzweiflung. (Ein halbes Kapitel lang beschäftigt er sich mit der linguistischen Transformation des Textes von Good Night Ladies.) Aber Wolfson fällt niemals ein Urteil über sie. Er beschreibt nur. Und wenn er sich gelegentlich ein selbstverleugnerisches Grinsen gestattet, ist das offenbar sein gutes Recht.

«Natürlich beeinträchtigte ihre Sehschwäche in keiner Weise die Leistungsfähigkeit ihrer Sprechwerkzeuge (vielleicht sogar im Gegenteil), und sie sprach immer, oder doch meistens, mit sehr hoher und sehr schriller Stimme; dabei war sie durchaus fähig, am Telefon zu flüstern, wenn sie heimlich, das heißt ohne sein Wissen, die Einweisung ihres Sohnes in die psychiatrische Klinik betrieb.»

Abgesehen von der ständigen Bedrohung mit dem Englischen seitens der Mutter (die für ihn geradezu die Verkörperung dieser Sprache darstellt), leidet der Sprachforscher auch an ihrer Rolle als Ernährerin. Das ganze Buch durchzieht ein Widerstreit zwischen seinen linguistischen Beschäftigungen und seiner Besessenheit von Nahrungsmitteln, vom Essen, von der möglichen Verunreinigung seines Essens. Er schwankt zwischen heftigem Ekel beim bloßen Gedanken ans Essen, als sei dies vollkommen unvereinbar mit seiner Spracharbeit, und fürchterlichen Fressorgien, von denen ihm dann noch stundenlang schlecht ist. Jedes Mal wenn er in die Küche geht, wappnet er sich mit einem ausländischen Buch, rezitiert lauthals gewisse fremdsprachige Sätze, die er auswendig gelernt hat, und zwingt sich, die englischen Etiketten auf den Verpackungen und Konservendosen nicht zu lesen. Während er diese Sätze wie Beschwörungsformeln zum Bannen böser Geister immer wieder vor sich hin spricht, reißt er die erstbeste Verpackung, die ihm in die Hände fällt, auf – irgendein Nahrungsmittel, das besonders bequem zu essen ist und in der Regel die wenigsten Nährstoffe hat – und stopft sich das Zeug in den Mund, wobei er immer darauf achtet, dass es nicht seine Lippen berührt, denn die sind seiner Überzeugung nach mit den Eiern und Larven von Parasiten verseucht. Nach solchen Gelagen kommen jedes Mal Selbstvorwürfe und Schuldgefühle in ihm hoch. Wie Gilles Deleuze in seinem Vorwort zu dem Buch bemerkt: «Seine Schuldgefühle nach dem Essen sind nicht weniger groß, als wenn er seine Mutter hat sprechen hören. Es sind dieselben Schuldgefühle.»

Dies ist, glaube ich, der Punkt, an dem Wolfsons privater Albtraum und gewisse allgemeine Sprachprobleme einander berühren. Zwischen Sprechen und Essen besteht ein fundamentaler Zusammenhang, und gerade die Intensität von Wolfsons Erfahrung ermöglicht es uns zu erkennen, wie tiefgreifend diese Beziehung ist. Sprechen ist etwas Abnormes, eine Anomalie, eine biologisch bloß untergeordnete Funktion des Mundes, und viele Mythen über Sprachentstehung sind mit dem Begriff der Nahrungsaufnahme verbunden. Adam erhält die Macht, den Geschöpfen des Paradieses Namen zu geben, und wird später verbannt, weil er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Mystiker fasten, um sich auf den Empfang der Worte Gottes vorzubereiten. Bei der heiligen Kommunion verzehrt man den Leib Christi, das fleischgewordene Wort. Offenbar hat sich die lebensnotwendige Funktion des Mundes als Organ der Nahrungsaufnahme in Sprechen verwandelt, denn wenn uns irgendetwas zu Menschen macht und als Menschen definiert, so ist es die Sprache. Mit seiner Angst vor dem Essen, mit den Schuldgefühlen, die er ob seiner Maßlosigkeit empfindet, gesteht Wolfson seinen Verrat an der Aufgabe, die er sich gestellt hat: eine Sprache zu entdecken, mit der er leben kann. Essen ist ein Kompromiss, denn es erhält ihn im Kontext eines längst schon diskreditierten und unannehmbaren Weltgeschehens.

Letztlich betreibt Wolfson seine Suche in der Hoffnung, eines Tages wieder Englisch sprechen zu können – es ist eine Hoffnung, die immer wieder zwischen den Zeilen durchscheint. Mit der Entwicklung seines Transformationssystems, mit der Niederschrift des Buches selbst, betreibt er den langsamen Ausstieg aus der hermetischen Qual seiner Krankheit. Indem er sich weigert, sich von irgendjemandem eine Behandlung aufdrängen zu lassen, indem er sich dazu zwingt, seinen Problemen allein entgegenzutreten und sie allein zu durchleben, wird er sich der Möglichkeit bewusst, unter anderen leben zu können – aus seiner Einmannsprache auszubrechen und an der allgemeinen Menschensprache teilzuhaben.

Das Buch, das er aus diesem Ringen heraus erschaffen hat, ist schwer einzuordnen, darf aber keineswegs als therapeutische Übung abgetan werden, als irgendeiner dieser Texte von Geisteskranken, die man in den Regalen der medizinischen Fachbüchereien verschwinden lässt. Meiner Meinung nach war es ein schwerwiegender Fehler, dass Gallimard Le Schizo et les Langues innerhalb einer psychoanalytischen Reihe herausgebracht hat. Eine solche Etikettierung kann nur als Versuch des Verlages gewertet werden, die Rebellion zu unterdrücken, die diesem Buch seine außerordentliche Kraft verleiht, und das «Moment der Raserei» zu dämpfen, von dem Wolfsons Werk so sehr durchdrungen ist.

Andererseits – auch wenn man nicht in die Falle tappt, dieses Buch lediglich als eine Krankengeschichte zu betrachten, sollte man es doch auch nicht vorschnell nach anerkannten literarischen Maßstäben beurteilen oder nach Parallelen zu anderen literarischen Werken suchen. Wolfsons Methode ähnelt in gewissem Sinn den kunstvollen Wortspielen in Finnegans Wake und in den Romanen von Raymond Roussel, doch wer auf dieser Ähnlichkeit beharrte, hätte den Sinn des Buches nicht begriffen. Louis Wolfson steht außerhalb der Literatur, wie wir sie kennen, und wer ihm gerecht werden will, muss ihn aus sich selbst heraus zu verstehen suchen. Denn nur so wird sein Buch erkennbar als das, was es ist: eines jener raren Werke, die unsere Wahrnehmung der Welt verändern.

1974

Hugo Balls Tagebücher

Von allen Bewegungen der frühen Avantgarde ist Dada diejenige, die uns heute noch am meisten zu sagen hat. Ihr war zwar nur ein kurzes Leben beschieden – alles begann 1916 mit den abendlichen Spektakeln im Zürcher Cabaret Voltaire und endete praktisch, wenngleich nicht offiziell, 1922 mit den tumultuarischen Pariser Demonstrationen gegen Tristan Tzaras Stück Le Cœur à gaz –, doch der Geist dieser Bewegung ist nie so ganz in den Verliesen der Geschichte verschwunden. Noch heute, mehr als fünfzig Jahre danach, vergeht keine Saison ohne ein neues Buch oder eine Ausstellung über Dada, und es ist mehr als rein akademisches Interesse, das wir der Erörterung der von Dada gestellten Fragen ungeschmälert entgegenbringen. Denn Dadas Fragen bleiben unsere Fragen, und wenn wir vom Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft sprechen, von Kunst im Gegensatz zum Handeln und von Kunst als Handeln, kommen wir gar nicht daran vorbei, Dada als Quelle und Beispiel heranzuziehen. Wir wollen uns nicht nur um seiner selbst willen damit befassen, sondern weil wir spüren, dass er uns helfen kann, unsere eigene Gegenwart zu begreifen.

Die Tagebücher von Hugo Ball sind ein guter Ausgangsort. Ball, eine Schlüsselfigur bei der Gründung von Dada, war auch der erste Abtrünnige dieser Bewegung; seine Aufzeichnungen aus den Jahren von 1914 bis 1921 sind ein außerordentlich wertvolles Dokument. Die Flucht aus der Zeit erschien in Deutschland erstmals 1927, kurz bevor Ball mit einundvierzig Jahren an Magenkrebs starb; das Buch setzt sich aus Passagen zusammen, die Ball seinen Tagebüchern entnommen und im Licht seiner späteren Einsichten bearbeitet hat. Es ist weniger ein Selbstporträt als vielmehr eine Schilderung seiner inneren Entwicklung, eine geistige und intellektuelle Abrechnung, die sich streng dialektisch von Eintrag zu Eintrag bewegt. Es werden auch einige biographische Einzelheiten erwähnt, doch um den Leser zu fesseln, reicht schon das schiere Abenteuer des Denkens, das hier beschrieben wird. Und Ball war ein scharfsinniger Denker; als Früh-Dadaist ist er womöglich unser bester Zeuge für die Zürcher Gruppe, und weil Dada nur ein Stadium seiner komplexen Entwicklung war, gewährt uns der Blick auf dieses Phänomen durch seine Augen eine Perspektive, die wir bis dahin nicht gekannt haben.

Hugo Ball war ein Kind seiner Zeit, und sein Leben scheint die Leidenschaften und Widersprüche der europäischen Gesellschaft im ersten Viertel dieses Jahrhunderts in ungewöhnlich hohem Ausmaß zu verkörpern. Leser der Werke Nietzsches; Inspizient und Bühnenautor für das expressionistische Theater; linker Journalist; Varietépianist; Dichter; Romancier; Autor von Werken über Bakunin, die deutschen Intellektuellen, das Frühchristentum und die Schriften von Hermann Hesse; Konvertit zum Katholizismus: Zum einen oder anderen Zeitpunkt ist er mit nahezu allen politischen und künstlerischen Strömungen seiner Zeit in Berührung gekommen. Und doch waren Balls Einstellungen und Interessen trotz seiner vielfältigen Aktivitäten sein Leben lang bemerkenswert konsistent, und letztlich kann man seine gesamte Laufbahn als ein planvolles, ja fieberhaftes Streben, sein Dasein auf eine fundamentale Wahrheit, eine einzige, absolute Realität zu gründen, betrachten. Zu sehr Künstler, um Philosoph zu sein, zu sehr Philosoph, um Künstler zu sein, zu sehr mit dem Schicksal der Welt beschäftigt, um nur an seine persönliche Erlösung zu denken, und doch zu introvertiert, um als Aktivist zu wirken, kämpfte Ball um Antworten, die seine inneren und äußeren Bedürfnisse irgendwie gleichzeitig befriedigen könnten, und selbst in der tiefsten Einsamkeit sah er sich nie als getrennt von der Gesellschaft, in der er lebte. Er war ein Mensch, der sich alles mühsam erarbeiten musste, dessen Selbsteinschätzung nie ein starres Bild war und dessen moralische Integrität ihn zu ungestümen idealistischen Gesten, die mit seiner zarten Natur ganz und gar nicht in Einklang standen, befähigte. Um dies zu begreifen, brauchen wir nur das berühmte Foto, das Ball beim Vortrag eines Lautgedichts im Cabaret Voltaire zeigt, zu betrachten. Gehüllt in ein absurdes Kostüm, in dem er wie eine Kreuzung aus dem Tin Man und einem wahnsinnigen Bischof erscheint, den Zylinderhut eines Hexendoktors auf dem Kopf, starrt er mit einer Miene ungeheuren Entsetzens in die Kamera. Ein unvergesslicher Anblick – dieses eine Bild von ihm liefert uns nichts Geringeres als eine Parabel seines Charakters, eine perfekte Darstellung des Kampfes Innen gegen Außen, der Begegnung von Dunkelheit und Dunkelheit.

Im Vorspiel zu Die Flucht aus der Zeit bietet Ball dem Leser eine kulturelle Analyse, die den Ton für alles Folgende angibt: «So stellten sich 1913 Welt und Gesellschaft dar: Das Leben ist völlig verstrickt und gekettet … Die innigste Frage aber bei Tag und Nacht ist diese: Gibt es irgendwo eine Macht, stark und vor allem lebendig genug, diesen Zustand aufzuheben?» An anderer Stelle, in seinem Vortrag über Kandinsky (1917), formuliert er den gleichen Gedanken noch eindringlicher: «Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären … Der Sinn der Welt schwand.» Solche Gefühle sind uns nicht neu. Sie bestätigen unseren Eindruck vom intellektuellen Klima Europas zur Zeit des Ersten Weltkrieges und spiegeln wider, was nach allgemeiner Überzeugung zur Ausbildung der modernen Sensibilität geführt hat. Unerwartet kommt freilich, was Ball im weiteren Verlauf des Vorspiels zu sagen hat: «Es konnte den Anschein haben, als sei die Philosophie an die Künstler übergegangen; als gingen von ihnen die neuen Impulse aus. Als seien sie die Propheten der Wiedergeburt. Wenn wir Kandinsky oder Picasso sagten, meinten wir nicht Maler, sondern Priester; nicht Handwerker, sondern Schöpfer neuer Welten, neuer Paradiese.» Der Traum von einer vollkommenen Erneuerung kann nicht Seite an Seite mit dem schwärzesten Pessimismus existieren, doch Ball sah da keinen Widerspruch: Für ihn gehörten die beiden Haltungen zu ein und demselben Ansatz. Die Kunst war für ihn keine Möglichkeit, sich von den Problemen der Welt abzuwenden, sondern eine, ebendiese Probleme direkt anzugehen. Diese Überzeugung half Ball über seine schwierigste Lebensphase hinweg, zunächst bei der Arbeit am Theater – «Das Theater allein ist imstande, die neue Gesellschaft zu formen» –, sodann bei seiner von Kandinsky beeinflussten Idee von der Vereinigung aller künstlerischen Mittel und Kräfte und schließlich bei seinen Dada-Aktivitäten in Zürich.

Die Ernsthaftigkeit, mit der diese Erwägungen in den Tagebüchern ausgearbeitet werden, entkräftet einige Mythen über den Ursprung von Dada, insbesondere die Vorstellung, Dada sei im Grunde kaum mehr als das pennälerhafte Getue einer Gruppe junger Kriegsdienstverweigerer, eine mutwillige Clownerie nach Art der Marx Brothers. Natürlich gab es bei den Vorstellungen im Cabaret Voltaire manch krasse Albernheit, doch für Ball waren derlei Possen nur Mittel zum Zweck, eine unumgängliche Katharsis: «Die vollendete Skepsis ermöglicht auch die vollendete Freiheit … Man kann fast sagen, dass, wenn der Glaube an ein Ding oder an eine Sache fällt, dieses Ding und diese Sache ins Chaos zurückkehren, Freigut werden. Vielleicht aber ist das resolut und mit allen Kräften erwirkte Chaos und infolgedessen die vollendete Entziehung des Glaubens notwendig, ehe ein gründlicher Neuaufbau auf veränderter Glaubensbasis erfolgen kann.» Wenn wir also den Dada, zumindest in diesem frühen Stadium, verstehen wollen, müssen wir ihn als Überbleibsel alter humanistischer Ideale betrachten, als Versuch, in einer mechanistischen Epoche der Vereinheitlichung die Würde des Individuums wieder geltend zu machen, als Ausdruck von Verzweiflung und Hoffnung gleichermaßen. Balls spezieller Beitrag zu den Cabaret-Vorstellungen, seine Lautgedichte, seine «Gedichte ohne Worte», bestätigt dies. Er hat zwar die normale Sprache verworfen, jedoch nicht in der Absicht, die Sprache selbst zu vernichten. Ball hegte ein schier mystisches Verlangen, so etwas wie eine paradiesisch-unschuldige Redeweise wiederherzustellen, und in dieser neuen, rein emotionsgeladenen Form der Dichtung erblickte er eine Möglichkeit, dem magischen Wesen der Worte auf die Spur zu kommen. «Man verzichte», empfiehlt er, «mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück …»

Nur sieben Monate nach Eröffnung des Cabaret Voltaire zog sich Ball aus Zürich zurück, zum einen erschöpft, zum anderen desillusioniert von der Entwicklung, die Dada nahm. Vornehmlich geriet er mit Tzara in Konflikt, dessen Ziel es war, Dada zu einer der vielen Bewegungen der internationalen Avantgarde zu machen. John Elderfield führt dazu in der Einführung zur englischen Ausgabe von Balls Tagebüchern aus: «Einmal aus Zürich fort, meinte er in dem, was sie dort getrieben hatten, eine gewisse ‹Dada-Überheblichkeit› zu erkennen. Er hatte geglaubt, sie seien der konventionellen Moral aus dem Weg gegangen, um sich selbst als neue Menschen zu erheben, sie hätten den Irrationalismus als einen Weg zum ‹Übernatürlichen› begrüßt, Sensationsmache sei die beste Methode, das Akademische zu zerstören. All dies bezweifelte er nun – die Verworrenheit und der Eklektizismus der Cabaret-Vorstellungen waren ihm peinlich –, und die Isolation von seiner Epoche erschien ihm als der sichere und ehrlichere Weg zum Erreichen seiner persönlichen Ziele …» Einige Monate später jedoch kehrte Ball nach Zürich zurück, um an den Veranstaltungen der Galerie Dada teilzunehmen und seinen bedeutenden Vortrag über Kandinsky zu halten, aber schon nach kurzer Zeit geriet er wieder mit Tzara aneinander, und diesmal war der Bruch endgültig.

Im Juli 1917 wurde Dada unter Tzaras Führung offiziell zur Bewegung erklärt; eine eigene Zeitschrift wurde gegründet, Manifeste veröffentlicht und eine Werbekampagne gestartet. Tzara war ein unermüdlicher Organisator, ein echter Avantgardist im Stile eines Marinetti, und schließlich führte er Dada unter Mitwirkung von Picabia und Serner weit fort von den ursprünglichen Ideen des Cabaret Voltaire, fort von dem, was Elderfield mit Recht «das frühere Gleichgewicht von Konstruktion und Negation» nennt, hin zu einer bravourösen Anti-Kunst. Wenige Jahre später kam es zu einer weiteren Spaltung der Bewegung, und Dada zerfiel in zwei Splittergruppen: die deutsche, vornehmlich politisch ausgerichtete Gruppe unter Führung von Huelsenbeck, George Grosz und den Brüdern Herzfelde, und Tzaras Gruppe, die 1920 nach Paris ging und sich für einen ästhetischen Anarchismus starkmachte, aus dem am Ende der Surrealismus hervorging.

Zweifellos gab Tzara der Bewegung eine Identität, andererseits aber nahm er ihr das moralische Ziel, das sie unter Ball angestrebt hatte. Während er Dada zur Doktrin erhob und mit einem Sortiment programmatischer Ideale ausstaffierte, führte Tzara ihn in Selbstwidersprüche und Ineffektivität. Was für Ball ein authentischer Aufschrei gegen alle Systeme des Denkens und Handelns gewesen war, wurde zu einer Organisation unter vielen anderen. Die Pose der Anti-Kunst, die endlose Provokationen und Attacken ermöglichte, war im Grunde nicht besonders glaubwürdig. Denn Kunst, die sich gegen die Kunst richtet, ist gleichwohl Kunst; man kann nicht beides zugleich haben. Tzara schrieb in einem seiner Manifeste: «Die wahren Dadaisten sind gegen Dada.» Die Unmöglichkeit, dies als Dogma zu etablieren, liegt auf der Hand, und Ball, der diesen Widerspruch schon sehr früh erkannt hatte, sprang denn auch ab, sobald er die ersten Anzeichen dafür sah, dass Dada zu einer Bewegung wurde. Für die anderen jedoch wurde Dada zu einer Art Bluff, den es immer weiter auf die Spitze zu treiben galt. Aber die eigentliche Motivation war verschwunden, und Dada starb schließlich auch nicht so sehr an dem Kampf, den er ausgetragen hatte, sondern an seiner eigenen Trägheit.

Balls Position hingegen scheint heute nicht weniger zu gelten als 1917. Von dem, was wir inzwischen als verschiedene Stadien und divergierende Richtungen von Dada erkannt haben, bleibt meiner Meinung nach die von Balls Beteiligung geprägte Phase die stärkste der Bewegung, die Phase, die uns heute am überzeugendsten anspricht. Eine solche Ansicht mag ketzerisch sein. Aber wenn man bedenkt, wie sehr Dada sich unter Tzara verbrauchte, wie er sich dem dekadenten System des Gebens und Nehmens der bourgeoisen Kunstwelt unterwarf und genau das Publikum vor den Kopf stieß, um dessen Gunst er buhlte, dann kann dieser Zweig von Dada nur als Symptom der wesenhaften Schwäche der Kunst im modernen Kapitalismus gesehen werden – eingesperrt in den unsichtbaren Käfig dessen, was Marcuse «repressive Toleranz» genannt hat. Ball jedoch hat Dada nie als Selbstzweck betrachtet, und ebendeshalb konnte er flexibel bleiben und Dada als Instrument zur Erreichung höherer Ziele benutzen, zur Formulierung einer authentischen Kritik seiner Epoche. Für Ball war Dada nichts anderes als ein Name für radikalen Zweifel, eine Möglichkeit, alle existierenden Ideologien hinwegzufegen und sich dann einer Untersuchung der realen Welt zuzuwenden. Und so gesehen kann die Energie des Dada nie aufgebraucht werden: Die Zeit einer solchen Idee ist immer die Gegenwart.

Dass Ball 1921 zum K‡atholizismus seiner Kindheit zurückkehrte, ist im Grunde gar nicht so merkwürdig, wie es zunächst scheinen mag. Dieser Schritt stellt keinen echten Richtungswechsel in seinem Denken dar und kann in mancher Hinsicht einfach als eine weitere Stufe seiner Entwicklung gesehen werden. Hätte er länger gelebt, spricht nichts gegen die Annahme, dass er noch weitere Metamorphosen vollzogen hätte. Jedenfalls entdecken wir in seinen Tagebüchern ein ständiges Ineinandergreifen von Ideen und Interessen, zum Beispiel selbst während der Dada-Phase immer wieder Hinweise auf das Christentum («Ich weiß nicht, ob wir trotz all unserer Anstrengungen über Wilde und Baudelaire hinauskommen werden; ob wir nicht doch nur Romantiker bleiben. Es gibt wohl noch andere Wege, das Wunder zu erreichen, auch andere Wege des Widerspruchs – die Askese zum Beispiel, die Kirche»), und während der Zeit seiner tiefsten Auseinandersetzung mit dem Katholizismus beschäftigt er sich mit symbolhaften Ausdrucksformen, die deutlich an die Lautgedicht-Theorien seiner Dada-Phase erinnern. 1921 bemerkt er in einem seiner letzten Einträge: