In vino veritas - Antonio Bitterli - E-Book

In vino veritas E-Book

Antonio Bitterli

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Beschreibung

Ein Weinliebhaber, der einiges auf dem Kerbholz hat, wird eines Abends ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Sofort fällt der Verdacht auf einen Freund des Opfers aus dem selben Wein Club. Der Tote trug die Schuld an einem tragischen Unfall, bei dem die Freundin des Verdächtigen umkam. Hat er sich nun an ihm gerächt? Vieles spricht dafür, als Léonie Lombardi mit ihren Ermittlungen beginnt. Doch der Fall ist viel komplizierter, als es anfänglich scheint. Die Kommissarin muss sich durch einen Sumpf von Geldwäschern, korrupten Politikern und russischen Mafiosi hindurch kämpfen, um die verblüffende Lösung zu finden.

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Seitenzahl: 316

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Für meine Mutter Vincenza

Dies ist eine frei erfundene Geschichte. Alle Übereinstimmungen mit lebenden Menschen, existierenden Gruppen und Organisationen sind rein zufällig und unbeabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1

Remo Bernet saß in seinem Bürosessel vor dem Bildschirm des Computers. Er trug einen schicken dunkelblauen Designer-Anzug, dazu eine schwarze Halsbinde. Der fünfunddreißigjährige Mann hatte den Kopf voller unangenehmer Gedanken.

Da war diese zweite Mahnung für eine offene Steuerrechnung in fünfstelliger Höhe, die ihn seit Wochen beschäftigte. Alle Versuche den Missstand zu beheben waren gescheitert. Auch jene verhängnisvolle Idee Gabriels Freundin Saskia zu erpressen, endete in einem Fiasko. Als er betrunken am Steuer ein Rotlicht überfuhr und ein weißer VW Golf seitlich in seinen Wagen prallte, verlor seine Beifahrerin, eben jene Saskia, ihr Leben. Der Selbstbehalt aus den Unfallkosten und der Privatkonkurs, der ihm drohte, waren sein kleinstes Problem. Vielmehr trieben ihn die Schuldgefühle gegenüber den Eltern des Opfers und seinem Freund Gabriel zur Verzweiflung. Eine Welt war im Begriff zusammenzubrechen. Er würde alles verlieren und musste möglicherweise ins Gefängnis wandern. Es war ein riesiger Fehler gewesen, Gabriels Freundin ausnehmen zu wollen. Hätte er nur schon vorher gewusst, was er jetzt wusste. Damals erschien ihm die Erpressung als letzte Chance aus seinen Schulden herauszukommen. Sie hatte viel Geld geerbt und er wollte davon profitieren. Das beste Mittel an ihren Zaster heranzukommen, war sie mit schmutzigen Geschichten aus der Vergangenheit zu erpressen. Nichts war dafür geeigneter, als ihr damit zu drohen, Gabriel die Wahrheit darüber zu erzählen, dass sie es hinter seinem Rücken miteinander getrieben hätten und sie ein Kind von ihm abgetrieben habe. Deshalb hatte er sie an jenem Abend getroffen. Nicht ohne sich vorher genug Mut anzutrinken. Zuerst bat er sie nur um Geld. Als sie ablehnte, wurde er deutlicher. Während er auf eine Kreuzung zufuhr, rastete sie regelrecht aus und schrie ihn hysterisch an, sodass er einen Augenblick abgelenkt war und nicht sah, dass die Ampel von Grün auf Rot wechselte. Da war es um seine Beifahrerin geschehen. Während er das Unglück ohne bleibende Schäden überlebte, erlag sie noch auf der Unfallstelle ihren Verletzungen. Wie die Polizei feststellte, war Remo im angetrunkenen Zustand gefahren und hatte zudem ein Verkehrssignal übersehen. Deshalb lehnte die Autoversicherung die Haftung mit der Begründung ab, dass der Unfall selbst verschuldet war. Auch die Familie des Opfers gab ihm an der Beerdigung zu verstehen, dass sie ihn für schuldig hielt, weil er verantwortungslos gehandelt hatte. Als er Gabriel Hell zum ersten Mal wieder sah, schlug ihm dieser ohne Vorwarnung eine rechte Gerade mitten ins Gesicht und doppelte mit folgenden Worten nach:

„Fahr zur Hölle, Henkersohn!“

Seither hatte Hell kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Dies führte zu einer schwierigen Situation, denn beide waren Mitglieder des gleichen Weinklubs, was bedeutete, dass entweder einer von ihnen austreten müsste, oder sie sich bei einer der nächsten Versammlungen wieder begegnen würden. Dieser Umstand war auch Ron Härri, dem Präsidenten des Vereins, bewusst, sodass er zwischen den beiden zu vermitteln versuchte.

Nun war der Zeitpunkt herangerückt, an dem sich die beiden unausweichlich begegnen würden, denn bei Dominik Wymann war am Abend um neunzehn Uhr ein Weinanlass angesagt. Er drohte in einem Desaster zu enden, wenn Hell und Bernet sich über den Weg laufen würden. Deshalb hatte Härri den Unglücksraben gebeten dem Treffen fernzubleiben. Bernet willigte schuldbewusst ein. Doch seine Enttäuschung war groß. Zu sehr würde er die Gesellschaft seiner Freunde vermissen. Abgesehen davon, dass er es verpassen würde, eine Reihe delikater Weine zu degustieren. Bei seiner augenblicklichen Gemütsverfassung war aber Wein sicher das falsche Heilmittel. Es würde nicht das Gleiche sein, wie bei früheren Anlässen, die gewöhnlich in einer allgemeinen Weineuphorie endeten. An diesem Abend musste er auf ein bisschen Glück verzichten. Trotzdem keimte Hoffnung in ihm auf, denn inzwischen hatte er mehr als nur einen Plan, wie er seine Finanzen sanieren konnte. Er hatte all seinen Mut zusammengerissen und seinen letzten Trumpf ausgespielt. Bernet verglich die Zeit auf seiner Armbanduhr. Ja, jetzt müsste das Geld bereits auf seinem Privatkonto sein. Während er an seine Freunde vom Weinklub dachte, loggte sich Bernet, der als Makler bei einer Zuger Immobilienagentur arbeitete, auf seinem Bankkonto ein, um zu überprüfen, wie der neue Saldo aussah. Allmählich breitete sich ein Lächeln auf Remo Bernets Gesicht aus, wie Wellen nach einem Steinwurf ins Wasser. Da flimmerte die Rettung in Form einer Zahl über den Bildschirm: Dreihundert Tausend Schweizer Franken waren auf seinem Konto. Ein Gefühl der Zufriedenheit spiegelte sich in seinem Gesicht, als er den PC herunterfuhr. Der Frust der letzten Wochen war kompensiert worden.

Als er draußen vor dem Firmengebäude mit federndem Gang zu seinem schwarzen BMW-Cabrio schritt, klingelte das Handy. Er holte es aus seinem Jackett.

„Ein unterdrückter Anruf“, seufzte er, nachdem er einen Blick auf das Display geworfen hatte. Wie gewöhnlich ignorierte er das Läuten, denn er wusste, dass gleich die Combox einschalten würde. Wer immer sich nicht zu erkennen geben wollte, konnte auf Band reden, wenn er ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.

„Wer das wohl sein mag?“, dachte er, als er den Motor starten wollte. Zur Sicherheit prüfte er noch schnell, ob der Anrufer eine Nachricht auf der Combox hinterlassen hatte. Sein Mobiltelefon war mit seiner Stereoanlage gekoppelt, sodass er die Stimme der Ansagerin durch die Lautsprecher hören konnte.

„Sie haben eine neue Nachricht. Heute um 17.14 Uhr.“ Nach einem kurzen Piepston sagte eine raue Frauenstimme mit einem südosteuropäischen Akzent:

„Können Sie um 18 Uhr ins Restaurant Helvetia kommen. Wir müssen uns wegen einer wichtigen Angelegenheit treffen.“

Bernet überlegte, woher er die Stimme kannte, aber ihm fiel niemand ein. Die Sache war rätselhaft und weckte in ihm gemischte Gefühle. Da war diese unerklärliche Angst, die ihn plötzlich beschlich. Gleichzeitig trieb ihn die Neugier an, herauszufinden, was gespielt wurde. Das „Helvetia“ war nur fünfzig Schritte von seiner Wohnung entfernt. Wieso sollte er nicht im Lokal vorbeischauen? Nachdem er den Wagen in der Nähe der Wohnung geparkt hatte, blickte er auf seine Armbanduhr. Es war zehn vor sechs Uhr. Er hatte noch genug Zeit. Es war ein warmer Maitag. In der Gartenwirtschaft beim Helvetiapark tummelten sich viele Gäste und Passanten. Remo begrüßte schnell Demian Lindt, der ebenfalls ein Mitglied des Weinklubs war. Freundschaftlich schüttelten sie sich die Hände. Lindt sprach sein Bedauern darüber aus, dass Bernet nicht an den heutigen Anlass kommen konnte.

„Meine Abwesenheit ist das einzig Richtige, was ich im Augenblick tun kann“, entgegnete ihm Bernet. Lindt nickte verständnisvoll.

„So viel steht fest. Es wird nie mehr sein wie vorher.“

Dann wechselte Bernet das Thema, und als die Kellnerin am Tisch vorbeikam, fragte er:

„Hat sich jemand nach mir erkundigt?“ Sie schüttelte den Kopf.

„Bei mir sicher nicht, aber vielleicht bei den andern Angestellten.“

Bernet ging ins Innere der Wirtschaft und schaute sich nach der Unbekannten um. Niemand machte sich bei ihm bemerkbar. Offenbar war er auf einen Scherz hereingefallen. Er hatte es gewusst, er hätte den unterdrückten Anruf komplett ignorieren sollen. Jetzt fühlte er sich beinahe wie ein Idiot. Kaum hatte er das „Helvetia“ verlassen, als das Handy erneut klingelte. Wieder war die Nummer unterdrückt. Am anderen Ende der Leitung meldete sich die gleiche Stimme:

„Hallo, sind Sie das, Bernet?“ Bernet entgegnete trocken:

„Wo sind Sie? Ich war jetzt gerade im Helvetia, aber keine Spur von Ihnen. Ich hoffe, Sie treiben keine Scherze mit mir.“

„Im ‚Helvetia‘ ist zu viel Betrieb. Treffen wir uns…!“, da wurde der Anruf plötzlich unterbrochen.

Bernet schüttelte verständnislos den Kopf.

„Was soll das bloß?“, fragte er sich. Während er zu seiner Wohnung hinüber marschierte, gingen ihm wieder unheilvolle Gedanken durch den Kopf. Nicht auszudenken, wie die Leute reagieren würden, wenn sie wüssten, dass er Saskia vor ihrem Tode noch erpresst hatte. Die Gewissensbisse nagten so tief in ihm, dass er eine fast panische Angst vor Gabriel Hells Rache hatte, obwohl dieser von seiner schmutzigen Hintergehung nicht das Geringste ahnte.

„Wusste die unbekannte Frau, was er getan hatte? Wollte sie ihn damit erpressen? Wollte ihm jemand eine Falle stellen? Hatte Gabriel die Frau zu ihm geschickt?“

Sicher machte er sich zu große Sorgen und in Wirklichkeit handelte es sich um einen simplen Witz, den sich jemand mit ihm erlaubte. Wie konnte er nur solch paranoide Gedanken hegen? Ihm wurde bewusst, dass er sich völlig in etwas hereingesteigert hatte. Fast schämte er sich für seine Ängstlichkeit.

„Solche Anrufe gibt es zu Hauff“, dachte er. „Ich bin einer Spinnerin auf dem Leim gegangen. Was soll daran lustig sein?“

Vielleicht war es eine verschmähte Verehrerin, die ihm auf diese Weise die erfahrene Abweisung heimzahlen wollte. Sicher hatte sie von seiner desolaten Lage gehört und genoss es nun, ihn mit diesem Spielchen zu ärgern. Vielleicht beobachtete sie ihn durch ein Fernglas. Dann würde sie amüsiert seine erstarrte Miene sehen. Schnell verzog er sein Gesicht zu einem Lächeln. Die Unbekannte sollte ihre Schadenfreude nicht an ihm laben können!

Er betrat den Hauseingang und leerte den Briefkasten. Als er sich zur Treppe wandte, stand plötzlich eine Frau vor ihm. Ihr schlanker Körper verlieh ihrem attraktiven Gesicht etwas Graziles. Ihre mandelförmigen Augen blickten ihn selbstbewusst an. Sie war ungefähr ein Meter sechzig groß. Der Schnitt ihrer schwarzen Haare erinnerte ihn an eine Crazy Horse Tänzerin. Obwohl sie ein echter Hingucker war, versuchte er so cool wie möglich an ihr vorbei zur Treppe zu schreiten, denn er hielt sie für die Besucherin eines Nachbarn. Aber etwas an ihrem glasigen Blick beunruhigte ihn.

„Remo Bernet?“, fragte sie.

Da erkannte er alarmiert die Stimme der Unbekannten wieder. Abermals stieg die Angst in ihm auf. Zweifellos handelte es sich um etwas Ernsthaftes. Noch bevor er sich ausdenken konnte, wohin das führen würde, antwortete er misstrauisch:

„Ja, der bin ich. Können sie mir jetzt verraten, was das Ganze soll. Ich kenne Sie nicht und habe sie nie zuvor gesehen. Was wollen sie eigentlich von mir?“

„Mein Name ist Ariadna. Ich hole etwas bei Ihnen ab, was sich zu Unrecht in Ihrem Besitz befindet. Sie wissen schon was!“

Bernets Augenpupillen verengten sich. Der Duft ihres Parfums drang bis an seine Nasenspitze. Als er mit seinen Schultern zuckte, wurde ihm bewusst, dass es eine nuttige Note besaß.

„Das muss sich um einen Irrtum handeln. Ich weiß nicht, wovon sie sprechen. Ehrlich gesagt, fühle ich mich von Ihnen belästigt, und wenn sie nicht abschwirren, rufe ich die Polizei.“

Damit glaubte er, könne er sie einschüchtern. Doch seine Worte schienen sie völlig kalt zu lassen. Sie antwortete mit lässiger Gleichgültigkeit:

„Ihnen ist doch klar, dass Sie hier Ihr Leben aufs Spiel setzen. Sie scheinen noch nicht begriffen zu haben, mit welchen Leuten Sie sich eingelassen haben. Falls Sie mit mir kooperieren, können Sie vielleicht Ihren Hals noch retten. Wenn nicht, werden Sie bald Ihrer Freundin im Jenseits Gesellschaft leisten. Also rücken Sie das Ding jetzt raus!“

In ihren letzten Worten lag etwas Gebieterisches. Remo wirkte ziemlich eingeschüchtert. Die Fremde begann ihm Angst einzuflößen. Plötzlich ging die Eingangstüre auf. Er drehte sich um, um sich zu vergewissern, wer in das Haus eintrat. Ein gut aussehender Mann im blauen Trainingsanzug tauchte auf der Türschwelle auf. Überrascht erkannte Bernet, dass es Gabriel Hell war. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Was hatte Hell vor? Die Blicke der beiden prallten in der Mitte des Raumes zusammen. Eine unheimliche Spannung lag in der Luft. Hell näherte sich ihm bedrohlich. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Er brachte keinen Ton heraus. Stattdessen entgegnete ihm der andere:

„Hast du einen Augenblick Zeit? Ich möchte mit dir reden.“

„Wie bitte?“

„Ich bin hier, weil ich über die ganze Sache nachgedacht habe und mich bei dir entschuldigen will.“

„Was?“, fragte Bernet verwirrt.

„Ich war nicht wirklich fair zu dir, als ich dir die Schuld für Saskias Tod zuschob. Mir wurde bewusst, wie leichtsinnig, ich selbst schon gehandelt habe, als ich im angetrunkenen Zustand am Steuer war. Mir hätte dies auch zustoßen können.“

Bernet lächelte ungläubig, aber Hells Gesicht verriet wirklich Reue, sodass er keine Finte befürchten musste. Er antwortete:

„Ich kann es kaum glauben, dass du mir verzeihen willst. Ja, auch ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine Versöhnung mit dir.“

Beide schwiegen kurz. Plötzlich kam Bernet die Fremde wieder in den Sinn. Er drehte sich zu ihr um, doch sie war spurlos verschwunden.

„Da stand doch gerade eine Frau neben mir. Sicher hast du sie auch gesehen?“, sagte er und blickte Hell aufmerksam an.

„Wen meinst du? Nein, ich habe niemanden gesehen. Als ich das Treppenhaus betrat, warst nur du da.“

Bernet hob verwundert die Augenbrauen. Der Umstand, dass zwei Menschen, die ihm feindselig gesinnt waren, gleichzeitig vor ihm erschienen, beunruhigte ihn ziemlich, auch wenn Hell jetzt Frieden mit ihm schließen wollte. Waren die beiden Verbündete? Nein, er war sicher, dass er Hell vertrauen konnte. Deshalb meinte er:

„Lass uns zu mir rauf gehen und auf unsere alte Freundschaft anstoßen!“

Ein freundliches Lächeln huschte über Hells Gesicht. Nach einem kräftigen Händedruck fuhren sie mit dem Lift hinauf in die Wohnung.

Am Durchschnitt der Bevölkerung gemessen war Katja Senns Körper zu mager. Böse Zungen fragten sich, wie sie in ihren Mittedreißigern noch so schlank aussehen konnte. Sicher habe sie Bulimie oder würde harte Drogen konsumieren. Wann immer sie merkte, dass jemand sie mit kritischen Blicken beäugte, tat sie so, als merke sie nichts.

„Die sind doch nur auf meine perfekte Figur neidisch“, dachte sie.

In der Tat war das Geheimnis ihrer Figur das weiße Pulver, mit dem man sich auf Partys die Nase bestäubte. Katja trug zu ihren Designerkleidern meist italienische Schuhe mit hohen Absätzen. Ihre dunkelblonden Haare umsäumten ihr gepudertes Gesicht, das mit seinen geschminkten Lidschatten, Augenwimpern und Lippen mehr den Hauch von Dekadenz als von Eleganz versprühte, denn sie hatte von allem zu viel aufgetragen, sodass der Betrachter erst bei genauem Hinsehen ihr Alter erkannte. Ihrem Wesen nach war sie die geborene Kosmetikverkäuferin, denn nirgends war der Bedarf nach narzisstischen Menschen so groß wie in der Schönheitsbranche. Umso mehr hatte sie die letzten Wochen unter den widrigen Umständen leiden müssen, in die ihr Lebenspartner, Remo Bernet, verwickelt war. Die Unfall-Tragödie und der anschließende Bruch mit seinem Freund Gabriel Hell und der Familie des Opfers waren für sie nicht leicht zu verkraften gewesen. Sie hatte unter ständig wiederkehrenden Kopfschmerzen und vereinzelten Schwächeanfällen zu leiden. Am meisten hatten ihr aber die Veränderungen in Remos Verhalten zugesetzt. So gut sie begreifen konnte, dass er unter den Auswirkungen eines großen Schocks zu leiden hatte, so schwer fiel es ihr mit seiner plötzlichen Verschlossenheit umzugehen. Hier kam ihr ihre professionelle Höflichkeit zugute, welche sie täglich im Umgang mit der Kundschaft pflegte. Auf jedes noch so schwierige Verhalten Remos hatte sie eine passende freundliche Antwort bereit. Wenn er still vor sich hin brütete und schwieg, ließ sie ihn gewähren, so geduldig war sie. Deshalb hatte sie auch keine Ahnung von den dunklen Machenschaften, in die ihr Partner verwickelt war. Doch die Geheimniskrämerei war beidseitig und so zog sie einen Vorteil daraus, dass es zwischen ihnen beiden keinen ehrlichen Austausch gab. Dies gab ihr die Freiheit ungestört ihren Angelegenheiten nachgehen zu können, denn hinter seinem Rücken pflegte sie schon seit fast einem Jahr ein Verhältnis zu einer anderen Frau. Für Katja öffnete diese versteckte Beziehung ein Tor zu ihren körperlichen Sehnsüchten. Ihre Freundin konnte ihr jene Form der Liebe spenden, die ihr durch Remo Bernet verzagt blieb. Ihr gefiel dieses Hin- und Herpendeln zwischen zwei verschiedenen Identitäten. Sie wollte zweifellos die Fassade des Konkubinats mit Bernet aufrechterhalten, um in ihrem Bekanntenkreis weiterhin akzeptiert zu werden. Da diese zu ihren besten Kolleginnen gehörte und darüber hinaus mit einem wohlhabenden Mann verheiratet war, bestand für niemanden einen Grund hinter ihren regelmäßigen Treffen mehr als nur eine freundschaftliche Beziehung zu sehen. Seit die Probleme in Bernets Leben aufgetaucht waren, brauchte Katja den Trost durch ihre Liebhaberin Claudia noch stärker. Gerade hatte sie noch kurz mit ihr telefoniert und Banalitäten ausgetauscht, als sie das Geschäft in der Altstadt fünfzehn Minuten vor Ladenschluss verließ. Sie hatte die Viertelstunde über den Mittag vorgearbeitet, da sie am Abend gemeinsam mit Claudia und zwei weiteren Freundinnen die Fortsetzung eine amerikanische TV-Serie ansehen wollte. Wie immer am Feierabend musste sie sich in einen der überfüllten Busse zwängen. Sie bestieg das Verkehrsmittel beim Schwanenplatz, um bis zur Haltestelle „Bundesplatz“ zu fahren. Von dort ging sie die letzten Schritte zu Fuß am bevölkerten Helvetiapark vorbei. Gerade als sie um die Hausecke schritt, stieß sie auf eine alte Bekannte, die einigen brandheißen Klatsch zu berichten hatte. Als Katja ihr gespannt zuhörte, hatte sie die Eingangstüre zu ihrer Wohnung im Blickwinkel. Deshalb stach ihr Hell geradezu ins Auge, als dieser um 18.30 Uhr das Haus durch diese Türe verließ. Da sie wusste, wie es um ihn und ihren Freund bestellt war, wunderte sie sich ein wenig über seine Anwesenheit in seiner Nähe. Sie versuchte in seinem Gesichtsausdruck zu lesen, aber dieser war zur Maske erstarrt. Hell eilte zielstrebig zu seinem hellgrauen Golf, den er gleich neben dem Haus geparkt hatte, und fuhr in schnellem Tempo weg. Nach weiteren fünfzehn Minuten verabschiedete sich Katja von ihrer Bekannten und machte sich auf den Weg zu ihrer Wohnung.

2

Als Leonie Lombardi ihre vier eigenen Wände betrat, war niemand da, der sie erwartete, niemand da, der ihr zuhören würde, wenn sie das Bedürfnis hatte, ihre Erlebnisse und Gefühle mit jemandem zu teilen, niemand da, der ihr zu spüren gab, dass er sie liebte und wertschätzte. Sie blickte in den lebensgroßen Spiegel, den sie neben der Garderobe aufgestellt hatte, und sah eine sechsunddreißigjährige, schlanke aber sportlich gebaute Frau, deren Gesichtszüge nichts von ihrer natürlichen Schönheit verloren hatten. Doch im Ausdruck ihrer braunen Augen konnte man Spuren eines tief sitzenden Mistrauens erkennen. Es war das Resultat einer gescheiterten Ehe und ihrer täglichen Arbeit, die hinter den Masken von unschuldig erscheinenden Menschen, die Urheber von abgründigen Verbrechen zu finden versuchte. Anstelle des Glanzes in ihren Augen, der ihr früher eine geheimnisvolle Anziehung verliehen hatte, war ein seltsames Leuchten getreten, das etwas von dem Licht einer Öllampe hatte, welches den Suchenden den Weg durch die Dunkelheit der Nacht wies. Die anstrengende Arbeit bei der Kriminalpolizei hatte ihren Tribut gefordert. Ihr Privatleben war auf der Strecke liegen geblieben. Selten ergaben sich Gelegenheiten, bei denen sie zwanglos Bekanntschaften machen konnte. Trotzdem hatte sie sich für dieses Leben entschieden. Bevor sie sich ins Abenteuer stürzen würde, wollte sie noch eine Dusche nehmen, denn sie war an diesem Abend verabredet. Ihr Date hieß Andreas Balsiger und war von Beruf Zahnarzt. Sie hatte ihn letzten Sommer im Seebad kennengelernt, als sie über den Mittag eine Abkühlung im Wasser nehmen wollte. Er kannte jemanden, den sie auch kannte, sodass sie ins Gespräch kamen. Danach sahen sie sich gelegentlich und grüßten einander. Bis sie sich vor einer Woche im neuen Hallenbad auf der Allmend begegneten, als beide zur gleichen Zeit einige Bahnen schwammen. Er hatte sie sofort gefragt, ob sie einmal Zeit hätte, um mit ihm essen zu gehen. Damals hatte sie etwas an seinem Lachen attraktiv empfunden. Nach einigem Überlegen sagte sie schließlich zu. Seit der Scheidung hatte sie sich nicht mehr auf eine ernsthafte Beziehung eingelassen. Doch das Single-Leben war auf die Dauer nicht das, was sie sich wünschte. Den Richtigen zu finden war jedoch nicht leicht. Einerseits durch den Beruf und die unregelmäßigen Arbeitszeiten bedingt, andererseits, weil sie gefühlsmäßig immer noch an ihrem tödlich verunglückten Verlobten hing. Dieser verkörperte für sie das Idealbild eines Geliebten. Durch seinen frühen Tod hatte er sich in ihrer Erinnerung in der Blüte seines Mannesalters verewigt. Wie ein griechischer Gott erhob er sich über alle Sterblichen, die sich ihr annäherten. Diesem Vergleich konnten nur die wenigsten standhalten. Die Ehe mit dem Mann, den sie danach geheiratet hatte, war schon im Vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Trotzdem hatte sie genug vom Mitleid, welches ihr ihre besten Freundinnen und Kollegen immer wieder entgegenbrachten.

„Bei so einer gut aussehenden Frau wie dir, stehen doch die Männer Schlange“, hörte sie sie sagen. Sätze, wie diese, waren ihr peinlich. In der Tat war sie eine außergewöhnlich attraktive Frau, wie sie nur selten so lange als Single anzutreffen war. Es ging eigentlich gar nicht ums Aussehen, sondern um eine fehlende innere Bereitschaft, sich zu öffnen. Sie war einfach noch nicht bereit dazu. Nun war es vielleicht so weit, dass sie endlich wieder ein neues Kapitel in ihrem Leben aufschlagen konnte. Andreas hatte bisher einen sehr guten Eindruck bei ihr hinterlassen. Er war charmant, humorvoll und hatte ein einnehmendes Lachen. Etwas Seltsames in seinen Augen hatte sie in Beschlag genommen. Irgendetwas in ihnen erinnerte sie an jemanden, den sie gut kannte. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr Vater oder ein Freund aus der Schulzeit war.

Um acht Uhr parkte sie ihren Audi in der Nähe der Hofkirche. Der Eingang des Restaurants Hofgarten war um diese Zeit sehr einladend, hatte einen romantischen Touch. Vier Fackeln säumten den schmalen Weg durch einen kleinen Vorgarten. Während sie zum Lokal schritt, konnte sie Andreas an einem Tisch hinter der gläsernen Fassade erkennen. Er trug einen hellen Anzug mit einem offenen rosafarbenen Hemd und um den Hals ein dazu passendes rebengrünes Foulard in der Art der französischen Landgutbesitzer. Sein leicht gebräuntes kantiges Gesicht erinnerte entfernt an einen Hollywoodstar der Fünfzigerjahre. Vielleicht war es die dunkle Hornbrille, welche diesen Eindruck verstärkte. Bei einer solchen Erscheinung würde man eine männliche Stimme erwarten. Dieser Eindruck täuschte, denn Andreas sprach im sanften Tenor.

„Oh, du siehst heute richtig umwerfend aus, Leonie!“, sagte er, als sie an seinen Tisch herantrat. Lombardi, welche sehr wohl die Absicht dieses Kompliments erkennen konnte, ließ sich durch die Schmeichelei ein Lächeln entlocken. Sie hatte sich für dieses Abendessen ziemlich herausgeputzt. Sie trug eine hellblaue Jeans, dazu ein elegantes helles Dior-Hemd, einen weißen Blazer und weiße Schuhe mit hohen Absätzen. Ihre roten Haare trug sie anders als sonst offen. Andreas war wirklich verblüfft, wie sexy sie heute aussah.

„Danke, du siehst ebenfalls sehr chic aus“, entgegnete ihm Lombardi. In diesem Augenblick fühlte sie sich für einige Augenblicke um Jahre zurückversetzt. Es war wie in ihrer Jugend, als sie alles noch ganz unbeschwert unternahm. Damals war ein Date eine völlig lockere Angelegenheit für sie gewesen. Dieses Gefühl der Leichtigkeit stieg jetzt wieder in ihr auf. Nach dem Aperitif studierten sie die Speisekarte und bestellten beide einen Salat und zur Hauptspeise ein Stück Rindfleisch. Im hinteren Teil des Lokals waren weitere Räume sichtbar, an deren Tischen Pärchen und kleine Gruppen diskutierten und spießen. An den Wänden waren farbenfrohe Bilder des Künstlers Nino Santini ausgestellt. Jedes Bild war ein Quadrat, welches wiederum in neun Innenquadrate unterteilt war und in jedem von ihnen war ein abstraktes Gesicht dargestellt.

„Interessante Bilder“, hörte sie ihn sagen.

„Die Farben gefallen mir sehr gut. Nur habe ich etwas Mühe mit abstrakten Bildern. Dazu fehlt mir schlicht der Kunstverstand“, antwortete Lombardi lachend.

Balsiger lachte ebenfalls und meinte:

„Da geht es dir wie mir. Ich verstehe auch nicht viel von Kunst. Allerdings kaufe ich ab und zu Bilder, die mir spontan gefallen. Manche mögen darin eine Investition sehen, ich mache es eher, weil es mir Vergnügen bereitet. Inzwischen ist so eine kleine Sammlung von zufällig zusammengekauften Bildern entstanden, von denen einige an den Wänden meiner Wohnung hängen. Vielleicht kann ich sie dir bei Gelegenheit einmal zeigen.“

„Oh ja, ganz bestimmt! Sicher hast du einen sehr guten Geschmack.“

Plötzlich stach ihr bei einem der Quadrate ein Symbol ins Auge. Sie war sicher es schon einmal gesehen zu haben. Nur konnte sie sich jetzt nicht recht daran erinnern, woher sie es kannte. Sie wusste nur so viel, dass es in dieser Gegend nicht gebräuchlich war. Ihr Gedankengang wurde unterbrochen, als der Kellner den Salat auftrug. Während beide die Vorspeise verzehrten, setzte sich ein jüngerer Mann an den benachbarten Tisch. An dem Schlüssel, den er vor sich hinlegte, konnte man erkennen, dass er ein Hotelgast war. Als die Kellnerin ihn bediente, wurde außerdem klar, dass es sich um einen russischen Touristen handelte. Seit die Amerikaner ausblieben, hatte man erfolgreich in den asiatischen Ländern Werbung für Luzern gemacht. Das ganze Jahr über begegnet man an jeder Ecke der Altstadt Japanern, Koreanern und Chinesen. In den letzten zwei, drei Jahren hörte man plötzlich zunehmend auch die russische Sprache in den Gassen des kleinen Städtchens. Russische Reiseführerinnen referierten vor größeren Menschengruppen vor dem Wasserturm oder dem Rathaus. Die Russen haben offenbar die Innerschweiz entdeckt. Sie kommen in die Schweiz, um ihr Geld sicher anzulegen. Entweder transferierten sie es auf eine Bank oder sie kaufen sich teure Immobilien. Dies hat dazu geführt, dass die Preise auf dem Sektor der Luxushäuser explodiert sind. Bis jetzt war dieses Phänomen hauptsächlich in der Gegend um Genf und Zürich zu beobachten. Nun waren sie also auch hier anzutreffen. Ein Schweizer hätte sich vermutlich nie so nah zu zwei fremden Leuten hingesetzt. Er hätte, da rings herum viele Plätze noch frei waren, einen Tisch mit genügend Abstand ausgewählt, um nicht zum ungewollten Zuhörer eines privaten Gesprächs zu werden. Da er aber Russe war, verstand er nichts von dem, was die beiden miteinander besprachen.

„Wie kommt es“, fragte Balsiger, „dass so eine anziehende Frau wie du noch nicht verheiratet ist?“

Lombardi lächelte und entgegnete:

„Danke für das Kompliment. Die gleiche Frage hätte ich dir beinahe gestellt. Aber ein innerer Reflex hat mich daran gehindert.“

Balsiger merkte am Ausdruck ihrer Augen, dass er einen wunden Punkt bei ihr getroffen hatte, und versuchte das Gespräch wieder aufzulockern.

„Als Zahnarzt habe ich immer alle Hände voll zu tun. Da bleibt fürs Privatleben nicht viel Zeit übrig.“

Er hatte nicht unrecht in seiner Vermutung, dass die Frage bei Lombardi zwiespältige Gefühle ausgelöst hatte. Jene Erinnerungen, die mit dem Verlust ihres Verlobten Filippo zusammenhingen, waren in ihr wach gerufen worden. Noch immer gab sie sich die Schuld an seinem Tod.

„Weiss du, ich will dir gegenüber nicht unhöflich sein, aber ich möchte nicht über meine Vergangenheit sprechen. Es gibt gute Gründe dafür. Lieber richte ich meine Aufmerksamkeit auf das, was ich in Zukunft machen will.“

Balsiger warf ihr einen neugierigen Blick zu:

„Und das wäre…?“

Lombardi antwortete mit einem vielsagenden Augenzwinkern.

„Sicher möchte ich eine vielversprechende Beziehung mit einem intelligenten und interessanten Mann führen. Was ich in letzter Zeit vermisse, sind gemeinsame Unternehmungen, zusammen an ein Konzert gehen, oder in den Urlaub fahren. Ich wünsche mir jemand, der mich aus meinem Alltag als Kriminalbeamtin reißen und in eine andere Welt entführen kann.“

Balsiger nahm sein Weinglas und deutete an, dass er anstoßen wollte. Lombardi tat es ihm gleich und sie wünschten einander Wohlergehen und Glück, bevor jeder einen Schluck des edlen Veltliners zu sich nahm.

„Der mundet köstlich“, kommentierte Balsiger, „du hast eine ausgezeichnete Wahl getroffen, Leonie!“

Beide fühlten für einen Augenblick ein inniges Gefühl der Verbundenheit, sodass sie sich gegenseitig intensive Blicke zuwarfen. Lombardi wusste nicht, wie es um sie geschah, aber sie fühlte einen unbändigen Reiz den Mann zu küssen. Als er sich ein wenig über den Tisch hinüberbeugte, klingelte plötzlich sein Telefon.

„Muss das gerade jetzt sein!“, sagte er und suchte sein Handy hervor. Es war lediglich seine Assistentin, welche ihn daran erinnern wollte, dass er am nächsten Tag einen wichtigen Termin in der Praxis habe. Nachdem er das Gerät wieder weggesteckt hatte, war das Knistern zwischen ihnen fast wieder verschwunden. Das Telefon hatte sie aufgeschreckt. Sie wollte nicht, dass diese Begegnung gleich endete wie jene Vier davor, als sie wegen eines dringenden Falles unverhofft einrücken musste. Doch wenn es stimmt, dass der Gedanke Situationen heraufbeschwört, so traf dies hier zu. Kaum hatte sie an jene früheren Dates gedacht, schon surrte ihr Mobiltelefon und sie wusste, dass es einmal mehr ein dringender Fall sein würde. Am anderen Ende meldete sich Szlenk mit seinem polnisch gefärbten Hochdeutsch:

„Guten Abend, es tut mir leid, aber es hat einen Mord gegeben. Der Chef hat ihnen den Fall übertragen. Kommen Sie so schnell wie möglich an die Dornarcherstraße. Ich befinde mich bereits hier.“

Gerade als der Kellner den Hauptgang brachte, musste sich Lombardi bei Balsiger entschuldigen. Sie zuckte mit ihren Schultern und sagte:

„Ich muss leider schon gehen. Es war ein sehr schöner Abend mit dir. Wir werden das Essen sicher bald nachholen können. Ich ruf dich morgen an. Tschüss.“

Balsiger wollte noch fragen, wann sie sich wieder sehen würden, aber da war die Kommissarin bereits weg.

Unterwegs zum Einsatzort sinnierte Lombardi darüber nach, wieso alle ihre Dates mit einem neuen Fall endeten, aber sie fand keine vernünftige Antwort. Polizeiautos riegelten das Haus an der Dornarcherstraße auf beide Seiten ab. Zwei Uniformierte ließen Lombardi passieren, sodass sie vor dem Haus parken konnte. Dort wartete bereits Szlenk auf sie. Auf dem Weg in die Wohnung im ersten Stock machte er sie mit den Fakten vertraut, die er bereits zusammengetragen hatte:

„Der Tote heißt ‚Remo Bernet‘. Seine Freundin ‚Katja Senn‘ hat die Leiche um 18.45 Uhr vorgefunden. Alle Anzeichen am Tatort deuten zweifellos auf einen Mord hin. Von der Tatwaffe fehlt bis jetzt jede Spur.“

Die Kommissarin folgte Szlenk die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sich die Behausung des Toten befand. Es war eine dieser renovierten hellen Jugendstilwohnungen mit weißen Wänden, Stuckatur-Decken, Parkettböden und einer Eingangstür aus farbigen Einlegegläsern, welche Pflanzen nachahmten. Im Wohnzimmer standen zwei hellbeige Ledersofas und ein überdimensional großer Flachbildfernseher. Rechts daneben bestrahlte eine Designerlampe ein weiß lackiertes Sideboard. Im Glanz seiner Auflagefläche spiegelten sich mehrere Porträtfotografien und deren Metallrahmen. Da sich die Räumlichkeit in die Länge zog, war in der linken Hälfte des Saales genug Platz für eine gemütliche Essnische, die aus einem langen Esstisch aus sandgestrahltem Naturholz und sechs dazu passenden Holzstühlen eingerichtet war. Diesem Bereich haftete etwas Idyllisches an, das vermutlich durch den Kronleuchter und seinen Standort neben einem hohen Bogenfenster herrührte. Sicher hatte das Paar hier des Öfteren heitere Gesellschaftsabende verbracht. Verglichen mit diesen schönen Aspekten des menschlichen Lebens mutete der Anblick der Leiche an diesem Ort geradezu abscheulich an. Auch Lombardi konnte sich diesem Gefühl nicht entziehen, als sie den Toten sah. Er war an einen Stuhl gefesselt. Die Arme waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Sein Kopf war nach vorne gekippt, so dass das Kinn sich im Hals vergrub. In der Mitte seiner Stirn klaffte eine große Wunde. Der Mörder hat ihm wie bei einer Exekution das Gehirn weggepustet. Nur so konnte man sich das dicke Kissen mit dem Einschussloch am Boden erklären. Es hatte dem Mörder offensichtlich als Schalldämpfer gedient. Nachdem sich Lombardi Gummihandschuhe übergestreift hatte, untersuchte sie die Extremitäten des Opfers und fand schnell an der Schlagader des rechten Armes einen Nadeleinstich.

„Der Amtsarzt soll im Blut des Opfers nach Rückständen von Drogen oder anderen ungewöhnlichen Substanzen suchen!“, sagte Lombardi zu Szlenk.

Sie nahm auch den Fußboden zu Füssen des Opfers und unter dem Kissen in Augenschein.

„Schnell, ich brauche Licht, hier liegt etwas in einer Fuge des Parketts“, rief die Kommissarin, nachdem sie den linken Fuß Bernets leicht angehoben hatte. Szlenk entfernte sich kurz, ging zu einem Wachmann und kam sogleich mit einer handlichen Taschenlampe zurück. Lombardi leuchtete auf einen kleinen gelben Fetzen und zog diesen mit einer Pinzette. Er war nur ein winziges Fragment von einem Zettel, aber man konnte winzige Zeichen erkennen. Es waren zwei Wörter in kyrillischer Schrift.

„Das scheint eine Etikette in russischer Schrift zu sein. Wir müssen es übersetzen lassen, um den Sinn zu verstehen“, murmelte Lombardi halblaut vor sich hin. Nachdem sie das Beweisstück in eine kleine Plastiktüte versorgt hatte, nahm sie noch einmal den Leichnam unter die Lupe. Zu Szlenk gewandt bemerkte sie:

„Außer der tödlichen Wunde weist Bernets Körper keine Spuren von Gewalt auf. Wir können also davon ausgehen, dass er weder geschlagen noch gefoltert wurde. Da er aber an einem Stuhl gefesselt ist, müssen wir uns fragen, wieso. Auch ist da noch dieser Einstich am rechten Arm. Dieser könnte darauf hinweisen, dass dem Opfer eine Droge verabreicht wurde.“

Sie wandte sich an Szlenk und wollte wissen, ob der Täter die Wohnung durchsucht habe. Szlenk schüttelte den Kopf.

„Die Wohnung war sonst unberührt. Es gibt keine Anzeichen oder Spuren eines Diebstahls oder Einbruchs. Das Opfer muss seinen Mörder gekannt oder zumindest reingelassen haben, denn die Wohnungstüre war nach Aussage seiner Freundin nicht abgeschlossen, als sie nach Hause kam.“

Die Kommissarin überlegte kurz und sprach weiter:

„Wenn der Täter die Wohnung nicht durchsucht hat, muss er etwas anderes von Bernet gewollt haben. Entweder hat er eine Information aus ihm herausgepresst, indem er ihn mit einer Pistole bedrohte, oder es handelt sich um eine simple Abrechnung, einen Racheakt oder so ähnlich.“

Szlenk nickte mit dem Kopf und sagte:

„Am besten wir suchen als Erstes nach einer Person im Umfeld des Opfers, die sich an Bernet rächen wollte.“

„Einverstanden“, sagte Lombardi, „hat man die Freundin des Opfers schon einvernommen?“

Szlenk entfernte sich kurz in eines der Nebenzimmer, um kurze Zeit später mit einem uniformierten Polizisten in den Mitte Dreißigern zurückzukommen, der einige handgeschriebene Blätter in der Hand hielt. Szlenk stellte ihn vor:

„Das ist Wyler. Er hat die Aussagen von Frau Senn protokolliert.“

Die Kommissarin kam ohne lange Reden gleich zur Sache:

„Was haben sie aus ihr rausbekommen? Gibt es einen Verdächtigen?“

Wyler ging einen Schritt auf Lombardi zu, klärte sie über die Personaldaten des Opfers und seiner Freundin auf, bevor er zur eigentlichen Antwort kam:

„In der Tat, es gibt bereits einen Hauptverdächtigen. Er heißt ‚Gabriel Hell‘. Frau Senn sagt, sie hätte gesehen, wie er zur Tatzeit das Haus zum Haupteingang verlassen habe. Sie hätte sich noch gewundert, denn obwohl beide früher befreundet gewesen wären, würden sie sich in letzter Zeit gegenseitig meiden. Hell hätte das Opfer geradezu gehasst. Vor einem Monat sei seine Freundin bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Bernet sei am Steuer gesessen und nach Ansicht Hells verantwortlich für deren Tod. Als sie die Wohnung um 18.45 Uhr betreten und darauf die Leiche entdeckt habe, hätte sie keine Sekunde daran gezweifelt, dass Hell ihren Freund aus Rache ermordet hätte. Er muss völlig durchgedreht sein, was bei ihm schon möglich sei, denn er konsumierte gelegentlich starke Drogen und würde sich darüber hinaus regelmäßig betrinken.“

„Hat Frau Senn sonst noch einen Verdächtigen erwähnt?“, fragte Lombardi. Wyler antwortete mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Nein, für sie scheint ziemlich klar zu sein, wer ihren Freund umgebracht hat.“

Lombardi bedankte sich für die Ausführungen ohne das Lächeln des andern zu erwidern und bat Wyler, das fertige Protokoll so schnell wie möglich zu schicken. Trotzdem müsse sie die Zeugin noch persönlich verhören. Er sagte, dass diese sich immer noch im Nebenzimmer aufhalte, wobei er in Richtung des Zimmers deutete. Als Lombardi und Szlenk den Raum betraten, saß Katja Senn weinend und telefonierend in einem lilafarbenen Sessel. In ihrer Linken hielt sie ihr Handy und in der Rechten ein Papiertaschentuch, mit dem sie sich die Nase putzte und die Tränen in den Augen wegwischte. Das Makeup lief ihr über die Backen. Als sie die Kommissarin sah, sagte sie zu der Person am anderen Ende der Leitung, sie müsse jetzt auflegen. Die Kommissarin setzte sich zu ihr, bekundete ihr Beileid und entschuldigte sich, dass sie sie noch mit weiteren Fragen belästigen müsste. Senn gab ihr schluchzend zu verstehen, dass sie dazu bereit sei, da sie hoffe, dass man dadurch das scheußliche Verbrechen schneller aufklären könne.

„Sie brauchen uns nicht noch einmal die ganze Geschichte zu erzählen“, sagte Lombardi, „es reicht, wenn sie uns noch ein paar gezielte Informationen geben können. Vor allem würde uns interessieren, wo sich der Verdächtige im Augenblick aufhält.“

Senn nahm ein neues Taschentuch hervor und versuchte ihre Fassung zurückzugewinnen:

„Das kann ich ihnen genau sagen. Falls er nicht geflohen ist, um sich vor der Polizei zu verstecken, werden sie ihn derzeit bei Dominik Wymann finden. Der Ort liegt nur einige Straßen weit von hier entfernt. Heute Abend versammeln sich dort die Mitglieder des Wein-Clubs „DiVino“ zu einem ihrer regelmäßigen Anlässe.“

Szlenk warf sogleich ein, dass Wyler bereits eine Einsatztruppe zur Voltastraße geschickt hätte, wo das besagte Haus zurzeit großräumig umzingelt werde. Lombardi nickte und sprach zu Senn.

„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wir werden der Mann, den sie verdächtigen, in Kürze festnehmen.“

Als Senn ihr etwas erleichtert zunickte, fuhr sie fort:

„Auch wenn es für Sie nur einen Täter gibt, dürfen wir keine voreiligen Schlüsse ziehen. Hell könnte einen Komplizen haben, oder am Ende sogar unschuldig sein. Sind Sie sicher, dass es keinen andere Person gibt, welche den Tod ihrs Freundes verschuldet haben könnte? Sind Ihnen irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle in den letzten Tagen und Wochen aufgefallen?“

Senn rieb sich etwas verlegen die Nase.

„Ich glaube zwar nicht, dass es etwas mit dem Mord zu tun hat, aber wenn sie mich so fragen, kommt mir da noch eine andere Person in den Sinn.

Remo hatte schon seit einiger Zeit geschäftlichen Kontakt zu einem russischen Multimillionär namens Anatolij Koslow. Ich hatte von Anfang ein schlechtes Gefühl, was diesen Mann betraf. Als ich ihn aber einmal an einer seiner Privatpartys im Casineum sah, wurde dieser Eindruck verstärkt. Koslow entsprach genau dem Typen, den man sich unter einem russischen Mafiosi vorstellte. Er trug einen dieser schwarzen maßgeschneiderten Anzüge, dazu ein schwarzes Hemd und eine goldene Rolex Uhr. Ständig begleiteten ihn und seine um zwanzig Jahre jüngere Frau zwei Bodyguards auf Schritt und Tritt. Anfänglich erledigte Remo alle Telefonate, die er mit Koslow führte, in meiner Gegenwart. In den letzten Wochen machte er aber aus jedem Anruf eine Geheimniskrämerei. Jedes Mal, wenn Koslow etwas von ihm wollte, zog er sich in ein anderes Zimmer zurück. Danach gab er sich mir gegenüber immer äußerst wortkarg. Ich habe mich ständig gefragt, ob sich Remo am Ende in kriminelle Machenschaften verwickelt war. Sie müssen wissen, er hatte wegen des Unfalls mit Hells Freundin große Geldsorgen. Die Versicherung wiegerte sich die Umfallkosten zu tragen, weil er in angetrunkenem Zustand am Steuer gesessen war.“