In Liebe, Hope - Maike Kops - E-Book

In Liebe, Hope E-Book

Maike Kops

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Beschreibung

"Die Frau am Empfang nickte ihr lächelnd zu, ebenso wie alle Krankenschwestern, denen sie begegnete. Inzwischen kannte man sie, immerhin besuchte sie ihren Bruder jeden Tag. Das hieß, fast jeden, an manchen Tagen schaffte sie es einfach nicht, weil sie schlichtweg zu betrunken war. " Hope ist krank. Magersucht, Depressionen, selbstverletzendes Verhalten und übermäßiger Alkoholkonsum sind ihre Wege, dem Leben zu entfliehen. Als ihr Zwillingsbruder Leo ins Koma fällt, ist sie überfordert und beginnt, Briefe an ihn zu schreiben, um besser mit dem Verlust klar zukommen.

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Für alle jene, die sich unverstanden fühlen. Ich hoffe, ich konnte euch eine Stimme geben.

HOPE

Leo,

jetzt liegst du schon zwei Monate im Koma und erst jetzt kam mir die Idee, dir Briefe zu schreiben, damit du sie, wenn du wieder wach bist und ich weg bin (nicht im Sinne von tot, sondern im Sinne von woanders), lesen kannst.

Gesprochene Worte sind leider viel vergänglicher als geschriebene. Ich glaube, diese Briefe werden wie ein Tagebuch, nur, dass es an jemanden adressiert ist, an jemanden, der mich besser kennt als jeder andere. Und wer käme da schon alles in Frage? Richtig.

Nur du. Immerhin bist du mein Zwillingsbruder. Aber genug davon. Eigentlich wollte ich dir erzählen, wie sehr du mir fehlst, wie viel du mir bedeutest.

„Der Mensch ist elektrisch, seit du weg bist, bin ich ohne Strom“, hat Prinz Pi mal gesagt. Und verdammt, ich hätte nie gedacht, wie treffend diese Worte sein können.

Du weißt, dass ich mich deinetwegen immer zusammengerissen habe.

Deinetwegen habe ich öfter gegessen, mich nicht ganz so oft selbstverletzt, nicht so viel geraucht und getrunken.

Aber dann war da plötzlich dieses beschissene Hirnaneurysma und du liegst jetzt im Koma. Und seitdem rutsche ich ab. Hungere, bis ich umkippe, schneide, bis mir schwindlig wird, rauche und trinke, bis ich nicht mehr klar denken kann. Das geht jetzt seit zwei Monaten so. Anfangs dachte ich, dass das okay so wäre, du bekommst es ja schließlich nicht mit.

Aber dann ist mir klargeworden, dass du es merken wirst, wenn du wieder aufwachst. Und das will ich nicht. Ich will, dass du einer gesünderen Hope, die das hinter sich gelassen hat, ins Gesicht sehen kannst. Und deswegen werde ich kämpfen. Für dich. Du bist das Wichtigste in meinem Leben.

In Liebe,

Hope

***

Sie atmete tief aus, während sie den Stift ablegte. Unbewusst fing sie an, über eine ihrer Narben zu reiben. Die tiefste, die von dem Mal war, als Leo ins Koma fiel. Sie packte das nicht, so viel wusste sie. Es machte sie wahnsinnig, nicht mehr mit ihm reden zu können. Sie wollte schreien, bis sie heiser war. Aber das tat sie nicht. Stattdessen schwieg sie, schluckte ihren Kummer herunter.

Das konnte sie gut. Ihr Magen knurrte. Schnell presste sie die Hand darauf, blickte auf die Uhr, rechnete aus, wie lange es her war, dass sie gegessen hatte. Für einen Moment dachte sie darüber nach, das nächste Essen noch eine Stunde herauszuschieben. Aber sie wusste, wie das lief. Nach der Stunde würde sie noch eine Stunde dranhängen. Und dann noch eine. So würde sie ihr Vorhaben, für Leo zu kämpfen, nie durchziehen können. Also stand sie auf, ging in die Küche und holte sich einen Apfel. Leo liebte Äpfel und mit einem Apfel war das Fastenbrechen erträglich. Na ja, nicht direkt erträglich, aber auf jeden Fall erträglicher. Es war okay. Zumindest redete sie sich das ein, während sie mit Tränen in den Augen – zum einen, weil der Apfel sie so sehr an Leo erinnerte, zum anderen, weil sie sich selbst so sehr dafür hasste – in den Apfel biss.

***

Leo,

ich war heute im Krankenhaus und habe ein bisschen mit dir geredet. Nicht, weil ich sowas irgendwie wirksam finde. Ich meine, dann würde ich ja diese Briefe nicht schreiben. Aber meine Therapeutin meinte, das würde helfen. Blöde Tusse.

Wie auch immer. Ich hab dir dann erzählt, dass ich einen Brief für dich habe und ihn neben dein Bett gelegt.

Gott, es ist so grausam, dich da liegen zu sehen, angeschlossen an gefühlt dreitausend Maschinen. Du bist tot und gleichzeitig lebst du, so fühlt es sich zumindest an. Schon komisch. Ich hab das Gefühl, dass es bei mir genau andersherum ist. Ich lebe und bin gleichzeitig tot. Ich muss dir das nicht erklären, denke ich. Du weißt, was ich meine, oder? Gott, es tut so weh. So verdammt weh. Bitte, wach schnell wieder auf. Dich nicht lachen zu hören, nicht mit dir reden oder streiten zu können, bringt mich noch um.

Marie hat jetzt übrigens einen Neuen.

Sie meinte, „ein Freund, der im Koma liegt und sie nicht mal befriedigen kann“ (das hat sie wirklich gesagt, die kleine Schlampe), wäre „nutzlos“. Es tut mir leid, dir das zu sagen, Bruderherz, aber ich hab dir gleich gesagt, dass sie dich nicht wirklich liebt. Na ja, als sie das gesagt hat, bin ich komplett ausgerastet und auf sie losgegangen. Jetzt hat sie zwar nur ein paar Kratzer, immerhin weißt du ja, dass ich nicht die Stärkste bin, aber ich hoffe, dass sie nie wieder so schlecht über dich redet. Das wäre echt das Letzte.

Und bitte sei deshalb nicht sauer auf mich, du weißt, ich habe das nur getan, weil ich dich liebe.

In Liebe,

Hope

***

Dass Hope selbst ein blaues Auge hatte, verriet sie nicht. Alles musste Leo ja auch nicht wissen. Sie versuchte, die Auseinandersetzung als etwas Positives zu betrachten, immerhin trug sie noch ein paar weitere blaue Flecken – ein Zeichen von Schmerz. Und das Gute daran war, dass der Schmerz nicht mal absichtlich war. Sie redete sich ein, dass sie auf dem Weg der Besserung war.

Dabei war es gerade mal Tag 2 ihres Vorhabens.

***

Leo,

ich bin betrunken, deswegen tut es mir leid, wenn du Probleme hast, das hier zu lesen oder der ganze Mist hier keinen Sinn ergibt. Generell tut mir so viel leid.

Dass mein letzter Brief fünf Tage her ist.

Dass du im Koma liegst und nicht ich. Du könntest dein Leben leben und ich würde einfach nur rumliegen und hätte endlich Ruhe von diesen schrecklichen Gedanken. Es tut mir leid, dass ich keine bessere Schwester war. Aber glaub mir, wenn du wieder aufwachst, wird sich das ändern. Es tut mir leid, dass du dir meinetwegen immer so viel Sorgen gemacht hast. Es tut mir leid, dass du dir jetzt keine machen kannst, weil du zurzeit nicht richtig lebst. Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid. Alles.

Ignorier die Wasserflecken und die leicht verschwommene Tinte einfach, okay? Es ist nur…ich bin betrunken und du weißt ja, wie emotional ich werden kann, wenn ich betrunken bin.

Gott, was ist nur los mit mir? Warum bin ich so kaputt und du scheinst das genaue Gegenteil zu sein?

Leo, du bist mein Pflaster, so kitschig sich das auch anhören mag. Ich glaube, ohne dich wäre ich noch kaputter. Und dafür will ich dir danken, Bruderherz.

Danke für alles.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich bin wieder nüchtern – und verkatert.

Aber gut, ich bin selbst schuld. Der Brief gestern tut mir…nicht leid. Kein bisschen. Er enthält nur die Wahrheit.

Und ich weiß, wie wichtig dir die Wahrheit ist.

Ich vermisse dich. Komm bitte zurück.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

du glaubst nicht, was passiert ist.

Yunnis, der Typ, in den ich seit 3 Jahren verliebt bin, hat mich gefragt, ob wir mal ausgehen. Und ich weiß, dass du kein Problem mit ihm hast, also…wenn du aufwachst und wir zusammen sein sollten (Betonung liegt auf „sollten“, du weißt ja, dass ich der Meinung bin, dass sich niemals jemand in mich verlieben wird), wirst du – denke ich zumindest – nicht komplett ausrasten.

Ich halte dich auf dem Laufenden, wenn man das so nennen kann.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

zum ersten Mal in meinem Leben scheint mein Name zu passen. Denn, verdammt, es gibt Hoffnung! Zum ersten Mal in meinem Leben sitze ich nicht hoffnungslos in der Gegend herum und träume vor mich hin. Du weißt schon, von wegen „perfekte Beziehung“, bla bla bla.

Das Date (Gott, wie bescheuert sich das anhört) mit Yunnis war fantastisch.

Dabei war es gar nicht so datemäßig. Ich war bei ihm zu Hause. Wir haben Musik gehört, geraucht, geredet. Wenn er vorher nicht explizit gefragt hätte „Willst du mal mit mir ausgehen?“, hätte ich gedacht, dass das ein rein platonisches Treffen wäre. Na ja, außer am Ende. Da hat er mich geküsst. Erst kurz, dann länger. Und verdammt, es war einfach unglaublich. Es ist grad mal zwei Stunden her und ich vermisse es jetzt schon.

Eigentlich würde ich das ja Tamara erzählen, aber mit der habe ich mich gestritten, weil ich (angeblich), seitdem du im Koma liegst, noch introvertierter bin. Mich noch mehr in meine „Krankheiten“ (sie hat wirklich Anführungszeichen in die Luft gemacht) stürze. Gut, das war anfangs so, aber ich wäre nicht die Erste, die nach einem Schicksalsschlag noch tiefer abrutscht, oder etwa nicht? Eigentlich war Tamara nie meine beste Freundin, dafür hat sie sich zu wenig mit meinen Problemen auseinandergesetzt.

Hab ich dir je erzählt, dass sie mal Diät-

Tipps von mir wollte? Diät-Tipps von ´ner Essgestörten, ganz toll. Wenn ich dran denke, werd ich jetzt noch ganz sauer. Ich könnte sie erwürgen.

Obwohl…das wäre wohl weniger gut.

Tamara ist immerhin – mal abgesehen von dir – die Person, mit der ich am meisten zu tun habe.

Verdammt, ich vermisse dich so sehr, es bringt mich um. Ich will doch einfach nur mal wieder von dir in den Arm genommen werden. Aber das geht ja nicht. Scheißarzt. Dass er mir ausgerechnet dich wegnimmt, ist einfach nur unerträglich. Ich weiß, wie gemein das klingt, aber…ich wünschte, es hätte jemand anderen getroffen.

Dabei meine ich das nicht mal so gemein. Ich will dich doch einfach nur zurück. Mehr nicht. Ist das denn zu viel verlangt? Dass ich meinen geliebten Zwillingsbruder wieder zurückwill? Ich schätze, ich werde niemals eine Antwort bekommen.

Wir alle vermissen dich unheimlich.

In Liebe,

Hope

P.S.: Eben habe ich gemerkt, wie der Brief von Glück zu Enttäuschung zu Wut und dann zu Sehnsucht gesprungen ist.

Ob das irgendetwas über mich – oder besser gesagt mein Leben – aussagt?

***

Als Hope am nächsten Morgen in der Schule saß, konnte sie sich kaum konzentrieren. Das hieß, noch weniger als sonst. Ihre Konzentration hatte dank ihrer Essstörung – und natürlich den anderen Päckchen, die sie mit sich herumschleppte – schon vor Langem nachgelassen. Als Leo dann ins Koma gefallen war, hatte sie sich noch weniger konzentrieren können, aber heute war es besonders schlimm.

Sie war nervös. Ihr Fuß wippte auf und ab, nahezu im Viertelsekundentakt, ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte. In ihrem Inneren baute sich Druck auf, ausgelöst durch die Gefühle, die gnadenlos auf sie einstürzten, sie unaufhörlich erdrückten. Und dass sie den Stoff nicht mal annähernd verstand, machte es nicht besser. Innerlich sah sie die Anspannungskurve, die ihre Ex-Therapeutin ihr damals als „Hausaufgabe“ gegeben hatte, vor sich.

Und sie stellte sich vor, wie die Kurve von 4 langsam und konstant auf 8 hochkletterte.

Als sie es nicht mehr aushielt, ging sie mit zitternden Knien und bebenden Händen aufs Klo und schloss sich dort in einer Kabine ein. Schnell griff sie in ihre Hosentasche und zog eine Klinge hervor.

Ungeduldig packte sie sie aus dem Papier aus und schob den Ärmel hoch.

Hope atmete tief durch, zitternd, voller freudiger Erregung, ehe sie ansetzte. Sie drückte die Klinge auf ihre Haut und zog dann, bis ein klaffender Schnitt ihren Arm zierte. Für einen Moment war die Wunde weiß erst nach einem kurzen Augenblick trat das Blut heraus. Es lief langsam heraus, erst tropfenweise, dann unaufhörlich. Sie wusste, dass der Schnitt tief genug war, um genäht zu werden, aber das interessiert sie nicht.

Sie wiederholte den Prozess noch ein paar Mal, sodass ihr Arm schließlich von mehreren, tiefen, klaffenden Schnitten bedeckt war, aus denen so viel Blut floss, dass ihre komplette Hand mit Blut benetzt war.

Manche Schnitte waren so tief wie der erste, andere nicht, aber Hope vertiefte sie einfach. Anschließend klatschte sie etwas Klopapier auf die Wunden und befestigte den provisorischen Verband mit ein paar Haargummis. Sie beschloss, erst in der Pause im Sekretariat nach einem Verband zu fragen. Vorerst würde der Klopapierverband ausreichen müssen.

In der Pause ging sie ins Sekretariat.

Doch dort holte sie sich keinen Verband, sondern ließ sich nach Hause entlassen.

Auf dem Heimweg hielt sie noch schnell bei einem Supermarkt an, holte sich etwas Alkohol und ließ unauffällig eine 7€-Schachtel Zigaretten mitgehen.

Zuhause verzog sie sich in ihr Zimmer, nachdem sie sich einen richtigen Verband geholt hatte, und fing an, zu trinken.

Sie ertrug das einfach nicht mehr. Ihre Gefühle. Leos Verlust. Die Welt.

Als sie betrunken genug war, lachte sie und stellte fest, dass sie bereits eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht hatte.

„Zum Glück hab ich das nicht gezahlt“, murmelte sie, dann schlief sie ein.

***

Leo,

ich habe heute über Zwillinge recherchiert. Man spürt den anderen, schon bevor man die Mutter spürt. Man spielt miteinander. Deswegen ist die Bindung zwischen Zwillingen auch (oft) so intensiv. Ich bin über alle möglichen Sachen über Zwillinge gestolpert und am Ende bei „Verlorener Zwilling“ gelandet.

Ein verlorener Zwilling ist, wenn im Bauch zwar zwei Eizellen sind, ein Embryo davon aber nach zwei bis drei Monaten wieder „verschwindet“ und der andere übrigbleibt. Der Überlebende weiß bis dahin aber schon, dass da jemand war und sucht dann nach der Geburt verzweifelt den anderen, ohne wirklich etwas darüber zu wissen.

Verstehst du, was ich meine? Na ja, du kannst das ja, wenn du wieder aufgewacht bist, selbst nachlesen.

Was ich eigentlich damit sagen will, ist, dass ich die Leute, die ihren Zwilling verloren haben, jetzt irgendwie verstehen kann. Und gleichzeitig hab ich das Gefühl, dass ich das nicht mal annähernd nachvollziehen kann.

Immerhin hab ich doch einen Zwilling.

Das macht mich wahnsinnig. Jetzt gehör ich weder zu den Zwei-„Funktionierenden“-Zwillingen noch zu den Nur-Einer-Hat-Das-Tageslicht-Erblicken-Können-Zwillingen. Verstehst du, was ich meine? Ich hoffe es. Denn besser kann ich es nicht ausdrücken. Es geht einfach nicht, so sehr ich auch will.

Also, bitte, setz dem Ganzen ein Ende und wach wieder auf.

Ich liebe dich.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

jetzt sind schon drei Monate und ich fühle mich unfassbar einsam. Tamara hat endgültig keinen Bock mehr auf mich. Yunnis…Ach, keine Ahnung. Ich glaube, seitdem ich zugenommen habe (3 Kilo!!!), hält er sich ein bisschen distanzierter. Vielleicht bilde ich mir das nur ein. Vielleicht auch nicht. Ich hab keine Ahnung. Ich bin einfach nur verwirrt. Und ich will wieder hungern, tagelang nichts essen. Vielleicht will Yunnis mich ja dann wieder küssen. Das hat er seit unserem „Date“ nämlich nicht mehr getan – dabei hätte er genug Gelegenheiten gehabt. Scheiße. Jetzt heul ich. Wann hört das auf? Dieses Vermissen. Das Rattern in meinem Kopf, das mich wieder und wieder an die Kalorien, mein Gewicht, mein gesamtes Aussehen erinnert. Es ist unerbittlich.

Wie eine Uhr, die niemals stehen bleibt.

Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage. Am liebsten würde ich mich umbringen, da bin ich ganz ehrlich. Aber wenn du dann aufwachst, erlebst du das Gleiche wie ich. Und vielleicht es ja noch schlimmer, weil ich nicht „einfach so“ aufwachen kann. Weil ich dann endgültig weg bin. Also verharre ich hier, auf einer Welt, die ich nicht ertrage. Eine Welt, die mich scheinbar unbedingt loswerden will. Eine Welt, die mir jedes bisschen Leid anhängt, das sie mir anhängen kann. Eine Welt, die mit mir spielt. Eine Welt, für die ich nichts weiter als eine nutzlose, ersetzbare Marionette bin. Eine Welt, die mir viel zu unwirklich vorkommt. Oh, Leo, siehst du, wie sehr ich deinetwegen leide? Das heißt, nicht deinetwegen. Ich tu es für dich. Und zwar nur für dich. Mein Glück hängt von dir ab und ich hasse mich dafür. Es hört sich an, als wäre ich in dich verliebt. Dabei ist das hier noch viel schlimmer. Du bist die Liebe meines Lebens, auf immer und ewig, mein Seelenverwandter, mein Spiegelbild, mein Halt. Eigentlich bist du mehr als das. Und verdammt, warum hat man mir ausgerechnet dich weggenommen?

Ich weiß, dass ich das schon mal gefragt habe. Aber weißt du was? Ich frage mich das jeden Tag. Jede Sekunde ohne dich schmerzt einfach nur. Ich kann nicht mehr, nicht, wenn du nicht da bist, zumindest nicht wirklich. Es fühlt sich an, als wäre mein Herz in hundert Stücke zerbrochen, so sehr fehlst du mir.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

Ich habe Angst. Angst Angst Angst.

Angst vor dem Zunehmen. Angst davor, zu schlafen. Angst vor den Gedanken in meinem Kopf. Angst, dass mein Alkoholproblem mich zur absoluten, hoffnungslosen Alkoholikerin macht.

Angst, dass mich alle hassen. Angst, dass nicht mal mehr du mich liebst.

Angst, dass ich nicht durchhalte und mich umbringe, bevor du wieder aufwachst.

Durchhalten. Das konnte ich noch nie.

Ich habe nie etwas wirklich durchgezogen. Essen verweigern, bis ich an der Sonde hänge. Schneiden – am besten die Pulsadern – und bluten, bis ich am Blutverlust sterbe. Trinken, bis ich wegen einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus lande. Nichts davon ist je passiert. Und Gott, ich hasse mich dafür.

So unendlich. Es macht mich wahnsinnig, so, wie dein Verlust. Und weißt du, was ich am Schlimmsten ist?

Ich stehe jeden Tag auf, mit der Hoffnung, dass dies der Tag wird, an dem du wieder aufwachst. Manchmal frage ich mich, ob es nicht vielleicht besser wäre, wenn du tot wärst. Dann wäre da nicht diese quälende Hoffnung.

Dann müsste ich nicht mehr kämpfen.

Was, wenn am Ende alles sinnlos ist? Du dich nicht mehr an mich erinnerst? Oder was auch immer. Ehrlich gesagt will ich gar nicht wissen, was alles passieren kann. Auch davor hab ich Angst. Diese Ängste bringen mich noch um.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

mein Leben ist ein Albtraum.

Ich kämpfe immer noch tapfer gegen die Magersucht an, so schwer es mir auch fällt.

Yunnis hat gesagt, dass er mit mir nichts mehr zu tun haben will – wegen einem Gerücht, dass Tamara in die Welt gesetzt hat.

Tamara behauptet, ich hätte so zugenommen, weil ich zu schwach bin, um gar nichts mehr zu essen, stattdessen würde ich alles wahllos in mich reinstopfen und dann wieder rauskotzen. Und soll ich dir mal was sagen? Je länger dieses Gerücht rumgeht, je mehr davon wissen, desto mehr steigt der Wunsch in mir auf, das wirklich zu tun. Nicht auf Dauer. Nur einmal. Ich hab solchen Hunger. Aber letzten Endes kann ich diese Sehnsucht nach dir nicht mit Essen verdrängen.

Aber…ich will es so sehr. So so sehr.

Ach, Leo, sei froh, dass du gerade nicht in meinen Kopf gucken kannst. Es ist schrecklich. Die Hölle. Ich kann nicht mehr.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich bin schwach geworden. Habe gegessen. Und gegessen. Und gegessen.

Und gegessen. Gott, ich schäme mich so sehr. Ich hasse mich so dermaßen. Kein Wunder, dass ich so fett bin.

Weißt du, es war so schrecklich.

Es hat angefangen mit einem Stück Schokolade (und das war schon eine Riesenüberwindung!). Und dann kam noch eins. Ich war wie in Trance, habe das gar nicht mehr hundertprozentig wahrgenommen. Ehe ich mich stoppen konnte, saß ich mitten zwischen fünf Tafeln Schokolade, vier Tüten Chips, einem Glas Nutella, einem Becher Eis, zwei Tüten Salzbrezeln und drei Packungen Gummibärchen. Ich hab blind überall hin gegriffen, nach einer Stunde habe ich mit Tränen in den Augen zwei Flaschen Cola light runtergezwängt, bin dann aufs Klo gestolpert und hab dann – ohne mir den Finger in den Hals zu stecken, Kohlensäure sei Dank – alles, was drin war, ausgekotzt. Nachdem ich fertig war, bin ich erstmal zum Alkoholvorratsschrank gegangen und hab ´ne Flasche Wodka geklaut. Dann hab ich weiter gefressen und dabei immer wieder Wodka in mich reingeschüttet. Nach der halben Flasche musste ich wieder kotzen, aber aufs Klo hab ich’s nicht mehr geschafft. Hab stattdessen auf den Teppich gekotzt.

Aber es war immer noch Essen da und das musste einfach weg. Also hab ich heulend die Reste gegessen und den Rest Wodka mit drei Schlucken vernichtet, nur, um dann – so wie geplant – noch ein letztes Mal zu kotzen.

Ich bin dann sturzbesoffen, heulend, mit Magenschmerzen, Kotze in den Haare und voller Hass auf mich selbst, eingeschlafen.

Warum ich dir das so genau erzähle?

Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich will, dass du siehst, wie schlecht es mir geht.

Ohnehin weiß niemand von meinen Fressanfällen, nicht mal ansatzweise.

Allein die Tatsache, dass ich überhaupt ein Wort darüber verliere, bereitet mir Angst, es zeigt Schwäche. Dass ich das dann auch noch so genau beschreibe, sorgt nur dafür, dass ich mich noch mehr schäme, noch mehr hasse. Aber vielleicht ist sowas ja auch irgendwie eine Art Therapie. Was weiß ich.

Apropos Therapie. Hab meine abgebrochen, komplett. Die Frau ist mir einfach nur auf die Nerven gegangen.

Und sie wollte pausenlos über dich reden. Aber das kann ich nicht. Ich bin nicht bereit dafür, werde es nie sein. Du bist mein offenes Geheimnis und ich werde dich gut behüten.

In Liebe,

Hope

***

Voller Scham betrachtete sie das, was von ihrem Fressmassaker – ihrer Meinung nach passte das Wort besser als „Fressanfall“ oder „Fressattacke“ – übriggeblieben war. Sie war froh, dass ihre Mutter zurzeit in Kur war – Leos Koma hatte sie vollkommen aus der Bahn geworfen – und ihr Vater ihr genug vertraute und weiterhin pausenlos arbeiten ging. Hope war zwar froh, dass er das tat, fand es zugleich aber auch ziemlich dämlich. Dennoch beschloss sie, nichts an der Situation zu ändern. Seufzend und voller Ekel beseitigte sie die Spuren, damit sie nicht mehr so schnell und oft daran erinnert wurde.

***

Leo,

ich war heute im Krankenhaus, habe dir ein bisschen vorgelesen. Das heißt, ich habe es versucht, aber nach einem Satz bin ich in Tränen ausgebrochen und konnte gar nicht mehr aufhören. Am Ende – und ich komme mir immer noch unfassbar dumm vor deswegen – hat mich die Sehnsucht nach dir so überrollt, dass ich mich einfach zu dir gelegt habe.

Keine Ahnung, ob das erlaubt war. Aber es hat mich auch nicht wirklich interessiert. Wie auch immer. Ich lag da also und hab deinem Herzschlag gelauscht, so gut es ging, weil außen herum alles so unfassbar laut war. Oder es kam mir nur so vor. Ich weiß es nicht.

Und wie ich da so lag, hatte ich das Gefühl, zu ersticken. Es hat sich angefühlt, als würde die Liebe zu dir, die Angst, dich zu verlieren, die Sehnsucht nach einem lebendigen Leo sich in meinen Lungen festsetzen, sie langsam ausfüllen, als wären es keine Gefühle, sondern Wasser.

Was ist nur los mit mir?

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich will schreiben. Solange, bis mir die Worte ausgehen, nicht mal mehr eine Silbe übrig ist. Aber ich kann nicht. Es geht nicht, so sehr ich auch will. Als wäre ich ein Abfluss, der verstopft ist. Es kommen nur vereinzelt ein paar Tropfen heraus. Und das sind die Worte, die ich dir hier jetzt schreibe.

Ich hoffe einfach, dass dieses Rumgeschreibsel hier vielleicht meine „Schreibblockade“ löst.

Ich vermisse dich. Ich hab doch letztens erst gemeint, dass es sich so anfühlt, als wäre mein Herz in hundert Stücke zerrissen ist. Ich muss mich korrigieren.

Es sind tausend Stücke. Millionen.

Milliarden. Und diese so vielen, kleinen Scherben, die aus meinem Herzen bestehen, zerfallen langsam zu Staub.

Solange, bis nichts mehr davon übrig ist und ich sterbe. Ich weiß es einfach.

Es tut mir leid.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich bin nichts. Ein Niemand. Das Einzige, das ich kann, ist versagen. Ich schaffe gar nichts. Hungern klappt nicht, genauso wenig wie normal essen. Ich rauche viel zu viel, zurzeit ungefähr eine Schachtel. Ich trinke, bis ich vergesse. Ich schneide, bis mir schlecht wird.

Ich dachte, wenn du meine Motivation bist, gesund zu werden, klappt es. Es funktioniert einfach nicht. Du siehst meine Fortschritte ja eh nicht. Wozu also die Mühe? Mama pumpt sich inzwischen mit Unmengen von Medikamenten zu.

Ein paar hab ich ihr geklaut. Zum einen, damit sie nicht ganz so viele hat, zum anderen, damit ich welche hab, falls…ich es ohne dich nicht mehr ertrage.

Erinnerst du dich daran, wie wir uns als Kinder geschworen haben, niemals den anderen allein zu lassen? Keine Ahnung, wie lange ich mich daran noch halten kann. Verzeih mir.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

der letzte Brief ist jetzt eine Weile her und ich wünschte, ich könnte dir sagen, es würde mir bessergehen. Aber das wäre gelogen. Zwischendrin ging es mir wirklich besser.

Ich habe mehr essen können, seltener zur Klinge und zur Flasche gegriffen. Ich habe angefangen, Sport zu machen – in einem gesunden Maß. Ich habe weder Tamara noch Yunnis vermisst, zumindest nicht so sehr. Es lief alles rund. Und dann kam der Absturz. Es fing damit an, dass ich erfahren habe, dass Yunnis und Tamara jetzt zusammen sind. Es hat mir das Herz zerrissen, hat mich rückfällig werden lassen. Ich habe tagelang nicht gegessen, Unmengen an Alkohol in mich reingeschüttet und geschnitten, bis meine kompletten Arme, das Waschbecken und der Verband danach voller Blut waren. Und so ging es wieder und wieder. Ein bisschen gegessen, Alkohol nachgekippt, ab und an deswegen gekotzt und dann weitergefastet.

Weißt du, ich bin fast froh, dass du mich im Moment nicht siehst. Ich bin blass, habe Augenringe bis zum Geht-nichtmehr, rote und verquollene Augen vom vielen Heulen, ich sitze hier im dicken Pulli (und mehreren T-Shirt drunter) und friere und schwitze gleichzeitig. Ich wünschte, ich könnte es verleugnen, aber ich bin ein Wrack, mit Verbänden überall. Der einzige Vorteil ist wohl, dass ich jeden einzelnen Knochen spüre. Und ich nehme den Schmerz in Kauf. Das ist es mir wert. Ich bin zwar ein Wrack, aber immerhin ein dünnes, knochiges. Nicht, dass ich dünn bin, aber auf jeden Fall dünner. Es fühlt sich gut an.

Ich weiß, du wärst davon nicht begeistert. Aber weißt du…mal abgesehen vom Wrack-Teil bin ich glücklich.

Und ich werde auf mich aufpassen.

Versprochen.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich hab’s satt. Das alles. Ich werde einfach die Tabletten, die ich geklaut habe, runterschlucken. Scheiß drauf.

Ich liebe dich.

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich bin noch hier. Ich wünschte, ich könnte sagen, es geht mir gut. Aber das wäre gelogen. Und Lügen sind widerlich, das wissen wir beide. Das Problem ist, dass ich ein von Grund auf ehrlicher Mensch bin, das weißt du, aber meine…psychischen Baustellen (um es nett auszudrücken) zwingen mich dazu, zu lügen. Du bist der Einzige, zu dem ich immer, immer, immer ehrlich bin.

Keine Ahnung, worauf ich hier hinauswill. Ich glaube, ich bin immer noch total weg von den Tabletten.

Ich werde wieder gesund, versprochen.

In Liebe,

Hope

***

Nicht mal umbringen kannst du dich, flüsterte eine kleine Stimme – die ihre eigene war, was sie jedoch geflissentlich ignorierte – immer wieder in Hopes Kopf. Versager, Versager, Versager, schrie die Stimme anschließend immer wieder. Obwohl sie wusste, dass es nichts brachte, presste Hope die Hände auf die Ohren und flüsterte immer wieder „Hör auf, hör auf, hör auf“. Als es – wie zu erwarten – nicht aufhörte, fing sie an, in ihr Kissen zu schreien, bis sie heiser war und anfing, zu weinen. Sie war am Ende.

***

Leo,

nachdem ich versucht habe, mich umzubringen, kam Tamara zu mir und wollte mit mir reden. Das war gestern.

Heute haben wir uns dann getroffen.

Und Gott, es war so…anstrengend. Ja, anstrengend, das trifft es ganz gut.

Erst hat sie sich bei mir entschuldigt.

Dafür, dass sie das Gerücht in die Welt gesetzt hat. Dafür, dass sie nie wirklich für mich da war. Dafür, dass du im Koma liegst – das hat sie bisher nicht einmal gesagt. Dafür, dass Yunnis mich belogen hat. Und weißt du was? Während sie mir das gesagt hat, saß ich da und hab sie vermisst, vermisst, vermisst, vermisst, vermisst. Es war die Hölle. Irgendwann haben wir dann geschwiegen und vor uns hin geraucht, nachgedacht. Ich hätte gerne gewusst, was in ihrem Kopf vorgegangen ist.

Ich weiß nur, was ich gedacht habe.

Ich saß da, hab sie schweigend, still und heimlich beobachtet und darüber nachgedacht, dass es nachvollziehbar ist, dass Yunnis sie liebt und nicht mich.

Sie ist schön, schlau, liebenswert und kein bisschen kaputt. Ich bin einfach das genaue Gegenteil. Und nachdem mir das klargeworden ist, ist mir auch klargeworden, dass mich niemals irgendwer lieben wird. Egal, auf welche Art und Weise. Und das bringt mich um.

Ich bin einfach zu kaputt. Wer will schon ein hungerndes, mit Narben bedecktes, suizidgefährdetes Mädchen mit einem Alkoholproblem? Richtig. Niemand. Und das bricht mir das Herz. Aber das ist wohl okay. Muss es doch, oder?

In Liebe,

Hope

***

Leo,

ich will hier weg, einfach weg. Mama ist in Kur, wegen der Medikamente, das hab ich ganz vergessen dir zu erzählen.

Unfassbar, dass ich das vergessen hab.

Eigentlich zeigt das nur, wie egoistisch ich bin. Das ist so ekelhaft. Ich hasse mich dafür, dass ich so selbstbezogen bin. Und die Briefe verdeutlichen das nur noch. Ich rede immer nur von mir. Hope hier, Hope da. Bah. Vielleicht sollte ich mit den Briefen aufhören. Das wird wohl das Beste sein.

Aber ich werde trotzdem noch da sein, wenn du wieder aufwachst.

Versprochen. Egal, wie sehr ich hier weg will, ich werde bleiben. Für dich.

In Liebe,

Hope

***

Hope sah auf die Uhr. 2 Uhr nachts. Es war stockdunkel draußen – die perfekte Zeit für ihre Dämonen, wie sie die erdrückenden Gedanken nannte. Um sich abzulenken, nahm sie sich ihren MP3-Player, ihre Zigaretten und ein Feuerzeug, setzte sich ans Fenster, zündete eine Zigarette an und stellte den MP3-Player auf Zufallswiedergabe.

Durch ihre Kopfhörer drang ihr „Laura“ von Prinz Pi in die Ohren. Mit Tränen in den Augen – das Lied hatte sie immer mit Leo gehört – saß am Fenster und rauchte in die Nacht hinein. Als sie fertig war, schleuderte sie den Filter frustriert aus dem Fenster.

Kaum lag sie wieder im Bett – die Musik hatte sie ausgemacht –, kamen ihre Dämonen. Erst langsam, immer wieder, dann immer öfter, solange, bis nur noch sie in ihrem Kopf existierten. Hope musste ihnen Luft machen. Also griff sie zu Stift und Papier und verfasste Brief Nummer 19 an Leo.

***

Leo,

meine Dämonen sind da. Sie krallen sich an mir fest, schlüpfen in die frischen Schnitte, dort, wo ich den Grind abgerissen habe (ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber ich tu’s trotzdem), mischen sich in mein Blut und verteilen sich in jeder Ader. Sie dringen in meine Knochen, meine Organe, meine Muskeln, in jede verdammte Zelle meines Körpers, bis ich nicht mehr Hope bin, sondern ein Abbild, das aus erdrückenden, schweren, dunklen Gedanken besteht, nur daraus und aus nichts Anderem.

Und sie schreien. Sie sind so unglaublich laut. Sie kreischen, dass ich fett bin.

Hässlich. Wertlos. Nicht liebenswürdig.

Nervig. Anhänglich. Dumm.

Unerträglich. Unfähig. Untalentiert.

Ungewollt. Ekelhaft. Egoistisch.

Widerlich. Nutzlos. Naiv. Sie flüstern immer wieder die drei magischen Worte – „Bring dich um“ – zu, werden dabei immer lauter, bis sie in meinen Ohren dröhnen. Und dann sind sie still. Nur für einen kurzen Moment, bis es wieder von vorne anfängt. Und ich kann nichts dagegen tun. Es ist egal, wie viel ich rauche, trinke, hungere oder schneide.

Egal, wie sehr ich mir auch die Ohren zuhalte, immer fester, bis ich Kopfschmerzen bekomme. Ich würde ja schlafen, aber sie sind zu laut, um auch nur an Schlaf zu denken. Ich hasse es. Ich hasse mich. Mehr als alles andere. Wo soll das nur hinführen?

Bitte, wach schnell auf, damit das alles erträglicher wird.

In Liebe,

Hope

***

„Eins, zwei, drei, vier, fünf“, murmelte Hope, als sie die Tabletten in ihrer Hand, die sie aus dem Vorrat ihrer Mutter „geborgt“ hatte, nachzählte, „sechs, sieben, acht, neun, zehn, …“ Am Ende kam sie auf dreißig Stück. Für einen Moment wog sie ab, zwanzig weitere zu nehmen, zur Sicherheit. Sie hatte nicht wirklich vor, die Tabletten zu nehmen, aber es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Die Sicherheit, es jederzeit beenden zu können. Sie hatte schon lange nicht mehr wirklich Sicherheit gehabt. Seit Leo im Koma lag. Scheinbar drehte sich in ihrem Leben alles um Leo.

Das war ihr zuvor schon klar gewesen, aber wie sehr sich alles um Leo drehte, wurde ihr erst jetzt, als sie mit 50 Tabletten in der Hand am Nachttisch ihrer Mutter stand, klar. Sie wünschte sich, etwas daran ändern zu können, aber sie wusste nicht, wie. Sie wusste nur, dass sie dafür Leo brauchte. Einen Leo, der nicht mehr im Koma lag.

***

Leo,

jetzt sind es schon vier Monate. Vier verdammte Monate ohne dich. Es ist unglaublich, dass es schon vier Monate sind. Und gleichzeitig sind es erst vier Monate. Ich hab mein Zeitgefühl verloren. Überhaupt habe ich so viel verloren. Dinge, die ich nie verlieren wollte. Und das Einzige, das ich verlieren will, nämlich Gewicht, verliere ich natürlich nicht. Ich würde dir ja sagen, wie viel ich wiege, wenn es nicht verdammt viel, nicht so beschämend wäre. Aber das ist es nun mal.

Zumindest für mich. Für dich wäre es