Initiation - Du wirst, was du vergisst. - Lorenz Röckl - E-Book

Initiation - Du wirst, was du vergisst. E-Book

Lorenz Röckl

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Beschreibung

„Initiation“ ist ein psychologisch-literarischer Roman über Identität, Erinnerung und Transformation – ein vielschichtiges Erzählprojekt an der Grenze zwischen Realität, Wahrnehmung und innerem Aufbruch. Im Zentrum steht Clara Weiß, eine Frau, die zunehmend unter dissoziativen Symptomen, Realitätsverschiebungen und einem diffusen Verlust ihres Selbst leidet. Als sie sich für einen Aufenthalt in einem mysteriösen Zentrum für „integrative Bewusstseinsmedizin“ entscheidet, beginnt eine Reise ins Innere, bei der klassische Therapiestrukturen durch symbolische, immersive Erfahrungsräume ersetzt werden. Clara begegnet dort nicht nur ihren inneren Anteilen, sondern auch anderen Figuren – Sophie und Jonas –, die auf ähnliche Weise in diesen Prozess involviert sind. Was als Klinik erscheint, entpuppt sich als metaphysisches Interface, das nicht heilt, sondern enthüllt. Clara durchläuft sogenannte „Schnittstellen“, in denen sie alten Bildern ihrer selbst gegenübertritt, verdrängte Emotionen rekonstruiert und schließlich eine tieferliegende, ursprüngliche Identität in sich entdeckt – einen Namen, der nie ganz verloren war: Eva. Das Werk ist kein linearer Roman, sondern ein Übergangsraum aus Sprache, Symbolen und innerer Metamorphose. Die Grenzen zwischen Innen und Außen, Ich und Wir, Patientin und System lösen sich auf. Mit zunehmender Tiefe des Interfaces offenbart sich eine tiefere Ordnung – eine Art Programm, das Erinnerungen speichert, alternative Identitäten sichtbar macht und das Selbst nicht diagnostiziert, sondern dekonstruiert. Am Ende steht keine Auflösung, sondern ein Zustand: Sichtbarkeit. Integration. Eine neue Form von Sein – jenseits des Alten, aber nicht getrennt davon. „Initiation“ ist weniger eine Geschichte im klassischen Sinn als ein psychologisches Echo über die Frage: Wer sind wir, wenn uns niemand mehr sagt, wer wir sein sollen?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lorenz Röckl

Initiation - Du wirst, was du vergisst.

Ein Ort jenseits der Realität. Eine Frau ohne festen Namen. Erinnerungen werden zu Räumen, Identität zum Echo. Initiation ist ein literarisch-psychologischer Roman über Verlust, Transformation – und die stille Kraft, sich neu zu erinnern.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 – Clara

Kapitel 2 – Gegenblick

Kapitel 3 – Echo

Kapitel 4 – Die Dosierung

Kapitel 5 – Das Spiel 

Kapitel 6 – Fragment

Kapitel 7 - Die Spiegelung 

Kapitel 8 - Nullpunkt 

Kapitel 9 – Zustand

Kapitel 10 - Restkörper

Kapitel 11 – Schleifenbruch

Kapitel 12 – Letzte Instanz

Nachwort

Rechtlicher Hinweis

Impressum

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

in den Schatten unserer Erinnerungen lebt etwas Geheimnisvolles. Mit jedem vergessenen Detail entfalten sich neue Schichten unserer Identität. Dieser Band lädt Sie ein, sich auf eine Reise in diese verborgenen Tiefen zu begeben – behutsam, mit geöffneten Sinnen, aber auch mit einer gesunden Portion Misstrauen gegenüber der Stabilität unseres Selbstverständnisses. Zwischentöne und Fragen weben sich in die Erzählung; das Thema des Vergessens steht hier nicht als erschreckender Alleingang, sondern als leises Versprechen an eine mögliche Veränderung.

Wir vergessen Tag für Tag Dinge, die einst Teil von uns waren. Manches davon nehmen wir kaum wahr – wie den Geschmack eines Traumes, dessen Konturen im ersten Licht des Tages verwischen, oder die Stimme eines geliebten Menschen, die im Gedächtnis leiser wird. Doch im Vergessen liegt Kraft: Ein Lachen, ein Schmerz, ein Name, der vergeht, schafft Raum für etwas Neues. Wenn wir allem nachhängen, verfehlen wir vielleicht den Eintritt in ein anderes Selbst. „Du wirst, was du vergisst“ lautet daher eine der zentralen Maximen dieser Geschichte, ein Schlüsselmotiv, das sich leise, aber bestimmt durch die kommenden Seiten zieht.

Dieses Buch ist ein literarisch-psychologisches Experiment. In ihm verschränken sich Realität und Traum, Gegenwart und Vergangenheit, bis die Grenzen fließend werden. Lesen Sie mit Achtsamkeit: Lassen Sie die Worte wirken, und öffnen Sie sich für das Ungesagte zwischen den Zeilen. Die Erzählung wird Sie in Frage stellen – nicht nur Ihr Verständnis der Figuren, sondern auch Ihr eigenes Selbstverständnis. Bleiben Sie ruhig, wenn aus kleinen Zweifeln an Ihren Wahrnehmungen große Fragen keimen. Denn nur wer sich selbst vergisst, kann neue Facetten in sich entdecken.

Mit diesen Worten heiße ich Dich willkommen auf einer Schwelle: jenseits des Vertrauten, bereit für Verwandlung. Möge dieser Text Dir Impulse geben, über das Naheliegende hinauszublicken – in die Tiefe, die erst durch das Loslassen entsteht.

Triggerwarnung

Dieses Buch enthält psychologisch belastende Inhalte. Die Welt, die es darstellt, spielt an der Grenze zwischen Realität und Traum und stellt Szenen von Dissoziation, Realitätsverlust und Selbstaufgabe dar. Übernatürlich oder suggestiv wirkende Momente, wie zum Beispiel die Protagonist:innen, die Leitsätze zu sich sprechen hören, und der beunruhigende Charakter ihrer Umgebung, können gleichzeitig beunruhigend und faszinierend sein. Die Atmosphäre kann bedrückend sein, greift aber nicht auf plumpe Horrorelemente zurück.

Diese Warnung soll keine Abschreckung sein, sondern Ihnen eine fundierte Leseentscheidung ermöglichen. Sollten Sie feststellen, dass bestimmte Themen, wie etwa innere Leere, Verlust oder Manipulationsversuche, Ihre eigenen Erfahrungen widerspiegeln, legen Sie eine Lesepause ein, wenn Sie sich unwohl fühlen. Beginnen Sie erst wieder zu lesen, wenn Sie sicherstellen können, dass Du das emotional verkraften können. Vertrauen dem eigenen Urteilsvermögen und Deinem Bauchgefühl; nur Du selbst weisst, wann Inhalte für Dich belastend werden könnten. Wenn Du auf Dein eigenes Wohlbefinden achtest, kannst Du Clara auf ihrer Reise mit Zuversicht begleiten.

„Dieses Buch stellt nicht in erster Linie Antworten bereit – sondern Räume. Manche dieser Räume sind klar erkennbar, andere bleiben vage, verschattet. Es ist nicht nötig, alles zu verstehen. Es genügt, wenn etwas in Ihnen bleibt.

Das Buch wird für Leser ab 16 Jahren empfohlen.

Kapitel 1 – Clara

Der Tag begann wie ein Fehler, der sich langsam wiederholte.

Clara saß seit Stunden am Küchentisch, ohne zu merken, dass es hell geworden war. Die Teetasse vor ihr war kalt, der Laptop im Standby, ihr Handy stumm. Nur der Ausdruck auf dem Tisch starrte zurück – ein Blatt Papier, kein Briefkopf, keine Absenderzeile. Nur ihr Name. Und ein Kreis.

Es war das dritte Mal, dass sie ihn fand.

Am ersten Morgen hatte sie gedacht, sie hätte ihn sich selbst ausgedruckt – im Halbschlaf, unbewusst. Am zweiten hatte sie ihn zerrissen. Heute lag er wieder da. Unversehrt.

Sie hätte gehen können. Oder bleiben. Aber beides fühlte sich gleich fern an. Seit Wochen lebte sie am Rand ihrer eigenen Wahrnehmung. Schlaf kam in Fetzen, Gedanken brannten auf wie Papier, das zu früh gelöscht wurde.

Der Hausarzt hatte gesagt, es gebe ein Zentrum. Nichts Zwanghaftes. Beobachtung. „Keine Klinik im klassischen Sinn“, hatte er betont. „Eine Einrichtung. Speziell.“

Sie hatte nicht gefragt, wie er davon wusste.

Als die Klingel ertönte – zweimal kurz, einmal lang – zuckte sie nicht zusammen. Jonas.

Der Regen lief still die Scheibe hinunter, als sie die Tür öffnete.

Sie öffnete die Tür, und da stand er, die Kapuze nass vom Regen, den Rucksack über der Schulter. Seine Augen suchten sofort die ihren.

„Bereit?“, fragte er, nicht drängend, sondern eher vorsichtig. Seine Stimme trug das vertraute Gewicht des Mitgefühls, ohne in Mitleid zu verfallen.

Sie nickte.

Sophie wartete unten im Auto. Als Clara einstieg, umarmte sie sie sanft, aber fest. „Wir bringen dich nur hin, ja? Kein Abschied, kein Drama.“

„Noch nicht verrückt“, murmelte Clara und versuchte zu lächeln.

Sophie erwiderte ihr Lächeln. „Verrückt ist, wer sich nicht helfen lässt.“

Die Fahrt fühlte sich länger an, als sie war. Die Straßen waren ihr vertraut, aber Clara konnte sie nicht benennen. Es war, als wären sie Szenen aus einem Film, den sie irgendwann mal gesehen hatte.

„Also… es ist ein neues Zentrum“, begann Jonas, während er fuhr. „Modern. Ruhig. Keine Klinik wie früher. Eher… neutral.“

,,Ich habe die Einladung für einen schlechten Scherz gehalten. Spam. Ich hatte sie gelöscht.´´ Ich hielt inne. »Aber sie war nicht verschwunden. Ich fand sie am nächsten Morgen ausgedruckt auf dem Küchentisch. Kein Absender, kein Logo. Nur mein Name in einer fremden Handschrift.

Jonas schwieg.

»Ich wollte sie ignorieren. Aber ich… ich bin trotzdem hingegangen. Vielleicht, weil ich gehofft habe, dass irgendetwas mir erklärt, warum ich mich selbst nicht mehr spüre.«

Jonas schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hab dieselbe Nachricht bekommen. Vor ein paar Jahren.“

Clara drehte sich langsam zu ihm um. „Was meinst du damit?“

Er sah sie im Rückspiegel an. „Ich war da. Nicht lange. Nur eine Woche.“

„Wovon redet ihr? Ich dachte, ich gehe in eine Klinik.“

Sophie schwieg. Jonas fuhr weiter.

Sie verließen die Stadtgrenzen. Der Himmel war schwer, der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war satt davon. Auf einem Schild stand:

„Zentrum für integrative Bewusstseinsmedizin – Station Weitfeld“

Clara starrte darauf. Der Name wirkte gewollt beruhigend. Fast zu sehr.

Ein paar Minuten später bog das Auto in eine Allee ein. Der Weg war geschottert, gesäumt von Bäumen, die zu perfekt wirkten. Nicht wild. Gepflanzt. Geplant. Am Ende: ein flacher Bau aus Beton und Glas, eingebettet in eine grüne Fläche, die mehr Design als Natur war.

Als sie ausstieg, spürte Clara einen leichten Druck in der Brust. Keine Angst – eher etwas wie… Erwartung. Sie konnte es nicht benennen.

„Möchtest du, dass wir mit reinkommen?“ fragte Sophie.

Clara schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das ist was, was ich… allein machen muss.“

Jonas trat vor. Er reichte ihr eine kleine Mappe – nichts Offizielles. Einfach ein Umschlag, leicht. „Sie wollten, dass du das mitbringst.“

„Wer?“

„Die Einrichtung. Oder das, was dahintersteht.“

Clara nahm es. Keine Beschriftung. Kein Logo. Kein Siegel.

„Wenn du rausfindest, was das ist…“ Jonas zögerte. „Dann komm zurück. Oder… hol uns nach.“

Sophie lächelte, aber ihr Blick war wachsam.

Clara nickte. „Ich werde Bescheid sagen.“

Sie ging auf das Gebäude zu. Die Türen öffneten sich lautlos. Kein Empfang, keine Rezeption. Nur eine Halle, hell und leer. Als sie einen Schritt hinein tat, erkannte sie, dass keine Uhren hingen. Keine Schilder. Kein Ton.

Und dann: eine Stimme.

Nicht über Lautsprecher. Sondern in ihrem Kopf. Oder im Raum. Oder beides.

„Willkommen, Clara Weiß. Wir danken für Ihre Entscheidung.“

Clara verharrte einen Moment, als hätte das Gebäude selbst sie angesprochen. Der Satz hallte nicht wider; er hing einfach im Raum, leise und vollkommen. Kein Empfangspersonal erschien, niemand kam ihr entgegen. Die Eingangshalle war leer, aber nicht kalt. Der Boden bestand aus einem glatten Material, das weder ganz Stein noch ganz Kunststoff war, und dämpfte ihre Schritte so vollständig, dass sie sich selbst kaum hörte.

An der Seite stand ein Tisch aus hellem Holz, darauf ein einziges Klemmbrett und ein Stift. Daneben lag ein beige, hauchdünnes Armband mit einem kaum sichtbaren Sensor an der Innenseite.

Am Klemmbrett befestigt hing ein kleiner Zettel:

„Bitte legen Sie das Band an. Sie werden erwartet.“

Clara las den Satz dreimal. Kein Name, keine Unterschrift, keine Klinikbezeichnung. Es gab auch keine offensichtliche Kamera oder ein Gerät, das ihre Ankunft registriert hätte. Langsam zog sie die Jacke aus und legte das Armband an. Es fühlte sich an wie nichts – kein Klick, kein Signalton. Es verband sich einfach mit ihr, als hätte es längst auf sie gewartet.

Plötzlich öffnete sich eine Tür, nicht mit einem Geräusch, sondern mit einer Bewegung, als hätte sie den Raum selbst dazu gebracht, sich weiterzuentwickeln. Clara trat hindurch.

Der Gang dahinter war lang, sanft beleuchtet von Lichtstreifen an der Decke, die sich mit ihrem Atem zu bewegen schienen. An den Wänden: keine Bilder, keine Nummern, kein Plan. Alles war glatt, klar – und irgendwie beruhigend. Als würde man in eine Erinnerung zurückkehren, die nie wirklich einem selbst gehört hatte.

Sie wusste nicht, wie lange sie ging, als sich schließlich eine zweite Tür öffnete. Dahinter: ein Raum mit einer Couch, einem kleinen Tisch, einem Sessel. Kein medizinisches Gerät. Keine Akten. Nur eine Frau, etwa Mitte vierzig, mit glattem, zusammengebundenem Haar und einem weißen Kittel, der eher elegant als klinisch wirkte.

Die Frau stand auf, lächelte nicht, wirkte aber auch nicht unfreundlich. „Clara Weiß“, sagte sie, eher feststellend als fragend. „Willkommen.“

Clara nickte. „Sie sind…?“

„Mein Name ist Julia. Ich begleite Ihren Einstieg.“ Sie machte eine einladende Geste in Richtung Sessel. „Setzen Sie sich bitte.“

Clara ließ sich nieder. Der Sessel war weich, aber nicht nachgiebig. Wie dafür gemacht, dass man sich darin aufrichtete.

„Sie wurden eingeladen“, begann Julia. „Aber Sie sind auch freiwillig hier. Beides ist wichtig.“

Clara verschränkte die Hände. „Ich dachte… das wäre eine Klinik.“

„Das ist es“, sagte Julia ruhig. „Aber nicht im klassischen Sinn. Sie haben Symptome – wir haben Strukturen. Sie haben Fragen – wir haben Methoden. Wir nennen diesen Ort nicht Klinik, sondern Interface.“

„Interface?“

Julia neigte leicht den Kopf. „Eine Schnittstelle. Zwischen dem, was Sie glauben zu sein, und dem, was in Ihnen möglich ist.“

Clara schwieg.

„Sie leiden an dissoziativen Episoden, an fragmentierten Erinnerungslinien. An einer tiefen inneren Erschöpfung.“

„Sie haben meine Akte gelesen“, sagte Clara.

„Nein“, sagte Julia. „Ich habe Sie gesehen.“

Ein Kribbeln durchlief Claras Rücken. „Was heißt das?“

„Sie werden es selbst verstehen. Nicht jetzt. Aber bald.“

Julia stand auf und ging zu einem Sideboard, das vorher nicht da gewesen war – oder Clara hatte es nicht bemerkt. Sie holte ein kleines Gerät hervor, rund, aus Glas, kaum größer als ein Ei. Sie legte es Clara in die Hand.

„Das ist Ihr Kompass. Er zeigt Ihnen, was für Sie Bedeutung hat. Nicht, wohin Sie gehen sollen. Sondern wovon Sie sich lösen müssen.“

Clara sah auf das Objekt. Es war kalt, fast durchsichtig, vibrierte kaum spürbar. Als sie es länger hielt, wurde es warm – und verschwand schließlich wie Nebel in ihrer Handfläche.

Julia nickte. „Sie sind bereit.“

„Wofür?“

Julia ging zur Tür. „Für das, was Sie sind, wenn niemand mehr sagt, wie Sie zu sein haben.“

Die Tür öffnete sich. Der Flur dahinter war anders als zuvor. Er wirkte tiefer, weniger geordnet. Die Lichter an der Decke pulsierten schwach.

„Gehen Sie den Weg. Ihr Kompass wird reagieren. Wenn er reagiert, folgen Sie dem Impuls.“

Clara trat hinaus. Sie erwartete Kälte, aber der Flur war warm. Keine Menschen. Kein Geräusch. Nur der feine Druck des Armbands, das pulsierte wie ein leiser Herzschlag. Nach ein paar Schritten vibrierte ihre Hand. Der Kompass – obwohl verschwunden – hatte sich offenbar mit ihr verbunden. Ein kurzer Impuls, nach rechts.

Sie bog ab. Die Türen an beiden Seiten wirkten gleich. Aber eine davon öffnete sich.

Innen: ein Raum, still, von diffusem Licht erfüllt. Am Tisch saßen zwei Menschen. Als sie eintrat, wandten sie sich um.

Sophie.

Und Jonas.

Claras Herz schlug schneller.

Sophie stand sofort auf. „Da bist du“, sagte sie leise, als hätte sie sie erwartet.

Clara trat einen Schritt vor. „Was… wie… seid ihr…?“

Jonas lächelte leicht. „Wir haben dich nicht nur gebracht. Wir waren eingeladen. Wie du.“

„Das hier ist kein Krankenhaus“, sagte Sophie. „Nicht wirklich.“

Clara sah sie an. „Was ist es dann?“

Jonas trat an ihre Seite. „Ein Anfang.“

„Clara wollte etwas sagen, doch ihre Worte stockten sich selbst. Jonas und Sophie standen einfach nur da, als würde es sich von Anfang an so zugetragen haben müssen. Als wären sie nicht draußen im Auto sitzen geblieben, sondern längst in diesen seltsamen und fremden Ort eingedrungen. Es wirkte nicht so, als hätte sich an ihnen irgendetwas verändert, und doch war es doch so.

„Wie lange seid ihr schon hier?“, fragte Clara schließlich.

Jonas zuckte mit den Schultern. „Die Zeit verhält sich hier anders als draußen. Es fühlt sich an, als wären Stunden vergangen, aber es könnten auch nur Minuten gewesen sein.“

Sophie trat näher. Sie wirkte verändert – nicht äußerlich, aber ihr Blick war stiller, fokussierter geworden. „Es war nicht so, dass sie uns geholt haben. Wir kamen freiwillig. Nach dir. Es fühlte sich an, als ob wir gerufen wurden.“

Clara setzte sich auf einen der drei Stühle an einem schlichten Tisch in der Mitte des Raumes. Der Raum selbst schien wie aus einem Traum zusammengesetzt zu sein – klar, hell, fast zu perfekt. Keine Ecken, keine Schatten. Die Decke wirkte höher, als sie sein sollte.

„Und warum seid ihr geblieben?“, fragte sie, und die Angst war in ihrer Stimme deutlich zu hören.

Jonas antwortete ruhig: „Weil dies kein Ort ist, den man einfach so wieder verlassen kann. Nicht ohne die Gelegenheit genutzt zu haben, das zu sehen, was man sonst niemals sehen würde.“

Clara sah ihn lange an. „Was meinst du?“

Statt einer direkten Antwort griff Jonas in seine Tasche – oder genauer gesagt, er schien etwas aus dem Nichts hervorzuzaubern. Ein dünnes, durchscheinendes Rechteck, das zwischen seinen Fingern vibrierte. „Sie nennen es Interface-Modul. Es zeigt dir… dich selbst.“

Clara stand auf. „Was ist das?“

„Darauf seht ihr ihren aktuellen inneren Zustand”, erklärte Sophie. „Die Leere, die Zweifel, die Zersplitterung. Dieses Modul visualisiert, was ihre Worte nicht ausdrücken können.

Clara trat einen Schritt zurück. „Ich dachte, diese Klinik wäre ein Ort für herkömmliche Therapiegespräche.”

„Das ist sie auch”, entgegnete Jonas. „Aber auf eine neue Art.”

Sophie stand neben Clara. „Sie rekonstruieren keine Diagnose. Sie rekonstruieren dich.”

Clara schüttelte den Kopf. „Das ist… überwältigend. Das geht zu weit.”

„Ich verstehe”, sagte Sophie sanft. „Aber es ist real. Und es ist notwendig.”

Bevor Clara antworten konnte, ertönte ein Summen, die Tür öffnete sich und Julia trat ein, als hätte sie genau das erwartet, was gerade geschehen war.

„Clara, wenn du bereit bist, beginnt jetzt deine erste Schnittstelle”, verkündete sie.

Jonas nickte. „Geh schon.”

Sophie sah Clara in die Augen. „Wir sind noch hier, wenn du zurückkommst.”

Clara zögerte einen Moment, doch ein innerer Zug, mehr ein Instinkt als ein bewusster Gedanke, zog sie nach vorne. Ein unsichtbarer Kompass schien in ihrer Brust zu vibrieren und führte sie. Es war keine bewusste Entscheidung mehr; es war wie ein natürlicher Schritt nach vorn.

Sie folgte Julia aus dem Raum.

Dieser Flur war anders, kein neutrales Gefährt mehr wie früher. Jedes ihrer Schritte änderte die Beleuchtung, und Wände begannen abstraktes Design zu zeigen, Formen, die ihr bekannt vorkamen, die sie aber nicht zuordnen konnte. Ein Kinderzimmer, eine Straßenecke, ein dunkel erleuchteter Korridor; einzelne Bilder, ohne ersichtlichen Zusammenhang, Splitter von Erinnerungen.

„Was ist das?“, fragte Clara leise.

Julia antwortete: „Das ist dein Echo, die ersten Überreste deines alten Musters.“

„Warum zeigt ihr mir das?“

Julia erklärte: „Damit du erkennst, was du bist, wenn dich niemand beobachtet.“

Obwohl Clara inneren Widerstand verspürte, behielt sie ihn für sich. Julia stoppte vor einem Eingang ohne Schild oder Griff, sondern nur einer Lichtfläche, die auf Claras Band reagierte.

Die Tür öffnete sich mit einem sanften Schieben.

Im Inneren herrschte Dunkelheit, kein Raum, nur Schwärze, und Julia trat nicht ein.

„Dies ist deine erste Schnittstelle. Tritt ein, dort bist du allein, aber erwartet nicht, dich selbst dort zu finden, so wie du dich kennst.“

„Wie lange bleibe ich…?“

„So lange du es brauchst.“

Clara zögerte kurz in der Tür, bevor sie tief durchatmete und eintrat.

Es fühlte sich so an, als würde sie ein anderes Medium betreten. Die Dunkelheit war nicht leer, sondern pulsierte von Geräuschen, Farben und Gedanken, die sich alle ohne sichtbare Form manifestierten. Und dann, ein einzelner Lichtpunkt in der Ferne, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie bewegte sich darauf zu.

Während sie sich näherte, wurde es klarer: ein Spiegel, aber nicht gewöhnlich, sondern eine Fläche, die auf ihre Präsenz reagierte. Ihr Spiegelbild war da, doch es bewegte sich nicht mit ihr.

„Clara blieb stehen und blickte in den Spiegel.“ 

„Ihr Spiegelbild war anders. Lebendiger und strahlender stand sie vor ihr. Diese Version von ihr war nicht von den Schatten der jüngsten Jahre gezeichnet. Stattdessen strahlte sie Entschlossenheit und Zielstrebigkeit aus. In ihren Augen lag keinerlei Zögern oder Ermüdung.“

„Wer bist du?“, fragte Clara leise.

„Das Spiegelbild lächelte. „Ich bin du“, antwortete sie, „ohne die Lügen, die dir eingeredet wurden.“

Clara ging langsam näher an den Spiegel heran.

„Warum bin ich hier?“, fragte sie weiter.

„Weil du aufhören willst, dich selbst zu rechtfertigen“, erklärte der Spiegel.

Plötzlich begann der Spiegel zu vibrieren. Vor Claras Augen blitzten Bilder auf. Sie sah sich selbst als Kind, in einem Krankenhausbett, allein in der Küche spät in der Nacht. Ein leerer Esstisch, ein voller Terminkalender – all diese Bilder tauchten auf. Und inmitten von allem war ein Symbol zu sehen: ein weißer Kreis auf schwarzem Grund.

„Was ist das?“, flüsterte Clara.

„Das ist die Einladung“, antwortete der Spiegel. „Es ist der Beweis, dass du gesucht wurdest. Nicht, weil du krank bist, sondern weil du die einzigartige Fähigkeit besitzt, dich von den Erwartungen der Gesellschaft zu lösen.“

„Womit genau soll ich mich entkoppeln?“, fragte Clara weiter.

„Von den falschen Identitäten und Zwängen, die dir von anderen aufgezwungen wurden“, erklärte der Spiegel.

Die Bilder auf dem Spiegel begannen wieder zu flackern. Clara wollte schreien, aber ihre Stimme war eingefroren. Die Bilder verschwanden, und sie blieb allein in einem Meer aus Licht, Ton und Gedanken zurück.

Nur ein Satz blieb ihr im Sinn: „Dies ist nicht deine Diagnose. Dies ist deine Befreiung.“

Clara öffnete langsam die Augen. Sie fand sich in einem hellen, weißen Raum wieder, der absolut still war. Kein Geräusch, keine Bewegung außer ihrem eigenen Atem. Sie lag auf einem bequemen Bett, an das sie sich nicht erinnern konnte, es betreten zu haben. Die Decke über ihr war sanft beleuchtet, wodurch das Licht selbst wie eine matte Oberfläche wirkte.

Langsam setzte sie sich aufrecht. In ihrem Kopf herrschte eine seltsame Stille – nicht Leere, sondern eine Art Nachklang. Sie fühlte sich verändert, nicht physisch, sondern in einer unsichtbaren Weise. Ihre Haut prickelte und ihre Gedanken waren schärfer, klarer. Doch trotz dieser Veränderung hatte sie das Zeitgefühl verloren.

Die Tür öffnete sich geräuschlos, und Sophie stand da, in derselben Kleidung wie zuvor, aber mit einem anderen Ausdruck im Gesicht. Sie wirkte aufgeweckt, warmherziger, und etwas in ihrem Blick verriet: „Ich kannte deine Erfahrung.“

„Du bist zurück“, bemerkte sie sanft.

Clara setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Der Boden war angenehm warm. Die Stille und Sanftheit der Umgebung vermittelten den Eindruck, dass nichts Ungewöhnliches geschehen war. Gleichzeitig war es, als hätte sich in dieser Stille alles verändert.

„Was war das?“, fragte Clara mit Nachdruck.

Sophie trat einen Schritt näher und setzte sich auf einen Hocker neben dem Bett, um ihr gegenüberzustehen. „Das war deine erste Schnittstelle – du, ohne Schutzmechanismen oder Hemmungen.“

Clara schluckte schwer. „Es hat nicht wie eine Therapie gewirkt.“

„Ist es auch nicht“, erklärte Sophie ernst. „Dies ist ein Dekodierungsprozess. Du wirst neu kalibriert.“

Clara runzelte die Stirn, verwirrt und neugierig: „Aber zu welchem Zweck?“

Bevor Sophie antworten konnte, betrat Jonas den Raum. „Damit du die Wahl hast, ob du bleiben und das bleiben willst, was du warst, oder dich in die Version von dir selbst verwandeln willst, die du immer hättest sein können.“

Er hielt inne. „Es klingt vielleicht übertrieben, aber es ist die Wahrheit.“

„Ich fühlte mich anders“, sagte Clara. „Als wäre etwas in mir neu eingestellt worden. Ich habe mich gesehen, aber es war nicht das, was ich jetzt sehe.“

Sophie nickte. „Es war eine Version von dir, aber ohne all die Verwirrung.“

„Es sagte mir, dass ich die Kontrolle über mich selbst habe.“

Jonas trat näher. „Und du hast es akzeptiert.“

Clara sah ihn direkt an. „Was ist das hier wirklich, Jonas? Lass das Gerede von ‘Interfacen’ und diesem mystischen Zeug sein. Sei direkt.“

Jonas holte tief Luft, als hätte er über etwas Entscheidendes nachgedacht. „In der offiziellen Version bist du in einer Einrichtung für integrative Bewusstseinsmedizin. Inoffiziell bist du Teil einer Auswahl.“

„Was ist diese Auswahl?“

„Nicht jeder, der die Einladung erhält, beteiligt sich. Und nicht jeder, der sich beteiligt, kommt weiter.“

Clara schüttelte leicht den Kopf. „Was bedeutet das alles?“

„Es gibt einen Grund, warum du eingeladen wurdest, warum du diese Symptome hattest und warum du begonnen hast, Fragen zu stellen und dich verloren zu fühlen. Nichts davon war ein Zufall.“

Sophie fügte hinzu: „Du hast auf etwas reagiert – eine Energie oder Frequenz, auf die du ohne es zu merken reagieren konntest. Sie reagierten darauf.“

„Wer reagierte?“

Jonas antwortete nicht sofort. Dann sagte er: „Wir nennen sie das Programm. Andere nennen sie die Stille. Wieder andere nennen sie Eden.“

Clas Reaktion war ein Schauer. „Eden?“

„Ein alter Begriff“, murmelte Sophie. „Ein schöner Name für ein Experiment, das außer Kontrolle geraten war.“

„Und was ist mein Platz in all dem?“

„Du bist eine Möglichkeit“, erklärte Jonas. „Ein Prototyp.“

Clara erinnerte sich an die Worte aus ihrer Schnittstelle. „Du bist nicht Clara. Du bist der Prototyp.“

Sie fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick. „Wie lange wissen Sie davon?“

„Länger als Sie denken“, antwortete er. „Aber das ist nicht etwas, das man einfach so erzählt. Sie müssen es selbst erleben, sonst klingt es nach Wahnsinn.“

Clara begann unruhig im Raum auf und ab zu gehen. „Und was nun? Bin ich bereits unter die Lupe genommen worden? Habe ich die Prüfung bestanden?“

„Sie wurden zugelassen“, erklärte Sophie. „Diese Leistung ist bedeutsamer als Bestehen.“

Die Tür öffnete sich erneut und Julia trat ein. Ihre Anwesenheit war subtil, aber bestimmend.

„Guten Tag, Clara“, sagte sie mit ruhiger, sanfter Stimme. „Sie sind bereit für die zweite Phase.“

Clara wandte sich ihr zu. „Und was erwartet mich jetzt? Noch ein Test oder eine weitere Selbstwahrnehmungsprüfung?“

Julia schüttelte den Kopf. „Nein, jetzt geht es um Verbindung.“

„Verbindung?“

„Mit jenen, die noch nicht bereit für diese Reise sind, und mit dem, was Sie loslassen müssen, um fortzufahren.“

Jonas trat vor. „Warte. Es ist etwas zu früh für sie.“

Julia blickte ihn ruhig an. „Sie hat die Schwellen überwunden. Es ist ihre Entscheidung.“

Clarys Gedanken überschlugen sich. Alles in ihr zog sich zusammen und dehnte sich gleichzeitig aus. Die Welt hatte sich verschoben und sie stand an einem Scheideweg.

„Was ist, wenn ich nicht bereit bin?“, flüsterte sie ängstlich.

Julia ging näher. „Dann sind Sie frei zurückzukehren. Es gibt keine Konsequenzen oder Zwang.“

„Und wenn ich bereit bin?“

„Dann beginnt Ihre Initiation.“

Sophie trat an ihre Seite. „Clara, egal wofür du dich entscheidest, wir stehen neben dir – nicht davor, nicht dahinter.“

Jonas nickte. „Du musst aber gehen. Oder bleiben. Einen Mittelweg gibt es nicht.“

Clarence schloss die Augen, und ein Strudel aus Bildern, Worte, Schatten und Stimmen raste durch ihren Kopf. Und dennoch, inmitten all dessen, blieb ein Kern der Stille.

Sie holte tief Luft.

„Ich gehe.“

Die Worte waren kaum verklungen, da veränderte sich der Raum. Die Veränderung war nicht abrupt oder sichtbar, sondern schleichend, wie ein allmähliches Erwachen aus einem Traum. Die Wände schienen sich zu entfernen, und der Boden wurde heller. Eine unsichtbare Schwelle war überschritten worden, und Clara befand sich nun auf der anderen Seite.

Julia trat zur Seite und sagte: „Dann folge mir.“

Clara ging, gefolgt von Jonas und Sophie. Es gab keinen festgelegten Weg oder Markierungen, und doch schien jeder Schritt notwendig und jeder Winkel vorgezeichnet. Es war nicht so, dass jemand den Plan erklärte, sondern ihr Körper, ihr innerer Kompass, wusste instinktiv, wohin es ging.

Sie passierten keine Türen oder Sensoren. Es war, als würden sich Räume nicht durch Technologie, sondern durch Zustimmung öffnen. Ihre bloße Entscheidung schien das einzige Zugangskriterium zu sein.

Nach einigen Minuten – oder Sekunden, Clara hatte längst das Zeitgefühl verloren – betraten sie einen neuen Bereich. Es war ein großer, stiller Saal, der an eine entweihte Kathedrale erinnerte. In der Mitte standen fünf Sitze, kreisförmig angeordnet.

---ENDE DER LESEPROBE---