Ins Weiße zielen - Ricardo Piglia - E-Book

Ins Weiße zielen E-Book

Ricardo Piglia

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Beschreibung

Wieso musste Tony Durán sterben? In seinem lang erwarteten neuen Roman entführt uns Ricardo Piglia in die trügerische Ruhe der argentinischen Provinz. Während alle Welt glaubt, der schwule Japaner Yoshio habe den Ausländer Durán getötet, entwickelt Kommissar Croce mit Hilfe des aus Buenos Aires angereisten Journalisten Renzi seine eigene Theorie: Waren es wirklich nur die körperlichen Reize der Zwillingsschwestern Ada und Sofía Belladona, die Durán in die Pampa gelockt haben? Was hatten deren Vater und Bruder, die Besitzer der hiesigen Fabrik, mit dem Opfer zu schaffen? Was hat es mit dem Erbe der irischen Mutter der Zwillinge auf sich? Und was nur hat Cueto, der aalglatte Staatsanwalt und Intimfeind Croces, zu verbergen? Piglia bietet alles auf, was das Genre des Kriminalromans hergibt – um die Gemeinplätze der Gattung am Ende auszuhebeln und zu zeigen, dass nichts so ist, wie es scheint. Dabei gelingt ihm die Quadratur des Kreises: ein Buch, das sich liest wie ein Krimi – und doch keiner ist.

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Seitenzahl: 376

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Aus dem argentinischen Spanisch von Carsten Regling

Die spanischsprachige Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Blanco nocturno bei Anagrama in Barcelona.

Dieses Werk wurde im Rahmen des SUR-Programms zur Förderung von Übersetzungen des Außenministeriums der Republik Argentinien verlegt.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2010 Ricardo Piglia

© 2010 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin Covergestaltung Julie August unter Verwendung des Gemäldes Selbstportrait in der U-Bahn von Max Ferguson (1983) © Bridgeman Art Library.Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143297

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3232 1

www.wagenbach.de

Für Beba Eguía

Die Erfahrung ist ein schwaches Licht, das nur dem leuchtet, der es bei sich trägt.Louis-Ferdinand Céline

Erster Teil

1

TONY DURÁN war ein Glücksritter und leidenschaftlicher Spieler. Als er die Belladona-Schwestern kennenlernte, glaubte er, das große Los gezogen zu haben. Ihre ménage à trois erregte die Gemüter im gesamten Ort und war monatelang das alles beherrschende Gesprächsthema. Ständig erschien er mit einer von ihnen im Restaurant des Hotel Plaza, doch niemand hätte sagen können, welche der beiden Zwillingsschwestern ihn gerade begleitete, denn sie glichen einander so sehr, dass selbst ihre Handschriften identisch waren. Tony ließ sich nur selten mit beiden zusammen blicken, das bewahrte er sich für die intimen Stunden auf, und was alle am meisten beeindruckte, war die Vorstellung, dass die Zwillinge miteinander schliefen. Nicht so sehr, dass sie den Mann, sondern dass sie selbst einander teilten.

Schon bald verwandelte sich das Gerede hinter vorgehaltener Hand in zahlreiche offen ausgesprochene Deutungen und Vermutungen, und niemand sprach mehr von etwas anderem. Fast so, als handelte es sich um den Wetterbericht, zirkulierten beinahe stündlich neue Informationen in den Häusern, im Club Social oder in der Ladenschänke der Brüder Madariaga.

Wie in allen kleinen Orten der Provinz Buenos Aires gab es auch hier an einem einzigen Tag mehr Neuigkeiten als in irgendeiner großen Stadt in einer ganzen Woche, und der Unterschied zwischen den lokalen Informationen und den landesweiten Nachrichten aus dem Fernsehen war so gewaltig, dass die Dorfbewohner gelegentlich der Illusion erlagen, sie würden ein interessantes Leben führen. Durán war gekommen, um die Mythologie des Ortes zu bereichern, und schon lange vor seinem Tod hatte sein Ruf legendenumwobene Höhen erklommen.

Es wäre interessant, ein Diagramm von Tonys Wegen durch den Ort anzufertigen, von seinen schlaftrunkenen Wanderungen entlang der hohen Gehsteige und durch die Kneipen und von seinen Streifzügen, die ihn immer wieder in die Nähe der verlassenen Fabrik und auf das öde Land hinausführten. Schon bald hatte er sich ein Bild von den ungeschriebenen Gesetzen und Hierarchien des Ortes gemacht. Die bescheidenen Wohnstätten und größeren Häuser erhoben sich streng getrennt nach der sozialen Schicht ihrer Bewohner, als wäre das Gebiet von einem snobistischen Kartografen unterteilt worden. Die Leute von Rang und Namen wohnten auf den Hügeln oberhalb des Dorfes. Dahinter, in einem etwa acht Blöcke breiten Streifen, befand sich der sogenannte historische Ortskern1 mit dem Platz, dem Rathaus, der Kirche und der Hauptgeschäftsstraße samt ihren Läden und zweistöckigen Gebäuden, und schließlich, jenseits der Gleise, erstreckten sich die einfachen Viertel, in denen die weniger hellhäutige Bevölkerungshälfte vor sich hinvegetierte.

Seine Berühmtheit und der Neid, den er überall erregte, hätten Tony sonstwohin führen können, stattdessen verschlug ihn der Zufall an diesen abgelegenen Ort, wo er ihn auch zugrunde richtete. Einen so eleganten Mulatten, einen Mann, der mit karibischem Akzent sprach, aber aus Corrientes oder Paraguay zu stammen schien, einen so mysteriösen Fremden, gestrandet an einem verlorenen Ort in der Pampa, hatte man in diesem Dorf voller Basken und piemontesischer Gauchos noch nicht zu Gesicht bekommen.

»Er wirkte immer so zufrieden«, sagte Madariaga und betrachtete den Mann im Spiegel, der mit seiner kurzen Reitgerte in der Hand nervös vor der Theke des Krämerladens auf und ab ging. »Und, Kommissar, wie wär’s mit einem kleinen Gin?«

»Wenn überhaupt, dann einen Grappa, aber ich bin im Dienst«, antwortete Kommissar Croce.

Der Kommissar, von großer Statur und undefinierbarem Alter, mit rötlichem Gesicht, grauem Schnurrbart und Haar, kaute gedankenverloren auf seiner Avanti-Zigarre herum, während er weiter auf und ab ging und mit der Gerte gegen die Stuhlbeine schlug, als wollte er seine über den Boden huschenden Gedanken verscheuchen.

»Wie kann es sein, dass niemand Durán an diesem Tag gesehen hat?«, fragte er, aber die anderen Gäste sahen ihn nur schweigend, schuldbewusst an.

Dann fügte er hinzu, dass er genau wisse, dass jeder hier Bescheid wusste, aber niemand reden wolle, und sie nur Unsinn von sich gäben, weil es ihnen Spaß mache, ihm den letzten Nerv zu rauben.

»Wer sich wohl diese Redewendung ausgedacht hat«, murmelte er und blieb stehen, um darüber nachzudenken, und verlor sich im Labyrinth seiner Gedanken, die aufblitzten und wieder verloschen wie Glühwürmchen in der Dunkelheit. Er lächelte und begann von Neuem, im Laden auf und ab zu gehen. »Genau wie Tony«, sagte er und erinnerte sich einmal mehr an dessen Geschichte. »Ein Yankee, der kein Yankee zu sein schien, aber doch einer war.«

Tony Durán war in der puertoricanischen Hauptstadt San Juan geboren worden. Als er fünf Jahre alt war, zogen seine Eltern nach Trenton, weshalb er wie ein Nordamerikaner aus New Jersey aufwuchs. Eine der wenigen Erinnerungen, die er sich an seine Heimatinsel bewahrt hatte, war die, dass sein Großvater Kampfhähne züchtete und ihn sonntags zu den Kämpfen mitnahm. Er konnte sich erinnern, dass die Männer ihre Hosen mit Zeitungspapier umwickelt hatten, um zu verhindern, dass das Blut der Hähne ihre Kleidung befleckte.

Als er hier ankam und eine geheime Hahnenkampfarena besuchte, die Bauern in ihren Leinenschuhen und die zwergenhaften, sich im Sand aufplusternden Hähne sah, musste er lachen und erklärte, dass die Hahnenkämpfe in seinem Land ein wenig anders abliefen. Aber dann begeisterte ihn der selbstmörderische Mut eines Hahns: Er benutzte seine Sporen wie ein linkshändiger Leichtgewichtsboxer, der sich mit den Fäusten aus der Umklammerung seines Gegners löst. Der Hahn war flink, tödlich, erbarmungslos, nur auf den Tod seines Rivalen aus, auf seine vollständige Vernichtung, sein Ende. Als Durán ihn sah, begann er Geld auf ihn zu setzen und sich für die Kämpfe zu begeistern, als wäre er bereits einer von uns (one of us, wie Tony gesagt hätte).

»Aber er war keiner von uns, er war anders, obwohl man ihn nicht deshalb umgebracht hat, sondern weil er unserer Vorstellung, wie er sein sollte, zu nahe kam«, bemerkte der Kommissar, rätselhaft wie immer und wie immer ein bisschen sonderlich. »Er war sympathisch«, fügte er hinzu, während er die Landschaft betrachtete. »Ich mochte ihn.« Er blieb dicht am Fenster stehen, wie angewurzelt, den Rücken gegen das Gitter gelehnt, tief in seine Gedanken versunken.

Nachmittags pflegte Durán in der Bar des Hotels Plaza Fragmente aus seiner Kindheit in Trenton zu erzählen, von der Tankstelle seiner Familie an der Route One, von seinem Vater, der in aller Frühe aufstehen musste, um die Zapfsäule zu bedienen, weil sich jemand verfahren hatte und laut vor dem Haus hupte, von dem Lachen und der Jazzmusik, die aus dem Autoradio drang, und wie er sich im Halbschlaf aus dem Fenster lehnte und die schnellen, teuren Schlitten sah, die auf der Rückbank schlafenden, mit Hermelinmänteln bedeckten Blondinen – leuchtende Erscheinungen inmitten der Nacht, die sich in seiner Erinnerung mit einem Schwarzweißfilm vermischten. Es waren geheime, private Eindrücke, die niemandem gehörten. Er wusste nicht einmal, ob die Erinnerungen seine eigenen waren, und Croce hatte hin und wieder denselben Eindruck von seinem Leben.

»Ich stamme von hier«, sagte der Kommissar auf einmal, als wäre er gerade aufgewacht, »und ich verstehe nicht, wie das gehen soll, jemandem den letzten Nerv rauben, aber das Leben dieses jungen Mannes kann ich mir sehr gut vorstellen. Er schien von ganz woanders herzukommen«, erklärte Croce mit ruhiger Stimme, »aber es gibt kein ganz woanders.« Er blickte seinen Assistenten an, den jungen Inspektor Saldías, der ihm auf Schritt und Tritt folgte und nie widersprach. »Es gibt kein ganz woanders, wir sitzen alle im selben Boot.«

Weil er sich elegant kleidete, Ehrgeiz besaß und sehr gut plena in den dominikanischen Lokalen von Harlem tanzte, bot man Durán Mitte der Sechzigerjahre mit gerade einmal zwanzig eine Stelle als Eintänzer im Pelusa Dancing an, einem Tanzcafé in der 122. Straße. Und weil er flink war, weil er Humor hatte, weil er immer zu Diensten und loyal war, stieg er rasch auf. Schon nach kurzer Zeit begann er in den Casinos von Long Island und Atlantic City zu arbeiten.

Alle im Dorf konnten sich noch gut daran erinnern, was für ein Staunen seine Geschichten hervorgerufen hatten, jene Anekdoten aus seinem Leben, die er in der Hotelbar mit leiser Stimme, als handelte es sich um vertrauliche Mitteilungen, zum Besten gab, während er Gin Tonic trank und Erdnüsse knabberte. Keiner wusste, ob die Geschichten wahr waren, aber das störte niemanden. Sie lauschten ihm, dankbar, dass er sich bei ihnen aussprach, bei diesen Provinzlern, die dort lebten, wo sie geboren worden waren, genau wie ihre Eltern und Großeltern, und die den Lebensstil von Leuten wie Durán nur aus der jeden Samstag im Fernsehen laufenden Krimiserie mit Telly Savalas kannten. Er verstand nicht, warum sie seine Lebensgeschichte hören wollten, die, wie er sagte, nicht anders war als jede andere. »Ehrlich gesagt gibt es kaum Unterschiede«, meinte er, »das Einzige, worin sie sich unterscheiden, sind die Feinde.«

Nach einer Weile im Casino weitete Durán sein Geschäftsfeld aus und fing an, Frauen zu erobern. In gewisser Hinsicht war es eine Fortsetzung seiner Arbeit als Croupier. Er hatte einen sechsten Sinn dafür entwickelt, das Vermögen wohlhabender Damen zu schätzen und sie von den Abenteurerinnen zu unterscheiden, die bloß gekommen waren, um sich irgendeinen reichen Fisch zu angeln. Es waren winzige Details, die seine Aufmerksamkeit erregten, eine gewisse Vorsicht beim Setzen, ein absichtlich zerstreuter Blick, eine leichte Nachlässigkeit bei der Wahl der Kleidung oder eine Art zu reden, die er augenblicklich mit Wohlstand verband. Je reicher, desto wortkarger, war seine Erfahrung. Er war äußerst geschickt darin, Frauen dieses Schlages zu erobern. Er widersprach ihnen, provozierte sie, doch gleichzeitig behandelte er sie mit einer geradezu kolonialen Höflichkeit, die er von seinen aus Spanien stammenden Großeltern beigebracht bekommen hatte. Bis er eines Nachts zu Beginn des Dezembers 1971 in Atlantic City die argentinischen Zwillingsschwestern kennenlernte.

Die Belladona-Schwestern waren Töchter und Enkelinnen der Dorfgründer, von Einwanderern, die ihr Glück gemacht hatten, als der Feldzug gegen die Indianer seinem Ende zuging, und seitdem große Ländereien in der Gegend von Carhué besaßen. Ihr Großvater, Oberst Bruno Belladona, war mit der Eisenbahn gekommen und hatte Land erworben, das heute von einer nordamerikanischen Firma verwaltet wird. Ihr Vater, der Ingenieur Cayetano Belladona, lebte zurückgezogen im alten Herrenhaus der Familie. Er litt an einer seltsamen Krankheit, die ihn zwar am Gehen hinderte, nicht jedoch daran, weiterhin die Geschicke des Dorfes und des Bezirks zu lenken. Er war ein einsamer, unglücklicher Mann, der seine beiden Töchter (Ada und Sofía) über alles liebte und sich mit seinen zwei Söhnen (Lucio und Luca) zerstritten und sie daraufhin aus seinem Leben verbannt hatte, als hätte es sie nie gegeben. Wenn der alte Belladona betrunken war, dachte er, der Unterschied zwischen den Geschlechtern sei das Geheimnis sämtlicher Tragödien, dass Frauen und Männer nicht derselben Spezies angehörten, wie Katzen und Geierfalken. Und er fragte sich, wer bloß auf die Idee gekommen war, sie miteinander leben zu lassen? Die Männer wollen dich töten und sich gegenseitig umbringen, und die Frauen wollen während der Siesta in dein Bett oder – falls das nicht geht – miteinander in irgendeine andere Kiste steigen, phantasierte der alte Belladona.

Er hatte zweimal in seinem Leben geheiratet, die Zwillinge stammten von seiner zweiten Frau, Matilde Ibarguren, einem exaltierten Modepüppchen aus Venado Tuerto, während er die Söhne mit einer Irin mit feuerrotem Haar und grünen Augen gezeugt hatte, die das Landleben nicht ertragen konnte und erst nach Rosario und schließlich nach Dublin floh. Das Seltsame war, dass die Jungen den überspannten Charakter ihrer Stiefmutter geerbt zu haben schienen, während die Mädchen der Irin glichen. Sie waren rothaarig und so fröhlich, dass sie jeden zum Strahlen brachten, sobald sie irgendwo auftauchten. Gekreuzte Schicksale nannte Croce das, die Kinder erben die gekreuzten Tragödien ihrer Eltern. Und der Sekretär Saldías, der dabei war, sich die Gebräuche und Gewohnheiten seiner neuen Bestimmung anzueignen, notierte aufmerksam die Beobachtungen des Kommissars. Saldías war erst vor Kurzem auf Wunsch der Staatsanwaltschaft, die den allzu widerspenstigen Kommissar kontrollieren wollte, in das Dorf versetzt worden und bewunderte Croce, als wäre er der größte Ermittler2 in der argentinischen Geschichte. Mit großem Ernst schrieb er alles nieder, was der Kommissar, der ihn gelegentlich seinen Watson nannte, von sich gab.

Jedenfalls verliefen die Lebenswege der Schwestern Ada und Sofía auf der einen und die der Brüder Lucio und Luca auf der anderen Seite lange Jahre getrennt voneinander, so als gehörten die beiden Geschwisterpaare unterschiedlichen Stämmen an. Erst Tony Duráns Erscheinen führte sie wieder zusammen. Es war um Geld gegangen, um einen Koffer voller Zaster, und es sah so aus, als hätte der alte Belladona etwas mit einer Geldübergabe zu tun. Einmal im Monat fuhr der Alte nach Quequén, um die Verschiffung des Getreides zu überwachen, das für den Export bestimmt war. Für das Getreide erhielt er eine Ausgleichszahlung in Dollar, die ihm der Staat mit der Absicht, die internen Preise stabil zu halten, zukommen ließ. Seinen Töchtern vermittelte er seine eigenen moralischen Grundsätze, ließ sie tun, wozu sie Lust hatten, und zog sie groß, als wären sie seine einzigen Kinder.

Von klein auf waren die Belladona-Schwestern rebellisch. Sie hatten vor nichts Angst, und es machte ihnen Spaß, pausenlos miteinander zu wetteifern, nicht etwa, um die Unterschiede zwischen ihnen herauszustreichen, sondern um an ihrer Symmetrie zu feilen und herauszufinden, bis zu welchem Grad sie einander glichen. Im Winter ritten sie nachts über die mit Reif überzogenen Felder, um Viscachas zu jagen, wagten sich in die sumpfigen Gebiete am Fluss vor, badeten nackt in der stürmischen Lagune, nach der der Ort benannt war, und jagten Enten mit der zweiläufigen Büchse, die ihr Vater ihnen zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Da sie für ihr Alter, wie man so sagt, recht weit entwickelt waren, wunderte sich niemand, als sie – beinahe von einem Tag auf den anderen – aufhörten zu jagen, zu reiten und mit den Landarbeitern Fußball zu spielen und sich stattdessen in zwei vornehme junge Damen verwandelten, die ihre so gut wie immer identische Kleidung in einem englischen Modegeschäft in der Hauptstadt anfertigen ließen. Zur selben Zeit begannen sie auf Wunsch des Vaters, der wollte, dass sie so schnell wie möglich über die Ländereien verfügten, Agrarwissenschaften in La Plata zu studieren. Man erzählte sich, sie seien stets zusammen unterwegs gewesen, hätten die Prüfungen mit Leichtigkeit bestanden, weil sie das Land besser kannten als die Professoren, und dass sie ihre Liebhaber untereinander getauscht und ihrer Mutter Briefe geschrieben hätten, in denen sie ihr Bücher empfahlen und sie um Geld baten.

Als ihr Vater einen schweren Unfall erlitt und fortan halb gelähmt war, gaben sie das Studium auf und zogen zurück ins Dorf. Es gab zahlreiche Vermutungen, was dem Alten zugestoßen sein könnte: ein Pferd habe ihn abgeworfen, als es von einem aus Norden kommenden Heuschreckenschwarm überrascht wurde, und er habe die ganze Nacht lang mitten auf dem Feld gelegen, während ihm die Insekten mit ihren sägeartigen Beinen über das Gesicht und die Hände krabbelten; er habe einen Herzinfarkt erlitten, als er eine Paraguayerin im Puff der Bizca vögelte, und das Mädchen habe ihm das Leben gerettet, weil sie, fast unbewusst, mit ihrer Mund-zu-Mund-Beatmung weitergemacht habe; oder er habe eines Tages entdeckt, dass ihn eine nahestehende Person – wobei er den Gedanken verdrängte, dass es sich dabei um einen seiner Söhne handeln könnte – vergiften wollte, indem sie ihm winzige Dosen eines Antizeckenmittels in den Whisky mischte, den er gewöhnlich in den frühen Abendstunden in der blumengeschmückten Galerie zu sich nahm. Als er begriffen habe, was vor sich ging, müsse das Gift bereits einen Teil seines Werks verrichtet haben, denn kurze Zeit später habe er seine Beine schon nicht mehr bewegen können. Fest steht nur, dass sich von da an sowohl der Vater als auch seine beiden Töchter nicht mehr im Dorf blicken ließen. Er nicht, weil er kaum noch das Haus verließ, und sie nicht, weil sie, nachdem sie ihn mehrere Monate lang gepflegt hatten, das lange Eingesperrtsein leid waren und beschlossen, ins Ausland zu reisen.

Im Gegensatz zu ihren Freundinnen fuhren sie nicht nach Europa, sondern in die USA. Sie blieben einige Zeit in Kalifornien, um anschließend das Land mehrere Wochen lang mit dem Zug zu durchqueren, mit längeren Aufenthalten in verschiedenen mittelgroßen Städten, bis sie zu Beginn des Winters den Osten erreichten. Während der Reise gaben sie sich in erster Linie dem Glücksspiel in den Casinos der großen Hotels hin und machten sich ein schönes Leben, wobei sie sich darin gefielen, die vermögenden südamerikanischen Erbinnen auf der Suche nach Abenteuern im Land der Emporkömmlinge und Neureichen herauszukehren.

Dies waren die Nachrichten von den Belladona-Schwestern, die das Dorf erreichten. Die Neuigkeiten kamen mit dem nächtlichen Postzug, aus dem die Briefe in großen Baumwollsäcken auf den Bahnsteig geladen wurden, und es war Sosa, der Vorsteher des Postamts, der die Reiseroute der jungen Damen anhand der Stempel auf den an ihren Vater adressierten Umschlägen rekonstruierte. Ergänzt wurden diese Neuigkeiten durch die ausführlichen Schilderungen der Reisenden und Vertreter, die sich den geselligen Runden in der Hotelbar anschlossen und berichteten, was man sich unter den ehemaligen Kommilitoninnen in La Plata über die Zwillingsschwestern erzählte. Die Kommilitoninnen wiederum schienen ihre Informationen direkt von den Schwestern zu beziehen, die am Telefon mit ihren nordamerikanischen Eroberungen und Entdeckungen prahlten.

Bis die Schwestern Ende 1971 in die Gegend von New York kamen und kurze Zeit später in einem Casino in Atlantic City den freundlichen jungen Mann ungewisser Herkunft kennenlernten, der ein Spanisch sprach, das aus einer synchronisierten Fernsehserie zu stammen schien. Anfangs besuchte Tony Durán die beiden in der Annahme, es handele sich bei den zwei Schwestern um eine einzige Person. Mit dieser Art von Zeitvertreib vergnügten sich die Zwillinge schon lange. Als hätten sie jeweils eine Doppelgängerin, die die unangenehmen (und angenehmen) Aufgaben übernahm. Sie wechselten sich bei allen Dingen des Lebens ab, was den Dorfbewohnern zufolge hieß, dass sie nur die Hälfte der Zeit in der Schule und in der Kirche verbracht und auch nur die Hälfte ihrer sexuellen Initiation selbst erlebt hatten. Sie losten gewöhnlich aus, welche von ihnen was tun würde. »Bist du es oder deine Schwester?«, lautete die am häufigsten gestellte Frage im Ort, sobald eine von ihnen auf einem Fest oder im Speisesaal des Club Social auftauchte. Immer wieder musste ihre Mutter, Doña Matilde, bezeugen, dass die eine Sofía und die andere Ada war. Oder umgekehrt. Denn ihre Mutter war die Einzige, die sie unterscheiden konnte. Wegen ihrer Art zu atmen, sagte sie.

Die Spielleidenschaft der Zwillinge war das Erste, was Duráns Aufmerksamkeit erregte. Die Schwestern waren es gewohnt, gegeneinander zu setzen, und er war ein Teil dieses Spiels. Von da an bemühte er sich, sie zu verführen – oder sie bemühten sich, ihn zu verführen –, und sie gingen nur noch zu dritt aus. Sie gingen gemeinsam tanzen, essen, hörten zusammen Musik, bis irgendwann eine der zwei darauf bestand, noch einen letzten Drink in der Bar des Casinos zu sich zu nehmen, während die andere sich entschuldigte und schlafen ging. Er blieb mit Sofía zurück – mit der, die behauptete, Sofía zu sein –, und die nächsten Tage lief alles gut.

Doch eines Nachts, als er gerade mit Sofía im Bett lag, betrat Ada das Zimmer und fing an, sich auszuziehen. Es war der Beginn einer stürmischen Woche, die sie in den Motels an der Küste von Long Island verbrachten, in jenem bitterkalten Winter. Sie schliefen und reisten zu dritt und vergnügten sich in den Bars und kleinen Casinos, wo es nur wenige andere Gäste gab, da sie außerhalb der Saison unterwegs waren. Das Spiel zu dritt war hart und rücksichtslos, und oft war der Zynismus kaum auszuhalten. Niederlagen und Unglück sind Teil des Lebens, doch langsam, aber stetig nahmen die Streitigkeiten überhand. Die beiden Schwestern verschworen sich gegen ihn, und er schmiedete seinerseits Komplotte gegen die Frauen und spielte sie gegeneinander aus. Die Schwächste oder Sensibelste unter ihnen war Sofía, und sie war es auch, die als Erste kapitulierte. Eines Nachts verließ sie das Hotel und kehrte nach Buenos Aires zurück. Durán setzte die Reise mit Ada fort. Sie kamen in denselben Hotels und in denselben Casinos vorbei, die sie bereits auf der Hinfahrt aufgesucht hatten. Bis auch sie irgendwann beschlossen, nach Argentinien zurückzukehren. Durán schickte Ada voraus und folgte ihr wenig später nach.

»Aber kam er wirklich ihretwegen? Ich glaube nicht. Auch nicht wegen des Familienvermögens«, sagte der Kommissar, blieb stehen, um sich eine Toscano anzustecken, und lehnte sich an den Tresen, während Madariaga die Gläser spülte. »Er kam, weil er ein unsteter Geist war, weil er keine Ruhe fand, weil er einen Ort suchte, wo man ihn nicht wie einen Bürger zweiter Klasse behandelte. Deshalb kam er, und jetzt ist er tot. Zu meiner Zeit war alles anders.« Er betrachtete die übrigen Gäste, doch niemand sagte etwas. »Warum um alles in der Welt muss dieser falsche Yankee, halb Latino, halb Mulatte, einem armen Dorfpolizisten wie mir das Leben so schwer machen?«

Croce war in der Gegend geboren worden, war hier aufgewachsen und während der ersten Amtszeit Peróns Polizist geworden; seitdem war er im Dienst – abgesehen von einer kurzen Zeitspanne nach der Revolution von General Valle im Jahr 1956. In den Tagen unmittelbar vor dem Aufstand hatte Croce die Polizeireviere der Gegend aufgewiegelt. Nachdem er jedoch begriffen hatte, dass die Rebellion gescheitert war, war er wie ein Toter über die Weiden geirrt, hatte Selbstgespräche geführt und nicht mehr geschlafen, und als man ihn fand, war er nicht mehr derselbe. Als er erfahren hatte, dass viele der aufständischen Arbeiter, die Peróns Rückkehr gefordert hatten, vom Militär erschossen worden waren, war der Kommissar von einem Tag auf den anderen ergraut. Mit weißem Haar, den Kopf voller wirrer Gedanken, schloss er sich monatelang in seinem Haus ein. Er verlor seinen Posten, wurde aber 1958, während der Präsidentschaft von Frondizi, wieder eingestellt und hatte sich seitdem trotz aller politischen Machtwechsel im Amt gehalten. Man behauptet, dass er dies dem alten Belladona zu verdanken habe, der immer an ihm festhielt und ihn trotz aller Meinungsverschiedenheiten gegen alle Anfeindungen in Schutz nahm.

»Man will mich bei einem Fehler ertappen«, sagte Croce lächelnd. »Deshalb lässt man mich überwachen. Aber das wird ihnen nicht gelingen, denn ich werde ihnen keine Zeit dafür geben.«

Kommissar Croce war eine Berühmtheit, von allen verehrt, jemand, dessen Meinung zählte. Auch wenn man ihn im Dorf für ein wenig verschroben hielt. Man wusste nie so genau, was er gerade im Schilde führte, er fuhr aufs Geratewohl mit dem Sulky über die Felder und Farmen, verhaftete Viehdiebe, Landstreicher, aber auch die Kinder wohlhabender Viehzüchter, die betrunken aus den Hinterzimmern zwielichtiger Bars torkelten. Immer wieder sorgte sein Ermittlungsstil für Skandale und Gerede, doch die Resultate waren so beachtlich, dass am Ende alle glaubten, ein Dorfkommissar müsse auf diese Weise vorgehen. Er besaß eine so außergewöhnliche Intuition, dass sie an Wahrsagerei zu grenzen schien.

»Ein bisschen spinnt er ja schon«, meinten alle. Vielleicht spann er tatsächlich ein bisschen, aber anders als der verrückte Calesita, der durch das Dorf irrte, vollständig in Weiß gekleidet, und in einem unverständlichen Kauderwelsch Selbstgespräche führte; nein, er spann in einem ganz speziellen Sinn, wie jemand, der ein Lied hört und es einfach nicht auf dem Klavier nachspielen kann. Ein unberechenbarer Mann, der ein wenig phantasierte und keine Regeln befolgte, aber immer gerecht war und das Richtige tat.

Oft war er erfolgreich, weil er Dinge zu sehen schien, die die übrigen Sterblichen nicht sahen. Einmal beschuldigte er einen Mann, ein junges Mädchen vergewaltigt zu haben, weil er ihn zweimal aus dem Kino kommen sah, wo gerade der Film Vergelt’s Gott gezeigt wurde. Und tatsächlich hatte der Mann sie vergewaltigt, auch wenn die Umstände von Croces Anklage keinen Sinn ergaben. Ein anderes Mal überführte er einen Viehdieb, weil er beobachtet hatte, wie der Mann im Morgengrauen einen Zug nach Bolívar bestieg. Und wenn er nach Bolívar fahren wollte, dann nur, um das gestohlene Vieh dort zu verkaufen. Er sollte Recht behalten.

Manchmal rief man ihn in die Nachbarorte, damit er einen schier unlösbaren Fall aufklärte – als könnte er Wunder bewirken. Er nahm den Sulky, hörte sich die Zeugenaussagen und die unterschiedlichen Beschreibungen des Tathergangs an und kehrte mit der Lösung des Falls in der Tasche zurück. »Der Pfarrer war’s«, sagte er, als er einmal eine Brandstiftung auf einer kleinen Farm in Del Valle untersuchte. Ein pyromanischer Franziskaner. Sie gingen zur Kirche und fanden in einer Truhe im Atrium mehrere Lunten und einen Benzinkanister.

Er hatte immer nur für seine Arbeit gelebt, und nach einer etwas eigenartigen Affäre mit einer verheirateten Frau blieb er allein, obwohl alle vermuteten, dass er von Zeit zu Zeit mit Rosa zusammen war, Estévez’ Witwe, die das Dorfarchiv verwaltete. Er lebte allein auf einer großen Ranch am Ortsrand, hinter dem Bahnhof, wo sich die Polizeiwache befand.

Croces Fälle waren überall in der Provinz berühmt, und auch sein Assistent, der Sekretär Saldías, ein studierter Kriminologe, war dem Zauber des Kommissars erlegen.

»Letzten Endes weiß keiner so genau, was Tony in dieses Dorf geführt hat«, sagte Croce und betrachtete Saldías.

Der Assistent zog ein schwarzes Büchlein hervor und ging seine Notizen durch.

»Durán kam im Januar hierher, am 5. Januar«, erklärte Saldías. »Vor genau drei Monaten und vier Tagen.«

2

AN JENEM TAG sah man einen Fremden im hellen, friedlichen Sommerlicht aus dem Expresszug steigen, der nach Norden fuhr. Der Mann war groß, dunkelhäutig, trug Kleider wie ein Dandy und hatte zwei große Koffer bei sich, die er auf dem Bahnsteig abstellte – dazu eine braune Tasche aus feinem Leder, die er, als die Kofferträger herbeigeeilt kamen, unter keinen Umständen aus der Hand geben wollte. Er lächelte, von der Sonne geblendet, und grüßte mit einer feierlichen Verbeugung, als wäre das in dieser Gegend üblich. Die Bauern und Tagelöhner, die sich im Schatten der Kasuarinen unterhielten, antworteten ihm mit einem erstaunten Murmeln. Tony sah den Stationsvorsteher an und fragte ihn mit seiner sanften Stimme und seiner musikalischen Redeweise nach einer Unterkunft im Ort.

»Werter Herr, verraten Sie mir, wo ich hier ein gutes Hotel finde?«

»Da drüben ist das Plaza«, antwortete ihm der Vorsteher und deutete auf ein weißes Gebäude auf der anderen Straßenseite.

Im Hotel schrieb er sich als Anthony Durán ein, zeigte den amerikanischen Pass und die Reiseschecks vor und bezahlte einen Monat im Voraus. Er gab an, auf Geschäftsreise zu sein, ein paar Investitionen tätigen zu wollen und Interesse an argentinischen Pferden zu haben. Alle rätselten, was für Geschäfte das sein mochten, und vermuteten, dass er sein Geld in die lokale Pferdezucht investieren wollte. Beiläufig erwähnte er einen Polospieler aus Miami, der kleinwüchsige Polopferde für die Heguy-Familie kaufen wolle, und erzählte von einem Rennpferdezüchter in Mississippi, der auf der Suche nach argentinischen Deckhengsten sei. Ein gewisser Moore, ein Springreiter, sei einmal hier gewesen, so sagte er, und habe sich von der Qualität der Pampa-Pferde überzeugt. Dies war die Begründung, die er bei seiner Ankunft gab, und ein paar Tage später machte er sich daran, verschiedene Gestüte in der Gegend zu besuchen und Stuten und Jungpferde auf den Koppeln und Weiden zu begutachten. Kaum hatte er den Eindruck erweckt, sich für Pferde zu interessieren, horchten alle im Ort auf und zerbrachen sich den Kopf, welchen Nutzen sie daraus ziehen könnten, und die Gerüchte wanderten wie ein Heuschreckenschwarm von Haus zu Haus.

»Es dauerte ein bisschen«, erzählte Madariaga, »bis wir von der Geschichte mit den Belladona-Schwestern erfuhren.«

Durán war im Hotel abgestiegen, in einem Zimmer im dritten Stock, das auf den Platz hinausging. Er hatte darum gebeten, ihm ein Radio (keinen Fernseher, ein Radio) hinzustellen, und sich erkundigt, ob es hier irgendwo Rum und schwarze Bohnen gebe, doch schon bald gewöhnte er sich an das kreolische Essen im Restaurant und an den Llave-Gin, den man ihm nachmittags um fünf auf das Zimmer brachte.

Er sprach ein archaisches Spanisch, voller überraschender Redewendungen und Ausdrücke (dufte, wo liegt die Krux, ich rackere mich ab) und merkwürdiger Sätze und Wörter auf Englisch oder in einem antiquierten Spanisch (obstinacy, winner, Plagegeist). Gelegentlich blieben seine Wörter oder Satzkonstruktionen ein Rätsel, doch er sprach ruhig und freundlich. Außerdem spendierte er jedem, der Lust verspürte, ihm zuzuhören, ein paar Gläschen. Es war der Moment seines größten Ansehens. Er ließ sich überall sehen, suchte die unterschiedlichsten Kreise auf, stellte sich vor und freundete sich mit den jungen Männern aus dem Dorf an, egal aus welcher Schicht sie stammten. Er hatte unzählige Geschichten und Anekdoten aus jener merkwürdigen Welt dort draußen zu erzählen, einer Welt, die die Bewohner dieses Landstrichs nur aus dem Kino oder dem Fernsehen kannten. Er kam aus New York, einer Stadt, wo die ganzen lächerlichen Hierarchien, wie es sie in einem Dorf in der Provinz Buenos Aires gab, nicht existierten oder zumindest weniger sichtbar waren. Er wirkte immer gut gelaunt, und jeder, der sich mit ihm unterhielt oder ihm über den Weg lief, fühlte sich geschmeichelt von seiner Art, ihm zuzuhören und immer Recht zu geben. Auf diese Weise hatte er bereits nach einer Woche ein freundschaftliches Verhältnis zu vielen der Dorfbewohner aufgebaut, und selbst die Leute, die ihn noch nie gesehen hatten, hatten das Gefühl, ihn zu kennen.3

Weil er es verstand, die Männer für sich einzunehmen, waren auch die Frauen auf seiner Seite und redeten auf der Damentoilette der Konditorei, in den Salons des Club Social und während ihrer endlos langen Telefongespräche an den Sommerabenden über ihn, und sie waren es auch, die als Erste erzählten, dass er in Wahrheit wegen der Belladona-Schwestern gekommen sei.

Bis man ihn schließlich eines Abends mit einer der beiden Schwestern – mit Ada, wie es heißt –, in ausgelassener Stimmung und angeregt mit ihr plaudernd, die Bar des Plaza betreten sah. Sie nahmen an einem Tisch in der hintersten Ecke Platz und verbrachten den Abend, indem sie sich leise unterhielten und lachten. Es war wie eine Explosion, ein fröhliches, boshaftes Protzen. Noch in derselben Nacht begannen die Leute, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln und ihre eigenen, obszönen Versionen zu verbreiten.

Es hieß, jemand habe gesehen, wie sie zu früher Stunde die Herberge an der Straße nach Rauch betreten hätten, und sogar, dass die Schwestern ihn in einem Häuschen empfingen, das sie außerhalb des Ortes besaßen, in der Nähe der stillgelegten Fabrik, die zehn Kilometer vor dem Dorf wie ein einsames Monument in den Himmel ragte.

Doch das waren bloß Gerüchte, provinzielles Gerede, Vermutungen, die lediglich dazu führten, Tonys Ansehen (und das der Mädchen) noch zu steigern.

Wie immer waren die Belladona-Schwestern den anderen weit voraus, waren die Vorreiterinnen bei allem Interessanten, was im Dorf geschah: Sie waren die Ersten, die Miniröcke trugen, die Ersten, die auf Büstenhalter verzichteten, die Ersten, die Marihuana rauchten und die Pille nahmen. Es schien, als hätten die Schwestern beschlossen, dass Durán der richtige Mann sei, um ihre Lehrjahre abzuschließen. Eine Initiationsgeschichte also, wie in den Romanen, in denen junge Emporkömmlinge frigide Herzoginnen erobern. Sie waren zwar weder frigide noch Herzoginnen, er aber war sehr wohl ein junger Emporkömmling, ein karibischer Julien Sorel, wie Nelson Bravo, der für die Gesellschaftsseiten der Lokalzeitung zuständige Redakteur, so scharfsinnig bemerkte.

Jedenfalls hörten die Männer zu jener Zeit auf, ihn mit verstohlener Sympathie zu beäugen, und gingen dazu über, ihm mit fast blinder Verehrung und wohlmeinendem Neid zu begegnen.

»Er kam ganz entspannt mit einer der Schwestern hierher, um ein Gläschen zu trinken, denn zu Beginn ließ man ihn offensichtlich noch nicht in den Club Social. Die hohen Tiere sind die Schlimmsten, die wollen alles geheim halten. Dagegen sind die einfachen Leute viel liberaler«, sagte Madariaga, wobei er das Wort »liberal« in seiner ursprünglichen Bedeutung verwendete. »Wenn sie etwas tun, dann tun sie es vor aller Augen. Oder hat Don Cosme etwa nicht länger als ein Jahr mit seiner Schwester zusammengelebt? Oder haben die Jáuregui-Brüder vielleicht nicht mit einer Frau zusammengewohnt, die sie aus einem Puff in Lobos angeschleppt hatten? Oder der alte Andrade, hat der etwa nicht mit dieser Fünfzehnjährigen angebändelt, die unter der Obhut der Karmeliterinnen stand?«

»Auf jeden Fall«, bemerkte ein Bauer.

»Klar, wenn Durán ein blonder Yankee gewesen wäre, wäre die Sache anders gelaufen«, fuhr Madariaga fort.

»Auf jeden Fall«, wiederholte der Bauer.

»Auf jeden Fall ist wohl dein Lieblingsausdruck«, hörte man Bravo sagen, der weiter hinten saß, in der Nähe des Fensters, und gerade einen Teelöffel voll Natron in einem Glas Wasser auflöste, weil das ständige Sodbrennen auf sein Gemüt schlug.

Durán gefiel das Leben im Hotel, und er machte es sich zur Gewohnheit, nachts zu leben. Während die anderen Gäste schliefen, schlich er durch die leeren Gänge. Manchmal unterhielt er sich mit dem zuständigen Nachtportier, der stündlich seine Runde drehte, um die Türen zu kontrollieren, und dann ein kleines Nickerchen in einem der Ledersessel im Speisesaal hielt. »Sich unterhalten« ist zu viel gesagt, denn der Portier war ein Japaner, der zu allem lächelte und Ja sagte, als spräche er kein Spanisch. Er war winzig und blass, hatte sein Haar mit Pomade nach hinten gekämmt, trug immer Anzug und Krawatte und war äußerst zuvorkommend. Er war vom Land, wo seine Verwandten eine Baumschule besaßen, und hieß Yoshio Dazai4, aber alle im Hotel nannten ihn nur den Japs. Es scheint, als wäre Yoshio Duráns wichtigste Informationsquelle gewesen. Er war es, der ihm die Historie des Dorfes und die wahre Geschichte der verlassenen Fabrik der Belladonas erzählte. Viele fragten sich, wie es dazu gekommen war, dass der Japaner ein Nachtleben wie eine Katze führte und das Schlüsselbrett eines Hotels mit einem Taschenlämpchen beleuchtete, während seine Familie auf einem Landgut in der Umgebung Blumen züchtete. Er war freundlich und rücksichtsvoll, sehr förmlich und affektiert. Er redete nicht viel, schaute die Leute mit seinen sanften Schlitzaugen an, und alle glaubten, dass der Japaner sich das Gesicht pudere, dass er es liebe, einen Hauch von Rouge auf seine Wangen aufzutragen, und dass er stolz auf sein tiefschwarzes, glattes Haar sei, das er selbst »Rabenflügel« nannte. Yoshio war vernarrt in Durán. Er war so hingerissen von ihm, dass er ihm auf Schritt und Tritt folgte, wie ein persönlicher Lakai.

Manchmal verließen die beiden früh am Morgen das Hotel, spazierten plaudernd unter den Bäumen entlang und durchquerten mitten auf der Straße das Dorf, bis sie zum Bahnhof gelangten. Dort setzten sie sich auf dem verlassenen Bahnsteig auf eine Bank und sahen zu, wie der morgendliche Schnellzug vorbeirauschte. Der Zug hielt nie, raste wie ein Blitz durch das Dorf und setzte seinen Weg nach Süden fort, bis hinab nach Patagonien. Yoshio und Durán sahen die Reisenden, die ihre Gesichter an die hellerleuchteten Fensterscheiben drückten, Gesichter wie Tote im Leichenschauhaus.

Es war Yoshio, der ihm eines Mittags Anfang Februar den Brief der Belladona-Schwestern mit der Einladung überreichte, sie im Haus ihrer Familie besuchen zu kommen. Sie hatten einen Plan des Dorfes auf ein Blatt Papier gezeichnet, das sie aus einem Heft herausgerissen hatten, und die Villa auf dem Hügel mit einem roten Kreis markiert. Offenbar wollten sie, dass er ihren Vater kennenlerne.

Das alte Herrenhaus befand sich oberhalb des Flusses, im alten Teil des Dorfes, auf einer Anhöhe, von der man die Lagune, die Wälder und die graue, endlose Ebene überblicken konnte. Durán zog einen weißen Leinenanzug und zweifarbige Lederschuhe an, und am späten Nachmittag sah man ihn durch das Dorf stolzieren und zum Haus der Belladonas hinaufsteigen.

Er musste den Dienstboteneingang benutzen.

Schuld daran war das Dienstmädchen, sie hatte einen Mulatten gesehen und angenommen, einen verkleideten Tagelöhner vor sich zu haben … So hieß es zumindest.

Durán durchquerte die Küche, und nachdem er das Bügelzimmer und die Stuben der Bediensteten hinter sich gelassen hatte, gelangte er in den zum Park gelegenen Salon, wo ihn der alte Belladona – ausgezehrt und ledrig braun wie ein einbalsamierter Affe, die Beine krumm, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen – bereits erwartete. Gut erzogen, wie er war, machte Durán die unerlässlichen Verbeugungen und ging auf den Alten zu, um ihn mit den in der spanischsprachigen Karibik üblichen Respektsbekundungen zu begrüßen. Doch in der Provinz Buenos Aires funktionierte das nicht, denn hier begegneten auf diese Weise nur Diener ihren Herren. Die Bediensteten sind die Einzigen (sagte Croce), die die sonst überall verlorengegangenen aristokratischen Bräuche der spanischen Kolonialzeit noch beherrschen. Und es waren die Herren, die den Dienern diese Umgangsformen beibrachten, die sie selbst seit Langem abgelegt hatten – als hätten sie die Manieren, die sie selbst nicht mehr benötigten, bei diesen dunkelhäutigen Menschen in Verwahrung gegeben.

Ohne es zu merken, benahm sich Durán wie ein ländlicher Vorarbeiter, wie ein Pächter oder einfacher Händler, der sich feierlich, mit bedächtigen Schritten, nähert, um seinen Herrn zu begrüßen.

Tony verstand das im Dorf herrschende Geflecht aus Beziehungen und Hierarchien nicht. Er begriff nicht, dass es Bereiche gab – die gefliesten Wege in der Mitte des Platzes, der im Schatten liegende Bürgersteig an der Hauptstraße, die vorderen Kirchenbänke –, die den Mitgliedern der alteingesessenen Familien vorbehalten waren, und Orte – der Club Social, die Theaterlogen, das Restaurant des Jockey Clubs –, die einem selbst mit Geld verwehrt blieben.

Doch hatte der alte Belladona nicht Recht, ihm zu misstrauen? Das fragten sich alle. Diesem arroganten Fremden zu misstrauen und ihm gleich zu Beginn die Regeln seines Hauses und seiner gesellschaftlichen Schicht aufzuzeigen? Bestimmt hatte sich der Alte gefragt – und alle stellten sich diese Frage –, wie es sein konnte, dass ein Mulatte, der behauptete, aus New York zu kommen, an einem Ort aufkreuzte, wo die letzten Schwarzen seit fünfzig Jahren verschwunden waren oder sich in Luft aufgelöst hatten und ein Teil der Landschaft geworden waren. Und dass er nie wirklich erklärte, was er eigentlich hier wollte, und nur vage andeutete, in einer Art geheimer Mission unterwegs zu sein. Später erfuhr man, dass sie irgendetwas zu bereden hatten an jenem Nachmittag, der Alte und Tony; anscheinend brachte Durán eine Nachricht oder hatte einen Auftrag, aber alles lief unter der Hand ab.

Der Alte bewohnte einen geräumigen Salon, der wie eine Pelotahalle wirkte. Man hatte die Zwischenwände eingerissen, um mehr Platz zu schaffen, so dass sich der Ingenieur zwischen seinen Tischen und Schreibtischen hin und her bewegen konnte, während er Selbstgespräche führte und durch das Fenster das tote Treiben auf der Straße jenseits des Parks beobachtete.

»Man wird Sie hier den Zambo nennen«, sagte der Alte zu Durán und grinste boshaft. »Während der Kolonialzeit gab es eine ganze Menge Neger am Río de la Plata, in den Befreiungskriegen haben sie ein Bataillon aus Mulatten und Farbigen gebildet, waren zu allem entschlossen, doch man hat sie alle getötet. Es gab sogar ein paar schwarze Gauchos, die an der Grenze dienten. Am Ende sind sie alle abgehauen und haben sich den Indianern angeschlossen. Und bis vor ein paar Jahren hat noch eine Handvoll Schwarzer in den Wäldern gelebt, aber nach und nach sind sie gestorben, und jetzt gibt es keine mehr. Wie ich hörte, wird in der Karibik zwischen zahlreichen Hautfarben unterschieden, aber hier nennt man alle Mulatten einfach nur Zambos.5 Verstehen Sie, junger Mann?«

Der alte Belladona war siebzig Jahre alt, schien jedoch so fern von allem zu stehen, dass er zu jedem männlichen Dorfbewohner »junger Mann« sagen konnte: Er hatte sämtliche Katastrophen überlebt, regierte über die Toten, regelte alles, was ihn betraf, verstieß die männlichen Mitglieder der Familie und blieb nur mit seinen zwei Töchtern zurück, während die beiden Söhne »ins Exil« gingen und zehn Kilometer weit nach Süden zogen, in die Fabrik, die sie an der Straße nach Rauch errichteten. Ohne große Umschweife erzählte der Alte Durán von seinem Vermächtnis. Er habe seine Besitztümer schon vor seinem Tod aufgeteilt und das Anwesen überschrieben. Dies sei jedoch ein Fehler gewesen, denn seither habe es nur noch Krieg gegeben.

»Nichts ist mir geblieben«, sagte er, »und die anderen haben angefangen, sich zu zanken, und bringen sich gegenseitig fast um.«

Die Töchter, fuhr er fort, hielten sich aus dem Streit heraus, doch seine Söhne seien auf ihn losgegangen, als ginge es um ein Königreich. (Mich siehst du hier nicht mehr, hatte Luca geschworen. Ich werde dieses Haus nie wieder betreten.)

»Etwas hatte sich geändert nach Duráns Besuch und ihrem Gespräch«, sagte Madariaga, ohne sich an einen der Gäste im Besonderen zu wenden oder näher darauf einzugehen, worin diese Veränderung bestanden haben soll.

Zu der Zeit begannen die Dorfbewohner sich zu erzählen, er sei ein Kofferbote6, der Geld bringe, das nicht sein eigenes sei, um heimlich die Ernte aufzukaufen, ohne Steuern bezahlen zu müssen. Es wurde behauptet, in dem Gespräch mit Belladona sei es um ebensolche Geschäfte gegangen und die Schwestern seien lediglich ein Vorwand gewesen.

Gut möglich, so etwas war keine Seltenheit, obwohl diejenigen, die das Schwarzgeld brachten oder abholten, in der Regel unsichtbar blieben. Es waren Typen, die aussahen wie Bankangestellte und mit einer Unsumme fremder Dollars in der Tasche unterwegs waren, um die Steuerbehörde auszutricksen. Es kursierten zahlreiche Geschichten über Steuerhinterziehungen und dubiose Devisengeschäfte. Darüber, wo das Geld versteckt und wie es befördert wurde und wer geschmiert werden musste – aber das war nicht das Problem, es spielte keine Rolle, wo sie das Geld bei sich trugen, denn wenn keiner sie verriet, konnten sie auch nicht erwischt werden. Und wer hätte sie verraten sollen, wenn alle an dem Geschäft beteiligt waren: die Bauern, die Großgrundbesitzer, die Viehauktionatoren, die Händler und die, die über die Preise in den Getreidesilos bestimmten?

Wieder betrachtete Madariaga den Kommissar im Spiegel, der nervös im Raum auf und ab lief, die Reitgerte in der Hand, bis er sich schließlich an einem der Tische niederließ. Saldías, sein Assistent, bestellte eine Karaffe Wein und eine Kleinigkeit zu essen, während Croce weiter Selbstgespräche führte, so wie er es immer tat, wenn er versuchte, ein Verbrechen aufzuklären.

»Er hatte eine Menge Geld bei sich«, sagte Croce, »deshalb wurde er ermordet. Sie haben dafür gesorgt, dass ihn die Pferderennen und besonders dieses Pferd aus Luján in den Bann zog.«

»Das mussten sie gar nicht, er war schon von Pferderennen begeistert, als er hier ankam«, bemerkte Madariaga lächelnd.

Manche behaupten, man habe ein Pferderennen nur für ihn organisiert, von dem er völlig besessen gewesen sei. Es stimmt wohl eher, dass man dieses Rennen, das bereits seit Monaten geplant war, vorverlegt hatte, damit Tony es besuchen konnte, und einige wollten darin eine Fügung des Schicksals erkennen.

Tony fand schnell heraus, dass es mehrere Sorten ausgezeichneter Reitpferde in der Provinz gab. Im Grunde genommen waren es drei: die kleinen, außergewöhnlichen Polopferde, die vor allem in der Gegend von Venado Tuerto gezüchtet wurden, die kreolischen Vollblüter aus den Stallungen an der Küste und die Pajarero-Rennpferde, die rasch beschleunigen, ungewöhnlich schnell, kurzatmig und ziemlich nervös sind und meist zu zweit gegeneinander antreten. Nirgendwo sonst auf der Welt findet man derartige Pferde oder Rennen.

Mit der Zeit lernte Durán die Geschichte der lokalen Pferderennen kennen.7 Er begriff schnell, dass in dieser Gegend mehr Geld gesetzt wurde als beim Kentucky-Derby. Die Großgrundbesitzer setzten auf Teufel komm raus, und die Landarbeiter verwetteten ihren gesamten Lohn. Die Rennen werden lange im Voraus organisiert, und die Leute sparen ihr gesamtes Geld für diesen Anlass. Es gibt Pferde, die ein hohes Ansehen genießen, jeder weiß, dass sie soundso viele Rennen an den und den Orten gewonnen haben, und dann setzt man auf sie.

Das Dorfpferd war ein Grauschimmel von Payo Ledesma, ein sehr gutes Pferd, das jedoch keine Rennen mehr lief, wie ein ungeschlagener Boxer, der die Handschuhe an den Nagel gehängt hatte. Seit einiger Zeit schon versuchte ein Großgrundbesitzer aus Luján, der einen unbesiegten Rotbraunen besaß, es herauszufordern. Zuerst schien Ledesma nicht darauf eingehen zu wollen, doch am Ende fand er Gefallen an der Sache, er schlug ein, wie es so schön heißt, und nahm die Herausforderung an. Und irgendwie wurde Tony in die Sache verstrickt. Das andere Pferd, das aus Luján, hieß Tácito und hatte eine recht seltsame Vergangenheit. Es war ein Englisches Vollblut, das sich irgendwann verletzt hatte und seitdem nicht mehr als dreihundert Meter laufen konnte. Seine Karriere hatte auf dem Hippodrom von La Plata begonnen, und später hatte es das Derby der Jungpferde gewonnen. Doch eines Tages, an einem regnerischen Samstag, erlitt es während des fünften Rennens von San Isidro einen Unfall. Es stürzte und brach sich den linken Vorderfuß, der nie wieder richtig verheilte. Das Pferd war ein Nachkomme eines Nachkommens von Embrujo, weshalb es als Zuchthengst zum Verkauf angeboten wurde, doch der Jockey des Pferdes – und der Pfleger – nahmen sich seiner an und pflegten es so lange, bis es wieder laufen konnte, trotz der Verletzung und allem. Offensichtlich konnten sie den Großgrundbesitzer aus Luján davon überzeugen, das Pferd zu kaufen, und seitdem hat es noch kein einziges Zweier-Rennen verloren. Das war die Geschichte, die man sich erzählte, und das Pferd war in der Tat beeindruckend, ein Fuchs mit weißen Füßen, widerspenstig und verschlagen. Es hörte auf niemanden außer seinen Jockey, der mit ihm sprach wie mit einem Menschen.