Farbenblind - Maike Kops - E-Book

Farbenblind E-Book

Maike Kops

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Beschreibung

"Welche Farbe hat Schnee?", fragte Milan sofort und sie hätte am liebsten gelacht, weil die Frage so vorhersehbar war. "Weiß", erwiderte sie. "Und weiß ist…kalt?", fragte er zögernd. "Ja, genau wie Schnee!", ereiferte sie sich, freute sich, dass er von alleine darauf gekommen war. Ein wenig stolz und ziemlich verlegen lächelte er sie an. Ein paar weitere Minuten verstrichen, ohne, dass jemand etwas sagte, dann meinte Milan, er müsse wieder nach Hause. Leyla hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde, jedoch gehofft, dass er noch weit entfernt war. Er sieht nichts. Sie sieht mehr als andere. Sie treffen aufeinander und wissen – sie brauchen einander.

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Kapitel 1 - Leyla
Kapitel 2 - Milan
Kapitel 3 - Leyla
Kapitel 4 - Milan
Kapitel 5 - Leyla
Kapitel 6 - Milan
Kapitel 7 - Milan
Kapitel 8 - Milan
Kapitel 9 - Leyla
Kapitel 10 - Milan
Kapitel 11 - Leyla
Kapitel 12 - Milan
Kapitel 13 - Leyla
Kapitel 14 - Milan
Kapitel 15 - Leyla
Kapitel 16 - Milan
Kapitel 17 - Leyla
Kapitel 18 - Milan
Kapitel 19 - Leyla
Kapitel 20 - Milan
Kapitel 21 - Leyla
Kapitel 22 - Milan
Kapitel 23 - Leyla
Kapitel 24 - Milan
Kapitel 25 - Leyla
Kapitel 26 - Milan
Kapitel 27 - Leyla
Kapitel 28 - Milan
Kapitel 29 - Leyla
Kapitel 30 - Milan
Kapitel 31 - Leyla
Kapitel 32 - Milan
Kapitel 33 - Leyla
Kapitel 34 - Milan
Kapitel 35 - Leyla
Kapitel 36 - Milan
Kapitel 37 - Leyla
Kapitel 38 - Milan
Kapitel 39 - Leyla
Kapitel 40 - Milan
Kapitel 41 - Leyla
Kapitel 42 - Milan
Kapitel 43 - Leyla
Kapitel 44 - Milan
Kapitel 45 - Leyla
Kapitel 46 - Milan
Kapitel 47 - Leyla
Kapitel 48 - Milan
Kapitel 49 - Leyla
Kapitel 50 - Milan
Kapitel 51 - Leyla
Kapitel 52 - Milan
Kapitel 53 - Leyla
Kapitel 54 - Milan
Kapitel 55 - Leyla
Kapitel 56 - Milan
Kapitel 57 - Leyla
Kapitel 58 - Milan
Kapitel 59 - Leyla
Kapitel 60 - Milan
Kapitel 61 - Leyla
Kapitel 62 - Milan
Kapitel 63 - Leyla
Kapitel 64 - Milan
Kapitel 65 - Leyla
Danksagung

FarbenBlind

Überarbeitete Neuauflage

Maike Kops

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation

In der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

Bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

5. Auflage, 2020

© November 2020 by Maike Kops

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Nicolas Plenzdorf

Lektorat: Sarah Nierwitzki

Druck: epubli – ein Service von neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1 - Leyla

Ein goldbraunes Blatt segelte langsam auf den Boden und Leyla konnte ihren Blick nicht davon lösen. Dabei bereitete es ihr solche Kopfschmerzen, an den Ton zu denken, den sie damit verband. Und doch konnte sie erst aufhören, hinzustarren, als es sich zu einigen anderen Blättern gesellte, mit ihnen nahezu verschmolz und Teil des Teppichs wurde, bestehend aus abgestorbenen Pflanzenfasern. Leyla stellte sich gerne vor, dass die Äste eines Baumes Hände waren und die Blätter Klauen. Allerdings fand sie den Gedanken daran, dass auf dem Boden Dutzende von Fingern lagen, doch etwas makaber.

Seufzend wandte sie den Blick vom Fenster, zog die Schultern hoch und legte die Hände fester um die warme, immer noch dampfende Teetasse. Im Hintergrund hörte sie ihre Mutter Klavier spielen und es hätte der perfekte Moment sein können, wenn da nicht diese störenden Farben vor ihrem inneren Auge gewesen wären. Müde lächelte sie vor sich hin und nippte an ihrem Tee. Pfefferminz. Die wärmende Flüssigkeit kroch ihre Speiseröhre hinunter, erst den Hals, dann vorbei am Brustbein – ein unangenehmes Gefühl, fand Leyla – bis hinab in den Bauch, wo sie sich ausbreitete und die Wärme langsam weiterleitete, bis hin in die Zehenspitzen. Auch dieser Moment hätte wundervoll sein können, wären da nicht immer noch die Farben, die sie plötzlich unheimlich störten, so sehr, dass sich ihr Körper anspannte. Mit einem Mal wollte sie weg, einfach nur noch weg. Weit entfernt sein von den Farben, als wären sie ortsgebunden und nicht geräuschgebunden. Egal, wie sehr sie ihr zu Hause liebte, sie verband es viel zu sehr mit Farben.

Kapitel 2 - Milan

Ein Blatt segelte langsam zu Boden, zumindest vermutete er, dass es ein Blatt war, das ihn gestreift hatte. Sein Kopf lag im Nacken, er hatte die Augen geschlossen und er spürte die sanfte Brise auf seiner Haut – er konnte sich kaum ein schöneres Gefühl vorstellen. Milan liebte Wind, Wetter allgemein. Es war eine seiner Arten, die Umgebung wahrzunehmen, ohne sie mit den Fingern zu betasten. Seufzend öffnete er die Augen – um ihn herum war es immer noch stockdunkel. Enttäuschung breitete sich in ihm aus, langsam, aber hartnäckig, wie ein Ölteppich. Dabei hätte ihn das nicht sonderlich überraschen sollen, dieses Spiel spielte er jeden Tag, seit 19 Jahren, seit er ironischerweise „das Licht der Welt“ erblickt hatte.

Und doch brachte es ihn jedes Mal aufs Neue um, sich eingestehen zu müssen, dass er immer noch blind war, es wohl immer sein würde. Manchmal wünschte er sich jemanden, der ihm die Umgebung beschrieb, vor allem die Farben – aber wie sollte ein Sehender einem Blinden Farben erklären? Seine Mutter hatte es oft versucht, war aber jedes Mal gescheitert. Sein Bruder redete nicht mehr mit ihm.

Wehmütig dachte er an Simon, der, kaum, dass er 14 geworden war, immer nach Zigarettenrauch gerochen hatte und später dann nach Marihuana. Anfangs hatte er den damals neuen und ihm unbekannte Geruch nicht zuordnen können, bis seine Mutter irgendwann mal im Streit geschrien hatte: „Und du mit deiner verdammten Kifferei! Gib mir das gottverdammte Gras oder ich geh zur Polizei!“

Sie hatte die Drogen nicht bekommen, war aber auch nicht zur Polizei gegangen.

Er erinnerte an den großen Streit, den sie hatten, bevor Simon beschlossen hatte, nie wieder mit ihm zu reden. Eine Welle der Wut ergriff Milan, als ihm bewusst wurde, dass er niemals wissen würde, wie sein Bruder aussah, ob sie sich ähnelten oder nicht.

Kapitel 3 - Leyla

Sie hatte Tränen in den Augen, alles vor ihr schien zu verschwimmen, sie verschleierten ihr die Sicht. Sie hasste das. Sie hasste Töne und Farben und dass sie dafür sorgten, dass sie so anders war. Leyla erinnerte sich daran, wie sie von klein auf seltsam angesehen wurde, wenn sie sagte, dass gewisse Klänge farblich nicht zusammenpassen würden.

Sie hatte auch nicht vergessen, wie ihre Mutter sie zu etlichen Therapeuten gezerrt hatte – und sie jedes Mal mit einer neuen Diagnose aus den Praxen gekommen war, von der keine stimmte. Am Ende hatte sie durch Zufall, als sie im Fernsehen auf eine Dokumentation gestoßen war, herausgefunden, was mit ihr nicht stimmte, was – im Nachhinein betrachtet – fast schon zu einfach war. Damals hatte sie gehofft, es würde sie beruhigen, aber letzten Endes machte es für sie persönlich alles nur noch schlimmer.

Wut packte sie, in ihr tauchte der Gedanke auf, der sie seit ihrer „Selbstdiagnose“ immer wieder im Inneren aufzufressen drohte: Sorg dafür, dass du nie wieder siehst oder hörst.

In manchen Momenten erschien ihr dieser Gedanke abwegig, dumm, hatte einen bitteren Beigeschmack von Du wirst es bereuen! Aber in diesem Augenblick kam es ihr wie eine Erlösung vor, wie etwas, das ihr Leben ungemein erleichtern würde.

Kapitel 4 - Milan

Blind zu sein war so ziemlich das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Er hätte seine Ohren sofort gegen seine Augen getauscht. Er war sich sicher, dass es leichter war, taub durch die Welt zu gehen als Augen zu haben, die nicht mal ansatzweise funktionierten. Noch nie funktioniert hatten. Er wünschte sich, dass er zumindest ein paar Jahre hätte sehen können, damit er sich unter Farben etwas vorstellen konnte. Worte wie „rot“, „blau“ oder „lavendelfarben“ sagten Milan nicht viel. Allerdings stellte er sich bei „lavendelfarben“ etwas vor, das ungefähr dem Duft entsprach. Etwas Leichtes, Helles, irgendwie süßlich und unaufdringlich.

Vorsichtig streckte er die Hand aus, so lange, bis seine Fingerkuppen auf die Sitzfläche der Parkbank trafen. Langsam fuhr er ein Stück des Holzes nach, bis er sich sicher war, sich setzen zu können, ohne dabei die Kante zu erwischen und von der Bank zu kippen. Natürlich hätte er seinen Blindenstock dafür benutzen können, aber er wollte nicht auf das leise Klicken des Stockes vertrauen, lieber verließ er sich auf seinen Tastsinn. Milan hasste den Stock, er gab ihm das Gefühl, noch hilfloser zu sein. Und nicht nur das – seine Hilflosigkeit, seine Behinderung waren für jeden sichtbar. Die Steigerung wäre die Blindenbinde gewesen, die anderen geradezu ins Gesicht schrie: Seht her, ich bin blind und bemitleidenswert! Zumindest stellte er sich es so vor und darauf konnte er gerne verzichten.

Plötzlich realisierte er, dass seine Hand noch immer auf der Sitzfläche der abgenutzten Parkbank ruhte. Furchen an den Kanten der einzelnen Holzstreben, hier und da waren einzelne Splitter herausgebrochen, wodurch er die Spitzen der übrigen Holzfasern ertasten konnte. Hin und wieder gab es kleine Löcher in der Oberfläche, die er nicht zuordnen konnte und er nahm sich vor, seine Mutter bei Gelegenheit danach zu fragen.

Milan hatte das Gefühl, dass sie unter der Wärme seiner Hände ausblich, so, wie die Sonne es tat, zumindest, wenn er seiner Mutter Glauben schenkte. Und warum sollte sie ihn anlügen?

Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken, genoss die Sonnenstrahlen auf seinen Lidern, die die blinden Augen verdeckten.

Früher hatte er dabei nie die Augen geschlossen, für ihn war es ja so oder so stockdunkel. Aber eines Tages hatte sein Bruder ihn gebeten, doch bitte dabei die Augen zu schließen, damit es nicht so gruselig wirkte – damals hatten sie noch miteinander geredet. Eine Zeit lang hatte er nicht verstanden, was daran unheimlich sein sollte, bis seine Mutter es ihm erklärt hatte. Damals hatte er gelacht und gesagt, dass ihm doch egal sei, ob man ihm ansah, dass er blind war. Er hatte nicht zugeben wollen, dass er es nahezu darauf angelegt hatte, da erschien ihm es wie ein guter Kompromiss. Damals, als er zehn oder elf Jahre alt war, das Gefühl brauchte, irgendetwas Besonderes zu sein – und mit besonders meinte er nützlich. Zu dieser Zeit hatte ihn dieses Gefühl erdrückt, immer wieder hatte er das Gefühl gehabt, dass der Gedanke, er sei nutzlos, ihm jedes bisschen Luft aus den Lungen saugte. Heute hatte er dieses Gefühl immer noch, aber er ging anders damit um. Er wollte etwas Nützliches tun, aber es musste nicht zwingend im Hier und Jetzt sein. Er war sich sicher, dass der richtige Zeitpunkt kommen würde.

Kapitel 5 - Leyla

Leyla rannte, bis die kalte Herbstluft in ihren Lungen brannte und scharf wie ein Pfefferminzbonbon ihren Rachen und ihre Luftröhre hinunterkroch. Keuchend blieb sie stehen und sah sich um. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie realisierte, dass sie in dem kleinen Park ganz in der Nähe gelandet war. Langsam ließ sie den Blick schweifen und ärgerte sich darüber, dass ihr ein kleines Lächeln übers Gesicht huschte. Energisch wischte sie sich über den Mund, fast so, als wollte sie sich diesen kurzen Moment voller Emotion aus dem Gesicht reiben. Emotionen sind nichts Schlimmes, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Und natürlich waren sie das nicht, das wusste Leyla, nicht alle zumindest. Außer … außer es ging um ihren Vater – und dieser Park erinnerte sie an ihn, er war der Grund, warum ein Lächeln in ihrem Gesicht aufgetaucht war, ganz heimlich und überraschend.

Für einen Moment verharrte sie, unsicher, was sie jetzt tun sollte, dann bewegten sich ihre Beine von ganz allein, sie rannte zwar nicht, aber es war doch relativ schnell. Sie wollte weg – mal wieder – aber wusste nicht, wohin. In diesem Moment zählte nicht das Ziel, sondern nur der Weg.

Während sie durch den Park joggte, merkte sie, wie ihre Gedanken sich langsam verflüchtigten, sich langsam in Nebel auflösten, bis ihr Kopf nahezu leer war. Alles, was in diesem Augenblick von Bedeutung war, war das, was sie wahrnahm. Das Rauschen der trockenen Herbstblätter, die noch an den Bäumen hingen, sich an die Zweige klammerten, als hätten sie Angst davor, den Weg nach unten auf sich nehmen zu müssen. Die Herbstsonne, wärmend und doch irgendwie kalt, die sich in jede noch so kleine Lücke presste, in die sie hineinkriechen konnte. Der Kies, der unter ihren Füßen knirschte. Das Geräusch ihrer Schritte. Ihre Ausdauer, die sie selbst überraschte. Aus dem Augenwinkel nahm sie einen jungen Mann wahr, der auf einer der Parkbänke saß und den Kopf in den Nacken gelegt hatte. Sie vermutete, dass er schlief. Leyla musste ein Lachen unterdrücken – egal, wie müde sie war, in der Öffentlichkeit blieb sie wach. Um jeden Preis. Dafür blamierte sie sich zu ungern. Vielleicht war es ihm aber auch einfach nur egal, was die Leute von ihm dachten, vielleicht interessierten ihn seltsame Blicke ja gar nicht. Beim Gedanken daran, dass ein Mensch so unbekümmert sein konnte, zog sich ihr Magen zusammen und ein neidvolles Seufzen krabbelte ihre Kehle hoch, schwang sich ein wenig am Gaumen hin und her, bis Leyla ihn energisch wieder runterschluckte. Es musste nicht unbedingt positiv sein, eine unbekümmerte Einstellung zu haben, genauso, wie es nicht unbedingt schlecht war, sich eben doch zu kümmern. Wütend bemerkte sie, dass sie zwar immer noch durch den Park trabte, ihr Kopf aber wieder vollgestopft war. Vollgestopft mit Gedanken darüber, ob es positiv oder negativ war, sich Gedanken zu machen.

Zuhause spielte ihre Mutter immer noch – oder wieder? – Klavier. Kaum drangen die sanften Töne an Leylas Ohren, sah sie vor sich blaue Kreise. Je höher die Töne, desto heller das Blau und Leyla erkannte das Klavierstück, kannte die Farbabfolge inzwischen nahezu auswendig. Es war das Lieblingsstück ihrer Mutter, das Stück, mit dem sie selbst groß geworden war. Plötzlich zuckte irgendein Muskel in ihr und wie ferngesteuert bewegte sie sich, Ballett tanzend, in Richtung Klavierzimmer. Sie vermisste das Ballett, das Tanzen, die Bewegung, die Konzentration. Sie vermisste es unglaublich, aber wie sollte man eine Rolle spielen, wenn immer Farben dazwischenfunkten, Farben, die teilweise nicht mal ansatzweise zur Rolle passten? Die Synästhesie war ein Grund, warum sie aufgehört hatte und auch der offizielle. Über die anderen Gründe wollte sie gar nicht nachdenken.

„Oh, hallo, Ley“, rief ihre Mutter ihr fröhlich über die Musik hinweg zu. Leyla erwiderte die gute Laune ihrer Mutter mit einem Strahlen und hoffte, dass sie damit ihre eigentliche Gefühlslage verbergen konnte. Noch etwas, worüber sie auf keinen Fall nachdenken wollte. Also tanzte sie einfach weiter. Bewegung war gut. Bewegung vertrieb die Gedanken, vor allem die dunklen, erdrückenden.

Sie vermisste das Ballett so sehr, eine Welle der Emotionen überrollte sie. Weitertanzen, weitertanzen, weitertanzen. Es würde alles in Ordnung kommen. Das musste es doch.

Kapitel 6 - Milan

Milan tastete nach der Klingel. Es dauerte länger als normalerweise, er war durcheinander.

Als er noch im Park auf der Bank gesessen und die Sonne genossen hatte, war plötzlich jemand an ihm vorbeigelaufen. Noch nie war dort jemand vorbeigekommen, wenn er dort war. Und er war ständig da. Die Schritte waren schwer gewesen, daran musste er unaufhörlich denken.

Endlich fand er die Klingel. Gerade, als die Tür geöffnet wurde, fing es an, zu regnen.

„Perfektes Timing!“, rief seine Mutter, „Komm rein, Schatz!“

Milan seufzte genervt, seine Mutter wusste, dass er es hasste, so genannt zu werden.

„Jaja, ich weiß“, lachte sie und wuschelte ihm durch die Haare. Im ersten Moment wollte er protestieren, entschied sich dann aber dagegen. Es war lange her, dass sie so gute Laune gehabt hatte, das wollte er ihr nicht verderben. Stattdessen lächelte er und unerklärlicherweise fielen ihm wieder die Schritte im Park ein. Jemand war da gewesen. Warum dachte er so intensiv darüber nach? Vielleicht joggte ja jemand diese Strecke regelmäßig, aber zu einer anderen Zeit, dann, wenn er selbst nicht dort war?

Er tastete sich durch den Flur in die Küche und blieb dort wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

„Ist Simon da?“, fragte er angespannt, nachdem er den Geruch von Zigarettenrauch identifiziert hatte. Da war noch eine andere Note, die er nicht zuordnen konnte, aber der Nikotingeruch war ohnehin intensiver.

„Er ist vor einer halben Stunde gegangen. Warum?“, antwortete seine Mutter. Milan unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Das war also der Grund ihrer guten Laune. Es hätte ihn eigentlich nicht überraschen sollen. Wenn er ehrlich war, überraschte es ihn auch nicht. Das, was daran so überraschend war, war die Tatsache, dass es ihn verletzte. Es verletzte ihn, dass Simon immer noch nicht mit ihm reden wollte. Es verletzte ihn, dass sein Bruder einen so großen Einfluss auf die Laune seiner Mutter hatte – und dann auch noch im positiven Sinne. Milan hatte – vor allem früher – auch einen recht großen Einfluss auf ihre Laune gehabt, jedoch immer nur negativ. Er hasste das. Und er hasste es, dass seine Augen nicht funktionierten, nie funktioniert hatten und es auch nie würden. Mit einem Mal fühlte sich sein Herz genauso dunkel an, wie sein Blickfeld es war. Plötzlich fiel ihm auf, dass er noch nicht auf die Frage seiner Mutter geantwortet hatte, aber es war ohnehin schon zu viel Zeit verstrichen und Milan war sich sicher, dass es seiner Mutter sowieso egal war. Augenblicklich fühlte er sich schrecklich schuldig, Simons Worte waren noch immer, nach all den Jahren, in sein Gedächtnis eingebrannt. Das ist alles nur deine Schuld! Milan wurde schlecht bei dem Gedanken daran, wie wütend sein Bruder geklungen hatte, wie viel Verachtung und Wut er in seine Stimme gelegt hatte.

Nachdenklich lag er im Bett, tief eingemummelt in seine Bettdecke, so, als könne der Stoff ihn vor allem Bösen in der Welt beschützen, seine Gedanken vertreiben. Er seufzte, wünschte sich, es wäre so. Aber so war es nicht. Es war nie so gewesen, jetzt war es nicht so und es würde auch in Zukunft nicht so sein. Er fühlte sich wie ein kleines Kind, das verzweifelt versuchte, auszublenden, dass die Welt nicht nur schön war, sondern einem auch mal Steine in den Weg legte. Wieder drängte sich die Erinnerung an die joggende Person auf, daran, wie der Kies unter den Schuhen geknirscht hatte. Urplötzlich packte ihn der Wunsch, die Person kennenzulernen, und er wusste nicht einmal, warum. Vielleicht, weil er sich allgemein einfach nur einsam fühlte. Sein Herz fühlte sich genauso dunkel an, wie sein Blickfeld es war.

Kapitel 7 - Milan

Bewegen, bewegen, bewegen. Sie musste sich bewegen und weiterlaufen, so lange, bis ihr Kopf leer war. Sie joggte die gleiche Strecke entlang wie gestern, prüfte bei jeder Bank, ob der junge Mann vom letzten Mal dort saß. Aus irgendeinem Grund wollte sie ihn wiedersehen. Nur sehen. Nicht mit ihm reden. Sie wollte sichergehen, dass er wirklich existierte. Denn inzwischen zweifelte sie daran, ob sie ihn überhaupt wirklich gesehen hatte. Vielleicht hatte sie sich das alles ja auch nur eingebildet. Sie war sich plötzlich mit allem so unsicher. Selbst mit ihrer … Besonderheit. Was, wenn sie sich die ebenfalls jahrelang eingeredet hatte?

Leyla lief weiter und dann – da war er. Er saß dort, hatte einen grauschwarzen Mantel und dunkle Jeans an. Als wollte er möglichst unauffällig sein. Mit einem Mal kam sie sich blöd vor in ihren neonpinken Shorts, die sie aus der hintersten Ecke ihres Schrankes hervorgekramt hatte, und dem weißen T-Shirt, auf das groß und fett Dramaqueen gedruckt war. Leyla hasste das Shirt, was wohl ein Grund war, warum sie es nur zum Joggen angezogen hatte. Woher hätte sie denn wissen können, dass es ihr plötzlich so dermaßen wichtig war, was andere, eigentlich nur eine Person – eine fremde noch dazu –, von ihr denken könnte. Das war nur irgendein Typ, der auf einer Bank saß. Und doch war da irgendwas, was ihr zuzuflüstern schien, dass es nicht nur irgendein Typ war. Das machte sie wütend, also lief sie weiter, bis er – aus ihrer Sicht – vorbeigezogen, aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Und selbst dann wollte sie noch weiterrennen, bis ihre Beine versagten, aber Leyla entschied sich dagegen, sie hatte keinen Grund. Also wurde sie immer langsamer und ging irgendwann in einen gemütlichen Spaziergang über. Ein Fehler, wie sie feststellte, denn jetzt dachte sie nur umso mehr nach. Fragte sich, ob der Junge – der Mann? Sie war sich unsicher – sie gesehen und innerlich ausgelacht hatte. Sich über ihre plumpe Art zu laufen und die grässlichen Klamotten lustig gemacht hatte. Es war lange her, dass sie sich so sehr geschämt hatte. Warum hatte sie sich überhaupt dieses Shirt rausgesucht, wenn sie doch gehofft hatte, dass sie den Fremden wiedersehen würde? Wie dumm war sie eigentlich?

Das letzte Mal, als sie diese erdrückende Scham heimgesucht hatte, war bei ihrer letzten Ballettaufführung gewesen. Unwillkürlich drängten sich Bilder davon vor ihr inneres Auge und sie hätte am liebsten wütend geschrien, als sie sich wieder in diesen Moment zurückversetzt fühlte.

Klacken auf der dunklen Bühne, regelmäßig, Schritt für Schritt. Klack, klack, klack. Druck auf den großen Zehen. Stoff, der an der Haut rieb, sanft gegen die Oberschenkel schlug, so leicht, dass es fast nicht bemerkbar war. Alles, was man hörte, war das Klacken der Spitzenschuhe, das Rascheln des Tülls. Unweigerlich fragte sie sich, ob die Zuschauer diese Geräusche auch wahrnahmen oder ob nur Leyla sie hören konnte. In den Lautsprechern knackte es, ganz leise, aber es reichte trotzdem aus, um ihr Herz zum Rasen, ihre Hände zum Schwitzen und ihre Knie zum Zittern zu bringen. Jeden Augenblick würde die Musik einsetzen. Jeden Augenblick würde sie gegen sich selbst ankämpfen müssen. Sie hatte Angst, atmete tief durch und gerade, als sie nochmal den Rücken durchstrecken wollte, ging das Licht an. Jeder konnte sie nun sehen und ihre Angst wuchs, der Gedanke, dass man ihr den inneren Kampf ansehen könnte, machte sie wahnsinnig. Erneutes Knacken in den Lautsprechern, jede Faser ihres Körpers spannte sich an. Augen schließen. Konzentrieren. Augen öffnen. Konzentrie– Wumm! Das Klavier drang laut und plötzlich aus den Lautsprechern, bedrohlich. Ohne nachzudenken blendete Leyla alles um sich herum aus, soweit es möglich war, und fing an, zu tanzen. Sie dachte nicht darüber nach, wie sie ihre Füße, Beine, Arme, Hände bewegen musste – sie tat es einfach und konzentrierte sich umso mehr darauf, das Blau, das beim Erklingen der Klaviermusik auftauchte, irgendwie auszublenden. Etwas, was nahezu unmöglich war. Wut stieg in ihr auf und sie packte die Wut in ihre Bewegungen. Warf ihre Arme energisch hin und her, legte jede Gefühlsregung in ihre Beine. Es galt nur eines: Die Bewegung, die blauen Kreise waren irrelevant, zumindest redete sie sich das ein, wieder und wieder. Bewegen. Tanzen. Das wars. Mehr nicht. Es zählte nur der Tanz. Nicht die Geigen, die jetzt einsetzten und das Blau mit grünen Wellenlinien spickten. Die Farben wirbelten um sie herum, beinahe so, als wollten sie sie am Tanzen hindern. Leyla kämpfte mit den Tränen, machte aber trotzdem weiter. Sie musste das hier zu Ende bringen.

Kaum war der letzte Ton verklungen, verschwanden die Farben. Keuchend verharrte sie einige Sekunden in ihrer Schlussposition, Tränen strömten ihr übers Gesicht, die sie schnell durch eine Verbeugung versteckte. Unter Applaus verließ sie, immer noch weinend, die Bühne.

Noch am gleichen Tag meldete sie sich von der Ballettschule ab.

Kapitel 8 - Milan

Er saß auf der Bank, auf der er immer saß. Er sah das, was er immer sah – nichts. Er lauschte, nahm jedes Geräusch intensiv wahr und saugte es nahezu in sich auf. So, wie er es die letzte Woche getan hatte, seit dem Tag, an dem er zum ersten Mal den Jogger – sein Gefühl sagte ihm, dass die Person ein Er war – gehört hatte. Und seit diesem Tag war er immer vorbeigekommen, jeden Tag zur gleichen Zeit. Er hatte zwar nicht wirklich die Möglichkeit, die Uhr zu lesen, dafür stimmte seine innere Uhr. Langsam wurde er ungeduldig, rutschte nervös auf der Bank hin und her. Was, wenn er sich geirrt hatte? Was, wenn er sich die Schritte die ganze Zeit über nur eingeredet hatte? Was, wenn er inzwischen so einsam war, dass er sich mittlerweile schon Menschen einbildete? Und sowieso, warum war ihm dieser Jogger so wichtig? Er war nur irgendeine Person, die hier regelmäßig vorbeijoggte und ihn vermutlich nicht mal bemerkte, und sollte er es doch tun, dann hielt er ihn wahrscheinlich für einen komischen Kauz. Milan war sich sicher, dass ihn die meisten für seltsam befanden. Ihn innerlich verurteilten, vielleicht auch bemitleideten und ihm unwillkürlich den Stempel anders aufdrückten. Was ja auch stimmte, er war nun mal anders und er würde immer anders sein. Eigentlich hatte er sich damit abgefunden, aber es gab Momente, in denen er das hasste, sich hasste. Und jetzt war einer dieser Momente, er hatte das Gefühl, dass dieser Moment niemals enden würde, das Einzige, das dagegen ankommen würde, wäre … Energisch schüttelte Milan den Kopf. Es war schwachsinnig, sich so sehr von einem einzigen Geräusch abhängig zu machen. Aber Geräusche waren nun mal alles, was er hatte, ohne, dass er in direktem Kontakt damit kommen musste. Gerade, als er frustriert aufgeben und gehen wollte, hörte er sie – die Schritte. Für einen Moment versteifte er sich, dann lehnte Milan sich wieder zurück. Gebannt lauschte er den Schritten. „Hey, bleib mal kurz stehen“, wollte er sagen, als das Geräusch sich auf seiner Höhe befand, aber die Worte blieben kleben, machten seine Zunge schwerer und er war zum Schweigen verdammt. Alles, was er konnte, war zuzuhören, wie sich die Schritte in regelmäßigem Tempo entfernten. Milan war wütend, auf sich selbst, auf die Person, die unregelmäßig vorbeijoggte, auf seinen defekten Sehnerv, auf Simon, eigentlich auf alles und jeden, auf das und den man wütend sein konnte. Die Wut ballte sich, staute sich auf, wuchs, jeder Grund schien sich aufzustapeln und Milan wurde unruhig. Langsam stand er auf und machte sich auf den Weg.

Obwohl er nichts sah, lief er ziemlich sicher, immer begleitet vom Rattern und Klicken des Blindenstocks auf dem Bordstein, den er so abgrundtief hasste. Meistens, weil er sein Anderssein so hervorhob, manchmal aber auch, weil er so nicht ungestört jedes Geräusch wahrnehmen konnte, so wie jetzt. Er wollte jeden kleinsten Ton kosten und nutzen, da störte der Blindenstock nur. Und obwohl so viele sagten, dass „das Ding doch eine tolle Erfindung“ und „so eine große Hilfe“ war, wusste er es besser: Es war keine wirkliche Hilfe, viel mehr ein Hindernis. Oft verpasste er Kleinigkeiten, wie beispielsweise das fröhliche, ansteckende Pfeifen von jemandem, der gute Laune hatte. Immer wieder machte der Stock ihm Probleme, immer noch, nach all den Jahren. So nahm er, wie jetzt, nicht wahr, wie die Krallen eines Hundes auf dem Bordstein klickerten – und zuckte erschrocken zusammen, als das Tier ihn – oder doch eher seinen Blindenstock? – plötzlich anbellte. Natürlich wäre ihm das auch passiert, wenn er den Hund zuvor gehört hätte, aber dann wäre er vermutlich eher darauf vorbereitet gewesen. Mit einem Mal überkam ihn der Wunsch, sich einen Blindenhund anzuschaffen. Vielleicht wäre er dann auch nicht ganz so einsam.

Mit jeder Stunde – mittlerweile waren es fünf - wurde dieser Wunsch nach einem Blindenhund größer und er beschloss, seine Mutter dazu zu überreden.

„Mama?“, wandte er sich an seine Mutter und sie gab ein Geräusch von sich, das bedeutete Ich hör zu.

„Können wir uns einen Hund anschaffen? Also…einen Blindenhund?“, setzte er zögernd an. Seine Mutter lachte auf und schnaubte verächtlich – was Milan jeden Funken Hoffnung nahm.

„Wozu?“, fragte sie.

„Ähm…weil das eine…na ja, es wäre eine gute Hilfe für mich. Und ich hasse diesen verdammten Stock“, erwiderte er.

„Weißt du denn nicht, was für ein Aufwand so ein Hund ist? Allein die Kosten! So ein Blindenhund kostet wesentlich mehr als ein normaler Hund!“, regte sich seine Mutter auf.

„Aber vielleicht übernimmt ja die Krankenkasse einen Teil der Kosten? Den Blindenstock haben sie ja auch gezahlt!“, wandte Milan ein.

„Ach, Milan, red doch keinen Unsinn. Du kannst doch einen Stock nicht mit einem Hund vergleichen. Und außerdem: Klinge ich so, als hätte ich die Nerven für einen Hund? Ich will mich gar nicht weiter damit auseinandersetzen. Das Thema ist für mich durch.“

Milan schluckte und wagte es nicht, weiter mit ihr zu diskutieren. Schweren Herzens akzeptierte er das „Nein“ seiner Mutter.

Kapitel 9 - Leyla

Amy!“, rief Leyla durchs Haus. Langsam trottete die Schäferhündin in die Küche und blickte sie geduldig aus ihren bernsteinfarbenen Augen an.

„Na, hast du Hunger?“, lächelte Leyla und fuhr der Hündin über den Kopf, ehe sie mit dem Napf in der Hand die Küche verließ und ihn an Amys Futterplatz stellte. Schwanzwedelnd wurde sie verfolgt.

„Genieß es, bald wird’s echt anstrengend für dich“, meinte sie und ließ das Tier in Ruhe.

„Und? Wie geht’s ihr?“ Ihre Mutter sah von ihrem Buch auf und schaute sie erwartungsvoll an.

„Ganz gut. Hätte nicht gedacht, dass sie die Schwangerschaft so gut wegsteckt“, erwiderte Leyla und setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa. Nachdenklich nickte ihre Mutter, ehe sie sagte: „Ich bin jetzt schon total nervös.“ Kaum hatte sie das gesagt, kam Amy zu ihnen und obwohl sie keinen Ton von sich gab, wussten sowohl Leyla als auch ihre Mutter, was los war.

„Du schnappst dir Amy und ich lass schon mal das Auto an, los! Ab zum Tierarzt!“, rief ihre Mutter aufgeregt und sprang auf.

Leyla konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so schnell im Auto saß.

„Schneller, schneller, schneller“, feuerte sie ihre Mutter an.

„Verdammt!“, fluchte diese, warf die Hände in die Luft und starrte wütend die rote Ampel an.

„Und?“, fragte ihre Mutter aufgeregt und doch mit schlapper Stimme.

„Alles gut verlaufen, trotz der Komplikationen durch die leicht verfrühte Geburt“, informierte sie Dr. Palster. „Aber es wäre besser gewesen, wenn Sie Amy daheim gelassen hätten.“

„Ich … ja, ich weiß, aber…oh Gott, es ging alles so schnell und … “ Sie brach ab, kämpfte mit Stresstränen und Leyla strich ihr beruhigend über den Rücken. Der Arzt sah sie verständnisvoll an und lächelte dann.

„Beim nächsten Mal. Also, falls es ein nächstes Mal geben sollte.“

Leylas Mutter nickte erschöpft. Amys Schwangerschaft hatte sie mehr mitgenommen, als sie sich hatte anmerken lassen, was Leyla einen Stich ins Herz versetzte. Sie hatte – wie so oft – das Gefühl, sich zu sehr um sich selbst zu kümmern. Wieder einmal nahm sie sich vor, mehr auf ihre Mitmenschen zu achten, war sich aber tief in ihrem Inneren sicher, dass sie dabei versagen würde. Das Frustrierende für sie war die Tatsache, dass sie es nicht mit Absicht tat. Sie lebte ihr Leben, versuchte, sich ihre Besonderheit nicht anmerken zu lassen, war aber so damit beschäftigt, dass sie nahezu alles andere um sich herum ausblendete.

„Darf ich zu ihr?“, fragte Leyla und strahlte Dr. Palster an.

Kapitel 10 - Milan

Der Novemberregen trommelte hart und unerbittlich auf den Asphalt, das Dach des Hauses, die parkenden Autos. Milan mochte das Geräusch von Regen, es beruhigte ihn und er bildete sich gerne ein, dass das fallende Wasser mit ihm sprach, Geheimnisse flüsterte, die nur er verstand, Geschichten erzählte, die Jahrtausende alt waren. Er hatte das Gefühl, geborgen zu sein, eingehüllt in das Prasseln wie in eine Decke.

Und er genoss die Frische, die ihm auf der Terrasse entgegenschlug, die der Regen mit sich brachte, die die Luft reinigte. Nach einem Regenguss hatte Milan immer das Gefühl, dass nicht nur seine Umwelt, sondern auch er selbst „reiner“ war. Er seufzte, setzte sich und streckte die Hand aus, die Handfläche gen Himmel, bis vereinzelt Tropfen auf seinen Fingerspitzen landeten. Vorsichtig, so als wären sie wertvolle Glasperlen, zerrieb er sie mit dem Daumen und wiederholte das Ganze ein paar Mal. Allerdings spürte er die Tropfen irgendwann nicht mehr, weshalb er aufgab, weitere aufzufangen. Stattdessen lauschte er dem Regen, der mittlerweile schwächer und leiser geworden war. Durch das Regenprasseln nahm er plötzlich leise, sanfte Klaviermusik wahr. Bedächtig schlängelte sie sich zwischen den Regentropfen hindurch, bahnte sich geschickt ihren Weg bis hin zu seinen Ohren, wo sie sich einnistete und es sich gemütlich machte. Milan lächelte zufrieden vor sich hin, all seine Sorgen schienen vergessen. In diesem Augenblick war eben nur dieser wichtig: Der Augenblick. Es zählten nicht Simon und der damalige Streit. Es zählten nicht die Schritte irgendeiner fremden Person, die er vielleicht nochmal hören würde, vielleicht aber auch nicht. Es zählten nicht der Wunsch nach einem Hund und die Ablehnung gegenüber seinem Blindenstock. Es zählte nur der Augenblick, zusammengesetzt aus der sanften Klaviermusik und dem reinigenden Regen. Milan wünschte sich, dass dieser Moment niemals aufhörte.

Ein helles Bellen riss ihn aus der Momentaufnahme heraus.

„Bleib hier!“, rief ein Mädchen, halb lachend, halb verzweifelt, doch den weiteren, verzweifelten Rufen des Mädchens zufolge, hatte der Hund wohl weniger Lust, stehenzubleiben. Stöhnend klatschte das Mädchen ein paar Mal in die Hände, pfiff, doch nichts half. Milan konnte nicht anders, als loszulachen. Auch, wenn er nichts sah, nicht wirklich wusste, wie ein Hund aussah, stellte er sich den Anblick recht lustig vor. Plötzlich berührte ihn etwas Feuchtes an der Hand und er spürte, wie sich etwas auf seine Knie abstützte. Irritierte zuckte Milan zusammen.

„Nein, Alpha, nein. Alpha!“ Die Stimme des Mädchens war jetzt ganz nah.

„Oh Gott, tut mir leid“, sagte sie und das Gewicht auf seinen Knien verschwand. Ein leises, irritiertes Bellen ertönte und das Mädchen seufzte.

„Ich bin Leyla.“

„Milan“, antwortete er und hatte das Gefühl, etwas zu verpassen.

„Ich … ähm … ist bei dir alles okay?“

Unsicherheit lag in Leylas Stimme und er hatte jetzt schon Angst davor, wie sie reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er blind war – was sie bisher wohl nicht bemerkt hatte. Wie schnell merkten die Leute sowas überhaupt? Milan konnte nicht anders, als laut aufzulachen.

„Na ja, wie man’s nimmt. Ich bin … Hoppla!“, brach er ab. Der Hund war auf seinen Schoß geklettert, vielleicht auch gesprungen und leckte ihm nun übers Kinn. Vorsichtig tastete Milan nach dem Fell des Tieres und strich behutsam darüber, dann vervollständigte er seinen Satz:

„ … blind“

„Oh“, war das Einzige, was von Leyla kam.

Er unterdrückte ein Grinsen, das war die übliche Reaktion.

„Ist das dein Hund?“, fragte er und wünschte sich mehr denn je, sehen zu können. Er wollte wissen, wie Leyla aussah, wollte wissen, wie Alpha aussah.

„Ja“, meinte sie, und der Stolz war kaum zu überhören, ehe sie bedauernd hinzufügte: „Noch.“

„Noch?“, fragte er nach.

„Er ist noch ein Welpe und wir müssen ihn – zusammen mit seinen Geschwistern – bald abgeben. Also, nach der Ausbildung, die übernehmen wir zeitlich, zumindest zum Teil.“

Er nickte und kraulte den Hund, der sich inzwischen auf seinem Schoß ausgebreitet hatte.

„Welche Ausbildung?“, wollte er wissen.

„Zu Polizeihunden. Vorausgesetzt, sie eignen sich“, erwiderte sie und er gab nachdenklich ein zustimmendes Brummen von sich.

„Hm, na ja, ich persönlich glaube ja, dass nur einer geeignet ist, wenn überhaupt. Meine Mutter sieht das ein wenig anders.“

Schweigen machte sich breit und Milan streichelte gedankenverloren den Welpen.

„Ich kann ihn zwar nicht sehen, aber ich bin mir sicher, er ist trotzdem süß.“

Leyla lachte. „Klar ist er das.“

Er lachte ebenfalls und hatte das Gefühl, dass da irgendwas in der Luft lag, unausgesprochen, aber genau deshalb so wichtig.

Kapitel 11 - Leyla

Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, wieder und wieder. Sie musste sich jede Sekunde aufs Neue vergewissern, dass sie sich nicht irrte. Dass vor ihr wirklich der Typ saß, den sie täglich sah, den sie so bewunderte, ohne so richtig zu wissen, weshalb. Und nun kannte sie sogar seinen Namen, redete mit ihm. Innerlich bedankte sie sich tausend Mal bei Alpha, der zufrieden auf Milans Schoß schlummerte. Leyla wusste nicht, warum ihr dieser Moment so dermaßen wichtig war, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, dass ihr ganzes Leben nur darauf ausgerichtet war, auf Milan zu treffen. Auf Milan, der blind war, während sie selbst mehr zu sehen schien als andere. Vielleicht war es einfach nur Zufall, aber Leyla war davon überzeugt, dass es das Schicksal – oder irgendeine andere höhere Macht – war, das für dieses Aufeinandertreffen verantwortlich war.

Für einen Moment wollte sie ihm sagen, dass sie ihn schon öfter gesehen hatte. Dass sie ihn bewunderte, ohne wirklichen Grund. Ihre Gedanken rasten, sie dachte über eben diese Dinge nach, über die sie nicht nachdenken wollte, weil sie wusste, wie dämlich es klingen würde, würde sie sie laut aussprechen. Trotzdem kam sie sich blöd vor, schweigend dazustehen, deshalb sagte sie „Scheint, als würde er dich mögen“ und kam sich dennoch blöd vor. Diesmal war es Milan, der schwieg. Plötzlich bemerkte sie das leise Klavierspiel ihrer Mutter – die mal wieder ihr Lieblingsstück spielte – und unweigerlich tauchten durchscheinende Kreise auf. Ihr entwich ein Seufzen.

„Was ist?“, fragte Milan und klang unsicher, fast so, als befürchtete er, sie mit seiner Blindheit zu überfordern, verantwortlich für ihren Seufzer zu sein.

Zu den durchscheinenden blauen Kreisen mischten sich goldschimmernde

seifenblasenähnliche Kugeln – immer, wenn Milan sprach. Es war etwas Neues, Ungewohntes, dass auch Stimmen bei ihr etwas auslösten. Sie hatte schon öfter von „Leuten wie ihr“ gehört, die auch bei Stimmen oder anderen Geräuschen Farben und Formen sahen, aber bei ihr war das nicht der Fall gewesen – bisher. Dennoch machte ihn das aus irgendeinem Grund sympathischer.

Für einen Augenblick dachte sie darüber nach, ihm zu sagen, dass sie in der Lage war, Töne zu sehen, aber sie entschied sich dagegen. Andere hielten sie deshalb schon für seltsam, wie also sollte Milan damit umgehen können? Was, wenn er sich nicht ernstgenommen fühlte und dachte, sie mache sich über ihn lustig? Sie mochte ihn und wollte ihn nicht verärgern.

„Nichts, ich mag nur die Luft, wenn es regnet.“

Gelogen war das nicht, aber auch nicht der Grund für ihr Seufzen. Was ihr Gegenüber ja nicht erfahren musste.

„Ich auch“, erwiderte Milan, „es ist, als wäre alles viel … reiner.“

Leyla nickte zustimmend, dann fiel ihr ein, dass er es nicht sehen konnte, weshalb sie schnell ein „Ja, das stimmt“ hinterherschob und, sich über sich selbst ärgernd, den Kopf schüttelte.

„Vorsicht!“, rief sie erschrocken und fing Alpha auf, der langsam von Milans Schoß rutschte. Der Welpe zuckte verwirrt zusammen, blinzelte, sah sie vorwurfsvoll an und kraxelte wieder auf den Schoß des Blinden, wo er herzhaft gähnte. Milan fing an, zu lachen – was ein wunderschönes Schauspiel von goldschimmernden Seifenblasen verursachte.

„Wie hieß er nochmal?“, fragte er und fuhr dem Tier bedächtig durchs Fell.

„Alpha“, antwortete Leyla stolz, der Name war ihre Idee gewesen.

„Alpha“, wiederholte er langsam, ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen wie ein Stück Schokolade, „ein schöner Name. Er war der Erste im Wurf, oder?“

„Ja.“

„Und seine Geschwister heißen Beta und Gamma?“

Für einen Moment wollte sie widersprechen, dann bemerkte sie das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete. Sie lachte und erwiderte: „Klar, Amy hat so viele Welpen bekommen, da hat es sogar zum Omega gereicht.“

Milan fiel in das Lachen ein, nur für einen kurzen Moment, dann sagte er ernst: „Irgendwie mag ich dich.“

Ein ansteckendes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ich dich auch“, sagte sie leise. Es waren nur drei Worte, schlicht, fast schon bedeutungslos, aber es fühlte sich an, als hätte sie ihm ihr größtes Geheimnis verraten.

Kapitel 12 - Milan