Landschaft mit Landschaft - Gerald Murnane - E-Book

Landschaft mit Landschaft E-Book

Gerald Murnane

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Beschreibung

Ein Mann soll vor einem komplett weiblich besetzen Komitee die Wahrheit über sein Intimleben aussagen, doch je mehr er sich anstrengt, desto unrettbarer verheddert er sich in seine Fantasien und Träume. Ein anderer Mann sucht im Hügelland rings um die Metropole über zwanzig Jahre lang wie besessen nach einer Landschaft und einer Frau, die kein Künstler zu malen vermöchte. Ein Dritter – oder ist es ein- und derselbe Mann? – sabotiert sich auf Partys selber mit Drinks, bei dem Versuch, Frauen nachhaltig zu beeindrucken, indem er ihnen minutiös seine neueste Theorie des Schreibens auseinandersetzt.
Niemals ist pointierter, hellsichtiger, aberwitziger über männliche Befangenheiten geschrieben worden – Landschaft mit Landschaft, das sind weitreichende, bewusstseinserweiternde Erkundungen von Gegenden, inneren wie äußeren Gegenden, in denen wir eigentlich noch nicht gewesen sind.

In kräftig erzählten, raffiniert ineinander greifenden Geschichten unternimmt Gerald Murnane, „der große Solitär der Gegenwartsliteratur“ (The New Yorker), eine Reise durch die Vororte Melbournes in den frühen sechziger Jahren. Und umkreist dabei die miteinander kollidierenden Bedürfnisse nach Katholizismus und Geschlechtsverkehr, Autonomie und Intimität, Alkoholexzess und Literatur.

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Seitenzahl: 490

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Gerald Murnane

Landschaft mit Landschaft

Aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt

Suhrkamp Verlag

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Landschaft mit sommersprossiger Frau

Die Essenz schlürfen

Die Schlacht von Acosta Nu

Ein stillerer Ort als Clun

Charlie Schwarz' Schwanz

Landschaft mit Künstler

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Landschaft mit sommersprossiger Frau

Ich war der einzige Mann unter neun Frauen. Zusammen bildeten wir ein Komitee von zehn, und ich war der Schatzmeister. Ich saß neben der Vorsitzenden und der Sekretärin, die sieben anderen mir gegenüber. Mir war nicht wohl.

Ich kannte keine der Frauen, auch wenn alle in meinem Vorort wohnten. Die einzige, die ich mit Namen kannte, war die Vorsitzende. Sie hatte mich ein paar Stunden zuvor angerufen, vor dieser ersten Sitzung des Komitees, und mich überredet, als Schatzmeister zu fungieren. Dann hatte sie mich gebeten, ihr etwas über mich zu erzählen, damit sie mich bei der Sitzung angemessen vorstellen könne. Und die Wärme in ihrer Stimme hatte mich veranlasst, mehr zu sagen als beabsichtigt.

Als ich am Tisch saß und darauf wartete, vorgestellt zu werden, warf ich reihum kurze Blicke auf jedes Mitglied des Komitees. Ich versuchte, meine Blicke so zu bemessen, dass jede Frau den gleichen Anteil bekam. Wenn aber eine meinem Blick begegnete, schaute ich gelassen weg. Ich wollte nicht in einen langen Blickwechsel verwickelt werden wie eine Figur in einem der Filme, die, wie ich vermutete, die Frauen jeden Abend sahen. Wenn mich jedoch die Vorsitzende vorstellte und die anderen erfahren würden, dass ich ein Schriftsteller war, wünschte ich, dass jede Frau sich fragte, ob ich sie wohl schon eine Zeitlang in Ruhe beobachtet hatte, bevor sie mich dabei ertappte.

Die Frauen waren alle ein paar Jahre jünger als ich – in den frühen oder mittleren Dreißigern. Doch waren sie nicht zu jung, um fünfzehn oder zwanzig Jahre zuvor die jungen Frauen gewesen zu sein, die ich dadurch zu beeindrucken versucht hatte, dass ich ihnen erzählte, ich sei angehender Schriftsteller. Diese jungen Frauen hatten immer dann das Zuhören eingestellt – manchmal aus Höflichkeit, manchmal nicht –, wenn ich einen bestimmten Grad an Trunkenheit erreichte und lange, ausgefeilte Sätze begann, die ich dann nicht beenden konnte. Doch war ich nie gänzlich entmutigt, wenn eine junge Frau sich abwandte und mich meinem Selbstgespräch überließ; sie war eine weitere der vielen, die mir Jahre später begegnen mochten und erfuhren, dass ich am Ende doch ein publizierter Autor geworden war, und bedauerten, mir nicht genauer zugehört zu haben.

Selbst wenn ich als junger Trinker banale Träume zu meiner Rechtfertigung ersann, hatte ich keinen Grund zu glauben, eine Frau könne sich zehn oder zwanzig Jahre lang an etwas erinnern, das sie eines Abends in der Ecke eines überfüllten Raums gehört hatte. Doch manchmal, nachdem ich besonders beredt geklungen und nachdem ich etwas mehr als Duldung im Blick der jungen Zuhörerin gesehen hatte, glaubte ich, sie könnte weggegangen sein und sich zumindest ein Wort eingeprägt haben. Irgendwo in Melbourne muss es, so entschied ich im Raum des Komitees, eine Frau gegeben haben, die sich an mich als den Mann erinnern würde, der über seine Landschaft sprach.

Mir wäre es lieber gewesen, diese Frau hätte sich nicht genau an das erinnert, was ich ihr einst über meine Landschaft erzählt hatte. In meinen damaligen Notizbüchern brüstete ich mich, ich hätte das Vorrecht, zu sehen, was sonst niemand sehen könnte: dass ich als Schriftsteller bloß die weitreichenden Ausblicke und die komplizierte Topografie zu beschreiben brauchte, die ich fortwährend vor Augen hatte: dass ich nicht auf die sogenannten wirklichen Leute neugierig sein musste, da ich bereits gewisse undeutliche Gestalten in meiner Landschaft aufgespürt hatte. Fast zwanzig Jahre später wäre ich zufrieden, hätte die Frau zugegeben, dass ich die Jahre über einfach etwas mehr gesehen haben könnte als jemand wie sie.

Es war Zeit, dass die Vorsitzende mich förmlich begrüßte. Ich bereitete mich darauf vor, so lange mit gesenktem Blick dazusitzen, wie ich der Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit war. Als Letztes sah ich von meiner Umgebung, dass die Vorsitzende bei Nennung meines Namens in ihrem Sessel hin und her rückte. (Fragte sie sich bereits, wo sie mir vorher begegnet sein und sich von mir abgewandt haben könnte?)

Die Vorsitzende bemühte sich um ein wenig Humor. Sie sagte, es sei eine Ehre für sie, diesmal einen Mann in ihrem Komitee zu haben: eine Rose inmitten der Dornen, um es so auszudrücken. Seinetwegen würden sie sich bemühen, bei ihren Sitzungen geschäftsmäßiger zu sein und nicht zu viel zu tratschen. Dann sagte sie, wobei sie ernsthafter zu klingen versuchte, ihr neuer Schatzmeister wünsche genau so einbezogen zu werden wie die Damen des Komitees. Er stehe jederzeit tags oder abends zur Verfügung, wenn irgendein Komiteemitglied ihn dringend benötige.

Wenn sie dabei stockte, war es vielleicht nur für mich wahrnehmbar. Und ohne aufzublicken, konnte ich nicht sagen, ob sie im Mindesten verlegen oder verwirrt war oder ob andere in ihren Sesseln hin und her gerückt waren oder schwach gelächelt hatten. Die nächsten Worte der Vorsitzenden jedoch beunruhigten mich mehr. Ihr Schatzmeister sei, so sagte sie, deshalb verfügbar, weil er den ganzen Tag zu Hause arbeite. Er sei Schriftsteller. Er arbeite gerade intensiv an einem Buch, und es könne sich erweisen, dass es von einem Vorort handle, der ganz ihrer eigenen kleinen Ecke der Welt gliche.

Das wäre nun der Zeitpunkt für mich gewesen, meinen Kopf kühn zu heben und durch ihre Gesichter hindurch in Richtung eines Gegenstands der Fiktion zu blicken, der sich ihrer Sicht entzog. Doch mir gelang nur ein Blick, der den Abstand zwischen den Frauen und mir nicht ganz überbrückte. Und während die Vorsitzende über andere Dinge weiterredete, konnte ich mich nur fragen, ob die Frauen, die mich für den Rest des Abends kurz betrachteten, einen Mann sahen, dessen Auge weit über die Welt geschweift war, der aber jetzt lieber zu eigenen Zwecken ihre stillen Straßen erforschte, oder einen Mann, der in der Welt im Ganzen etwas verfehlt hatte und nun bescheiden hierher kam, um von ihnen zu erfahren, was sie den ganzen Tag lang jenseits ihrer Küchenfenster sahen oder im Grau ihrer Fernsehapparate, spätabends, nachdem das letzte Bild zu Nichts geschrumpft war. Und ich fragte mich auch, wie ich mich oder das Buch, das ich angeblich verfasste, hätte beschreiben können: ob ich immer noch behaupten könne, das, was vor meinen Augen vorbeizog, verdiene es, von dem unterschieden zu werden, was andere die Welt nannten, oder ob ich nur das Wort »Landschaft« benutzt hatte (und immer noch gelegentlich zu ihm griff), um mich darüber hinwegzutrösten, dass ich partout nicht sah, was andere ganz deutlich sahen.

Irgendwann während des Abends ertappte ich mich dabei, wie ich auf zwei Sommersprossen starrte, die eine der Komiteefrauen an der Unterseite des Halses hatte. Ich nannte die braunen Male zwar Sommersprossen, doch verwechselte ich sie nicht mit den gewöhnlichen Flecken, die das Sonnenlicht auf zumeist blassen Gesichtern und Unterarmen hervorruft. Die Frau war unter ihrer Kehle von den dunkelbraunen Leberflecken gezeichnet, die gelegentlich auf den am wenigsten der Sonne ausgesetzten Körperteilen auftauchten. Ich zog es vor anzunehmen, diese Male seien nicht durch Sonnenlicht verursacht, sondern wüchsen aus den Tiefen unter der Haut unausweichlich nach außen. Ihre Lage sei daher nicht das Zufallsergebnis von Wetter, sondern Anzeichen der Besonderheit eines Körpers: Sie seien Landmarken einer besonderen Haut.

Ich tat als Erstes das, was ich immer tat, wenn ich solche Male auf der Brust oder an den Beinen einer Frau sah: Ich fragte mich, wo sonst auf ihrem Körper solche Male erschienen sein mochten und in welchen Mustern. Und dann gab mir mein Blick auf die Flecken die Gewissheit, dass ich momentan eine wirkliche Frau betrachtete – ein leicht fehlerhaftes Wesen und daher nicht irgendjemandes Traum.

Den Großteil meines Lebens hatte ich, wie ich zugeben würde, von Frauen geträumt, anstatt sie anzusehen. Ich hatte sogar mehr als einmal entschieden, dass ich nur deshalb ein Schriftsteller war, weil ich eher träumte als anschaute – nicht nur Frauen, sondern auch sonst alles, was ich zu sehen behauptet hatte.

Zehn Jahre zuvor, als ich kurz vor der Hochzeit stand, war ich bereit gewesen, die Sammlung von Frauenbildern zu verbrennen, die ich in früheren Jahren aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Doch bei einigen Bildern, die meine Favoriten gewesen waren, hatte ich gezögert. Jedes Mal war es das Bild einer Frau, die zumindest eines der Male hatte, nach denen ich suchte. Ich verabschiedete mich leicht von den Frauen, die einheitlich golden oder beige waren; nur wenn ich sturzbetrunken oder verzweifelt war, hatten sie mir etwas bedeutet. Die sommersprossigen Frauen aber waren stets als mir besonders zugehörig erschienen. Ich stellte mir gern vor, dass Zeitschriftenleser diese Frauen meist überblätterten, weil ihre Flecken sie zu entstellen und aus der Welt von Satinkissen und marmornen Badewannen zu verbannen schienen. Ich wusste, dass ich die Frauen nie vermissen würde, deren Oberflächen nicht abwechslungsreicher waren als die goldenen Vorhänge und cremefarbenen Teppiche, vor denen sie posierten. Aber die Bilder der sommersprossigen Frauen wollte ich nicht zerknüllen.

Ich hatte bei diesen Frauen verweilt, weil sie bewiesen haben konnten, dass ich kein gewöhnlicher Träumer war. Andere junge Männer, Bewunderer weißer oder gebräunter Haut, vermochten nur von dem zu träumen, was sie für ideal hielten: von einem unbewölkten Himmel oder einer fleckenlosen Haut oder einem ungetrübten Lächeln. Ich als Bewunderer sommersprossiger Frauen hatte nicht deshalb zu träumen begonnen, weil mir die Welt, die ich bei Tageslicht sah, nicht ausreichte, sondern weil sie zu viel war. Selbst wenn ich nicht aufmerksam hinschaute, sah ich ihre gekräuselten und gesprenkelten und gefleckten Oberflächen als Verheißung allzu vieler Bedeutungen an. Ich hatte nie versucht, mir das Vollkommene vorzustellen, mich durch Abwandlungen, die allmählich zu einem Ideal hin verschmolzen, zu arbeiten. Ich wollte in die entgegengesetzte Richtung gehen, nämlich zwischen den sich verästelnden Kapillaren der veränderlichen Welt umherzustreifen, bis ich anstelle der Einen die Einzig-Einmalige fand. Ich wünschte, eine Frau zu besitzen (in einem unvermuteten Sinn dieses Worts), die sich vor allen anderen auf zarte und markante Weise auszeichnete.

Doch umfasste mein Träumen mehr als die Suche nach einer Frau. Ich hatte stets sorgfältig auf den Hintergrund jedes in Positur gebrachten Körpers geachtet. Gewöhnlich war es ein begrenzter Blick auf Wände oder Vorhänge oder Baumstümpfe – nichts, was die Augen des Betrachters allzu lange von der Gestalt im Vordergrund abhalten würde. Was ich suchte, doch kaum jemals fand, war ein Eingang in der Wand oder ein Fenster zwischen den Vorhängen oder ein Spalt im Blattwerk. Beim Anblick einer solchen Öffnung stellte ich mir vor, sie führe auf einen Ort jenseits der grob ersonnenen Traumländer des Durchschnittsmenschen. Der Blick in diesen Ort könnte die gleiche angenehme Verwirrung ausgelöst haben, wie wenn man in einem Traum diese Stimme sagen hört: »Bis jetzt war alles ein Traum, doch das Folgende ist wirklich.« Und in meiner Vorstellung konnte mich niemand anderes als eine sommersprossige Frau zu dem Fenster führen, das den Hof überblickt, oder zur Lichtung tief im Gehölz. Nur eine Frau mit unvorhersehbaren Malen über den Brüsten oder auf dem Schenkel hätte mich überzeugen können, dass ich bis jetzt geträumt hatte, um mich dann zu einem Ort zu führen, den sie und ich übereinstimmend als besonders wirklich ansehen konnten.

Als die namenlose Frau im Komitee ein gesprenkeltes Knie in mein Gesichtsfeld streckte oder ihr Kinn auf ein gesprenkeltes Handgelenk stützte, hätte es mir leichtfallen sollen, sie zu bewundern, wohl wissend, dass sie nicht bloß auf eine andere Frau hinwies, der ich noch begegnen sollte. Ich hätte mir in aller Ruhe sagen können, dass ich sie in den kommenden Tagen in einem Vorgarten meines Viertels wiedersehen würde. Doch konnte ich kaum vergessen, dass ich jene paar Bilder, die mir in meiner Jugendzeit die liebsten gewesen waren, am Ende noch nicht verbrannt hatte. Der schmale Folioband mit den sommersprossigen Frauen war immer noch hinten in meinem Aktenschrank. Und wann immer ich in diesem Schrank einige weitere der hunderten Seiten von aufgegebenen Entwürfen meiner Prosa ablegte, schien ich mir schreibend einen Weg zu einer Frau zu bahnen, die ich nie sehen würde, weil jede Seite, die ich mit Worten füllte, den Abstand zwischen ihr und mir nur vergrößerte.

Die Vorsitzende redete weiter über Angelegenheiten des Komitees. Die anderen Frauen sprachen hin und wieder. Ich wurde nicht gebeten, etwas zu sagen. Ich hatte alle Zeit, die ich brauchte, um meine Rede an die Frau einzuüben, von der ich erwartete, dass sie sich nach der Sitzung an mich wandte. Ich sah nichts Widersinniges in meinem Tun – mich im Innern der Szene aufhalten, von der ich fünfzehn Jahren zuvor geträumt hatte, und doch weiter von einer anderen Szene träumen, die mich schließlich in die wirkliche Welt führen würde. Ich hatte die angenehme Vermutung, gerade ein hübsches Muster zu vervollständigen, das ich oft als Gegenstand von Fiktion bewundert hatte. Ich hatte vielleicht gerade demonstrieren wollen, dass es im Innern jeder für wirklich gehaltenen Szene zumindest eine Figur gab, die sich weitere, der Wirklichkeit noch mehr annähernde Szenen ausmalte.

Die von mir für wirklich gehaltene Szene entfaltete in ihrem Innern die Landschaft, von der ich so oft gesprochen und an die ich so oft gedacht hatte. Nach der Komiteesitzung hatte mir die sommersprossige Frau eine Tasse Tee mit viel Milch gebracht, dazu einen mit Zucker gesprenkelten Keks auf der Untertasse und mich gefragt, welche Art Schriftsteller ich sei und wo ich die Gegenstände für mein Schreiben finde. Ich sagte ihr, dass die Szene, die wir gerade jetzt aufführten – dass sie sich mit solchen Fragen an mich wandte, und ich diese mit vorgetäuschter Kompetenz beantwortete – eine Szene sei, die ich mir oft als betrunkener junger Mann vorgestellt habe, der davon träumte, ein Schriftsteller zu werden. In dieser Szene, sagte ich, sei sie die gleiche Frau, die sich einst vor fünfzehn Jahren von mir abgewandt hatte. Doch natürlich habe sie, die Frau, die mit mir am Esstisch steht, mich vor heute Abend nie gesehen. Daher sei sie von nun an sowohl die Frau, die mich aus einem langen Traum aufweckte als auch (weil ich immer noch an meinem Komiteetisch saß und die Sitzung immer noch andauerte) eine Frau in einer ganz anderen Art Traum.

Der betrunkene junge Mann hatte nicht immer betrunken herumgelallt, erzählte ich der sommersprossigen Frau in einer meiner Fantasien. An vier oder fünf Tagen wöchentlich war er allein und nüchtern und versuchte, Prosa zu schreiben. Vielleicht war er nicht ganz nüchtern, auch wenn er nicht trank. Er glaubte damals, nur in einer gewissen Stimmung schreiben zu können, und allein in seinem gemieteten Zimmer versuchte er, diese Stimmung herbeizuführen. Er hatte ein persönliches Wort dafür; er nannte sie seine Ginestra-Stimmung. Das Wort stammte vom Titel des Gedichtes La Ginestra von Giacomo Leopardi, das der junge Mann zwar nicht gelesen hatte, dessen Verfasser er aber für den einsamsten aller großen Schriftsteller hielt. Aufgrund des wenigen, das er über Leopardi wusste, stellte sich der Mann den Dichter fast als Gefangenen im Haus seiner Eltern vor; er saß an seinem Schreibtisch im tiefen Dunkel, doch in Sichtweite eines fernen Rechtecks von weißem Sonnenlicht, das alles war, was er den ganzen Tag von einer weiten Aussicht auf italienische Hügel sah; und irgendwo zwischen ihrem Baumwipfelgebüsch die blühenden Zweige des Ginsters – la ginestra –, die der Dichter wahrscheinlich nie berührt oder gerochen hatte, die ihn aber Tag für Tag an seinem Schreibtisch in dem schattigen Zimmer festhielten, bis er in Metrum und Reimen eine Landschaft ausgebreitet hatte, die jahrhundertelang die vielfarbige Szenerie um sein Fenster überdauern würde.

Wo war ich? – träumend, dass ich mich an einen Traum erinnerte, hätte ich mich gerade jetzt unterbrechen können, um der sommersprossigen Frau zu zeigen, dass ich mich als Erzähler selbst verspotten konnte. Ich könnte ihr sogar erzählt haben, dass ich, wäre ich der Verfasser einer gewissen modischen Art fiktionaler Prosa, die Tatsache, dass ich an dem Esstisch stand und ihr diese Worte sagte, später in eine doppelt vertrackte Erzählung hätte aufnehmen können, doch da ich ein Schriftsteller war, der sich nur für das Wirkliche interessierte, umfasste meine Frage sonst niemanden als mein wirkliches Ich.

Dieser junge Mann war sicher gewesen, fuhr ich fort, dass ein Schriftsteller bloß eine eigene Landschaft braucht. Der Fehler des jungen Mannes war es, zu glauben, seine Landschaft enthielte bereits die gesamte Szenerie und alle Gestalten, über die er je zu schreiben wünschte. Er war sich dieser Sache so sicher gewesen, dass er gewisse Rituale ersann, um den Landschaften anderer den Rücken zuzukehren.

Sein gemietetes Zimmer lag in einem südöstlichen Vorort von Melbourne. Jeden Sonntag ging er kurz nach Mittag zu einer Kreuzung zweier Hauptstraßen, um Milch und Brot zu kaufen. Danach stellte er sich etwa fünf Minuten lang neben die Ampel und tat so, als warte er auf jemanden, in Wirklichkeit aber hielt er nach jedem Wagen Ausschau, der einen jungen Mann als Fahrer hatte und eine junge Frau als einzigen Beifahrer. (Es gab viele solcher Wagen. Es war 1960, und die Generation der jungen Leute hatte den gebrauchten Holden und den neuen Volkswagen entdeckt.) Wenn einer dieser Wagen an der Ampel hielt, beobachtete er, wie die Finger des Fahrers auf dem Lenkrad trommelten und der Kopf der jungen Frau sich unablässig umwandte. Sie war die feste Freundin des Fahrers. Sie waren am Samstagabend zusammen ausgegangen, und jetzt hatte er bei ihr vorbeigeschaut, um eine Fahrt mit ihr zu machen. Er hatte ihr nicht genau gesagt, wohin es ging, doch war sie nicht überrascht zu sehen, dass die Reise sie nach Osten führte. Alle ihre Bekannten in Melbourne schauten nach Osten oder Südosten, wenn sie zu den angenehmen Orten zu reisen gedachten, welche die ganze Woche über an den Rändern ihrer Vorstellung warteten. Im Osten lag Mont Dandenong, ein blauschwarzer Bergbuckel, der jenen als nicht allzu fernes Ziel diente, die gern ein Ziel im Auge hatten. Unweit des Berges erstreckten sich sanftere Hügelwellen, deren fernste aus einem gewissen Abstand wie echtes Land wirkten und deren nächste bereits durch Reihen neu erbauter Häuser bestimmt waren; in solche konnten eine junge Frau und ihr Freund ganz unschuldig spähen, als wären sie bloß neugierig auf diese Art Häuser, die ihre verheirateten Freunde wählten, und träumten nicht insgeheim davon, selbst dort zu wohnen.

All dies wartete im Osten auf die jungen Paare in ihren Wagen, und der junge Mann mit Milch und Brot unter dem Arm hoffte, sie würden diesen Osten gründlich erkunden, sodass sie in der Abenddämmerung umso unzufriedener wären, wenn sie später wieder an derselben Kreuzung warteten, immer noch mit zuckenden Fingern und umherstarrend. Er selbst würde den ganzen Nachmittag in seinem Zimmer mit Lesen und Schreiben verbringen und versuchen, seine Landschaft zu bestimmen. In der Abenddämmerung könnte er fast so müde und unzufrieden wie die jungen Paare sein. Doch während sie sich fragten, wie viele weitere Meilen sie an einem künftigen Sonntag fahren müssten, bis zur Landschaft, nach der sie wirklich Ausschau hielten, hätte er nie daran gezweifelt, dass er den ganzen Tag über an der richtigen Stelle gesucht hatte.

Ja, sagte ich, und nahm die Frage im Gesicht der sommersprossigen Frau vorweg. Ja, sie dürfe schon fragen, was genau diese seine Landschaft sei, die ihm erlaube, über landschaftslose junge Paare zu spotten. Der junge Mann würde sie bis ins Einzelne beschrieben haben, wenn sie ihn in der Partynacht bloß beiseite genommen und ernsthaft befragt hätte. Er hätte ihr erzählt, welche östliche Landmarke das Gegenstück von Mount Dandenong war und welche seltsamen Konturen sie in näherer Entfernung füllten. Doch jetzt sei es zu spät. Ich könne ihr nur sagen, dass dem jungen Mann, wenn er allein in seinem Zimmer gesessen hatte, samt dem, was er seine Ginestra-Stimmung nannte, das leere Blatt zwischen ihm und seinem Fenster als der Vordergrund eines bemerkenswerten Landstriches erschienen war.

Doch hätte die Frau vom Komitee bestimmt gefragt, ob ich die von dem jungen Mann verfassten Notizen und Entwürfe denn nicht aufbewahrt hatte. Ja, ich hätte jede Seite aufgehoben, hätte ich ihr erwidert. Sie seien sicher, ganz hinten in meinem Aktenschrank gestapelt, nahe einer Sammlung von Bildern, die früher offenbar aus einer ganz anderen Richtung Zugang zu seiner Landschaft geboten hatten. Aber wann immer ich zu lesen versuchte, was dieser junge Mann geschrieben hatte, sah ich nur eine Reihe düsterer Räume, jeder mit einem Tisch, an dem ein Mann (jedes Mal ein paar Jahre älter) über einer weißen Seite saß. Und die allerletzte Seite war verschwommener und nebliger als irgendein Horizont, von dem der junge Mann je geträumt haben konnte.

Der junge Mann hatte rechtzeitig entschieden, sagte ich, dass die südöstlichen Vororte ihn von seiner Landschaft ablenkten. Als er an manchen Sonntagen in seinem Zimmer sein Blatt Papier vor sich hatte, sah er dort, wo viel komplexere Formen gewesen sein sollten, einfache Muster wie die Rechtecke von Straßen; und ein einzelner blauer Bergbuckel schob sich zwischen ihn und seinen Himmel. Er kam zu dem Schluss, dass er nichts anderes tat, als zu versuchen, die Sonntagsfahrer zu übertreffen, als könnte er einer staunenden jungen Frau zeigen, was sie immer zu sehen gewünscht hatte. Und folglich beschloss er, in einem Vorort von Melbourne zu wohnen, der dem Auge nichts bot: einem Vorort, von dem aus ein Schriftsteller nur das sehen konnte, was er selbst ersann. Und er entschied sich für einen inneren Vorort.

Zu jener Zeit hatte er nie gehört, dass sich jemand in einem inneren Vorort niederlassen wollte. In jenen fernen Zeiten von 1960, sagte ich der sommersprossigen Frau 1975, wurden die meisten inneren Vororte Slums genannt. Von den jungen Leuten wurde erwartet, dass sie Grundstücke in neuen Vororten kauften, in Chelsea Heights oder Forest Hill oder Banyule. Einige frischvermählte Paare lebten in South Yarra oder Hawthorn, doch nur in Mietwohnungen in baumgesäumten Straßen, während sie für ihre Neubauten fernab im Osten sparten. Der junge Mann suchte seinen inneren Vorort in den echten Slums nördlich der Stadt. Und von diesen Slums wählte er den, wie er meinte, am wenigsten geschätzten – einen fast baumlosen Vorort, wo die Haustüren eine Armlänge vom Gehweg entfernt waren und wo Fabrikmauern ganze Viertel permanent verschatteten; ein Vorort, in dem einige Leute immer noch keine Autos hatten und keine Fernsicht auf Mount Dandenong; ein Vorort, der, wie er aus seinen Zeitungen wusste, ein Schlupfloch der Unterwelt war, mit heimlichen Schnapsläden und Schießereien. Er schaffte seinen Bücherkoffer und seinen Einkaufskarton mit Notizen und Manuskripten in ein Zimmer mit Badbenutzung (zwei Pfund, fünf Schilling wöchentlich), über der Küche eines Hauses mit einer Fensterseite in der Argyle Street, Fitzroy, gelegen.

Der junge Mann bat einen seiner wenigen Freunde, ein Lehrer wie er, ihn samt seiner Habe an einem Sonntagmorgen von Malvern nach Fitzroy zu fahren. Der Freund half, das Gepäck des jungen Mannes über den winzigen Hinterhof zu tragen, dann durch eine Küche, in der eine Frau und drei Männer vor einem Fernseher saßen und Bier tranken, und eine schmale Treppe hinauf, die nahe dem Küchenherd begann und an der Tür des jungen Manns endete. Nach der Schlepperei betrachtete der Freund das Bett mit seiner kahlen, fleckigen Matratze. Er betrachtete den Küchenschrank und Tisch und Stuhl und ging dann zu dem vorhanglosen Fenster und schaute über den Hinterhof in Richtung der Schokoladenfabrik von MacRobertson. Er fragte den jungen Mann recht verlegen, ob er wisse, was er da tue. Der junge Mann wusste sogleich, sein Freund würde vermuten, er stehe kurz vor dem, was dieser Durchknallen genannt hätte. Der junge Mann entschied, dass sein Freund kein Freund mehr war, sondern nur ein weiterer unter Tausenden, die nichts von wahren Landschaften wussten, weil sie in der Zone sauberer Vororte zwischen Port Philipp Bay und Mount Dandenong aufgewachsen waren. Der junge Mann entschied auch, er habe seine Zeit damit vergeudet, solchen Leuten (selbst wenn junge Frauen dazu zählten) zu erklären, dass wahre Landschaften nicht durch solche augenfälligen Gebilde wie Berge und Meeresstrände begrenzt seien. Doch war er zu müde, um den Mann aus dem Südosten zu rüffeln, und es beunruhigte ihn ein wenig, der Mann könnte zu seinem Küstenvorort zurückkehren und denken, der junge Mann hätte den Verstand verloren. Daher erzählte er dem Freund, er sei nach Fitzroy gezogen, um über Wirklichkeit zu schreiben – über solche Leute, wie sie unten in der Küche saßen; Leute, die ein Leben elementarer Leidenschaft lebten, unbehindert von den Konventionen der Küstenvororte.

In den drei Monaten, die der junge Mann in Fitzroy verbrachte, wären Sie ihm nicht begegnet, sagte ich der sommersprossigen Frau. (Inzwischen wären die Teetassen geleert worden und einige der Frauen vom Komitee hätten sich schon zur Tür gedrängt. Der Rest der Geschichte sollte vielleicht eine Woche später auf der Haustürschwelle der sommersprossigen Frau erzählt werden. Beim Abspülen und Abtrocknen unserer Teetassen hätte ich der Frau zwanglos sagen sollen, ich könnte sie doch an einem Nachmittag besuchen, um die Geschichte meiner Landschaft abzuschließen. Doch hätte in diesem Fall die Frau vermuten können, ich wollte ihr näherkommen, über ihre Schwelle gehen und mit ihr ins leere Haus. Und selbst wenn ich in der äußersten Ecke ihrer Vorderveranda stand und mich gegen ihr weiß angestrichenes schmiedeeisernes Geländer lehnte und den Glanz auf den Blättern ihrer Kamelie befühlte und nicht über ihre Schulter in den Flur blickte, in Richtung der Schlafzimmertüren, die sich von diesem aus öffneten – selbst dann könnte sie immer noch berechtigterweise vermuten, dass die lange, weitschweifige Erzählung von der Landschaft nur meine besondere Methode sei, mich ihr zu nähern. Als ich still neben der Vorsitzenden saß, wusste ich, dass ich der sommersprossigen Frau niemals das Ende meiner Geschichte erzählen könnte. Und wenn ich es ihr nicht erzählen könnte, dann könnte ich kaum selbst ihr Ende vorhersehen. Ich könnte nicht einmal das Ende einer viel einfacheren Geschichte vorhersehen – der Geschichte, dass ich der Frau hatte versichern wollen, nie darüber zu schreiben, dass ich mit ihr am Esstisch stand. Selbst wenn ich es Jahre danach versucht hätte, eine solch banale Geschichte zu schreiben, und selbst wenn noch weitere Jahre später die sommersprossige Frau eine bestimmte veröffentlichte Geschichte von mir las und innehielt bei den Worten »und innehielt bei den Worten …«, sollte sie wissen, dass, bevor die von ihr gelesene Geschichte zu einem Ende gekommen war, von meiner Landschaft nichts mehr übrig wäre.)

Ich hätte ihr wahrscheinlich nicht gesagt, Sie wären ihm damals nicht begegnet, weil er an Samstagabenden meilenweit von den Partys entfernt war, zu denen Sie und Ihre Freunde gingen. Er unterrichtete tagsüber immer noch an einer Grundschule südöstlich der Stadt, zu anderen Zeiten jedoch blieb er in seinem Zimmer. Er hatte ein wenig über Arthur Rimbaud gelesen und wollte seine Sinne entregeln. Er hatte irgendwo auch von einem beruhigenden psychologischen Experiment gelesen: von jungen Leuten, die mit verbundenen Augen und verstopften Ohren in warmen Bädern lagen, bis sie sonderbare Bilder sahen. Der junge Mann glaubte, er könne die Karte einer Stadt zeichnen, die jenseits des Bereichs der normalen Wahrnehmung lag und nur schwach an die Stadt erinnerte, in der er in seiner Frühzeit gelebt hatte. In der neuen Stadt würden die Vororte und Bezirke entsprechend der Intensität des poetischen Empfindens, das er einst in diesem oder jenem Teil eines anderen Melbourne gehabt hatte, bemessen und aufgeteilt werden. So hätte sich ein riesiger Glutkern dessen, was er lebendige Bildwelt nannte, – mit Fitzroy vielleicht als Mitte – nach draußen ausgebreitet und die geschrumpften Reste von Orten, an denen ein junger Mann einst vergeblich zu spüren versucht hatte, was von ihm erwartet wurde, an die äußersten Ränder getrieben. Ein paar Tage lang, als er mit dem Rücken zum Fenster und zur Schokoladenfabrik stand, spürte er, dass er selbst die Form einer ausgedehnten Stadt hätte gewesen sein können. Was einst als seine undeutlichsten Teile erschienen waren – seine Träume und Vorstellungen – waren nun der Mittelpunkt eines verzwickten Netzwerkes, und er brauchte nur mit der Schulter zu zucken oder mit den Fingern zu wedeln, um die winzigen Berge umzukippen oder das Anrollen des Meeres an seinen Säumen zum Stillstand zu bringen. Doch bevor er die Worte für seine Stadt finden konnte, musste er sie gegen die Leute aus dem Fitzroy der früheren Stadt verteidigen.

Es war ihm nicht möglich gewesen, unten durch die Küche zu gehen, ohne mit der Frau zu sprechen, die wohl die Hauptmieterin des Hauses war. (Er wusste nie genau, welche der verschiedenen Männer, die jeden Abend mit ihr tranken, wirklich in dem Haus lebten.) Er trank jeden Abend auf seinem Zimmer, doch da er keinen Kühlschrank hatte, legte er sich wohl oder übel statt des von ihm bevorzugten Bieres einen Vorrat an Flaschen mit Billigwein an. Am Abend des Melbourne Cup kam die Frau die Treppe hinauf und rief ihm zu, er solle herunterkommen und gesellig sein. Der junge Mann setzte sich mit der Frau und ihren Freunden in die Küche und sprach ihrem Bier zu. Als sie ihn fragten, womit er seinen Lebensunterhalt verdiene, sagte er, er sei tagsüber Lehrer und abends Schriftsteller. Sie wurden verlegen, und er fragte sich, welcher Teil seiner Antwort sie nicht überzeugt hatte. Er sagte, er sei in ihren Vorort umgezogen, um unter wirklichen Leuten zu sein. Sie saßen da und schauten ihn an. Er dachte, sie hätten es ihm vielleicht übelgenommen, dass er mit leeren Händen zu ihrem Umtrunk gekommen war, und so ging er zu seinem Zimmer hinauf und holte das, was er seinen »Grog« nannte. Als die Frau seine Bocksbeutelflasche sah, befahl sie ihm, diese sofort aus ihrem Haus zu schaffen. Sie nannte es Gesöff. Nie zuvor hätte jemand sie dadurch beleidigt, sagte sie, solch ein Gesöff in ihr Haus zu bringen. Er erklärte, er trinke nur deshalb Wein, weil er für Bier keinen Kühlschrank habe. Sie wollte wissen, warum er sie nicht gebeten hatte, sein Bier in ihrem spitzenmäßigen Kühlschrank in der Küche aufzubewahren.

Er brachte den Wein nach draußen und schüttete ihn in den Gully. Einer der Männer sagte der Frau, sie solle sich beruhigen, und bot dem jungen Mann ein weiteres Bier an; und dieser verweilte mit ihnen zechend bis nach Mitternacht. Aber von diesem Tag an konnte er in Fitzroy nicht mehr schreiben. Zwei Wochen lang trank er weiter Wein – jeden Morgen nahm er seine Flasche in der Tasche zur Arbeit mit, für den Fall, dass die Frau während seiner Abwesenheit in sein Zimmer einbrach und es durchsuchte. Statt an seiner Landschaft zu arbeiten, lag er jedoch jeden Abend mit dem Ohr am Boden und versuchte zu hören, was in der Küche geredet wurde. Er ging nicht mehr durch die Küche zur Toilette im Hinterhof, sondern urinierte in eine Flasche und goss den Inhalt aus dem Fenster auf eine Unkrautecke. Doch glaubte er allmählich, die Frau in der Küche könnte in den Fernsehpausen sein Wasser auf den Boden spritzen hören.

Er hatte gehört, dass einige Leute Zimmer über Lagerhäusern oder Läden in der Stadt selbst, im zentralen Geschäftsbezirk, bewohnten. Hätte er solch ein Zimmer finden können, wäre er sofort dorthin gezogen. Er wünschte einen Raum ohne Fenster, wenn möglich, und mit einer Tür, durch die er ein und aus gehen konnte, ohne von einem anderen menschlichen Wesen gesehen zu werden. Er betrachtete das Stadtzentrum als einen leeren Raum, von dem aus die wahren Muster der Vororte sichtbar wären; er verglich sie mit der Mitte einer spiralförmigen Galaxie; er wollte sich dort verbergen und eine neue Erkundung seiner Landschaft beginnen. Er stellte sich vor, wie er abends auf dem Boden vor seinen Seiten hockte – weißen Seiten in einem dunklen Raum in einer Stadt, weiß erleuchtet in der Dunkelheit des Alls – denn er hatte Schreibtisch und Stuhl aufgegeben, weil sie seine Augen auf eine Höhe brachten, die ihm möglicherweise einen unerwünschten Anblick von außen gezeigt hätte.

Er musste sich mit einem Wohnblock etwa eine Meile von der City entfernt, in der St Kilda Road, zufriedengeben. Auch wenn er keine Ahnung von Architektur hatte, erinnerte ihn das Äußere des Gebäudes an etwas, das er nur in den amerikanischen Filmen seiner Kindheit gesehen haben konnte (bevor er aufgehört hatte, sich Filme anzuschauen, aus Angst, sie könnten sich in seine Landschaft einmischen).

St Kilda Road konnte schwerlich ein Vorort genannt werden; die meisten seiner Fenster überblickten die Ulmen und die Feigenbäume des Fawkner Park von Moreton Bay, daher gönnte er es sich in seinen ersten Wochen dort, gelegentlich an den Rändern seiner heruntergelassenen Rollos vorbeizublicken. Die Wochenmiete belief sich auf die Hälfte seines Lehrergehalts, und er konnte sich keine Möbel leisten. Er schlief auf einer Luftmatratze auf dem Boden und nahm sein Essen (Milch, gekochte Eier und Haferflocken) an der Spüle stehend zu sich. Wenn er täglich von der St Kilda Road in den Bau von ungefähr kalifornischem Stil ging und dann wieder weiter in seine kahlen Räume, begann er, sich eine neue Vorstellung von seiner Landschaft zu bilden. Er stellte sie sich vor, als läge sie in ihm – in einer breiten, aber unsichtbaren Zone, die aus seinen Erinnerungen bestand (die zumeist Erinnerungen an Träume waren). Falls er ein paar neue Seiten beginnen könnte, dachte er, auf denen er zuerst einen zwanzig Jahre zurückliegenden Anblick beschrieb, als er bis ins Kleinste den Schauplatz geträumt hatte, der ihn zwanzig Jahre später umgeben würde, dann könnte er einen Horizont schaffen, der deutlich für ihn erreichbar war.

Er begann, in der Erwartung zu schreiben, sich an einige seiner frühesten Träume von Landschaft zu erinnern. Er erinnerte sich deutlich an die wirklichen Orte, an denen er geträumt hatte – ein Stück sandigen Bodens, von einem Fliederbusch überragt, dessen Blätter dunkelgrün waren und wie die Piks auf den Spielkarten seiner Mutter geformt; eine Hinterveranda, deren Zement so alt war, dass er mit den Fingern leicht die Blausteinsplitter herausklauben und sie lose wieder in ihre Höhlungen fügen konnte. Er erinnerte sich an die Stimmung, in der er geträumt hatte – wenn er den Geschmack eines Fliederblatts auf seiner Zunge wahrnahm oder einen in seine Hose gefallenen Blausteinsplitter spürte, wollte er jedes Mal vor Wut weinen, weil diese Dinge ihm nichts sagten, und doch hatte er das Blatt unter seiner Zunge gefaltet und den Stein zwischen seinen Beinen festgehalten, weil das Blatt und der Stein ihm anscheinend etwas Kostbares aus einer beständigeren Welt als die seiner Gedanken versprochen hatten. Er erinnerte sich an das Wetter, in dem er am meisten geträumt hatte – die Nachmittage im Spätsommer, wenn riesige Dome von Gewitterwolken aus dem Inland kamen und die Hennen seines Vaters mit aufgerissenen Schnäbeln unter die Tamarisken flatterten und das lauteste Geräusch in der Stille vor dem Sturm aus einem Radio in einem Haus jenseits des hinteren Zauns kam, Radio mit dem rhythmischen Wummern, das er für sich Große-Ebenen-Musik nannte, weil es aus dem einsamsten Bezirk im weitest entfernten Land auf Erden hätte kommen können. Er erinnerte sich an all diese Dinge und schrieb über sie; als er sich aber an die Orte zu erinnern suchte, von denen er als Kind geträumt hatte, stellte er fest, dass er in die gleiche Leere blickte, die so oft in seine Landschaften geschlichen war.

Vielleicht, so dachte der junge Mann, waren die Landschaften des Kindes deshalb nicht sichtbar, weil der Mann, der sie zu sehen versuchte, genau an derselben Stelle war, wo die Landschaften gewesen sein sollten – da er an der Stelle des Mannes stand, von dem das Kind geträumt hatte. Wenn dem so war, dann hatte der Mann, wann immer er (im Jahr zuvor) seine Landschaft nicht deutlich zu sehen vermocht hatte, genau an den Stellen gestanden, von denen er hatte träumen sollen. Er hatte versucht, über Orte zu schreiben, über die er selbst nie schreiben konnte: Orte, die warten mussten, bis ein Mann, von dem noch nicht geträumt worden war, zufällig auf sie stieß.

Er konnte sich überhaupt nicht an den Monat und nicht einmal an das Jahr erinnern (wahrscheinlich würde er gar keine Zeit haben, das der sommersprossigen Frau zu erzählen), als er zum ersten Mal bemerkt hatte, dass Leute aus den äußeren Vororten in die inneren Teile Melbournes fanden. Möglicherweise hatte er auf seine eigene verworrene Weise die vorherrschende Stimmung der späten 1960er schon Jahre früher erkannt. Vielleicht war er, der 1960 mit seinen Flaschen mit widerlichem Wein und Sherry in Fitzroy angestolpert kam, so etwas wie ein Pionier gewesen. Er könnte sogar irgendwo in seinen damaligen Notizen eine Formulierung gekritzelt haben, die viel später in Mode kam: Er hatte möglicherweise geschrieben, dass er den inneren Raum erforschen wollte. Doch falls er einen dieser Ansprüche hatte durchsetzen wollen, war er zu spät dran gewesen. Während er die hunderte von Seiten mit Notizen für einen Roman über seine Kindheit schrieb, bemerkte er kaum, dass das, was er für die gefestigte Form von Melbourne gehalten hatte, sich veränderte. Die inneren Vororte, die Slums, die er als einsamer Schriftsteller hatte durchwandern wollen, in der Erwartung, dass ihm seine wahre Stadt erschiene – die schäbigen Häuser wurden hier und da von Lehrern und Dozenten und sogenannten Business-Paaren bewohnt. Auf seinen Spaziergängen durch Vororte, in denen er sich früher ungefährdet allein und fern von irgendjemandem gefühlt hatte, der eines Tages seine fiktionale Prosa lesen könnte (und vielleicht dann die inneren Vororte mit seiner persönlichen Landschaft verwechselte), sah er die Spuren und Außenposten der Leute, die bald Schickimickis heißen und sich daran machen würden, die ganze Umgebung umzukrempeln, ohne seine oder die Prosa von irgendwem zu lesen. Nachdem er in einigen der Häuser dieser Leute gewesen war und ihren Gesprächen zugehört und an ihrem Wein genippt hatte, wurde ihm klar, dass der Mann, der undeutlich von einer Landschaft geträumt hatte, die irgendwie in den Hohlräumen in Melbourne erschien, jetzt eine unbestimmte Gestalt in den fernsten Landschaften war.

Etwa zu dieser Zeit heiratete er und musste entscheiden, wo in ganz Melbourne er ein Haus kaufen sollte. Als ein Teil eines Ehepaars sah er sich in immer mehr dieser Häuser mit Terrassen hineingebeten und konnte deutlicher erkennen, wie deren Bewohner ihre Umgebung an sich angepasst hatten. Wenn er in Sommernächten auf Sitzen aus Eisenbahnschwellen Platz nahm in Hinterhöfen, die mit Blaustein gepflastert und mit Eukalyptus-Schösslingen bepflanzt waren, hörte er von Paaren, die Bergarbeiterhütten oder aufgegebene Hotels und Kirchen in maroden Ortschaften zwischen Ballarat und Bendigo gekauft hatten. Diese Leute redeten von Restaurierung und Erbe und rühmten sich, ihre Familienstammbäume bis zu Urgroßvätern zurückzuverfolgen, die Gold geschürft hatten.

Zu dieser Zeit versuchte er immer noch, bevor er dreißig wurde, seinen ersten Roman zu beenden. Es war der Roman seiner Kindheit. Er war in einem nördlichen Vorort von Melbourne geboren worden. Als er fünf war, hatten seine Eltern ihn ins Landesinnere nach Bendigo mitgenommen und waren dann vier Jahre später nach Melbourne zurückgezogen. Er hatte seitdem in Melbourne gelebt, und manchmal stellte er sich seine Geschichte als eine Art Landschaft vor. Der Vordergrund war kaum von Belang. Er war zu hell beleuchtet, oder der junge Mann stand zu dicht davor, um sich zu fragen, wie er anders hätte gestaltet sein können. Der Hintergrund lag in einem seltsamen Licht, das überraschende Einzelheiten an die Oberfläche brachte; er war wie ein ferner Teil einer weiten Ebene, der spätnachmittags aus einem bedrohlichen Himmel von einem einzigen Strahl Sonnenlicht hervorgehoben wurde. Der Mittelgrund war undeutlich und dunkel, als läge eine Kette schattiger Hügel oder gar eine dunkle Kluft zwischen den weiten, fernen Horizontländern und dem verwirrenden Vordergrund.

Er lebte mit seiner Frau in einem cremefarbenen Klinkerwohnblock in Brunswick und schrieb den ganzen Samstag und Sonntag; er hatte dabei sein Gesicht dem breiten, durchscheinenden Rechteck einer geschlossenen Jalousie zugewandt und sah sich dann der Landkarte von Victoria gegenüber. Das Bendigo, über das er schrieb – das Bendigo von zwanzig Jahren zuvor – war ein winziges Stück hell erleuchteten, für ihn ganz unerreichbaren Landes. Zwischen Bendigo und Melbourne lag eine Zone, die er, wie er spürte, nicht durchqueren durfte. Kein Kartenmacher hätte einen Namen oder ein Zeichen für diese seine leere Mittelentfernung finden können. Je mehr er aber schrieb, desto mehr dachte er sich diese Zone als etwas Feststehendes, nicht nur auf jeder Landkarte, die er sich vorstellte, sondern auch in jedem Blick, den er auf sein Leben warf.

Doch die Leute mit den Terrassenhäusern fühlten sich wohl in ihren Landschaften. Er hatte sie nie von Landkarten reden hören oder ihrem Wunsch, ein Romanschriftsteller würde ihnen das enthüllen, was auf der anderen Seite einer Barriere lag, die ihnen die Sicht versperrte. Und während er es ablehnte, über den nördlichen Rand von Melbourne hinaus zu reisen, und er es sogar einmal abgelehnt hatte, sich Fotos anzuschauen, die sein Bruder von Castlemaine und Bendigo gemacht hatte, speisten diese Leute an Samstagabenden in Restaurants in Chewton oder Maldon und bewunderten an Sonntagnachmittagen Gemälde und Töpferwaren in umgewandelten Bergarbeiterhütten und fuhren dann unbeschwert nach Hause, nach Abbotsford oder North Carlton, zufrieden darüber, dass sie jedes Wochenende tief in ihr eigenes Territorium geblickt hatten.

Eines Samstagabends im Jahr 1970 befand er sich als der einzige Biertrinker in einer Gruppe von Leuten, die Weine aus Victoria probierten und über die von ihnen im zentralen Victoria angebauten Trauben sprachen. Er blieb bei seinem Bier, bis er in eine Hinterecke des Hofs taumeln und sich in ein Beet von Hardenbergia übergeben musste. Als er danach aufstand, sich das Nass aus den Augen wischte und sich hinter den Blättern von blauem Eukalyptus vor den letzten wenigen Paaren verbarg, die noch auf der beleuchteten Terrasse saßen, sah er, dass die inneren Vororte Teil einer ausgedehnten Landschaft geworden waren, eine, über die zu schreiben er sich einst gewünscht hatte. Die ihn umgebenden Bäume waren Teil eines Waldes, der über Victoria gewachsen war, während er sich im Haus versteckt hatte. Es war zwar kein richtiger Wald, aber dennoch für die Leute auf der Terrasse die einzige Landschaft, die sie brauchten: Gruppen von beobachteten oder vorgestellten Baumwipfeln, welche die Vororte ihrer Wahl mit den Baumwipfeln verbanden, die sie in Gisborne und Castlemain und noch weiter nördlich sahen oder sich vorstellten.

Bald darauf überzeugte er seine Frau, ein Haus an dem letzten für ihn gebliebenen Ort zu kaufen, am einzigen Ort, dem die Träumer des neuen Victoria keine Beachtung geschenkt hatten. Es war bloß eine Lichtung in ihrem ausgedehnten Wald, auch wenn er sich früher wahrscheinlich fünfzig Meilen und mehr um Melbourne ausgebreitet hatte. Es war der schmale Gürtel neuerer Vororte, in denen alle Häuser angeblich gleich aussahen.

Jetzt schrieb er in einem Klinkerhaus mit Holzverkleidung, in einem Nebenzimmer, dessen Fenster auf das Seitenfenster eines anderen Hauses blickte; und dazwischen waren ein paar Blätter und Zweige. Seine Straße war ein schmales Tal. Er vergewisserte sich, dass jemand, der von der höchsten Stelle in Carlton über die nördlichen Vororte blickte, nichts von seiner unbedeutenden Senke im Land sehen würde. Er hatte sich geerdet. Als Versteck hatte er eine Lichtung in der Landschaft anderer gefunden, eine wirkliche Ecke in einem imaginären Victoria – es sei denn, die Schöpfer der neuen Landschaft hatten bereits entschieden, dass ihre allein wirklich sei und dass die einst von ihm gemiedenen Vororte nur in der Vorstellung von ein paar jungen Leuten existierten, die zu arm oder zu dumm waren, um von den richtigen Orten zu träumen.

Als er in seinem Nebenzimmer schrieb und selten sein Tal verließ, versuchte er sich nicht als jemanden vorzustellen, der von irgendwelchen weiten Räumen, die einst vor ihm gelegen hatten, abgeschnitten wäre. In seinen Notizbüchern beschrieb er eine Theorie, laut der Zeit eine Art Raum war. Er schrieb über ein Universum, das sich zwar ständig bewegte, doch unstet, sodass ein Mensch oder eine Straße oder ein Vorort an einem bestimmten Tag durch einen unberechenbaren Abstand von dem getrennt ist, was an einem anderen Tag als derselbe Mensch oder dieselbe Straße oder derselbe Vorort erschienen sein mochte. Er war nicht wirklich an sich drehenden Planeten oder elliptischen Umlaufbahnen interessiert. Er wollte bloß den Spielraum haben, sich ein unbeanspruchtes Land in seinem Umkreis zu denken. Und ein paar Monate über sah er eine lange Straße sich silbrig wie eine Schneckenspur von seinem Schreibtisch fortschlängeln und weit zurück im Dämmer seiner Heimatlandschaft verschwinden, in der ein Mann an seinem Schreibtisch saß und glaubte, dass Zeit Raum war und dass irgendein außergewöhnlicher Nachmittag ein fernes und trostloses Territorium war.

Nachdem sein erster Roman geschrieben war, mochte er ihn keinem Verleger zeigen. Er hatte den Eindruck, es nicht zu verdienen, ein Romanschriftsteller genannt zu werden. Auf all den Seiten seines Manuskripts fand sich keine Beschreibung der Landschaft, die er stets zu sehen gewünscht hatte. Der hauptsächliche Trost durch den Roman bestand darin, dass er dann, wenn er bisweilen im Gespräch mit einem Mann oder Frauen, die den Roman möglicherweise nie lasen, zwischen sich und jener Person eine Ausdehnung von Seiten sehen konnte, die dem Flickwerk glich, das er auf dem Boden seines Zimmers beim Ordnen seines Manuskripts um sich herum verteilt hatte. Sein Roman war nicht selbst eine Landschaft, doch markierte er in seinem Umkreis den Raum, in dem eine Landschaft hätte gewesen sein können.

Er machte Notizen für einen zweiten Roman – nahezu hundert Seiten Notizen, an hellen Nachmittagen geschrieben, wenn er die Jalousien heruntergezogen und Abdeckband um ihre Ränder geklebt hatte. Er fragte sich, wie er sich je als einen Stadt- oder Vorortmenschen hatte betrachten können. Jetzt schien er fast bestimmt von den langen wohlgeformten Satzfolgen auf den Seiten auf seinem Schreibtisch, von dem seltsamen Wechselspiel des Sonnenlichts in seinem abgedunkelten Zimmer, von den changierenden Schattenmustern des Laubs auf seiner versiegelten Jalousie.

Jemand hatte Mitleid mit ihm, sah seine Manuskripte durch und erzählte einem Verleger davon. Der Verleger war einverstanden, sie prüfen zu lassen. Viel später luden der Verleger und der mitleidige Mann ihn zum Mittagessen in einem Restaurant in der Bourke Street ein. Nach dem Essen wollte keiner der drei mit dem Trinken aufhören. Sie bestellten weitere Flaschen Portwein. Sie saßen, als Einzige in dem Restaurant, immer noch trinkend an ihrem Tisch, als bereits für das Abendessen gedeckt wurde. Den ganzen Nachmittag hatte der unveröffentlichte Autor auf die Buntglasflächen an der Vorderseite des Restaurants gestarrt. Als Kind hatte er jeden Nachmittag durch Buntglas auf die wenigen Passanten in seiner Straße gespäht. Als er in seinem ersten Roman über diese Nachmittage geschrieben hatte, vermutete er, Buntglas werde nicht mehr in Häusern verwendet und sein Schreiben darüber trage dazu bei, die Sonderbarkeit des gemieteten Hauses seiner Eltern und die edwardschen Farben seiner Kindheitsfantasien zu bestätigen. Doch als sein Roman beendet war, hatte er begonnen, farbiges Glas in den Häusern der inneren Vororte zu bemerken. Und jetzt schien in dem schicken Restaurant im Zentrum von Melbourne das Glas in den Vorderfenstern fast von dem gleichen trüben, klumpigen Orange zu sein wie das Zeug, durch das er vor mehr als zwanzig Jahren in Bendigo geschaut hatte.

Er hatte schon verstanden, dass der Verleger keinen seiner Romane wollte, auch wenn beide Männer am Tisch behauptet hatten, dass einiges von seiner Prosa Eindruck auf sie gemacht habe. Jetzt spürte er in sich eine Welle von Kraft. Er legte einen Arm um die Schulter des Verlegers und hieß ihn, einen Blick auf die Gestalten der Passanten draußen auf der Straße zu werfen. Er verkündete dem Verleger, die Prosa seiner reifen Periode sei wie die Glasscheibe vor ihnen. Durch ihre Töne und Texturen würde der Leser eine wunderbar gefärbte und verzerrte Welt erblicken.

Der Verleger leerte sein letztes Glas Port, zahlte die Zeche und führte den Schriftsteller nach draußen auf den Gehweg. Es war ein Winternachmittag und nach fünf Uhr, doch kam die Dämmerung dem Schriftsteller zu hell vor, nachdem er Stunden auf der anderen Seite der Scheibe verbracht hatte. Die Menge bewegte sich zu schnell für ihn, und er konnte seinen Blick auf kein Gesicht konzentrieren.

Er stand blinzelnd und unsicher vor dem Glaspaneel des Restaurants, der Verleger dicht neben ihm. Die Passanten ließen den beiden ein wenig Platz. Der Verleger sagte dem Schriftsteller langsam und deutlich, es sei seine ehrliche Meinung, dass er so lange nichts Publizierbares schreiben würde, wie er die Betrachtung der wirklichen Welt meide. Er möchte nichts mehr davon hören, sagte der Verleger, dass der Schriftsteller hinter heruntergelassenen Jalousien auf die Welt spähe. Und als er sich verabschiedete, wies der Verleger ungefähr in nordöstliche Richtung (genau dorthin, wo der Vorort des Schriftstellers lag) und sagte ihm, er solle jeden Nachmittag in seinem Vorort von Tür zu Tür gehen und sich jeder jungen Frau, die allein zu Hause ist, als Autor vorstellen und ihr erzählen, er suche nach Stoff für seinen nächsten Roman, und dann eine Affäre mit jeder der Dutzenden Frauen, die sich anbiete, beginnen und schließlich jede von ihnen dazu bringen, das Buch zu kaufen, wenn es veröffentlicht wäre, und es ihren Freunden zum Kauf zu empfehlen.

Selbst wenn ich hätte sicher sein können, dass ich meine Geschichte niemals der sommersprossigen Frau erzählen würde, hätte ich aus dieser Geschichte den Rat des betrunkenen Verlegers weggelassen. Aber ich hätte der Frau vielleicht erzählt, ich hätte auf einmal entschieden, es sei Zeit, mit jeder interessierten Frau offen über mich und das Schreiben zu sprechen, als die Vorsitzende mir ein paar Stunden vor der Sitzung gesagt hatte, dass sie im Traum nicht daran gedacht habe, ein Schriftsteller wohne in ihrem Vorort, und dass die Damen des Komitees sehr daran interessiert seien, worüber ich schreibe. Ich hatte dann der Vorsitzenden erzählt, dass ich mich nach dem Verfassen zweier Romane jetzt auf die Kurzgeschichte verlegt hätte. Ich sei der Ansicht, eine Erzählung aus fünf- oder zehntausend sorgfältig gewählten Wörtern könne besser als ein Roman das schildern, über das ich zu schreiben versuche. Die Vorsitzende hatte mich nochmals gefragt, über was ich schreibe. Ich hatte ihr geantwortet, dass ich einfach die wirkliche Welt beschreibe. Dann hatte sie mich gefragt, ob irgendeines meiner Werke veröffentlicht sei. Ich hatte ihr gesagt, dass meine erste Erzählung, Die Essenz schlürfen, so gut wie sicher veröffentlicht würde, bevor ich mit dem Komitee aufgehört hätte. Ich hätte der Sache gerade den letzten Schliff gegeben, als sie mich anrief.

Unter vier Augen könnte ich der sommersprossigen Frau sagen, dass ich der Vorsitzenden gegenüber nicht ganz ehrlich gewesen war. Ich hatte kaum mit der Abfassung von Die Essenz schlürfen angefangen, auch wenn ich sehen konnte, dass die Geschichte wie eine weite Landschaft auf mich wartete. Doch war ich schließlich bereit, wahrhaftig über meine Landschaften zu schreiben. Ich fühlte mich jetzt wie ein Mann, der es fast zwanzig Jahre lang versäumt hatte, die Augen offen zu halten. Die wirkliche Welt war keineswegs ein so einfacher und landschaftsloser Ort, wie ich mir früher vorgestellt hatte. Ich könnte ihr mehr darüber erzählen, könnte ich ihr sagen. Ich könnte sogar von ihr etwas über die wirkliche Welt erfahren. Doch würde ich lieber mit ihr allein reden. Wenn sie meinte, andere aus dem Komitee könnten mithören, würde sie sich möglicherweise ungern offenbaren. Deshalb würde ich sie lieber an ihrer Haustür besuchen, konnte ich mir vorstellen zu sagen, an einem jener Nachmittage, die ich gewöhnlich dem Schreiben widmete.

Als Schatzmeister hätte ich irgendeinen Vorwand für einen Besuch bei ihr erfinden können. Doch in den Tagen nach der ersten Komiteesitzung wäre mir endlich klar geworden, dass ich dadurch, dass ich sie allein traf, nie erreichen konnte, was ich wollte. Natürlich wusste sie, dass ich ein Schriftsteller war; und die törichten Geleitworte der Vorsitzenden hatten sie gewiss davon überzeugt, dass ich in ihrem Vorort nach Figuren für ein Romanwerk suchte. Ich hätte ihr am Esstisch offen sagen können, dass ich sie einzig fragen wolle, aus was ihrer Meinung nach die wirkliche Welt bestehe. Doch selbst dann hätte sie meinen können, ich würde ihre Antwort nur für einen Passus indirekter Rede in einem fiktionalen Werk benötigen.

Gegen Ende der Komiteesitzung erkannte ich allmählich (oder hätte in den folgenden Tagen erkannt), wie absurd es gewesen wäre, mit der sommersprossigen Frau über die wirkliche Welt zu sprechen. Wie einfach und ernsthaft ich sie auch befragen würde, war sie nicht zu einer ehrlichen Antwort verpflichtet. Da sie mich für eine bestimmte Art Schriftsteller hielt, konnte sie mir alles erzählen, was immer sie als passend für eine bestimmte Art Fiktion erachtete. Selbst wenn ich sie davon überzeugte, dass von dem, was ich in Zukunft schriebe, wahrscheinlich nichts veröffentlicht werden würde, hätte allein schon das Wort »Fiktion« ihr ihre eigene Geschichte als zu einfach oder sogar zu kompliziert erscheinen lassen, um erzählt zu werden.

Ich verstand dann (oder hätte später verstanden), was ich schon Jahre zuvor hätte verstehen sollen, sogar bevor ich versuchte, Fiktion zu schreiben: die einfache Tatsache, dass Leute, die miteinander sprechen oder einander anschauen, sich vorstellen, wie sie in einem fiktionalen Werk klingen oder erscheinen würden. Ich könnte nie behaupten, dass irgendeine sommersprossige Frau mit mir ehrlich über die wirkliche Welt gesprochen hätte. Nur in einer einzigen Situation war anzunehmen, dass solch eine Frau ehrlich sprach. Sollte ich ein fiktionales Werk schreiben, das eine sommersprossige Frau als Figur enthielte, dann könnte ich als Erzähler in die Fiktion Worte einfügen wie »sie antwortete schließlich ehrlich …«

Dann hatte ich die Vorstellung (oder hätte sie haben können), dass ich schließlich über die wirkliche Welt schrieb, welche die sommersprossige Frau mir niemals beschreiben würde. Im Vordergrund dieser Welt hatten die Straßen Zierkirschenbäume auf ihren Grünstreifen und die Häuser hatten Glanzmispeln und japanischen Ahorn in ihren Vorgärten und Kamelien an ihren Vorderveranden. Doch irgendwo in mittlerer Entfernung inmitten dieser Straßen lag das Haus des Mannes, der einem Komitee von Frauen als Verfasser von Fiktion vorgestellt worden war. Und der Gegenstand seines Schreibens war, das sah die sommersprossige Frau, ein Vorort wie der ihre. Eine ihr stark ähnelnde Person würde auf dessen Straßen erscheinen, vielleicht mit Sprenkeln in überraschenden Mustern auf ihren Brüsten und Schenkeln. Und die Geschichte des Mannes könnte vielleicht teils darin bestehen, dass die Frau von einem ihm irgendwie ähnelnden Mann, eine Beschreibung dessen hörte, was er seine Landschaft nannte. Doch im Vordergrund dieser Landschaft wäre eine ihr stark ähnelnde Frau, die das betrachtete, was sie für die wirkliche Welt hielt, und ein Mann schriebe in mittlerer Entfernung davon.

Im Komiteeraum, oder wo immer ich war, hätte ich dieses Konzept gern angenommen, weil es zu bedeuten schien, dass es meine Landschaft immer noch gab und dass sie tatsächlich das umfasste, was ich früher die wirkliche Welt genannt hatte. (Es bestand außerdem die angenehme Möglichkeit, dass sich die sommersprossige Frau mir später mit einer Tasse Tee und einem Keks nähern und mich fragen würde, was für eine Art Schriftsteller ich sei und wo ich die Gegenstände meines Schreibens finde. In diesem Fall war ich bereit, ihr zu sagen, dass ich eine Person wie sie, die mir genau diese Frage stellte, vorausgesehen hätte, und dass ich sie ihrerseits fragte, welche Art von Figur sie sei und welche Art Fiktion ihr diese Vorstellung von sich selbst übermittelt hätte.) Wenn ich über meine Landschaft nachdenken könnte, würde ich, wann immer ich mich zum Schreiben eines fiktionalen Satzes niedersetzte, scheinbar die Ausblicke von Menschen immer weiter ausdehnen, von Menschen wie ich, der ich, als Mann, über Frauen schreibe, die über schreibende Männer nachdenken.

Doch hätte ich damit letztendlich nicht zufrieden sein können – mit der ganzen Welt als meine Landschaft. Irgendwann in meiner vorgestellten Zukunft würde ich meine Landschaft gern als einen persönlichen, von allen anderen unterschiedenen Ort gesehen haben: einen Ort, der mich so gewiss kennzeichnete wie ein Muster von Sprenkeln eine Frau kennzeichnen konnte.

Und es gab einen solchen Ort, auch wenn ich ihn erst einige Jahre danach erkannte. Er schien weniger eine Landschaft zu sein als das Ende des einzigen fiktionalen Werks, das ich zu schreiben vermochte. Es war der Raum zwischen mir und der nächsten Frau oder dem nächsten Mann, die mir als wirklich erschienen.

Die Essenz schlürfen

Zu viert mieteten wir eine Wohnung der Orlando Holiday Flats, am Ende eines Sandweges am Rand von Sorrento gelegen. Keiner von uns war älter als zwanzig, und zum ersten Mal lebten wir außerhalb unseres Zuhauses. Nur zwei von uns hatten Autos, und wir alle mussten das einzige Schlafzimmer in der Wohnung teilen, doch sprachen wir oft davon, eines Abends Mädchen zu uns mitzubringen. Und wir planten eine wilde Party am Neujahrsabend, dem letzten Tag der 1950er – der Dekade, die uns durch unsere Teeniezeit gebracht hatte.

In unserer ersten Ferienwoche spielten wir morgens Golf und tranken nachmittags Bier. Um sechs, wenn die Hotels schlossen, gingen wir zu unserer Wohnung zurück und setzten uns um den tragbaren Plattenspieler, aßen Fish and Chips, tranken noch mehr Bier und versuchten zu entscheiden, zu welcher Tanzveranstaltung wir gehen sollten. Etwa gegen neun verkündete einer von uns, dass er zu betrunken sei, um zu irgendeiner Tanzveranstaltung zu gehen. Das war für uns alle das Signal zu entspannen. Einer stellte den Plattenspieler lauter und ein anderer ging zum Kühlschrank, um eine weitere Flasche zu holen. Um Mitternacht schliefen wir alle schon, lagen in Unterhemden und Unterhosen und Socken in unseren Doppelstockbetten, die ohne Laken waren, weil wir uns nicht darum gekümmert hatten, welche mitzubringen.

Am Neujahrsabend jedoch mussten wir uns treu bleiben. Wir spielten wie gehabt unsere frühmorgendliche Runde Golf und zechten wie gehabt am Nachmittag. Doch am Abend schüttelten wir die Sofakissen aus, zogen die Bettdecken auf unseren Betten gerade, fegten den Boden, spülten den Stapel Gläser in der Spüle und wischten den Toilettensitz mit einem feuchten Putzlappen. Dann füllten wir den Kühlschrank mit Bier und dem, was wir Damengetränke nannten. Dann zogen wir unsere beste Freizeitkleidung an.

Es war abgemacht, das wir zum Tanzen in den Rettungsschwimmerclub gingen. Doch im letzten Augenblick sagte Kelvin Durkin, er brauche ein paar Stunden Schlaf, um nicht zu betrunken für die Party zu sein. Da er nicht zu den Autobesitzern zählte, durfte er in sein Bett. Als dann die Motoren der beiden Autos schon liefen, zögerte ich. Ich hatte zu einer kleinen Rede an den Mann, der mich fahren wollte, angesetzt. Ich war im Begriff zu sagen, dass ich von meinen siebenundzwanzig Golflöchern immer noch fix und fertig sei; dass ich etwas mehr Alkohol brauche, um mich wiederzubeleben; dass ich jedenfalls besser in der Wohnung bliebe, um zu verhindern, dass Durkin an seinem Erbrochenen erstickte, falls es ihm in seinem Bett übel werden sollte. Doch die zwei Männer an den Lenkrädern ihrer Autos hatten null Interesse an meiner Rede. Als ich keine Anstalten machte, mich ihnen anzuschließen, fuhren sie los in den dunklen Tunnel eines Teebaumgestrüpps, das Einzige, was ich von der Straße nach Sorrento sehen konnte.

Ich ging zum Kühlschrank und wählte nicht Bier, sondern eine volle Flasche mit einem Likör namens Danziger Goldwasser. Ich stellte den Plattenspieler aus und fläzte mich mit griffbereiter Flasche in meinen Sessel. Ich achtete darauf, dass mein Gesicht durch das offene Fenster nicht zu sehen war. Dann hielt ich mein Glas ins Licht und fischte mit dem Finger nach den goldenen Flöckchen, die im Likör glänzten.