Inland - Gerald Murnane - E-Book

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Gerald Murnane

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Beschreibung

Ein Mann sitzt in seinem australischen Zimmer und ersinnt einen Autor im ungarischen Szolnok, der seinerseits Briefe an seine junge Lektorin in der Prärie South Dakotas schreibt. Dabei ist er sehr darauf bedacht, den Altersunterschied zu bagatellisieren, und er schickt ihr statt eines Autorenfotos ein Bild des Familiengrabs. Irgendwann aber scheint ihre Prärie nicht mehr von der Ödnis vor seinem Fenster unterscheidbar und sie sich auf seinen Briefseiten aufzulösen. Und überhaupt werden sie und die Geschichten aus fernen Ländern bald von schmerzhaften Kindheitserinnerungen an ein Mädchen aus der Nachbarschaft überschrieben.

Gerald Murnane ist der große Solitär der englischsprachigen Literatur und Inland sein murnaneskester Roman. Ein Roman über Sehnsucht und Schuld, über das, was uns allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand gewesen ist – Tastgesten an den beweglichen Grenzverläufen zwischen ausufernder Innenwelt und eingebildeter Außenwelt.

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Seitenzahl: 319

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Titel

Gerald Murnane

Inland

Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt

Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel Inland bei William Heinemann Australia.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 2022.

Erste Auflage 2022© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© Giramondo Publishing 2013Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-77208-9

www.suhrkamp.de

Inland

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Cover

Titel

Impressum

Nachwort

Zitatnachweise

Informationen zum Buch

Hinweise zum eBook

Ich glaube, dass man im Grunde für zwei Leute schreibt; für sich selbst, um nach absoluter Vollkommenheit zu trachten … Dann schreibt man für diejenige, die man liebt, gleich ob sie lesen oder schreiben kann oder nicht und ob sie lebendig ist oder tot.

Ernest Hemingway

Ich schreibe in der Bibliothek eines Herrenhauses in einem Dorf, dessen Namen ich lieber nicht nenne, nahe der Stadt Kunmadaras, im Komitat Szolnok.

Diese Worte, welche die Spitze meiner Schreibfeder hinter sich herzieht, sind Worte aus meiner Heimatsprache. Schwermütiges Ungarisch, nennt meine Lektorin sie. Sie mag Recht haben. Diese Worte ruhen leicht auf meinem Blatt Papier, diese Schwere aber, die auf mir lastet, ist vielleicht das Gewicht all der Worte, die ich noch nicht geschrieben habe. Und die Schwere, die auf mir lastet, ist das, was mich anfänglich zu schreiben drängte.

Oder die Schwere, die auf mir lastet, könnte das Gewicht all der Tage sein, die ich noch nicht gelebt habe. Meine Schwere wird mich in Kürze drängen, von diesem Tisch aufzustehen und zu den Fenstern zu gehen; doch wird mich die gleiche Schwere danach drängen, mich wieder an diesen Tisch zu setzen. Wenn ich dann zu schreiben beginne: Ich ging gerade jetzt zu den Fenstern und schaute über meine Ländereien … wird mein Leser erfahren, wie wenig ich in meinem Umkreis sehe, während diese Schwere auf mir lastet. Von all den weiten Landschaften rings um mein Herrenhaus kann ich mir nie mehr in den Sinn rufen als das nächstgelegene Feld und die lange Reihe von Pappeln auf dessen anderer Seite.

Ist das wirklich alles? Manchmal gewahre ich weitere Felder hinter dem ersten Feld und Grasland hinter allem – unbestimmtes Grasland unter grauen, tief herabhängenden Wolken. Und ich könnte einen Satz oder zwei aus meinen Schultagen wiederholen: Komitat Szolnok, auf dem Großen Alföld …

Ich habe im Augenblick vergessen, was ich einst in meinem Schulbuch las. Doch ich erinnere mich an den Schwengelbrunnen auf dem ersten Feld hinter den Pappeln.

Wenn du, mein Leser, mit mir zu den Fenstern treten könntest, würdest du sie sogleich bemerken – die lange Stange, die zum Himmel weist. Du würdest die Brunnenstange bemerken, aber warum sollte ich es tun? In jedem Blickfeld, von jedem Fenster in diesem Herrenhaus weist eine lange Stange zum Himmel, und in jedem Blickfeld, von jedem Herrenhaus im Komitat Szolnok. Aber dennoch, möglicherweise sehen weder du noch ich jene bestimmte Brunnenstange auf der anderen Seite der Pappeln; einer meiner Aufseher hatte im letzten Jahr den Befehl erhalten, den Brunnen zu verstopfen und die Stange herunterzureißen – oder es kann auch ein anderes Jahr gewesen sein.

Jetzt drängt mich etwas anderes als Schwere, diesen Tisch zu verlassen und zu den Fenstern zu gehen. Ich muss zu den Fenstern gehen, um zu erfahren, ob ich mich, gerade jetzt, des Anblicks eines gewissen Brunnens erinnerte oder ob ich träumte.

Aber vielleicht könnte ich, ohne diesen Tisch zu verlassen, sagen, dass ich bloß von dem Anblick meines Brunnens träumte. Falls du dich erinnerst, Leser, hatte ich meinen Tisch nicht verlassen, als ich diese Nachforschung begann. Ich hatte bloß von mir selbst geträumt, wie ich meinen Tisch verließ und dann zu meinem Tisch zurückkehrte und mich dann zu erinnern versuchte, was ich durch meine Fenster gesehen haben mochte. Ich träumte von mir hier an diesem Tisch, und dann fragte ich mich, ob der Mann, von dem ich träumte – ob dieser Mann sich an den Anblick eines gewissen Brunnens erinnerte oder ob er träumte.

Mir gefällt nicht, was ich soeben geschrieben habe. Ich glaube, dass es meiner Lektorin auch nicht gefallen wird, wenn sie es liest. Ich hatte nicht vorgehabt, einen solchen Satz zu bilden, als ich zu schreiben begann. Und doch hat mich mein kunstvoller Satz für einen Augenblick die Schwere vergessen lassen, die auf mir lastet. Ich werde mit meinem Schreiben fortfahren, ich werde an diesem Tisch bleiben. Ich werde dir, Leser, vielleicht eine Zeitlang nicht sagen können, ob eine lange Stange auf dem Feld hinter den Pappeln zum Himmel weist oder nicht. Ich werde vielleicht sogar von mir selbst träumen, wie ich zu den Fenstern trete und dann zu diesem Tisch zurückkehre und dann darüber schreibe, solche Dinge getan zu haben. Aber wenn ich Weiteres über den Schwengelbrunnen schreibe, werde ich dir zuliebe versuchen, Leser, zwischen dem zu unterscheiden, was ich sehe, und dem, an was ich mich erinnere und was ich von mir selbst träume, zu sehen oder zu erinnern.

Meine Lektorin lebt im Land Amerika, im Staat South Dakota, in Tripp County, in der Ortschaft Ideal. (Nicht viele Atlanten weisen diese Ortschaft auf, doch kann der Leser das Wort Ideal deutlich gedruckt ein wenig östlich von Dog Ear Creek auf Seite 166 des Hammond World Atlas sehen, veröffentlicht 1978 bei Hammond Incorporated für Time.)

Meine Lektorin lebt in Amerika, wurde aber dort geboren, wo der Fluss Sio, der aus dem Balaton-See rieselt, einen unerwarteten Partner in der aus dem Norden kommenden Sarviz findet. Sie vereinigen ihre Kräfte jedoch nicht unverzüglich, sondern schlendern Seite an Seite durchs ganze Land, zwei oder drei Kilometer voneinander entfernt, und werfen einander kokette Blicke zu, wie träumerische Verliebte. Die beiden Flüsse teilen ein Bett, das so breit, fruchtbar und weit ist, dass man es als Familiendoppelbett bezeichnen könnte. Auf jedem Ufer sind die sanften Hänge und friedlichen Hügel mit Farben geschmückt, die an den Wänden eines heiteren und friedlichen Zuhauses nicht fehl am Platze wären. Dies ist ihr Teil der Welt. (Die meisten der vorigen Sätze habe ich bei People of the Puszta von Gyula Illyés abgeschrieben, übersetzt von G. ‌F. Cushing und 1971 bei Chatto & Windus veröffentlicht. Die deutsche Fassung erschien unter dem Titel Die Puszta, übersetzt von Tibor Podmaniczky. People of the Puszta ist kein Roman. Alle in dem Buch erwähnten Menschen haben einmal gelebt. Ein paar von ihnen leben vielleicht immer noch.)

Meine Lektorin lebt in Ideal, in Tripp County, in South Dakota, doch sie wurde im Komitat Tolna, in Transdanubien, geboren, und ich hege den Gedanken, dass sie sich manchmal ein wenig an das Gebiet erinnert, in dem sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte.

Meine Lektorin ist auch meine Übersetzerin. Sie beherrscht fließend meine Sprache und die amerikanische Sprache. Sie nennt sich Anne Kristaly Gunnarsen. Sie ist verheiratet mit Gunnar T. Gunnarsen, der hochgewachsen und blond und Wissenschaftler ist. Er und seine Frau sind beide im Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies beschäftigt. (Calvin Otto Dahlberg wurde 1871 in Artesian, South Dakota, geboren und starb 1939 in Fond du Lac, Wisconsin. Er wurde mit Bier und Papier reich.)

Ich bin Gunnar T. Gunnarsen, dem Prärie-Wissenschaftler, nie begegnet. Ich bin sogar seiner Frau, meiner Lektorin und Übersetzerin, nie begegnet. Doch ich weiß, sie schreibt an einem Schreibtisch in einem Raum mit Büchern ringsum an den Wänden und einem großen Fenster, das eine Prärie überblickt.

Die Prärie meiner Lektorin ist keine echte Prärie. Sie ist in Wirklichkeit ein weites Ödland, das dem Institute of Prairie Studies gehört. Die Wissenschaftler des Instituts haben das Ödland mit den Samen jeder Pflanze besät, die einst dort gedieh, wo jetzt die Stadt Ideal steht. In jedem Sommer, wenn die Pflanzen zu ihrer vollen Größe herangewachsen sind, treten Gunnar T. Gunnarsen und seine Kollegen sacht zwischen die Pflanzen, um sie zu zählen. So unwahrscheinlich es auch scheint: die PrärieWissenschaftler knien den ganzen Tag nieder, um auf einem bestimmten Hügelhang und in einer bestimmten Senke und neben einem bestimmten Teich in dem Tal des Dog Ear, auf der Great Plain von Amerika, zu zählen und zu messen. Und danach berechnen die Wissenschaftler, wie viele Samen sie noch aussäen müssen, bis das Ödland aussehen und sich anfühlen wird wie eine jungfräuliche Prärie.

Inzwischen leben Gunnar T. Gunnarsen und seine Frau und ihre dreizehnjährige Tochter in einem großen Haus in den Versuchsfeldern des Calvin O. Dahlberg Institute. Und manchmal schreibt mir meine Lektorin, sie sei gerade zu den Fenstern getreten und wollte, sie könne für mich den Anblick eines Ödlands beschreiben, das zu der Prärie heranwachse, die es immer hätte gewesen sein sollen: den Anblick ihrer Traum-Prärie, wie sie es nennt, die aus dem Erdreich in ihrem Umkreis erwächst. Meine Lektorin schreibt, sie habe den Eindruck, eher in Richtung der Vergangenheit zu blicken als in eine unbestimmte Zukunft. Die Vergangenheit ist nicht ihre eigene Vergangenheit – nicht die Zeit ihrer Kindheit. Sie ist so weit von ihrer Kindheit entfernt wie je. Aber wenn sie tief aus dem Inneren der Schatten ihres Raums hin zum Grasland blickt, das bald als echte Prärie erscheinen wird, fühlt sie sich im Begriff, eine weitere Lebenszeit an dem Ort zu beginnen, wo sie immer hätte gelebt haben sollen.

Doch dies sind nur Unterbrechungen ihrer Schreibarbeit. Anne Kristaly Gunnarsen ist eine intelligente, praktisch veranlagte junge Frau, die wichtige Angelegenheiten in Händen hält. (Ich werde hier nicht niederschreiben, was ich persönlich der Frau gegenüber empfinde, die später diese Seiten lesen und redigieren wird. Eines Tages werde ich Texte schreiben, die niemand zu redigieren oder zu übersetzen braucht. Ich werde über Nachmittage schreiben, an denen ich an diesem Tisch gesessen und geglaubt habe, dass das letzte Geräusch, das ich auf Erden hören würde, entweder das Poltern eines Schiebefensters im Sommerwind wäre oder auch das Kratzen meiner Feder auf Papier; dass der letzte Anblick, den ich auf Erden hätte, entweder ein Stück Himmel über einer Reihe von Pappeln wäre oder auch die Rücken Hunderter Bücher, die ich nie aus ihren Regalen gehoben habe. Ich werde über Nachmittage schreiben, an denen ich unter einer Schwere erstickt wäre, wenn ich auf meinem Tisch nicht ein paar Seiten wie diese um mich herum gefunden hätte: Seiten aus dem Land Amerika, wo Menschen ungezwungen einander schreiben und nie allein sind.)

Meine Lektorin hat für mich die Namen von Pflanzen, die sie von ihrem Fenster aus sieht, ins Ungarische übertragen. Sie drängt mich, die Namen von ihr bewunderter Pflanzen niederzuschreiben und laut aufzusagen. Sie versichert mir, dass ich ein seltenes Vergnügen empfinden werde, wenn ich die Gräser und Büsche aus ihrer Traum-Prärie in Amerika in meiner eigenen Sprache benenne. Sie möchte, sagt sie, dass ich hier im Komitat Szolnok das Nicken der winzigen blauen und scharlachroten Blüten sehe; dass ich auf meinen eigenen Ebenen das Rascheln seltsamer Grasstängel im Wind höre. Manchmal drängt mich meine Lektorin sogar, meine eigenen Felder und Weiden in ein Traum-Grasland zu übersetzen oder ein Institute of Great Alfold Studies auf einem Flecken Ödland inmitten der abseits gelegenen Straßen von Kunmadaras zu begründen.

Ich verspüre kaum meine Schwere, wenn Anne Kristaly Gunnarsen mir derart ernsthaft schreibt. Ich kann nicht all das tun, zu dem sie mich drängt. Doch manchmal schreibe ich die Namen der Pflanzen aus ihrer Traum-Prärie nieder. Und manchmal sage ich die Namen auf – allerdings weniger mit Vergnügen als mit einer eigenartigen Mischung von Gefühlen.

Hier sind einige der Namen für dich zum Aufsagen, Leser. Aber vielleicht wirst du, wenn du sie aufsagst, nur Laute von schwermütigem Ungarisch hören.

Little bluestem, Präriegras; ironweed, Hohe Scheinaster; fleabane, Berufkraut; boneset, Beinwurz; wolfberry, Hexenzwirn; chokeberry, Aronia.

(Alle Pflanzennamen im vorigen Abschnitt sind in The Life of Prairies and Plains von Durward L. Allen zu finden, 1967 von der McGraw-Hill Book Company in Zusammenarbeit mit The World Book Encyclopedia veröffentlicht.)

Anne Kristaly Gunnarsen übersetzt weitaus mehr als Namen von Gräsern und Büschen. Sie ist Direktorin des Bureau for the Exchange of Data on Grasslands and Prairies. Das Bureau ist eine Abteilung im Institute of Prairie Studies.

Als ich das erste Mal von dem Bureau hörte, träumte ich von einem großen amerikanischen Gebäude, voll mit Aktenschränken und Schreibtischen und Angestellten, die grüne Augenschirme tragen. Doch Anne Kristaly Gunnarsen spricht leichthin von dem Bureau. Sie sagt mir, es sei buchstäblich ein Schreibtisch – der gleiche Schreibtisch, von dem sie mir schreibt. Und sie schmälert das Bureau, indem sie es mit den Initialen seines Titels benennt.

Manchmal beschreibt sich Anne Kristaly Gunnarsen selbst, wie sie an ihrem Schreibtisch sitzt und an die Grasländer der Welt denkt. Zu jeder Stunde des Tages hebt in dem einen oder anderen Land ein Mann seinen Blick von der Betrachtung von Pflanzen, die Aronia oder Hexenzwirn heißen. Der Mann ist die einzige Person innerhalb des Horizontkreises. Er starrt über das Veldt oder die Steppen oder die Pampas und ist darauf gefasst, sich als ganz allein zu denken. Aber er kann nicht an sich selbst und das Gras um seine Knie und die Wolken über seinem Kopf und sonst nichts denken. Er denkt daran, wie er mit einer jungen Frau redet oder ihr schreibt. Er denkt daran, wie er der jungen Frau erzählt, er denke an sie, wann immer er sich allein in Grasländern befindet. Er denkt daran, wie er der jungen Frau erzählt, er denke daran, wie sie ihm erzählt, sie denke an einen Mann wie ihn selbst, wann immer sie an ihrem Schreibtisch sitzt und an die Grasländer der Welt denkt.

Meiner Lektorin zufolge sind alle die flachen und grasbewachsenen Orte der Welt auf Karten markiert und auf Packen Papier im Bureau for the Exchange of Data on Grasslands and Prairies beschrieben. Jeden Tag sitzt die Direktorin des Bureau an ihrem Schreibtisch und liest über die Ebenen der Welt. Die Männer auf ihren Veldts und Steppen und Prärien denken an Anne Kristaly Gunnarsen und daran, wie sie an dem Ort ist, den sie BEDGAP nennt.

Jede Sommernacht lässt Anne Kristaly Gunnarsen die Fenster ihres Schlafzimmers weit offen. Das letzte Geräusch, das meine Lektorin vor dem Einschlafen hört, ist entweder das Prasseln kleiner Samenschoten im Nachtwind oder auch der dumpfe Aufprall eines Käfers oder Falters gegen die Fensterscheibe und das schwache metallische Echo.

Anne Kristaly Gunnarsens Traum-Prärie beginnt an ihrem Fenster. Statt Rasenflächen und Gärten um ihre Häuser ließen die Prärie-Wissenschaftler von Ideal die Wildgrasarten frei wachsen. Wenn Anne Kristaly nachts ihre Augen öffnet, sieht sie zwischen sich und dem Mond und den Sternen Schwertformen und Speerformen und Helmformen oder manchmal die Formen von Federn oder Glocken oder Mützen.

Meine Lektorin hat es mir nie gesagt, und ich werde sie nie danach fragen, doch glaube ich, dass sie allein in ihrem Zimmer schläft. Jede Nacht wird sie nur durch Gerüche aufgeweckt, meine ich. Jeden Tag auf ihrer Traum-Prärie springen zahllose Blüten, die fast kaum zu sehen sind, an den Enden von Gräsern auf. Jede Blüte verstreut Partikel und Tröpfchen in der Luft. Jede Nacht hat die Luft von Ideal den Geschmack der inneren Teile von Blüten, und jede Nacht nimmt meine Lektorin in ihrem Zimmer diese reichhaltige Luft in ihre Kehle auf.

Du musst bemerkt haben, Leser, dass ich nicht leichthin über die Gerüche von Dingen schreiben kann. Ich wurde mit einer seltsamen Fehlbildung geboren: Meine Nase hat kein Riechvermögen.

Der Wind in meinem Gesicht mag unmittelbar zu mir von den Hügeln und Tälern feuchten Dungs gekommen sein, wo die weiblichen Farmarbeiter die Überreste aus meinen Viehställen aufgehäuft haben. Oder der Wind kommt von den Rosen auf den vielen Bogengängen über den gewundenen Pfaden zu meinem Zierteich. Doch erhalte ich von dem Wind keinen Hinweis auf Dung oder Rosen. Ich verspüre nur den Ansturm und das Wehen der Luft, und ich denke bloß an die Weite des Landes, das die Luft überquert hat, bevor sie mich erreicht.

Sollte ich meiner Lektorin schreiben, ich hätte an Gerüchen auf dem Großen Alföld Gefallen gefunden, würde ich sie täuschen. Doch gebe ich vor, sie zu verstehen, wenn sie schreibt, ihr Zimmer sei die ganze Nacht über mit der Süße eines Geruchs von ihrer Traum-Prärie gefüllt gewesen.

Das offizielle Organ des Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies heißt Hinterland. Das erste Heft von Hinterland hatte schon lange erscheinen sollen. Anne Kristaly Gunnarsen sagt mir, das Erscheinen hätte sich deshalb verzögert, weil die Stelle des Chefredakteurs noch nicht besetzt worden war und weil Wissenschaftler und Autoren sich nicht über die Zielsetzung des offiziellen Organs des Instituts einig waren.

Ich weiß nicht, wer letztendlich das Institute of Prairie Studies leitet. Ich hatte immer geglaubt, dass meine Lektorin, mit all ihren Grasländern vor ihren Fenstern und all diesen Büchern auf ihren Regalen, wenige Leute über sich hatte. Doch manchmal schreibt sie, sie müsse Eindruck auf gewisse Menschen machen, sie umwerben und ihnen schmeicheln, weil es eine Herzensangelegenheit für sie sei, Chefredakteurin von Hinterland zu werden.

Im Augenblick steht es Anne Kristaly Gunnarsen frei, Artikel zur Veröffentlichung zu erbitten. Ich glaube, dass ihr Ehemann aus dem Kreis seiner Wissenschaftskollegen für einen Teil dessen sorgt, was sie benötigt. Und jeden Tag schickt ein Student der Präriekunde oder ein Autor, dem sie noch nie begegnet war, aus einem fernen Staat Amerikas ein dickes Päckchen mit maschinengeschriebenen Seiten und überraschenden Fotos, in der Hoffnung, ihre Gunst zu gewinnen.

Tage und Nächte sind vergangen, seit ich auf diesen Seiten zu schreiben begann. Du brauchst nicht zu fragen, Leser, was in diesem Haus oder auf meinen Ländereien oder irgendwo im Komitat Szolnok geschehen sein mochte, während ich bei meinem Schreiben war. Ich habe eine Frau, die ebenfalls in diesem Haus lebt, zusammen mit meiner jüngsten Tochter. Ich habe Gesinde und Tiere und Farmarbeiter und Felder und Viehweiden. Doch waren mir diese stets nicht ganz wirklich erschienen.

Ich habe viel von meiner Lebenszeit mit der Beobachtung weißer oder grauer Wolken verbracht, die über mein Flachland trieben, während ich davon träumte, an einem bedeutungsvolleren Ort als dem Komitat Szolnok bekannt zu sein. Eine andere Sorte Mensch – mein Vater, der jung starb, oder mein Großvater, der diese Bibliothek gründete – mochte von einem Buch geträumt haben, das auf seinem Rücken oder auf einigen seiner Seiten seinen Namen trug. Doch der Anblick dieser Bücher um mich herum vergrößert nur meine Schwere. Wer könnte wollen, dass sein Name oder seine Erzählung in einem Buch begraben ist? Jahreszeiten und ganze Jahre gehen vorüber und dieser Bücherraum bleibt menschenleer – bis auf mich selbst und eine junge Bedienstete, die jede Woche unauffällig kommt und den Staub von den verschlossenen Glastüren vor den Regalen wischt.

Niemand schließt die Glastüren vor meinen Büchern auf, aber manchmal stand ich vor dem Glas und fragte mich, was hinter all diesen matt getönten Buchrücken und Buchumschlägen liegt. Spätnachmittags sehe ich manchmal in einer der Glastüren ein Bild des Fensters hinter mir. Ich sehe ein Bild von Wolken, die über den Himmel treiben, und ich denke an die weißen oder grauen Seiten von Büchern, die durch den Raum hinter Umschlägen und Buchrücken treiben. Wolken treiben über den Himmel, und die Seiten von Büchern treiben durch die Bibliotheken von Herrenhäusern. Wolken und Seiten treiben durch den großen Alföld und weiter auf die Himmel und Bibliotheken anderer Länder zu. Und andere Wolken und andere Seiten treiben über die Ebenen der Welt auf die Himmel und Bibliotheken des Komitats Szolnok zu.

Doch diese Seiten liegen sicher auf meinem Tisch. Dies sind nicht die dahintreibenden Seiten von Büchern. Meine Seiten werden nie über die Himmel in den Bibliotheken dieses Landes oder eines anderen Landes treiben. Ich schreibe nicht auf Wolken. Ich schreibe nicht auf Buchseiten. Ich schreibe meiner Lektorin. Ich schreibe einer lebendigen Frau.

Ich habe unter den Blättern auf diesem Tisch nach den Briefen gesucht, die Anne Kristaly Gunnarsen an mich geschickt hat. Ich würde heute gern den Brief meiner Lektorin wiederlesen, in dem sie mich bittet, ihr einige dieser Seiten zuzusenden.

Schreiben Sie mir, schrieb meine Lektorin. Schicken Sie mir Ihre Sätze, Ihre Seiten, Ihre Geschichten über das Große Alföld. Schreiben Sie, was für meine Zukunft im Calvin O. Dahlberg Institute entscheidend sein könnte.

Bevor ich diesen Text begann, verweilte ich an vielen Tagen in meiner Bibliothek und beobachtete die vorbeitreibenden Wolken und dachte an den jüngsten Brief meiner Lektorin an mich. Ich wollte das Vergnügen verlängern, eine junge Frau in Amerika zu haben, die so begierig war, meine Seiten zu lesen.

Ich vermutete, das Gerangel um die Stelle des Chefredakteurs von Hinterland war erbitterter geworden. Ein mächtiger Mann im Institute of Prairie Studies war wohl auf den Schreibtisch von Anne Kristaly zugegangen und hatte sich zwischen meine Lektorin und das Fenster gestellt. Der Mann hatte Anne Kristaly Gunnarsen gewarnt, dass Leute, die künftig in Hinterland lasen, nach Seiten suchen würden, die Männer aus Prärien und Ebenen den jungen Frauen, die deren Lektorinnen und Übersetzerinnen waren, zugeschickt hatten.

Dann war, wie ich vermutete, der mächtige Mann aus dem Institute of Prairie Studies zu dem Fenster gegangen und hatte hinausgestarrt, über die sanften Täler, wo Beinwurz und Präriegras wuchsen. Wenn irgendein Mann im Institute of Prairie Studies jemals von einem Mann wie mir hier im Komitat Szolnok auf dem Großen Alföld geträumt haben könnte, dann hätte der Mann, der durch die Fenster starrte, durch die Anne Kristaly Gunnarsen so oft starrte, in diesem Augenblick von mir geträumt.

Doch kann ich nur vermuten, der Mann am Fenster würde Anne Kristaly Gunnarsen gesagt haben, dass er gerade an die Seiten von Hinterland dachte. Er dachte daran, wie er selbst die Seiten von Hinterland betrachtete und an Grasländer fernab von Amerika dachte, und auf diesen Grasländern an Herrenhäuser und in jedem dieser Herrenhäuser an einen Mann, der allein an einem Tisch in einer Bibliothek saß, mit einem Schiebefenster, das manchmal leise im Wind bollert.

Danach würde der Mann, der Anne Kristaly Gunnarsen gewarnt hatte, nacheinander in die Räume ihrer Rivalen gehen und sie auf die gleiche Weise warnen. Dann würde der Mann, von dem ich nur geträumt habe, zurück zu seinem eigenen Raum hoch oben im Institute of Prairie Studies gehen und zu seinem Fenster schreiten und auf dieselbe Prärie starren, auf die Anne Kristaly Gunnarsen so oft starrte, außer dass er von seinem hohen Fenster aus ein wenig mehr Grasland sehen könnte, als sie sehen konnte, und vielleicht eine Baumreihe in der Entfernung.

Jetzt verweilen wir alle drei in unseren Räumen. Der Mann im Calvin O. Dahlberg Institute starrt aus seinem Fenster und wartet, dass Anne Kristaly Gunnarsen mit einem Stapel Blätter in ihren Händen zu ihm kommt. Anne Kristaly Gunnarsen starrt selbst hinaus, auf den Ort, den sie ihre Traum-Prärie nennt. Sie denkt an ein rotes Dach inmitten grüner Baumwipfel; an den weißen Schimmer von Sonnenschein auf einem See; an Pfade, die sich unter Rosenlauben und vorbei an Beeten mit Canna und Agapanthus schlängeln. Und sie wartet, dass meine Seiten zu ihr kommen.

Ich selbst tue einfach das, was ich schon beschrieben habe. Ich sitze an diesem Tisch und schreibe bisweilen ein wenig oder ich träume von mir, wie ich schreibe.

Ich habe über mich selbst geschrieben, wie ich von dem Calvin O. Dahlberg Institute of Prairie Studies träumte, wo ich doch über meine Lektorin geschrieben haben sollte, die mich bittet, ihr zu schreiben.

Bevor ich an diesen Seiten zu schreiben begann, dachte ich an manchen Tagen, ich würde meine Lektorin einen Preis für meine Seiten zahlen lassen. Ich würde sie zwingen, Fragen zu beantworten, die ich schon seit vielen Jahren hatte stellen wollen. Ich würde sie über das Jahr befragen, als sie von einem Kind zu einer jungen Frau wurde. Ich würde sie über den jungen Mann befragen, der als Erster ihre Kleidung aufknöpfte, in dem Bezirk, wo der Sio und die Sarviz nebeneinander flossen. Ich würde sie fragen, an was von dem jungen Mann sie sich erinnerte, wenn die Brise nachts von ihrer Traum-Prärie hereinwehte.

Wenn Anne Kristaly Gunnarsen einen Brief signiert, reicht ihr Name weit über die Seitenmitte hinaus. Wenn ich lange genug ihren Namen betrachte, werden all ihre »n« und »s« zu Grashalmen, und alle Grashalme neigen sich, als wehte ein Wind über sie. Wenn ich auf eine Seite von Anne Kristaly Gunnarsen starre, kann ich sehen, wie Worte sich in Gras verwandeln – langes, seidiges Ungarngras, das meine Schenkel berühren würde, wenn ich es durchschritte; kurzes und sprödes amerikanisches Gras, das ich niedertrampeln könnte; und tief unten das Gewirr von Stängeln, Beinwurz oder Aronia oder kleine rote oder blaue Blüten, die in ihrer Sprache oder meiner keinen Namen haben.

Wenn ich mich heute an die Schrift der Person erinnere, die mich zu schreiben bat, sehe ich die Federstriche von jemandem, der kaum je von Grasländern träumt.

Ich denke an Gunnar T. Gunnarsen, Prärie-Wissenschaftler. Ich denke an den gestrengen Schweden, der sich mit seiner kalten Haut jede Nacht an meine warme und nervöse Lektorin klammert. Er glaubt, dass seine Frau in all diesen Jahren ein Geheimnis aus Transdanubien, dem Land ihrer Geburt, verborgen gehalten hat. Er hat die Grashalme und blühenden Sträucher auf der Traum-Prärie von Anne Kristaly Gunnarsen gezählt, doch argwöhnt er, dass seine Frau einst mit mir zwischen der Sio und dem Sarviz stromerte, und er möchte wissen, welche Geheimnisse Anne Kristaly mit mir teilt, die sie nicht mit ihrem schwedischen Ehemann teilen wird.

Und jetzt hat der Prärie-Wissenschaftler einen Brief mit dem Namen seiner Frau signiert, der mich bittet, ihr einige Seiten aus dem Großen Alföld zu schicken. Er gibt vor, meine Lektorin und Übersetzerin zu sein, auf dass ich ihm über einen zwischen Steinen rieselnden Bach schreiben werde, über Libellen, die über Schilf schweben, Gewitterwolken, die sich hinter Pappeln ballen, eine junge Frau neben mir im Gras … Aber wenn ich über solche Dinge schreibe, werden keine Briefe mehr aus Amerika zu mir kommen. Gunnar T. Gunnarsen wird einen Brief an Anne Kristaly Gunnarsen mit meinem Namen signieren. Der Brief wird meiner Lektorin erzählen, dass ich gestorben und in dem Bezirk begraben sei, wo ich geboren wurde; dass ich unter dem Gras des Großen Alföld liege und unter den wehenden Wolken.

Jetzt, nachdem ich dies geschrieben habe, stelle ich fest, dass der Ehemann von Anne Kristaly immer gewünscht hat, ich sei tot. Ich sehe ihn, auf der Traum-Prärie von Anne Kristaly zwischen Hexenzwirn gekauert und mich hassend, weil ich ihn sehe und er mich nicht sehen kann.

Meine Lektorin wird den Brief in aller Ruhe lesen, doch danach wird sie sich den ganzen Nachmittag an ihren Schreibtisch setzen und eine Anzeige verfassen, die auf den hinteren Seiten von Hinterland erscheinen soll, zwischen Rezensionen von Büchern über Kindheiten, die Hunderte von Meilen von Meeresküsten entfernt verbracht werden, Anzeigen für Ferien in Häusern mit Hunderten von Fenstern, die ebenes Land überblicken, Gesuche nach männlichen oder weiblichen Gefährten für Expeditionen zu fernen Winkeln Amerikas, Gesuche nach Brieffreunden, nur weiblichen, aus entlegenen Bezirken, Ebenen oder sanfte Hügel bevorzugt, definitiv keine Berge oder Meeresküsten …

Ich habe einen ganzen Nachmittag mit dem Abfassen der Anzeige verbracht, die Anne Kristaly Gunnarsen auf die hinteren Seiten ihrer Zeitung setzen wird.

Ich habe versucht, etwas von mir selbst in die folgende Passage einzufügen.

todesanzeige

Auf seinem Familiensitz im Komitat Szolnok auf dem Großen Alföld verstarb kürzlich in aller Stille ein Landedelmann, der zeit seines Lebens, das er fast gänzlich in der Abgeschiedenheit seiner ererbten Bibliothek oder auf einsamen Spaziergängen durch den ausgedehnten Park und durch Gärten verbrachte, die sein Großvater angelegt hatte, ein derart drückendes Geheimnis bewahrte, dass kein Romanschriftsteller es wagen würde, dieses einer seiner Figuren auf die Seele zu binden, aus Angst vor Spott.

Der Landedelmann schwärmte in besonderer Weise für die Literatur und die Flora anderer Nationen. Seine Bediensteten sprechen bewundernd davon, wie er lange Zeit vor den Regalen seiner Bibliothek oder inmitten der geballten Darbietungen seiner exotischen Blüten zu stehen pflegte. Seine Liebe zu Büchern ist schlankweg als das geistige Reisen eines Mannes zu verstehen, der sich aus persönlichen Gründen in den Mauern seines herrschaftlichen Parks eingeschlossen hatte. Was sein Botanisieren betrifft, so war der Edelmann oft mit der Beteuerung zu hören, er liebe seine Pflanzen dafür, was er gern ihre Beständigkeit nannte.

Himmel, Landschaften, sogar die vertrauten Giebel und Türmchen, die wir am Ende jeder Heimreise erblicken, und nicht minder die Gesichtszüge und die Gesten unserer Lieben – all dies verändert sich derart oder wurde mit der Zeit verändert, sodass niemand von uns sagen kann, was das wirkliche Erscheinungsbild der Person oder der Sache ist, die er liebt. Doch unfehlbar in jedem Jahr entfalten sich auf einem bescheidenen Strauch oder Busch, auf den wir als schüchterne oder einsame Kinder zum ersten Mal spähten, Blütenblätter der genauen Farbe und Form und genau in der gleichen Zahl und genau an den Stellen rings um den Blütenrand wie von alters her, und wir erkennen, dass zumindest etwas von alldem, das wir geliebt haben, uns die Treue gehalten hat.

Diese Gefühlsregungen eines berühmten ausländischen Schriftstellers, dessen Werke in Übersetzungen ganz bestimmt die Regale der Bibliothek des Landedelmannes geschmückt haben, könnten gut von dem Landedelmann selbst geschrieben worden sein, und zwar, um zu erklären, warum er sich oftmals in die Tiefen seines Gartens zurückgezogen hat. Warum er sich derart bemühte, vor seinen Augen das Bild seines früheren Lebens erstehen zu lassen, mögen wir zu fragen zögern. Doch etwas von seiner geistigen Verfassung an manch einem Nachmittag inmitten seiner stillen Alleen können wir aufgrund des Berichts einer Zeugin vermuten. Es handelte sich um eine junge Frau, eine Bedienstete und Angehörige einer Familie, die sich später nach Amerika aufmachte. Gerade zur Todeszeit des Landedelmannes konnte die Frau die lebendige Beschreibung eines Anblicks geben, der ihr viele Jahre zuvor zu Augen gekommen war. Mit ihren eigenen schmucklosen Worten:

In jenen Tagen führte mich einer meiner üblichen Wege an einer Ecke des großen Parks vorbei, wo die Ziegelsteinmauer auf einem beträchtlichen Stück Platz für aufrechte Metallspitzen machte. An dem fraglichen Nachmittag wurde mein Blick durch eine Zone von ungewöhnlich lebendiger Farbe eingenommen, die ein kleines Stück hinter dem Zaun lag. Ich presste mein Gesicht gegen das aufrechte Metall. (Es war unerwartet warm, und ich beobachtete zu diesem Zeitpunkt, dass entweder die Nachmittagssonne viel stärker war, als ich erwartet hatte, oder dass die langen Stäbe für eine überraschend lange Zeit die Mittagshitze speicherten.) Als ich dann in Richtung der auffälligen Farbe blickte, sah ich, dass sie von einem dichten Büschel der Blüten herrührte, die in meiner Muttersprache Tigerlilie heißen.

Die Blüten schienen zunächst so dicht angehäuft, dass es war, als beobachte ich ein einziges Gewebe, bestehend aus Hunderten zusammengenähten Blütenblättern. Und zunächst schien das starke Leuchten, das mich angelockt hatte, daher zu kommen, dass alle Blüten für diesen kurzen Zeitraum die waagerechten Strahlen der fast untergegangenen Sonne eingefangen hatten.

Doch schon bald beobachtete ich, dass es in dem Flickenteppich aus Blütenblättern, obwohl er einheitlich lilienfarben war, immer noch eine kleine Zone gab, die in merkwürdigem Kontrast zu ihrer Umgebung stand. Dieser kleinen Zone fehlten völlig die winzigen braunen Sprenkel und Flecken, die auf Tigerlilien den Sommersprossen auf goldener Haut derart ähnlich scheinen. Das fleckenlose Gebiet schien deshalb seltsam, weil es der einzige Teil des Gewebes war, der keine Ähnlichkeit mit Haut hatte. Und doch war gerade er Haut: das Gesicht eines glattrasierten Mannes, dessen Haar von der Stirn zurückwich und dessen Blick gesenkt war.

Auch wenn meine Familienangehörigen Farmarbeiter waren, wusste ich durchaus über die Sitten der Landedelleute Bescheid. Meine Mutter hatte es in ihrer Jugend mit der Familie zu tun gehabt, deren Oberhaupt mir nun sein Haupt in einem Lilienbeet zeigte. Ich wusste, dass es die Höflichkeit für mich gebot, keine Überraschung oder Besorgnis darüber kundzutun, unseren Grundbesitzer bei einem privaten Ritual in einer natürlichen Umgebung angetroffen zu haben. Gewiss blickte ich an den grimmigen, spitzen Zaunpfosten nach oben, die den Weg zur Domäne meines Dienstherrn versperrten, und erschauderte beim Bild der Pfählung, das mich ankam. Dennoch spürte ich, dass der Dienstherr meine Anwesenheit gewahrte, ohne dass er gerade jetzt geneigt war, mich zu vertreiben. Ich hatte seine Augen nicht wirklich auf mir ruhen gesehen, doch war ich irgendwie überzeugt, dass er mich beobachtet hatte – und nicht nur an diesem Nachmittag, sondern vielleicht auch an früheren Tagen, wann immer ich auf diesem Weg entlangkam. Ich heftete daher meinen Blick auf ein blasses und irgendwie runzliges Rosa, von dem ich annahm, es sei das über einem Augapfel meines Dienstherrn gesenkte Lid, und ich erwartete zu hören, was er von mir wollte.

Ich hatte nicht lang auf meinen Dienstherrn geblickt, als die Sonne jäh unter den westlichen Horizont sank, woraufhin ich bemerkte, dass trotz des raschen Dahinschwindens des Goldes und des gesprenkelten Brauns von den Blütenblättern der Lilien, auf dem Gesicht in ihrer Mitte ein leichtes Erröten oder Erglänzen fortdauerte. Ich beschloss, mich an Ort und Stelle so lange zu beschäftigen, wie mein Dienstherr immer noch Anstalten machte, sich an mich zu wenden, und spekulierte dabei auf die Verfassung seines Herzens, des Herzens eines Mannes, dessen Gesicht solch ein Licht …

Ich brauche dies nicht weiterzuschreiben. Anne Kristaly Gunnarsen wäre in der Lage, den Text passend zu beenden. Sie würde schreiben, dass der Mann sein Gesicht so lange zum Horizont hielt, bis die letzte Farbe vom Himmel gewichen und die lange Stange über dem Brunnen im Mittelgrund ganz verschwunden war. Sie würde schreiben, was der Mann der jungen Frau schlussendlich gesagt und was die junge Frau geantwortet haben könnte. Sie würde wissen, wie das tiefe, schwarz umrandete Rechteck, unter dem Foto von meinem Familienfriedhof, an einer unauffälligen Stelle von Hinterland mit Worten zu füllen war.

Meine Lektorin hat nie ein Foto von mir gesehen. Ich habe sie nicht an den Altersunterschied zwischen ihr und mir erinnern wollen. Doch ich bin im Begriff, ihr ein Bild meines Familienfriedhofs zu schicken. Ich werde ihr das Bild nicht wegen der Grabsteine und der darauf eingravierten Namen schicken, sondern weil ich glaube, dass meine Lektorin auf Friedhöfen manchmal ein paar Grasstängel oder eine kleine blühende Pflanze findet, die einst dort gedieh, wo heute Farmen und Dörfer und Städte stehen. Auf manchen Friedhöfen in Amerika kann eine ungemähte Grasfläche zwischen zwei Grabsteinen die einzige Stelle in der ganzen Gegend sein, wo die gleichen Pflanzen wachsen, und zwar in der gleichen Menge, wie sie an dieser Stelle wuchsen, lange bevor meine Lektorin und ich geboren wurden.

Anne Kristaly Gunnarsen besucht manchmal diese Friedhöfe. Keine Schwere lastet auf ihr, während sie zwischen den Steinen geht. Wenn sie kniet und ihr Gesicht dicht am Erdboden hat, sieht sie das, was mit gutem Grund jungfräuliche Prärie sein kann. Wenn sie an ihr eigenes Sterben denkt, ist ihr nicht bang. Selbst wenn sie stirbt, denkt sie, werden einige Menschen, die ihr einst schrieben, weiterschreiben.

Ich denke heute darüber nach, was aus den Seiten von Hinterland in all den Jahren wird, in denen meine Lektorin mich für tot hält. Ich bin darauf gefasst, dass meine Lektorin mich für tot hält, doch frage ich mich, was aus all den Seiten wird, die ich ihr schicken wollte. Anne Kristaly Gunnarsen schrieb mir einst, dass sie meine Seiten den Männern und Frauen vor Augen führen würde, die das Große Alföld nie gesehen haben und es nie sehen werden, doch die, durch den Vorhang des fallenden Regens, voll Verzückung den Duft unsichtbarer und doch dauerhafter Blumen mit traurig klingenden ungarischen Namen zu atmen wünschen.

Ich bin bereit weiterzuschreiben, obwohl meine Lektorin mich für tot hält. Aber wenn ich meine Seiten in einem Päckchen nach Amerika schicke, wird sich der Anführer einer Bande von Wissenschaftlern meine Seiten packen, bevor sie den Schreibtisch meiner Lektorin erreichen.

Der schwedische Wissenschaftler hat mich immer gehasst. Er kommt mit großen Schritten aus den Falten der Traum-Prärie meiner Lektorin hervor und schreitet auf die Treppe aus grauem Marmor zu, dann die Treppe hinauf und zwischen die Säulen aus weißem Marmor und unter die eingravierten goldenen Buchstaben: CALVIN O. DAHLBERG INSTITUTE OF PRAIRIE STUDIES, dann hinein durch die hohen Türen aus schwarzem Glas. Er geht weiter mit großen Schritten über geranienroten Teppich und zwischen grünen Blättern eingetopfter Palmen. Er tritt in den Aufzugskorb. Das Dienstmädchen, in grüner oder brauner Livree mit himmelblauem Aufputz, schaut scheu auf zu den eisblauen Augen. Sie drückt einen Knopf aus Messing oder Bronze, und der Korb wird von Kabeln aufwärts gezogen. Der Wissenschaftler und das Dienstmädchen stehen in dem Käfig weit auseinander, doch sein Körper und ihr Körper schwanken und erschaudern im Einklang, ziehen vorbei an Stockwerk um Stockwerk in Geranienrot und an Fenstern um Fenstern mit Anblicken von weiterem und weiterem Land.

Mein Feind geht in langen Schritten über die alleroberste Schicht Geranienrot. Die Fenster in seinem Rücken zeigen echte und falsche Prärien der Great Plain von Amerika, und in der größten Entfernung ein weißes Gebäude mit einer goldenen Kuppel in der Stadt Lincoln im Staat Nebraska. In dem Kronleuchter über ihm scharen sich die Prismen und Zylinder aus Glas wie die Wolkenkratzer auf der Insel Manhattan. Mein Feind schreitet in Richtung einer Tür, deren Milchglasscheibe das Wort HINTERLAND in Blattgoldprägung trägt.

Ein Boy-Mann, in dunkelgrauer Livree mit Goldbesatz und mit einem seltsam abgeflachten Hut, taucht um eine Ecke auf und hält in raschem Paradeschritt auf dieselbe Tür zu, der sich mein Feind nähert. Der Boy-Mann hält seine rechte Hand nah an seinem rechten Ohr, wobei sein Handteller nach oben zeigt und seine Finger gespreizt sind. Die gespreizten Finger tragen ein silbernes Tablett. Auf dem Tablett liegt ein Päckchen in Packpapier mit kunterbunten Briefmarken, die wie militärische Orden aufgereiht sind.

Der Boy-Mann ist mit einem Vorsprung von fünf Schritten als Erster an der Tür. Er streckt seine linke Hand in Richtung eines Knopfs in einer kreisförmigen Vertiefung neben der Tür. Gunnar T. Gunnarsen erreicht die Tür. Er packt das linke Handgelenk des Boy-Mannes mit seiner braunen rechten Hand und flüstert eine Anweisung.

Der Boy-Mann macht keine Anstalten, der Anweisung Folge zu leisten. Der hochgewachsene Schwede bewegt auch seine braune linke Hand zum linken Handgelenk des Boy-Mannes, packt dann das schwache Handgelenk und dreht seine Hände in entgegengesetzten Richtungen um das Handgelenk. Der Schwede macht mit dem Boy-Mann das, was amerikanische Kinder als »Brennnesseln« bezeichnen.

Der Boy-Mann biegt seinen Körper heftig nach hinten. Das Silbertablett und das dekorierte Päckchen fallen auf den Teppichboden. Nichts prallt auf; alles fällt weich. Das Geranienrot ist tief und nachgiebig.