In München wartet der Tod - Stefanie Gregg - E-Book

In München wartet der Tod E-Book

Stefanie Gregg

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

In München wird eine Leiche gefunden - ohne Leber und Nieren. Kommissar Fricke und Staatsanwältin Elena Karinoglous werden in einer Soko abgeordnet. Hartnäckig kämpfen sich die beiden durch einen Sumpf des Schweigens bei Ärzten und Patienten. Fricke greift auch zu Mitteln jenseits des Gesetzes, denn im In- und Ausland existieren geheime Kanäle für illegale Organentnahmen. Doch dann wird klar, dass noch jemand auf der Spur der Organhändler ist. Ein Rächer, der blutige Spuren zieht …

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Seitenzahl: 259

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Stefanie Gregg / Paul Schenke

In München wartet der Tod

Kriminalroman

Zum Buch

Blutige Spuren In einem Wald bei München wird ein toter Mann gefunden – ohne Leber und Nieren, die ihm offenbar vor kurzem entnommen worden sind. Hauptkommissar Fricke und seine schöne Staatsanwältin Elena Karinoglous ermitteln in diesem Fall, der brisant und hochpolitisch ist. Schnell wird klar, dass es Unregelmäßigkeiten bei Transplantationen gab – und dass geheime Kanäle im In- und Ausland für illegale Organentnahmen existieren. Hartnäckig kämpfen sich die beiden durch einen Sumpf des Schweigens bei Ärzten und Patienten. Wie immer: Fricke handfest, praktisch und nicht immer mit ganz rechtsgemäßen Mitteln. Karinoglous hingegen höchst korrekt, mit Feingefühl und einem guten Gespür für menschliche Zwischentöne. Die beiden kommen sich auch privat wieder näher – ein kleines Tête-à-Tête inmitten des blutigen Geschehens.

Doch es gibt noch jemanden, der auf der Spur der Organhändler ist. Ein Rächer, der blutige Spuren zieht. Wer ist schneller?

Stefanie Gregg, 1970 in Erlangen geboren, lebt in der Nähe von München. Sie studierte Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik sowie Theaterwissenschaften. Sie hat mehrere Fachbücher und diverse wissenschaftliche Publikationen sowie Krimis, Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht. Mehrfach wurde die Autorin mit Literaturpreisen ausgezeichnet.

Paul Schenke, 1966 in Moers geboren, lebt nach Stationen in Afrika, Algerien und Frankreich nun in Hannover. Nach seine Lehrtätigkeit als Religionswissenschaftler widmet er sich dem Schreiben – tagsüber schläft und lebt er, nachts schreibt er. Weitere Interessensgebiete sind Diskussionen über den Wahrheitsgehalt der Bibel und seine Tätigkeit als Freimaurer.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Schwarze Roben (2018)

Blutvilla (2017)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Savvapanf Photo /

stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6272-6

Widmung

Für Amelie

Und all jene, die sich für Menschen einsetzen, die Hilfe benötigen.

Prolog

»Du weißt, dass du es tun musst.«

Er wusste es. Sie war seine Schwester, er würde sie suchen. Und er würde sie finden. Aber er wusste auch, dass das nicht der Grund war, warum er von der Familie auf diese Mission geschickt wurde.

Der Clan hatte ihn dafür bestimmt, denn er war bei einer Spezialeinheit in der Armee gewesen, speziell ausgebildet und trainiert. Er konnte mit Waffen umgehen. Er konnte Spuren verfolgen. Er konnte töten.

»Mit allen Mitteln«, fuhr sein Onkel fort und schob ihm Geld über den Tisch. Euros. Etwa 5.000. Eine Menge Geld. »Und du weißt, ich habe keine Söhne. Auch nach mir wird es einen Clanchef geben müssen. Einen, der sich bewiesen hat. Einen, der die anderen beschützt, auf den sie sich verlassen können. Der klug ist. Und bereit, sich durchzusetzen.«

Es war ein Versprechen. Und eine Forderung.

Er nahm das Geld, stand auf und verschwand grußlos. Dies würde die härteste Mission werden, auf die er je geschickt worden war.

Auf der Straße zuckelte ein Milchmann bedenklich schwankend auf seinem rostigen Fahrrad vorbei. Vorne und hinten hatte er zu beiden Seiten große Milchkannen angebunden. 50 Liter waren es bestimmt, die er bei sich trug. Ihn umgab ein Duft nach frischem Brot, das sich wohl unter dem sich bauschenden weißen Plastiksack auf dem Lenker verbergen musste. Adnan winkte ihn heran, ließ sich Milch in seine Wasserflasche abfüllen und kaufte dem Händler ein großes Fladenbrot ab. Das letzte albanische Fladenbrot für lange Zeit.

Denn Majlindas Spuren führten nach Deutschland.

Kapitel 1

Fricke, Montagmorgen

Montag. Montag war eben Montag.

Dann betrat er nämlich immer Feindesland.

Nicht jedoch, weil es der Beginn der Arbeitswoche war. Oft genug arbeitete er auch am Wochenende. Verbrecher richteten sich einfach nicht nach seinen Arbeitszeiten. Als Hauptkommissar der Mordkommission war ihm das nicht nur längst geläufig, es machte ihm auch wenig aus.

Aber der Montag war für den Schreibtisch vorgesehen. Und der war Feindesland. Berichte schreiben, Papierkram war das, was Fricke abgrundtief hasste.

Montagsmäßig schlecht gelaunt warf er die Bettdecke zurück, setzte sich auf die Bettkante und sinnierte. Bis vor Kurzem hatte zu Hause nie jemand auf ihn gewartet. Die Arbeit war sein Leben.

Zum ersten Mal seit Langem bedeutete der verhasste Montag zudem das Ende eines Wochenendes. Als er an den gestrigen Abend dachte, ging unwillkürlich ein Strahlen über sein Gesicht, denn er hatte ihn mit Elena verbracht. Und auch die ganze Nacht.

Dass sie auffallend schön war, die Staatsanwältin Karinoglous, hatte noch nicht einmal er je bestreiten können. Aber dass er sie zickig fand, rechthaberisch, pingelig an rechtliche Grenzen der Ermittlungsarbeit erinnernd, dass sie ihm ständig in seinen Job hineinredete, jegliches Vorgehen anders haben wollte, das hatte er bei jedem Fall mit ihr in aller Deutlichkeit erlebt. Fälle mit Elena hatten Vesuvqualitäten. Während sie als Staatsanwältin eher jemand war, der sehr auf Feinheiten achtete, war er der Mann fürs Grobe. Deswegen brach zwischen ihnen der Vulkan in regelmäßigen Abständen aus. Heiß, oft genug verbrennend, aber auch feurig. Wie eine griechische Frau eben ist, dachte Fricke. Wie lange hatten sie miteinander gerungen, sich mal gemocht, mal gezankt, mal heftig geliebt und mal ebenso heftig zerstritten. Doch nun schien seltsamerweise eine Phase der angenehmen Ruhe in ihre Beziehung eingetreten zu sein, fast Harmonie, stellte Fricke verwundert fest.

Montag war also Feindesland. Und auch Ende dieses schönen Wochenendes. Mit Schwung stand Fricke endlich aus dem Bett auf. Ab heute würde er sich immerhin montags auch auf das nächste Wochenende freuen können. Irgendwie schön.

Allerdings hatte er nicht die ganze Nacht bei Elena verbracht, weil er einfach nur im eigenen Bett schlafen konnte. Elena war nicht begeistert gewesen, als er um 4 Uhr früh ging. Hoffentlich brach da nicht bald wieder der Vesuv aus …

Er stand auf und ging in die Küche. Dort stellte er den Wasserkocher an und füllte Kaffeepulver in den Filter, der auf einer weißen Porzellankanne stand. Wieder musste er an Elena denken. Er liebte Filterkaffee, sie italienische Espressomaschinen. Sogar darüber konnten sie täglich streiten. Wie auch darüber, ob das Bügeln von Hemden nötig war oder nicht. Er fand, nein.

Fricke hatte im Laufe ihrer Zusammenarbeit gelernt, gelassener mit ihren bissigen Kommentaren umzugehen. Manchmal lächelte er einfach, drehte sich um und steckte sich eine Zigarette an. Selbstverständlich – nur eine Lucky Strike. Oft half ihm auch seine Zugehörigkeit zum Buddhismus. Buddha wurde zu seinem ständigen Begleiter, wenn er mit Elena zusammen war.

Gerade als er Kaffee nachgießen wollte, klingelte das Telefon. Lächelnd in der Erwartung, es sei Elena, ging er in den Flur und nahm das Mobilteil von der Station. Er hatte recht mit seiner Annahme.

»Warum bist du gegangen?«

»Guten Morgen, sagt man eigentlich. Ich konnte nicht mehr schlafen. Schlimm?« Er war gespannt auf ihre Reaktion. Alles war möglich. Von beleidigt sein bis zur Rüge bis zum versöhnlichen Lachen.

»Schon ein bisschen. Ich hätte mich gefreut, neben dir aufzuwachen.«

Er war erleichtert. Für Elena-Verhältnisse war das eine nahezu neutrale Feststellung.

»Wollen wir heute zusammen Mittagessen? Gegen 13 Uhr?«, fragte er vorsichtig.

»Gerne. Hol mich ab. Bis dann.«

Er blickte auf das Telefon, aus dem das Freizeichen erklang. Na, mal sehen, wie viel Vesuv ihn da erwarten würde.

Dann sah er auf dem Handy die Uhrzeit. Mist, gleich 8 Uhr. Eigentlich kam er nie zu spät.

Er ging ins Bad, duschte und rasierte sich und zog sich anschließend im Schlafzimmer an. Zu seiner schwarzen Jeans wählte er ein weißes Hemd. Kurz betrachtete er sich im Spiegel. Heute wollte er Elena keinen Anlass geben, sich über sein Äußeres zu beschweren. Ungebügelte Hemden waren ein Reizthema zwischen ihnen. Also holte er etwa zehn Exemplare aus dem Schrank, legte sie mehr schlecht als recht zusammen, verstaute sie in einer kleinen Reisetasche und beschloss, diese zum Bügeln in der Reinigung am Ende seiner Straße abzugeben.

Gegen 8.45 Uhr traf er im Polizeirevier ein und fragte sich, warum der Uniformierte am Eingang ihn ansah, als hätte er einen Geist gesehen. Nachdem er in der dritten Etage angekommen und ins Schreibbüro gegangen war, warf ihm die Sekretärin dort einen ähnlichen Blick zu.

»Habe ich heute Lippenstift aufgelegt und hab’s nicht gemerkt? Warum gaffen mich denn alle hier so an, als sei ich ein Gespenst?«, fragte Fricke etwas verärgert.

»Wahrscheinlich liegt es daran, dass Sie lächeln. Gute Laune und Sie – das ist eine Kombination, die man selten sieht. Hatten Sie ein schönes Wochenende?« Ohne eine Antwort auf ihre zweideutig gemeinte Frage abzuwarten, wendete die Sekretärin sich wieder ihrem Computer zu. Das unerwartete Tête-à-Tête zwischen der brillant-klugen, scharfzüngigen Staatsanwältin und Hauptkommissar »Immer-grummelig« war längst Flurthema …

Fricke konnte nicht umhin, noch breiter zu grinsen, nahm sich seinen Stoß Akten aus dem Regal und ging damit in sein Büro. Dort legte er den Aktenstapel ab – auf dem Feindesland –, ging zum Fenster und öffnete es weit. Es war Herbst und er erfreute sich an den Sonnenstrahlen, die einen goldenen Oktobertag versprachen. Trotz Feindkontakt.

Kapitel 2

Majlinda

Fuhr man von München Richtung Süden, kam man schnell in die ländliche Idylle des Voralpengebietes. Kleine Städte, Dörfer, vereinzelte Bauernhöfe, Felder, Grünflächen. Und viele Wälder.

Hier hatte ein Graf eine Burg errichten lassen, die er nie bezog, denn noch bevor die letzten Steine gesetzt werden konnten, verließ ihn das Leben. So wurde die unvollendete Burg schnell eine Ruine, an der der Zahn der Zeit gut nagen konnte.

Man musste tief in den Wald hineingehen, um sie zu finden. Schon etwa 50 Meter vor der Ruine waren Schilder aufgestellt, die den Zugang untersagten. Eigentlich hätte man nicht auf die Einsturzgefahr hinweisen müssen, denn die war auch mit dem bloßen Auge aus dieser Entfernung gut zu erkennen. Wanderer überlegten sich also zweimal, ob sie sich der Ruine nähern, geschweige denn sie betreten wollten.

Es war eine Einsamkeit, die nicht zufällig ausgesucht worden war.

Eine Gruppe aus acht Mädchen und fünf Jungs saß zusammengekauert in einer Ecke des feuchten Gewölbes und betrachtete die unfreundlichen Menschen, die ihnen gegenüberstanden. Mittlerweile war ihnen allen schmerzlich klar geworden, dass ihr Leben in Deutschland vielleicht doch nicht so aussehen würde, wie man es ihnen versprochen hatte. Mit den aufsteigenden Dampfwolken, die ihr Atem in dem kalten Keller bildete, verflüchtigten sich alle ihre Träume. Skeptisch sahen sie das Pärchen an, von dem sie nicht wussten, was es mit ihnen vorhatte. Die vier Männer, die links und rechts neben ihnen standen, hatten den Jugendlichen längst klargemacht, dass es wohl nichts Gutes sein würde. Wollten die Frau und der Mann ein Kind? Vielleicht weil sie selbst keins bekommen konnten? Jede Überlegung, ob das Pärchen ein fürsorgliches Elternpaar abgeben würde, verflog allerdings, wenn man ihnen in die Augen sah. Der Blick der Frau war kalt. Der des Mannes eher lüstern. Er kniff die Augen zusammen und sah sich hauptsächlich die Mädchen an. Je länger die beiden schweigsam die Körper der verängstigten Jugendlichen betrachteten, desto ängstlicher wurde die Gruppe. Sie spürten, dass sie vor diesem Pärchen noch mehr Angst haben mussten als vor den Männern, die ihnen täglich das Essen brachten. Und sie schlugen.

Die Kälte von außen zog tiefer ins Innerste der jungen Menschen.

»Und? Hast du was gefunden?«, fragte die Frau ihren Begleiter, ohne den Blick von der Gruppe zu wenden.

Der Mann nickte und zeigte langsam auf ein Mädchen. Nun liefen zwei Männer auf die Jugendliche mit den langen schwarzen Haaren zu, die geduckt zurückwich. Doch bald berührte ihr Rücken das feuchte Mauerwerk. Die Gruppe, deren Schutz sie suchte, rückte von ihr ab. Keiner versuchte, das Mädchen zu beschützen. Die Hilflosigkeit und Angst aller war beinahe mit den Händen greifbar.

Und das bitter schwebende Gefühl, dass dennoch jeder erleichtert war, nicht ausgewählt worden zu sein.

Der Mann mit dem Vollbart und den tätowierten Armen griff dem Mädchen in die Haare und zog es hoch. Sie schrie auf, sprach flehende Worte in ihrer Sprache aus. Doch es half nichts. Nicht nur, weil keiner der anwesenden Erwachsenen ihre Sprache verstand, sondern auch, weil es offensichtlich niemanden interessierte.

Die Frau betrachtete weiterhin mit kaltem Blick das Mädchen wie ein Objekt, das sie vor dem Kauf noch abschätzte. Auch in ihrer Angst war die Jugendliche hübsch. Trotz ihrer zerrissenen Jeanshose und dem schmutzig-löchrigen, einst weißen T-Shirt wusste die Frau, dass mit der nötigen Pflege eine kleine Schönheit vor ihnen stand.

Der Vollbärtige sah die Frau an, wartete auf ihr Kopfnicken, packte das Mädchen dann fest am Arm und zog sie hinter sich her aus dem Raum hinaus.

Noch vier weitere Jugendliche suchte sich das Pärchen aus. Drei Mädchen und einen Jungen, alle etwa 16 Jahre alt. Die Männer trieben die vier Jugendlichen hinaus. Vor der alten Ruine stand ein Mercedes-Transporter, dessen Fenster vorne abgedunkelt waren. Der Frachtraum hingegen besaß gar kein Fenster. Die Teenager wurden auf den Bänken mit einem Strick festgebunden, sodass sie nicht aufstehen konnten. Zwei Mädchen weinten und bettelten verzweifelt, aber die Männer gingen nicht darauf ein.

Schließlich schlugen sie die Türen zu und gingen zurück zu dem Pärchen, das noch immer vor dem Eingang zum Gewölbe stand.

»Fünf. 40.000?«, fragte der Vollbärtige in gebrochenem Deutsch.

Ohne zu überlegen, willigte die Frau ein, öffnete ihre große Handtasche und holte fünf Bündel Geldscheine heraus. Sie übergab dem Vollbärtigen das Geld und lief dann hinter ihrem Partner her zum Transporter.

Der Vollbärtige sah dem Lieferwagen nach, bis er hinter den Bäumen des angrenzenden Waldes verschwand. Zufrieden lächelte er, während er die Geldscheinbündel in der Hand wog. »Wenn die wüssten, dass sie krank ist. Egal. Verkauft ist verkauft«, murmelte er und machte sich auf den Weg zurück zu seinen Freunden in der Ruine.

Kapitel 3

Fricke, Montag

Frickes Lächeln verging ihm jäh, als das Klingeln seines Telefons ihn vom Fenster fortlockte und er den Anrufernamen auf dem Display erkannte: Ahrensmeier. Sein Chef. Das konnte nichts Gutes heißen. Also kein Montagmorgen, an dem er, wenn auch widerwillig, seinen Papierkram erledigen konnte. Wenn Ahrensmeier anrief, bedeutete dies entweder eine Beschwerde, einen saftigen Anschiss oder – einen neuen Fall. Auf nichts davon verspürte Fricke Lust. Aber es half nichts, er musste das Gespräch entgegennehmen.

»Kommen Sie mal in mein Büro«, blaffte es ihm aus dem Hörer entgegen.

Kein »Guten Morgen«, keine weitere Erklärung. Auch Fricke hielt sich nicht gerne mit Höflichkeitsfloskeln auf, aber ein wenig freundlicher hätte Ahrensmeier schon sein können. Ein Gutes hatte die barsche Art seines Chefs jedoch: Wenigstens musste Fricke dann auch nicht freundlich zu ihm sein. Schluss mit Lächeln für heute, dachte er sich.

Ohne anzuklopfen, betrat er zwei Minuten später das Büro von Hauptkommissar Ahrensmeier, der noch telefonierte und ihm mit den Händen bedeutete, sich hinzusetzen. Was Fricke so oder so gemacht hätte.

»Hier ist die Hölle los.«

Fricke zuckte mit den Schultern. Polizeipräsidium. Hier war immer die Hölle los. Himmel war hier nicht.

»München will Sie. Die Soko wurde bereits veranlasst. Sie warten nur noch auf die Zustimmung des Innenministeriums. – Reine Formsache.«

»Ne, nicht schon wieder eine Dienstanforderung«, stöhnte Fricke.

»Das finde ich auch.«

»Schön, dass wir uns da mal einig sind.«

»Nützt aber nichts.«

Beide Männer schwiegen sich einen Moment an. Mit Elena hätte er jetzt losgelacht. Aber wer hier zuerst lachte, hatte das Duell verloren. Also lachte keiner von beiden.

»Das ist eine ganz heiße Kiste in München«, erklärte Ahrensmeier. »Eine Leiche, und zwar ohne Niere. Und das, wo es vor zwei Wochen bereits eine andere Leiche gegeben hat. Ohne Herz.«

Wieder verfielen beide in Schweigen.

»Sieht nach Organhandel aus. Das wäre eine Katastrophe für Deutschland. Bei der ersten Leiche hat die Kripo es geschafft, das Ganze unter Verschluss zu halten, aber die zweite ist zur Presse durchgesickert. Der Polizeipräsident hat gesagt, er will, dass der Fall aufgeklärt wird. S-O-F-O-R-T.«

Fricke zuckte mit den Schultern. »Na und?«

»Sie haben damals den Organhandel-Fall bei uns aufgeklärt. Sie haben gerade die Verantwortlichen für das Bombenattentat in Kiel in sieben Tagen gefunden. Irgendjemand ist jetzt auf die Idee gekommen, dass Sie das auch mit dem aktuellen Fall in München schaffen. Also wurden Sie abberufen.«

Fricke stöhnte. »Ich soll nach München. Ne total heiße Kiste. Und bekomme dafür sieben Tage eingeräumt. Super. Ich melde mich krank.«

»Wagen Sie das nicht …«

»Ach, Scheiße, ich hab da wirklich keinen Bock drauf. Ich will in Kiel bleiben.«

»Hat das zufällig einen bestimmten Grund? – Vielleicht einen auf zwei hübschen Beinen?«, kommentierte Ahrensmeier süffisant.

Fricke antwortete nicht. Das ging Ahrensmeier wirklich nichts an.

»Fricke, ich habe die passende Lösung für Sie und mich: Wir fordern die Staatsanwältin Karinoglous auch mit an. Wir machen eine kleine Soko daraus. Begründung: erfolgreiche Zusammenarbeit beim Bombenattentat sowie ihre gemeinsame Erfahrung aus unserem Organhandel-Fall vor einigen Jahren. Und mit der Presse kann Frau Karinoglous auch besser umgehen als Sie. Können wir uns darauf einigen?«

Fricke wollte es nicht zugeben, aber so schlecht fand er diese Idee gar nicht. Organhandel allerdings war heftig. Die Presse würde jeden Ermittlungsschritt genau verfolgen, und das war etwas, das er hasste: einen Wettlauf mit den Pressefuzzis veranstalten zu müssen. Dem gegenüber stand aber München gemeinsam mit Elena. Das klang verlockend. Mal sehen, ob sie mitkommen würde.

Ahrensmeier nahm Frickes Schweigen als Zustimmung. »Dann machen wir es so.« Er blätterte in den Unterlagen, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

»Zu den Fakten: Beide Tote waren Albaner, die nicht registriert sind, vielleicht illegal eingereist, vielleicht eingeschleust, vielleicht Flüchtlinge. Junge Männer, 16 und 18 Jahre alt. Offensichtlich ausgesucht, weil sie körperlich fit waren. Von jedem wurde jeweils nur ein Organ entnommen – obwohl man sie ja auch ganz hätte ausschlachten können …« Ahrensmeier blickte fragend zu Fricke auf. »Das finde ich verwunderlich.«

Fricke zeigte keine erkennbare Reaktion auf diese Anmerkung. Daher fuhr der Hauptkommissar fort. »Beide wurden professionell operiert, der Tod des Ersten trat aufgrund der Herzentnahme ein«, wieder blickte er zu Fricke hoch, als erwarte er einen dummen Spruch von ihm, der aber ausblieb, »der Zweite ist vermutlich eher aus Versehen gestorben.«

Ahrensmeier ließ die Akte sinken und lehnte sich zurück.

»Fundort?«, fragte Fricke.

»Neuperlacher Forst«, antwortete sein Chef, ohne erneut in die Unterlagen zu blicken, »in beiden Fällen.«

»Wo immer das auch ist. Und weiter?«

»Nichts weiter. Keine Spuren, keine Fingerabdrücke, keine Verdächtigen, keine Anhaltspunkte – nichts.«

»Super Fall!«, stöhnte Fricke und erhob sich. Er ließ sich die Akte reichen und wandte sich zur Tür. Bevor er sie öffnete, drehte er sich noch mal um: »Aber ein schönes Hotel. Doppelzimmer. Eine Suite, besser gesagt. Kostet auch nicht mehr als zwei Einzelzimmer.«

»Suite – können Sie vergessen. Doppelzimmer – weil Sie’s sind. Aber es wird hart gearbeitet, verstanden?«

Fricke schmunzelte.

»Ich meine, an dem Fall, nicht an der Staatsanwältin«, brummte Ahrensmeier. »Und jetzt raus mit Ihnen.«

Tatsächlich hatte Ahrensmeier keine Bedenken, die beiden zusammenarbeiten zu lassen. Sosehr Fricke offensichtlich die neue Liebe zur Staatsanwältin genoss, sobald diese zwei an einem Fall dran waren, gab es kein Privatleben mehr. Beide waren verbissen, aus ganz unterschiedlichen Gründen einem Gerechtigkeitswahn verfallen. Ihr Beruf war ihr eigentliches Leben. Auch wenn das frischgebackene Pärchen gerade anderes glaubte. Ahrensmeier wusste es besser.

Kapitel 4

Majlinda

Majlinda öffnete langsam die Augen und starrte an die Decke. Sie wusste nicht, welches Datum heute war. Sie wusste nicht, ob es regnete oder die Sonne schien. Ob es Tag war oder Nacht.

Nur eine schwache Neonbeleuchtung an der Decke tauchte den fensterlosen Raum in ein kaltes Licht. Kleine rote Standby-LED’s vom Fernseher oder DVD-Player starrten sie an wie blutunterlaufene Augen eines Monsters.

Dennoch war es für das albanische Mädchen ein schönes Zimmer mit tollen Möbeln. Einen Raum wie diesen hatte sie bisher nur in Zeitschriften gesehen. Ihr Zimmer zu Hause musste sie sich mit ihren drei Brüdern und ihren beiden Schwestern teilen. Außer den drei Doppelbetten standen nur sechs Kartons auf dem nackten Boden. Auf jedem Karton stand der Name des Kindes, dessen Spielzeug und Schulbücher sich darin befanden. In ihrem Karton lag außer den drei Schulbüchern noch eine Puppe, der ein Arm fehlte. Obwohl Majlinda kein kleines Kind mehr war, begleitete sie diese von ihrer Großmutter gehäkelte Puppe, wo immer sie hinging. Letztes Jahr war ihre geliebte »Giyshe«, ihre Oma, gestorben, und die Puppe war das Einzige, das sie an sie erinnerte. Sie trug sie stets bei sich, sogar im Schulranzen. Keiner ihrer Geschwister lachte sie aus, wenn sie ihre Puppe drückte und ihr einen Kuss gab, denn alle wussten, was sie damit verband.

Großmutter hatte einen kleinen Laden besessen, in dem sie ihre Schneiderkünste anbot. Finanziell war es ihr gut gegangen. Als Majlindas schwer kranker Vater nicht mehr arbeiten konnte, hatte sie die Familie unterstützt, wo sie nur konnte. Die Mutter und manchmal auch Majlinda hatten ihr geholfen und für Großmutter Tischdecken genäht, aber das Geld war zu knapp geblieben, um eine ganze Familie zu ernähren. Als Großmutter starb, wich die anfängliche Verzweiflung langsamen Sich-Ergebens in ein Schicksal, das bittere Armut versprach. Seitdem lebten sie von dem, was ihr Onkel ihnen vorbeibrachte. Es reichte nicht, um alle satt zu bekommen.

Majlinda saß in dem fremden Zimmer, blickte die Wände hinauf und hinunter, und wieder kamen ihr die Erinnerungen an die Ereignisse, die sie hierhergeführt hatten.

Sie war auf dem Weg von der Schule nach Hause gewesen. Hätte sie diesen Tag nur nie erlebt. Oder alles anders gemacht.

Wie immer trug sie ihren Schulranzen mit der gut versteckten Puppe auf ihrem Rücken. Sie blickte auf, als ein in einem schwarzen Anzug gekleideter Mann ihr entgegenkam. Ein seltener Anblick hier. Weißes Hemd, Krawatte. Schon von Weitem nickte er ihr grüßend zu, was sie verwunderte, denn sie glaubte nicht, ihn zu kennen. Eindeutig war er nicht aus dem Dorf. Dennoch lächelte sie zurück.

Als er vor ihr stand, hielt er an und streckte ihr die Hand entgegen, die sie vorsichtig annahm. »Mirë dita, bukuroshë«, sagte er. »Guten Tag, schönes Mädchen.«

So hatte sie noch nie jemand angesprochen.

»Mein Name ist Hajdari. Ich komme aus Tirana und arbeite für eine große Fotoagentur. Wir suchen Models für Modekataloge. Ich habe dich gesehen und dachte mir, du bist ein ausnehmend hübsches Mädchen.« Er betrachtete sie eingehend, aber freundlich. »Ja, dich würde ich als Model nehmen.«

Majlinda sah zu Boden. Peinlich berührt über diese Ansprache des fremden Mannes und doch sehr geschmeichelt. Sie hatte davon gehört. Mädchen, die in anderen Ländern Models wurden. Berühmt. Und reich!

»Ich würde dich gerne dafür gewinnen. Man kann eine Menge Geld damit verdienen.«

Geld verdienen, was das bedeuten würde! Wenn sie Geld verdiente, könnte sie etwas dazu beitragen, die Familie zu unterstützen. Ein verheißungsvoller Gedanke. Vielleicht kein Hunger mehr? Majlinda erfüllte die Vorstellung, ihrer Familie zu etwas Wohlstand zu verhelfen, mit Stolz.

Im Auto saß bereits ein Mädchen, das sie von der Schule kannte. Es war das schönste Mädchen weit und breit. Majlinda stieg ins Auto ein, nickte ihr schüchtern zu, sagte aber nichts.

Der Mann setzte sich hinter das Lenkrad und lächelte den Mädchen auf dem Rücksitz zu: »Wir fahren jetzt nach Tirana«, erklärte er. »Dort gebt ihr uns die Adresse eurer Eltern. Wir werden ihnen Geld bringen und ihnen sagen, wo ihr seid. Jetzt haben wir keine Zeit mehr, bei ihnen vorbeizufahren. Es geht gleich los.«

Zwei Stunden schweigender Autofahrt vergingen. Leise Zweifel hatten Majlinda beschlichen. War es richtig gewesen, loszufahren, ohne zuerst bei ihren Eltern Bescheid zu geben? Aber solch eine Chance bot sich nicht oft, es war nicht genug Zeit gewesen. Das andere Mädchen war auch hier. Es würde Großartiges geschehen, sie würde reich und berühmt werden.

Das Auto fuhr in eine Lagerhalle hinein, und die Tür wurde ihnen geöffnet. Majlinda sah in das düstere Halblicht der fensterlosen Halle, wo etwa zehn Mädchen und Jungen warteten, deren Alter Majlinda auf 15 bis 20 Jahre schätzte. Sie fühlte sich sehr unwohl, Angst kroch in ihr hoch.

Zögernd ging sie zu der Gruppe Jugendlicher, die halb ängstlich, halb erwartungsvoll aussahen, und richtete ihren Blick wie die anderen auf einen Mann, der ihnen – ebenfalls bekleidet mit Anzug und Krawatte – gegenüberstand und zu sprechen begann. Er erzählte, dass man sie nun nach Deutschland bringen würde, wo sie alle ein Zimmer in einem Hotel bekämen, zudem Geld, neue Kleidung und reichlich zu essen. Die Gruppe reagierte aufgeregt und ausgelassen, sie schienen ihr Glück kaum fassen zu können. Doch Majlinda wurde es mit jedem Augenblick unwohler. Sie hätte sich unbedingt von ihrer Familie verabschieden müssen.

Einige Männer, die schon die ganze Zeit um sie herumgestanden hatten, traten nun auf jeden Einzelnen von ihnen zu und schrieben sich ihre Adressen auf.

»Eure Eltern werden von uns so viel Geld bekommen, dass sie euch alle in ein paar Wochen in Deutschland besuchen kommen können«, erklärte der Mann im Anzug weiter und forderte sie schließlich auf, sich in den Lkw zu setzen. Im Laderaum waren rechts und links zwei Sitzbänke angebracht. Etwa zehn Flaschen Wasser sowie eine Kiste mit Brot und Obst standen am Kopfende. In Majlinda begannen die Gedanken zu kreisen. Sie hatte Fragen, so viele wichtige Fragen. Sie wollte wissen, wohin genau sie gebracht würde. Und warum alles so schnell gehen musste. Doch die Männer um sie herum trieben die Gruppe zur Eile an. Als Majlinda an der Reihe war, den Lkw zu betreten, nahm sie allen Mut zusammen und setzte an, den Mann, der so nett gewesen war und ihnen Geld versprochen hatte, nach all dem zu fragen, was sie beschäftigte. Doch bevor sie überhaupt zu sprechen beginnen konnte, wurde sie hart am Arm gepackt und die kleine Treppe vor dem Lkw nach oben geschoben. Stolpernd stieg sie die Stufen hinauf, bevor sich die Türen des Lkws mit einem lauten Knall schlossen und ein kleines Licht an der Decke anging.

Es sollte lange dauern, bis sich die Türen wieder öffneten.

Kapitel 5

Elena, Montag

Bereits bekleidet mit der schwarzen Robe saß Elena an ihrem großen Schreibtisch und warf einen letzten Blick in die Akten. Jeder ihrer Fälle bedeutete ihr viel, jeden bearbeitete sie akribisch genau, detailliert und lange abwägend, was das richtige und passende Strafmaß für das jeweilige Vergehen war. Sie war bekannt als brillante Juristin, die dennoch nie den Blick für den persönlichen Menschen vor ihr vergaß, die klug und genau abwägte, welche Strafe angemessen und die richtige war, um weitere Straftaten zu verhindern.

Dieses Verfahren jedoch lag ihr persönlich am Herzen. Lange genug hatte sie mit Fricke in diesem Bombenattentat ermittelt. Jeder Fall ging einem nahe, mochte man auch jahrelang schon bei der Mordkommission arbeiten, aber der Tod seines jungen Kollegen, dessen Hochzeit kurz bevorstand, hatte Fricke besonders getroffen. Dass eine Frau, nur des Geldes wegen, neben dem eigenen Mann zahlreiche andere Tote nicht nur bewusst in Kauf genommen, sondern mit einkalkuliert hatte, um von sich selbst abzulenken, war eine Kaltblütigkeit, die selbst Elena zuvor nicht erlebt hatte.

Mit aller Sorgfalt hatte sie den Prozess vorbereitet. Oft genug kamen solche Mörder mit einer viel zu geringen Strafe davon – das zumindest war Elenas Meinung, die als Staatsanwältin junge Menschen, denen sie eine Chance zur Besserung einräumte, meist schonender behandelte als andere Juristen. Bei Jugendlichen wählte sie möglichst andere Maßnahmen als den Strafvollzug. Diese Frau aber, Karin Munsch, sollte nicht leicht mit ihren Taten fortkommen, nur weil sie sich selbstverständlich einen hervorragenden und hochbezahlten Rechtsanwalt leisten konnte.

Elena straffte sich. Hier sollte nicht das Finanzielle siegen. Sie suchte Gerechtigkeit, und sie würde all ihr juristisches Wissen einsetzen, um hier das angemessene Strafmaß zu erreichen.

Kapitel 6

Majlinda

Die Fahrt nach Deutschland erschien Majlinda ewig. Inzwischen waren sie schon über einen Tag unterwegs. Durch kleine Ritzen an den Türen konnte sie erkennen, ob es draußen hell oder dunkel war. Die erste Nacht hatte sie bereits hinter sich gebracht.

Sie hielt den Geruch kaum aus. Ihre Notdurft mussten die Jugendlichen in Plastikeimern verrichten, Pausen waren auf der Fahrt offensichtlich nicht vorgesehen. Die einzige Rolle Toilettenpapier, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte, war bereits aufgebraucht. Ein Junge hatte sein Hemd ausgezogen und kleine Stücke herausgerissen, die sie als Ersatz benutzten. Er war es auch, der aufmunternde Durchhalteparolen von sich gab: »Kommt, manchmal muss man durch schwere Zeiten hindurch. Am Ziel erwartet uns das Gute!«

Manchmal konnte er sie damit ermutigen, doch der Gestank wurde immer unerträglicher. Inzwischen drängten sich die Jugendlichen auf dem Boden vor den Türen, durch deren Ritzen wenigstens etwas Luft hereinkam. Frische Luft. Sauerstoff.

Gestern war ein Plastikeimer umgekippt und der Inhalt hatte sich auf dem Boden verteilt. Zwei Jungs rissen den Karton, in dem sich nun weder Brot noch Obst befand, auseinander, schoben die Fäkalien mithilfe der Pappe in eine Ecke und versuchten, möglichst alles wieder in den Eimer zu verfrachten.

Auch dem Jungen fiel nun nichts Positives mehr ein.

»Ich habe Angst. Werden wir hier drinnen sterben?«, flüsterte das Mädchen neben Majlinda und sah sie verzweifelt an.

»Nein, wir sterben nicht«, antwortete Majlinda und nahm sie in den Arm.

Irgendwann öffneten sich die Türen. Luft. Endlich. Luft und Tageslicht, das nach all der Dunkelheit blendete. Wieder stand eine Gruppe Männer draußen vor dem Lkw, aber sie waren nicht so gut gekleidet wie jene, die sie vor drei Tagen in ihrer Heimat in den Lastwagen getrieben hatten. Auch ihr Benehmen war nicht so zurückhaltend wie das der anderen Männer – sie waren grob und schrien sie an. Majlinda verstand nicht, was sie riefen. Sie kannte die fremde Sprache nicht, aber es war klar, dass sie den Lkw verlassen sollten.

In einer Mischung aus Angst und Erleichterung stieg sie gemeinsam mit den anderen Jugendlichen aus dem Laderaum des Fahrzeugs und sog die frische Luft in ihre Lungen. Sie sah sich um. Offensichtlich befanden sie sich in einem Wald. Vor ihnen erhob sich die Ruine einer alten Burg. Sie musste früher mal ein prächtiger Bau gewesen sein, jetzt wirkte sie kühl, verlassen und unheimlich auf Majlinda.

Die Männer trieben sie vorwärts in das alte Gemäuer hinein. Nacheinander stiegen sie einige steinerne Stufen hinab und fanden sich in einem alten feuchten Gewölbe wieder. Dicht drängten sie sich aneinander – vor Kälte und vor Angst. Sie wagten nicht zu sprechen, nicht einmal, sich gegenseitig anzublicken. Wie gebannt starrten sie auf den Zugang zum Gewölbe, durch den eine Frau und ein Mann traten, die in die Runde blickten und lächelten. Majlinda lief eine Gänsehaut über den Rücken.

Kapitel 7

Fricke und Elena, Montag

Fricke nahm immer zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe des Gerichtsgebäudes nach oben lief. Er freute sich wie ein kleines Kind auf Elena. War das verrückt? Lächerlich? Pubertär? Es war ihm egal.

Als er die große Tür zum dritten Stock aufstieß, sah er sie schon von Weitem am anderen Ende des Flurs stehen. Sie trug ihre schwarze Robe. Obwohl diese Dinger eigentlich die absoluten Figurkiller waren und nahezu jeden wie eine unförmige Tonne aussehen ließen, schien der Anwalts-Talar für Elenas zierliche Figur wie geschaffen. Er umschmeichelte ihre zarten Kurven. Vielleicht rührte dieser Eindruck für Fricke aber auch nur daher, dass er genau wusste, wie die Kurven beschaffen waren, die unter dieser Robe steckten. Er hatte sie letzte Nacht ausgiebig erkundet und keinen Zentimeter ausgelassen.

Am unteren Rand der Robe sah er ihre Füße hervorblitzen, die wie meistens in zehn Zentimeter hohen Stöckelschuhen steckten. Wie konnte man in diesen Highheels auch nur ansatzweise geradeaus laufen?

In diesem Moment verschwand Elena in ihrem Zimmer. Fricke beschleunigte seine Schritte, denn er wusste genau, dass sie in den nächsten Minuten ihre Robe ausziehen würde, und diesen Moment wollte er nicht verpassen.