Insellicht - Anja Eichbaum - E-Book

Insellicht E-Book

Anja Eichbaum

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Als eine junge Germanistin auf Norderney Heinrich Heines literarischen Spuren nachgeht, gerät sie unbeabsichtigt in die Ermittlungen eines rätselhaften Mordfalls, der Inselpolizist Martin Ziegler verzweifeln lässt: Ein Unbekannter erlag am Kap, dem Seezeichen von Norderney, den Folgen eines Giftanschlags. Doch alle Hinweise führen ins Leere. Bald schon ziehen »Sondengänger« Zieglers Aufmerksamkeit auf sich. Die Schatzsucher scheinen ein Geheimnis zu hüten. Und dann ist da noch Ruth Keiser, die derweil eine ganz persönliche Katastrophe erlebt.

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Seitenzahl: 550

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Anja Eichbaum

Insellicht

Kriminalroman

Zum Buch

Schatzsuche Als eine junge Doktorandin Heinrich Heines literarischen Spuren nachgeht und sich zu Recherchezwecken im „Tea-Time-Hostel“ auf Norderney einmietet, gerät sie unbeabsichtigt in die Ermittlungen eines rätselhaften Mordfalls, der Inselpolizist Martin Ziegler zunehmend verzweifeln lässt: Ein Unbekannter am Kap, dem Seezeichen von Norderney, ist offenbar den Folgen eines Giftanschlags erlegen. Damit nicht genug. Bald ziehen auch noch »Sondengänger«, die ein Geheimnis zu hüten scheinen, die Aufmerksamkeit des Polizisten auf sich. Doch sämtliche Spuren führen ins Leere. Gerade jetzt könnte Ziegler Rat und Unterstützung gut gebrauchen, doch seine Vertraute, die Polizeipsychologin Ruth Keiser, stößt derweil auf die tragische Lebensgeschichte einer jungen Frau. Mehr und mehr taucht sie in die Geschehnisse ein und erlebt dabei eine ganz persönliche Katastrophe …

Anja Eichbaum stammt aus dem Rheinland, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Als Diplom-Sozialarbeiterin ist sie seit vielen Jahren leitend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Frühere biographische Stationen wie eine Krankenpflegeausbildung und ein „halbes“ Germanistikstudium bildeten Grundlage und Füllhorn zugleich für ihr literarisches Arbeiten. Aus ihrer Liebe zum Meer entstand ihr erster Norderney-Krimi, denn ihre Bücher verortet sie gerne dort, wo sie am liebsten selber ist: am Strand mit einem Kaffee in der Hand. Nach Ermittlungen auf Norderney und an der Ostseeküste, agieren ihre Protagonisten erneut auf der ostfriesischen Insel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung:/E-Book Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © mauritius images / Hans Zaglitsch

ISBN 978-3-8392-7212-1

Personenregister der Protagonisten

Gert Schneyder, Mordkommission Aurich

Martin Ziegler, Dienststellenleiter Norderney, lebt mit Anne Wagner zusammen

Nicole Ennert, Olaf Maternus, Silke Habicht, Ronnie Heitbrink, Polizisten

*

Ruth Keiser, Polizeipsychologin

Oskar Schirmeier, Journalist

*

Daniela Prinzen, geborene Rick

Frank Prinzen

Marthe Dirkens

Weitere Personen, alphabetisch

Adamietz, Patrik

Bothe, Doktor Rainer

Eske

Holgersen, Nils

Kahn Rebecca +

Judith

Matzdorf, Doktor

Robin

Schwarzbach, Andreas Richard, genannt Uriah

Trödel-Tammo

Wiesinger, Caroline

und andere

Prolog

Bonn

Das Papier knisterte. Er hielt den Atem an. Seine Hände zitterten. Er griff den Einband fester. Nicht auszudenken, das Exemplar würde herunterfallen. Für einen Moment schloss er die Augen. Dankbar. Erleichtert. Stolz. So hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt. Von Ehrfurcht erfasst, würde er es nennen, wenn es nicht fürchterlich abgedroschen klänge. Dabei war es wichtiger denn je, sich der gewählten Worte bewusst zu sein. Die Sprache zu formen. Exakt zu formulieren und keine Worthülsen zu produzieren. Das war sein Wunsch gewesen. Von Kind an. Und nun stand er an diesem Ort, der für ihn den gleichen Wert besaß, wie es der Altarraum für den Priester tat. Ein Heiligtum.

Der hölzerne Boden der Empore knarzte, als er das Gewicht verlagerte, während er an den Buchreihen vorbeiging. Er schwankte kurz, denn schwindelfrei war er nicht. Eine angeborene Sehschwäche, die lange übersehen worden war, hatte dazu geführt, dass er in seiner Kindheit motorisch recht unsicher gewesen war. Er lächelte. Was für ein Paradestück des Schicksals. Denn der mangelhafte Gleichgewichtssinn hatte ihn erst zu einem Büchernarren gemacht, und diese Bücherliebe hatte die Weichen für sein Leben gestellt.

Er zog die Brille, die er beim Lesen auf die Stirn schob, zurück auf die Nase. Vorsichtig balancierte er das geöffnete Buch den schmalen Gang entlang zur Treppe, die in den Innenraum der Bibliothek und damit zu den Schreibtischen führte. Er hatte einen der begehrten Plätze am Fenster mit seiner Ledertasche blockiert. Nicht weil ihn der Anblick der herumgammelnden Kommilitonen draußen auf der Hofgartenwiese interessierte. Nicht im Geringsten zog es ihn dort hinaus und in ihre Gesellschaft. Wie er überhaupt wenig Wert auf die Gemeinschaft legte. Die Erstsemesterwoche war eine Qual und vergeudete Zeit gewesen. Wo er sich Wissensvermittlung versprach, war es um blödsinnige Trinkspiele und peinliche Rätselaufgaben gegangen.

Er war sich in seinem Anzug erwachsener vorgekommen als die Tutoren und war nur froh, dass das Studium nun begonnen hatte. Das Germanistische Seminar hatte seine Türen für ihn geöffnet. Wie froh war er, wenn er den kalten Marmorböden, den laut hallenden Fluren und dem verrauchten E-Raum im Hauptgebäude der Universität entfliehen konnte, indem er Stufe für Stufe in die heiligen Hallen des alten Schlosses hochstieg. Wenn er an der Aufsicht in ihrem gläsernen Kasten seinen Ausweis präsentierte, ließ er die banale Welt hinter sich. Schon jetzt, kaum 14 Tage nach Studienbeginn, in diesem Oktober 1980, wusste er: Hier lag seine Bestimmung. Hier lag sein Glück. Und das würde er sich von niemandem mehr nehmen lassen.

*

Berlin

Die Musik wummerte durch alle Räume, verfing sich in den Ecken, kroch unter den Türen hindurch in den letzten Winkel der Studentenwohnung. Mit jedem Bass stieg sein Hass. Sein Hass auf die Ungerechtigkeit, sein Hass auf das Leben. Ein Leben, in das er nicht zu passen schien. In dem sich alle anmaßten, ihn zu belächeln. In seiner Leidenschaft, seiner Zielstrebigkeit. Wie sie ihn dabei verkannten. Auf ihn he­rab­sahen, mitleidig und mit gequälten Zügen um den Mund. Als wenn sie im Besitz der Wahrheit und Weisheit wären und nicht vielmehr er selbst. Nicht nur die Kommilitonen, von denen es nicht anders zu erwarten war. Sondern auch die Dozenten an der Bonner Uni. Ja, er hatte eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bekommen. Weil er fleißig war. Weil er sich nicht ablenken ließ. So unverfroren hatte ihm sein Professor das ins Gesicht gesagt. Dabei stand er in den Startlöchern. Er würde es ihnen zeigen. Würde sich seinen Lebenstraum nicht zerstören lassen. Vielleicht musste er sich anders aufstellen. Sein Forschungsgebiet neu justieren. Sich auf etwas ausrichten, mit dem ihm ein fulminanter Durchbruch gelingen konnte. Nur, was konnte das sein?

Jemand drehte die Musik lauter. Wütend warf er seine Brille aufs Bett. So waren Lesen und Arbeiten unmöglich. Wo war er hineingeraten? Statt weiterzukommen, geriet der Berlin-Aufenthalt, von dem er sich viel versprochen hatte, zum Desaster. Das Zimmer, das er für die Semesterferien über einen Aushang am Schwarzen Brett in Bonn ergattert hatte, erschien ihm perfekt. »Germanist sucht Mitbewohner für zwei Monate.« In Berlin war er noch nie gewesen. Dieses Inselleben der alten Hauptstadt erzeugte klaustrophobische Gefühle. Andererseits: Es war wichtig, über den Tellerrand zu schauen. Der Kleingeistigkeit seiner Universität zu entkommen. Auf neuen literarischen Stoff zugreifen zu können. Originalausgaben in den Händen zu halten. Möglicherweise war Berlin sein Schicksalsort. Viel mehr als dieser verstaubte Bonner Mikrokosmos, in dem er trotz aller Anstrengung kaum etwas galt.

Wie hatte er sich getäuscht. Der Germanist entpuppte sich als Popper, der sich in seiner Bundfaltenhose über seinen Anzug lustig machte. Als Partygänger mit einer blonden Haartolle und türkisfarbenen Augen. Als Frauenheld, der in der Bewunderung, die ihm seine Mitmenschen entgegenbrachten, aufblühte. Der sich als Genius fühlte, ohne es zu sein, weil seine sprachliche Eloquenz über die fehlende Tiefe seiner wissenschaftlichen Arbeit hinwegtäuschte. Dem trotzdem eine Karriere in der Germanistik bevorstand. Dem Blender. Nicht ihm, dem Könner.

Er setzte die Brille auf und öffnete die Tür. Rauchschwaden zogen durch die Wohnung. Auf dem Boden und sämtlichen Möbeln standen herrenlose Bierflaschen. Teller mit Essensresten stapelten sich auf den Tischen. Die Musik ließ seinen Magen vibrieren.

Seltsamerweise hatten sich alle in der Küche um den Fernseher versammelt. Der Ton war abgestellt. Kein Wunder bei all den Experten, die alkoholisiert das Spiel kommentierten und sich in ihren Formulierungen zu übertreffen suchten. Was für eine Betätigung für den Akademiker von heute.

Er sah zu der Zimmertür seines Gastgebers. Sie stand einen Spalt auf. Obwohl sie beide das Studienfach teilten, gab es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Eine Erkenntnis, die sich innerhalb von Minuten eingestellt hatte, in diesem Sommer 1986. Aber was machte das schon bei einem Arrangement auf Zeit.

Er schob sich in das Zimmer. Immerhin keine knutschenden Paare wie sonst auf den wenigen Partys, zu denen er jemals gegangen war. Schnell näherte er sich dem Schreibtisch. Schaute auf den Blätterstapel neben der Schreibmaschine, in die eine Seite eingespannt war.

Er nahm die obersten Papiere an sich und ließ seinen Blick darüber schweifen. »Heine«, stieß er aus und hörte, wie verächtlich es klang. Um Heine hatte er bisher einen großen Bogen gemacht. Er überflog die Einleitung. Um Heines Abkehr vom Judentum ging es in der Seminararbeit, die größtenteils fertig zu sein schien. Er griff zu den handschriftlichen Blättern mit Quellenangaben und Verweisen. Wie aus dem Nichts explodierte ein Gedanke in ihm: Das, was er las, war – genial. Es hätte aus seiner Feder stammen können. Es war aus seiner Feder. Oder etwa nicht? Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte es gewusst: Die Fahrt nach Berlin war nicht vergeblich.

Dass er die Wohnung verließ, zum Bahnhof fuhr und eine halbe Stunde später zurückkehrte, blieb unbemerkt. Die Aufregung am nächsten Tag tangierte ihn nicht. Was interessierte ihn ein verschwundener Blätterstapel? Selbst schuld, wenn man dem Partyvolk Tür und Tor zum Diebstahl öffnete. Was hatte er damit zu tun?

*

Bonn

Nein, er feierte nicht, an diesem denkwürdigen Tag, als er die Promotionsurkunde in den Händen hielt. Es war das »summa cum laude«, das höchste Lob. Der Türöffner zu weiteren akademischen Weihen. Er hatte sein Ziel erreicht. Die Glückwünsche seines Doktorvaters waren ehrlich gewesen. Anerkennung für seinen Fleiß, für die neuen Erkenntnisse und den sprachlichen Stil, mit dem er sie alle überrascht hatte. »Willkommen an Bord«, hatte es geheißen, »einen Heine-Kenner in den Reihen zu haben, wird unserer Universität gut zu Gesicht stehen. Was in Ihnen steckt, haben Sie viel zu lange verborgen. Nun, glücklicherweise nicht zu lange.« Es war ein dröhnendes Lachen. »Solang man im rechten Augenblick das Beste aus sich herausholt. Glückwunsch dazu.«

Er hatte gelächelt. Ein Etappenziel. Und das ausgerechnet mit Heine. Dem alten Juden.

Sonntag, 24. November

Norderney

»He, Marthe! Wo willst du denn hin? So schwer beladen, wie du bist.«

»He, Eske. Seh’ ich so aus, als müsste man mir helfen? Als wäre ich eine alte Frau, der man den Einkauf trägt?« Marthe Dirkens kniff die Augen zusammen und setzte ein verkniffenes Gesicht auf.

Ihre Nachbarin schüttelte den Kopf. »Nicht doch.«

Marthe ließ die beiden Einkaufstaschen zu Boden sinken und richtete sich auf. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Schon gut, Eske. Du hast ja recht. Ich bin alt. Da kann ich mich noch so gegen wehren und die Tatsachen gerne vom Tisch wischen, ich muss es einsehen, wenn die Knochen meckern. Die alten Knochen wohlgemerkt.«

»Ach, Marthe, wem sagst du das wohl? Ich komme gerade vom Fischerhaus. Heute war unser Rudelsingen. Du, wir Einheimischen werden auch immer älter. Nur gut, dass das Singen wieder modern wird. Jetzt traut sich der eine oder andere von den Zugezogenen auch mal zu uns. Aber wir Alten, also die, die immer schon hier waren, wir sind eine aussterbende Rasse.«

»Na, das will ich mal nicht glauben. Auch wenn vieles anders ist als zu der Zeit, als wir jung waren. Aber was willst du machen? Ich versuche, wenigstens ein bisschen mit der Zeit zu gehen.«

»Ja, das tust du, Marthe. Das wissen wir alle. Ich sage nur Lila. Der letzte Versuch. Mal in deinen Haaren und mal dein Brillengestell. Und dann deine Pension. Die auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Aber wenn sonst im Dachstübchen noch alles funktioniert, dann müssen wir zufrieden sein.«

Marthe runzelte die Stirn: »Steht das deiner Meinung nach in einem Zusammenhang, mein Dachstübchen und die Pension?«

»Nein, nein. So war das nicht gemeint. Ich jammere gerne den alten Zeiten hinterher. Warum kommst du denn nicht mal mit zum Fischerhaus? Zum Singen und für eine Teetied, da könnten wir dich gut gebrauchen.«

»Du, lass mal. Singen kann man das bei mir nicht nennen, mein Brummen wollt ihr nicht hören, und die Teetied – da wisst ihr doch, dass ich mein ganz besonderes Ritual habe, meinem seligen Mann zuliebe. Alte Gewohnheiten soll man nicht ändern. Ich bleib bei meinem Giftschrank.«

»Und den füllst du wohl gerade wieder auf?« Die Nachbarin ruckte mit dem Kinn zu den beiden Jutetaschen.

Marthe bückte sich und nahm die Einkaufsbeutel hoch. »Hörst du was klirren?« Eske zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf, sie konnte ihr ansehen, dass damit die Neugierde nicht befriedigt war. »Wenn du willst, nimm eine der Taschen. Wir haben ja den gleichen Weg.«

»Bücher?«, fragte Eske mit spitzer Stimme. Es klang, als handelte es sich um etwas Unanständiges.

»Bücher«, murmelte Marthe und setzte sich in Bewegung. »Was ist daran so ungewöhnlich? Lesen hält fit im Kopf, solltest du auch mal versuchen.«

»Also …«, schnaufte Eske.

»Jetzt reg dich nicht künstlich auf. Ich hab nur einen Scherz gemacht.«

»Es ist auch nicht so, als würde ich keine Bücher lesen«, erwiderte diese. »Also letztens erst …«

»Du musst dich nicht rechtfertigen, Eske. Ich lese auch immer weniger. Es strengt mich an. Die Augen wollen nicht mehr so richtig. Aber ganz ohne, da würde mir etwas fehlen.«

Eske blieb stehen und spannte die Tasche auf. »Moment. Du liest immer weniger, schleppst aber zwei gefüllte Beutel Bücher nach Hause? Das soll mal einer verstehen.«

»Ach, eigentlich ist das ganz einfach.« Marthe war froh, als ihre Nachbarin stehen blieb. So fiel nicht auf, wie kurzatmig sie war. »Schau dir die Bücher mal an.«

Eske griff mit spitzen Fingern nach einem Buch. »Von Bücher Lübben sind die also nicht. Sondern aus der Bibliothek.«

»Stimmt. Und das hat seinen Grund. Niemand wird die Bücher lesen.«

»Niemand wird die Bücher lesen?« Eske stand mit offenem Mund da.

»Genau. Sie sind … na, wie soll ich das sagen? Sie sind quasi Dekoration.«

»Dekoration?«

»Ja, du Papagei. Dekoration. Oder, wie Daniela sagte: zum Aufpimpen.«

»Auf… was?« Eske winkte ab. »Ist ja auch egal. Ich glaube, ich habe es kapiert. Ist das eine neue Mode? In eurem Hostel?«

»Eske, jetzt mach nicht so ein Getue. Dass ihr alten Insulaner euch nicht daran gewöhnt, dass die Zeit weitergeht. Ein Hostel ist eine moderne und preiswertere Form des Übernachtens.«

»Aber die Bücher?« Sie schaute wieder in die Tasche. »Das ist doch altes Zeug, was du dir da ausgeliehen hast. Wer liest so etwas heutzutage noch? Schiller, Brecht, Raabe, Storm.«

»Und hier: Goethe, Fontane, Lessing und die Manns. Beide.«

»Alles, was Rang und Namen hat. Nur lesen tut es keiner.« Eske schaute Marthe herausfordernd an. »Warum denn nichts Modernes? Was von der Küste? Ein paar Krimis vielleicht? Die liegen doch bei Bücher Lübben in Stapeln. So etwas wollen die Gäste lesen und nicht diese Staubfänger hier.«

»Mag sein. Aber Daniela hat immer neue Ideen. Sie richtet ein Literaturzimmer ein. Für einen ganz besonderen Gast.«

»Jemand Prominentes? Bei euch?« Eske schaute ungläubig.

»Blödsinn. Davon war nie die Rede. Doch genug geschnackt.« Sie setzte sich wieder in Bewegung. »Wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen. Es wird Zeit für meinen Tee.«

*

Er hasste die Nordsee. Schon jetzt. Den Wind, die Wellen, das Wetter.

Trotz des leichten Nieselregens hatte Rainer Bothe die Überfahrt nach Norderney auf dem Deck des Fahrgastschiffes über sich ergehen lassen. Die zwei Handvoll Touristen, die sich mit ihm hinaus in das nasskalte Wetter gewagt hatten, standen mit »Ahs« und »Ohs« an der Reling, während er versuchte, den Griff seines Schirms gerade zu halten. Seine Haushälterin hatte recht behalten. Am Meer trug man Kapuze und keinen Knirps. Wie immer hatte er wenig Neigung verspürt, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswegen ignorierte er die halb verstohlenen, halb belustigten Blicke der Mitreisenden. Sollten sie ihn für einen Sonderling halten. Na und? Daran hatte er sich längst gewöhnt. Das drückte nicht seine Stimmung.

Auch nicht das Reisen an sich. Hätte es ihn, wie in der Vergangenheit, nach Göttingen oder Paris verschlagen, wie gerne hätte er sein Bündel geschnürt und wäre, ohne zu zögern, aufgebrochen. Selbst gegen Düsseldorf würde er nichts sagen. Die Richtung, sie stimmte für ihn nicht. Es war, als säße er sprichwörtlich auf dem falschen Dampfer.

Sein Handgelenk schmerzte, und er wechselte den Schirm zur anderen Seite. Je näher sie der Insel kamen, umso voller wurde es an Deck. Smartphones wurden gezückt, und er glaubte, das satte Klicken herkömmlicher Fotoapparate zu hören, während unentwegt der Auslöseknopf der Handys bedient wurde. Das Schaulaufen der Insel mit ihren merkwürdig inhomogenen Gebäuden erschien ihm lächerlich.

Die polternde Gruppe von Menschen, die aus einer Kühltasche Kaltgetränke jeglicher Art hervorholte und sich mit tiefen Blicken zuprostete, widerte ihn an. Das Getrampel, das sie erzeugten, als sie sich die Eisentreppe hinaufschoben, beleidigte seine Ohren, ihr Freizeitlook seine Augen. Erwachsene mittleren Alters, die sich in ihrem Äußeren kein Jota von seinen Studenten unterschieden.

Rainer Bothe wünschte sich nur eines: dass es ihm gelänge, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, was ihn in diesen nassen Novembertagen auf die gottverdammte Insel führte. Dann würde er am Ziel seiner Wünsche sein. Nichts stünde länger seinen lang gehegten Träumen im Weg. Nur dieses eine Treffen. Über dessen Bedeutung nur er Bescheid wusste. Dass das so bleiben würde, dafür hatte er gesorgt.

Er lachte in sich hinein. Stellte sich die Gesichter vor, wenn der Coup gelänge. Die arroganten Schnösel an der Uni. Die ihn nicht ernst nahmen, ihn aber nicht loswurden. Sie alle würden Augen machen.

Kaum zu glauben, wie nah er seinem Ziel war. Wenn nur das Wetter anders wäre. Er streckte die Hand aus, um die Intensität des Niederschlags zu prüfen. Erstaunt stellte er fest, dass es aufgehört hatte zu regnen, obwohl der Himmel noch immer grau und tief hing und nahtlos mit dem Meer zu einer dunstigen Masse verlief.

Aber kein Regen mehr! Er drückte den Knopf an der Schirmhalterung und klappte das Gestell zusammen, schüttelte es kurz aus und hielt es in einem sicheren Winkel von Hose und Schuhen weg. Er legte den Kopf in den Nacken, als ein schriller Schrei ertönte. Möwen. Noch etwas, was er verabscheute. Er schirmte mit der Hand die Augen ab. Bevor er realisierte, was geschah, lief das ätzende Exkrement schon über seine Finger ins Gesicht. Bothe schrie auf. Die Menschen drehten sich zu ihm um und lachten.

»Möwenschiet bringt Glück«, rief ihm ein Fahrgast zu, der eine Flasche Bier auf ihn erhob. »Na denn man Prost!«

»Glück«, murmelte Rainer Bothe, während er in seinem Trenchcoat nach einem Taschentuch fingerte. »Glück ist etwas für die Dummen. Aber nichts für mich.«

*

Bonn

»Wer hat denn geklingelt?« Ruth Keiser richtete sich auf ihrer Yogamatte auf und zog das Shirt, das beim Herabschauenden Hund verrutscht war, herunter.

»Entspann dich, kein Besuch.« Oskar wedelte mit einigen Briefen. Unter den Arm hatte er ein Paket gequetscht. »Nur die Nachbarn. Sie haben unsere Post gestern angenommen. Die Druckerpatronen. Da steht unserem arbeitsintensiven Homeoffice-Sonntag nichts mehr im Weg. Perfekt getimt.«

Ruth verdrehte gespielt die Augen. »So habe ich mir unser Zusammenleben vorgestellt, Oskar Schir­meier. Romantik pur von Laptop zu Laptop. Vis-à-vis am Küchentisch.«

»Hm, höre ich da ein seltenes Wort aus deinem Mund?« Oskar stellte das Paket mitsamt den Briefen auf dem Boden ab. Er kam auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Hüften, während er sie näher an sich heranzog.

Mit beiden Armen hielt Ruth ihn auf Abstand. Doch sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Hey, das war keine Aufforderung. Ich bin mitten in meiner Yoga-Routine.«

»Aber wenn du schon von Romantik anfängst, kann ich das doch nicht überhören.«

»Solltest du aber. Weil ich mein Yoga brauche, um entspannt zu bleiben. Ich glaube nicht, dass es dir gefallen würde, mich mit all meinen Launen zu ertragen.«

»Glaubst du? Ich behaupte: Doch, das würde es. Weil ich dich liebe, liebste Ruth. Auch wenn du mir das nicht abnimmst, es nicht hören willst und überhaupt gerne deine Unabhängigkeit betonst. Ich finde, bisher haben wir das ziemlich gut hinbekommen mit unserem Experiment.«

Ruth bog ihren Oberkörper zurück, und Oskar verstärkte seinen Griff um ihre Körpermitte, um sie zu halten. Sie konnte ein lautes Lachen nicht mehr unterdrücken.

»Was ist daran so witzig?«

»Weil du selbst von einem Experiment sprichst. Was mich freut. Weil es mir den Druck nimmt, und das weißt du nur zu gut.«

»Stimmt. Ich sehe ein, dass dir der Schritt leichter gefallen ist, weil wir ergebnisoffen an die Sache herangegangen sind. Aber glaube nicht, dass ich aufgebe. Ich sehe darin durchaus das adäquate Zukunftsmodell für uns beide.«

Ruth zuckte mit den Schultern. »Wenn es nicht an der profanen Frage nach Wohnraum scheitert. Denn der Glücksgriff, den wir hier getan haben, ist nun einmal zeitlich begrenzt.«

Oskars Gesicht verfinsterte sich, als er die Augenbrauen zusammenzog. »Das ist der Haken, du hast recht. Und ich habe noch keine Idee, wie wir eine Lösung finden. Gute Kontakte hin oder her. Da hilft auch unser rheinischer Klüngel kaum weiter. Und natürlich freue ich mich, wenn Tim zurückkommt. So eine Reportage im Krisengebiet sollte nicht unbedingt in die Verlängerung gehen.«

Ruth löste sich aus Oskars Griff, nahm stattdessen seine Hand und trat mit ihm ans Fenster. Sie wusste, was er dachte. Es war eine Schnapsidee im wahrsten Sinne des Wortes gewesen. Sie hatten mit Tim, einem seiner alten Journalistenfreunde, einen geselligen und trinkfreudigen Abend verbracht. Tim hatte die Zusage erhalten, für mindestens ein Dreivierteljahr nach Afghanistan gehen zu können. Keine Ahnung, wie es gekommen war. Ein Wort hatte das andere ergeben. Dass alle sie für das ideale Paar hielten. Wie schade es sei, dass sie nur eine Wochenendbeziehung führen konnten. Ruths Angst vor Nähe und ihre strikte Weigerung, sich auf etwas Eheähnliches festzulegen, waren Thema gewesen. Sie konnte sich daran erinnern, wie sie sich anfangs verteidigt hatte. Tim und Oskar hatten auf hohem Niveau ein Wortgefecht mit ihr geführt, das sie beeindruckte. Der Alkohol hatte die Dinge beschleunigt, aber ehrlicherweise musste sie zugeben, dass die Argumente der Männer sie gereizt hatten. Nicht nur zum Widerspruch. Vielmehr hatten sie die Vorstellung herausgekitzelt, Oskar ein für alle Mal zu zeigen, wie unrecht er hatte, wenn er ein Zusammenleben mit ihr für möglich hielt. Und daraus war dann diese verrückte Wette entstanden.

Ruth blickte auf die Bäume, an denen nur wenig Laub hing. Wie schnell hatte sie sich an diesen Anblick der Südstadtstraße gewöhnt. Rascher, als ihr alle prophezeit hatten, hatte sie sich mit dem Kreischen der nahen Straßenbahn arrangiert, und selbst die Züge, die im engen Rheintal für eine ungewohnte Geräuschkulisse sorgten, raubten ihr nicht den Schlaf. Im Gegenteil. Das Zusammenleben hatte viele Vorteile gebracht. Zweisamkeitsgeborgenheitsmomente. Sommersonneglücksgefühle, die im Herbst nicht nachließen.

»Ich denke darüber nach. Es wird sich etwas finden lassen. Ganz sicher.«

Ruth schreckte aus ihren Gedanken. »Was?«

»Eine Wohnung. Es kann doch nicht sein, dass unser Erfolgsmodell daran scheitert, dass wir keine ausreichend große Wohnung finden.«

Ruth lachte. »Wir haben doch gerade erst Halbzeit. Vielleicht bist du zum Ende unserer Wette mehr als froh, dass du alleine in deine Wohnung zurückdarfst. Auch wenn die Studenten, die deine und meine Wohnung für den Übergang belegen, sicher nicht böse sind, wenn wir verlängern.«

»Mach dir keine Hoffnung, Ruth.« Oskar trat wieder vor sie. Legte die Hände um ihre Taille und zog sie so nah, dass sie nicht ausweichen konnte. »Das wird nicht passieren, dass ich dich freiwillig hergebe. Vergiss Osnabrück, Ruth. Bleib bei mir. Für immer.« Die letzten Worte murmelte er, während seine Lippen die ihren bedeckten.

Ruth seufzte und ließ sich in seine Umarmung fallen. Was sollte sie machen? Dieser verrückte Typ würde nicht lockerlassen. Und zumindest heute hatte sie wenig dagegen einzuwenden.

*

Norderney

Rainer Bothe sah auf die Uhr. Wie erwartet, war er zu früh angekommen. Ein Ärgernis, das sich nicht hatte vermeiden lassen. Gerne kalkulierte er die Dinge bis ins Kleinste, um sich später daran zu erfreuen, wie präzise er Abläufe vorherbestimmt hatte. In diesem Fall war es nicht sein Versagen.

Auf manches im Leben hatte man keinen Einfluss – und so war das auch mit der Ankunftszeit auf der Insel gewesen. Nicht verhandelbar. Die Fahrpläne ließen sich nicht nach seinen Interessen verändern. Er hatte gelernt, sich nicht an Unumstößlichem abzuarbeiten. Früher konnte er tagelang, und schlimmer, nächtelang darüber grübeln. Der Ärger fraß an ihm und ließ kaum Konzentration auf das Wesentliche zu. Heute war er ruhiger. Fast ausgeglichen, hatte seine Haushälterin vor Kurzem zu ihm gesagt. Sie musste es wissen. Wie sie ihn die ganzen Jahre mit all seinen Macken und Eigenheiten ertragen hatte. Es war nicht so, dass er das nicht wusste. Wenn andere sich an ihm störten, ihn einen Sonderling nannten, er stand zu seinen Überzeugungen und ließ nicht davon ab.

Bothe winkte einem Taxifahrer, der ihm gelangweilt entgegensah und keine Anstalten machte, ihm die Reisetasche abzunehmen. Deswegen riss er den Riemen der Tasche hoch, schulterte sie und ging mit grimmiger Miene auf das Auto zu.

»Guten Tag. Kundenservice wird auf Norderney wohl kleingeschrieben. In die Stadtmitte, bitte.« Er ließ sich auf die Rückbank fallen und wuchtete sein Gepäck über seine Beine hinweg auf den Nebensitz.

Der Fahrer rührte sich nicht, sondern blickte stoisch zur Windschutzscheibe hinaus. »Moin. Wem es bei uns nicht gefällt, dem sag ich nur: gerne zu der einen Tür rein und direkt an der anderen Tür wieder raus. Am besten dann auch direkt zurück auf die Frisia. Wir zwingen niemanden zum Bleiben.«

Bothe schloss kurz die Augen. Kein weiteres Taxi hatte am Hafengebäude gestanden. Jetzt eine Auseinandersetzung anzufangen, würde Energie kosten. Bei anderer Gelegenheit würde er ein paar passende Takte loslassen. Man sah sich immer zweimal im Leben, das hatte die Erfahrung ihn gelehrt. Und wenn nicht, bliebe die Möglichkeit, sich bei der Zentrale über das unverschämte Benehmen zu beschweren. Doch das hatte Zeit.

»In die Stadtmitte«, sagte Bothe etwas weniger harsch. »Bitte.«

»Geht doch«, murmelte der Mann und fuhr los. »Wenn Sie den Begriff Stadtmitte näher definieren? Wir sind zwar keine Millionenstadt, aber vielleicht ist es deswegen umso schwieriger.«

Bothe hasste diesen süffisanten, überheblichen Ton. Trotzdem antwortete er: »Ins Zentrum. Irgendwohin, wo es guten Kaffee oder Tee gibt.«

Der Taxifahrer lachte rau. »Wollen Sie nicht erst einchecken? Das Gepäck wegbringen? Welche Unterkunft ist es denn?«

»Café. Letzteres mit Accent. Ich hoffe, das versteht man auch in Ostfriesland.« Bothe merkte, wie sich eine Ader am Kopf mit Blut füllte. Seine Ärger-Ader, wie die Kollegen sagten.

»In Ostfriesland? Mag sein. Wir sind aber hier auf Nördernee. Und hier verstehen wir nur das, was wir verstehen wollen. Schon klar, oder? Sonst: Sie wissen ja, dort geht es zur Tür wieder hinaus.« Er deutete mit dem Daumen nach links. »Aber ich will mal nicht so sein. Ist heute mein Tag der Nächstenliebe. Ich lasse Sie am Kurplatz raus. Da stolpern Sie schon über das eine oder andere Heißgetränk.«

Bevor Bothe eine passende Antwort einfiel, hielt das Auto mit quietschenden Bremsen.

»Und egal, in welchem Hotel Sie absteigen, von hier ist alles fußläufig erreichbar. Denn nach Ferienwohnung und Nordhelm-Siedlung sehen Sie mir nicht aus. Bei netten Gästen mache ich schon mal eine Wette daraus. So nach dem Motto: Ich schaue dich an und weiß, wo du absteigst. Ich habe eine verflixt hohe Trefferquote. Wenn ich dafür Geld bekäme, dann wäre das ein nettes Zubrot. Aber so muss ich mein Glück dann eher dort versuchen.« Er zeigte auf das helle Gebäude neben ihm. »Die Spielbank. Nimmt und gibt, wie es ihr gefällt. Aber auch da sind Sie kein Typ für. Da lege ich mich fest.«

Bothe kramte in seinem Portemonnaie nach der passgenauen Summe, die das Taxameter anzeigte. Keinen Cent mehr würde er dieser Plaudertasche zahlen. Ihm fiel ein Cartoon ein, den er irgendwann von einem Kollegen via Dienstmail zugesandt bekommen hatte. »Der Ostfriese sagt Moin. Moin Moin ist schon Gesabbel.« Anscheinend hatte man vergessen, das diesem Taxifahrer mitzuteilen.

Der Fahrer nahm das abgezählte Geld und grinste spöttisch. »Ich hätte doch zu Wetten dass gehen sollen. Wetten, dass ich den Kunden hinter die Stirn schauen kann? Hotel, Vorlieben, Trinkgeld. Lese ich an der Nasenspitze ab. Schade. Gibt es ja nicht mehr, die Sendung. Aber einen hätte ich noch. Wetten, dass Sie nicht viel Spaß auf der Insel haben werden? Den Wetteinsatz können Sie behalten, es geht mir nur ums Rechtbehalten. Und das habe ich, so wahr ich Nils Holgersen heiße.«

»Holgersson.« Bothe war schon zur Tür raus und zog die Reisetasche am Ledergurt zu sich heran. »Es heißt Holgersson.«

Der Taxifahrer schlug auf das Steuer und lachte rau. Von der Hupe aufgeschreckt, sprangen ein paar Teenager zur Seite, was sein Lachen verstärkte. »Nächste Wette gewonnen. Typ Besserwisser. Nee, nee, Holgersen ist schon richtig. Können Sie sich merken. Nur für den Fall, dass Sie sich beschweren wollen. Oder dass wir uns wiedersehen. So von wegen zweimal im Leben. Das kennen Sie doch, oder?«

Der Mensch lachte noch, als Bothe die Autotür zuknallte. Zu gern hätte er ihr einen Tritt verpasst. Aber wichtiger war das, was vor ihm lag.

Er sah auf die Uhr. Eine Kaffeelänge. Dann passte es haargenau.

*

Bonn

»Du hast mir gar nicht gesagt, dass eine Karte gekommen ist.« Ruth wedelte mit der Post vor Oskars Nase. »Martin hat geschrieben.«

»Martin Ziegler? Eine Postkarte? Befindet sich Norderney etwa zivilisationstechnisch im Rückwärtsgang? Zurück zur Postkutsche statt Glasfasernetz?«

»Sehr witzig. Ich finde es schön, auf herkömmliche Art und Weise mit anderen Menschen in Kontakt zu stehen. Nicht nur Rechnungen und Pakete aus dem Onlinehandel zu bekommen.«

»Ist Letzteres tatsächlich schon einmal bei dir vorgekommen?«

»Hör auf zu zanken. Ich dachte, dir gefallen meine Einstellungen. Was ist falsch an der Unterstützung des lokalen Handels? Nichts, und das weißt du ganz genau. Aber schlimmer noch: Du lenkst vom Thema ab.«

»Stimmt. Die Karte. Zeig her.«

»Das ist keine klassische Ansichtskarte. Zumindest keine mit Norderney-Motiv. Vielleicht hast du sie deswegen übersehen?«

»Hm. Was ist es denn?« Er nahm ihr die Karte ab. »Ein Gedicht? Von Heinrich Heine?«

»Lies mal vor.«

Oskar begann mit tragender Stimme zu deklamieren:

»Fräulein

Das Fräulein stand am Meere

Und seufzte lang und bang

Es rührte sie so sehre

Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein sie munter,

Das ist ein altes Stück;

Hier vorne geht sie unter

Und kehrt von hinten zurück.«

Er lachte. »Wie abgefahren ist denn das?«

Ruth stupste ihn an. »Du meinst, was will uns der Autor damit sagen?«

»Also ich finde das ziemlich witzig von dem alten Knaben. Irgendwie hatte ich den ernsthafter in Erinnerung. Das gefällt mir richtig gut. Bedeutsamer wäre für mich die Frage: Was will uns Martin damit sagen?«

»Schau hinten drauf. Ich habe es schon gelesen.« Ruth blätterte durch die restliche Post.

»Oha. Eine Einladung. Auf die Insel. Wieder mal. Die beiden bleiben hartnäckig, was?«

»Ach komm, ist ja auch wieder ein Vierteljahr her, dass wir uns gesehen haben.«

»Das aus deinem Munde? Sonst bist du die Zögernde, wenn es um die Einladung der beiden geht.«

Ruth schüttelte den Kopf. »Nur wenn es darum geht, bei den beiden zu übernachten. Aber das hat Martin ja schon mit Sternchen vermerkt. Im Hostel ist für uns reserviert.«

»Das Hostel ist dir lieber?« Oskar schob seine Brille auf die Nase und sah sie nachdenklich an. »Bist du dir sicher, dass wir dort mehr Privatsphäre haben? Meine Cousine Daniela wird uns genauso vereinnahmen wie die alte Frau Dirkens.« Er grinste. »Wobei mir ihre spezielle Art des Teetrinkens gut gefällt.«

»Das denke ich mir. Ich sehe dich schon mit ihr über edle Whiskeysorten fachsimpeln.«

»Das heißt, du wärst bereit zu fahren?«

»Ich würde zumindest gerne darüber nachdenken. Wir haben ja ein paar Tage Zeit für die Antwort.«

Oskar schob den Laptop beiseite, der bisher auf seinen Beinen gelegen hatte. »Ein Wochenende Norderney. Direkt im neuen Jahr. Klingt verführerisch. Ich schaue auf jeden Fall gleich mal nach, ob ich dienstfrei habe.«

»Es tauscht doch bestimmt jemand mit dir. Immerhin sind es noch ein paar Wochen bis zu der Party.«

»Das erstaunt mich übrigens am meisten, mein liebes Fräulein.«

Ruth, die im Begriff stand, die Balkontür zu öffnen, erstarrte. »Wieso nennst du mich Fräulein?«

»Deswegen, du Feministin. Nur deswegen.« Oskar wedelte mit der Karte. »Keine Ahnung, warum Martin ausgerechnet dieses Gedicht ausgewählt hat. Aber was ich sagen wollte, ist etwas anderes. Dass du Lust hast, zu einer Überraschungsparty zu fahren, erstaunt mich schon.« Er stand auf und gab ihr einen Kuss. »Das eröffnet ja tatsächlich ganz neue Möglichkeiten.«

»Du! Untersteh dich. Überraschungspartys für andere lasse ich mir gerne gefallen. Solang ich nicht bei den Showeinlagen mitmachen muss. Aber ein netter Abend zum Tanzen und Klönen – doch, da bin ich dabei.«

»Also kein Konzept für nächstes Jahr? Zu deinem 51.? Ich würde ja allzu gerne …«

Weiter kam Oskar nicht. Ruth sah ihn auf ihre grimmigste Art an. »Wenn du das versuchen solltest, Oskar, also auch nur im Ansatz versuchen solltest, dann bist du ein toter Mann.«

Sie sah, wie er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.

»Soso, ein toter Mann. Hugh! Die Polizeipsychologin hat gesprochen. Mit welchem Tod hätte ich denn zu rechnen?«

Ruth verengte ihre Augen. Sie überlegte, wie ernst sie bleiben musste. Dann sah sie das Zucken in seinen Mundwinkeln, das Funkeln hinter den Brillengläsern und lachte laut auf. »Gift«, zischte sie leise. »Natürlich mit Gift. So wie alle Fräuleins morden. Also, nimm dich ab jetzt in Acht.«

*

Norderney

Daniela Prinzen strich die Buchstaben des Wandtattoos glatt, das sie über dem Kopfteil des Bettes aufgeklebt hatte. Sie trat in den Raum zurück und begutachtete das Ergebnis. Ob sie besser ein anderes genommen hätte? Etwas mit Meer, Strand, Sonne, Sand?

Sie schüttelte den Kopf und schob das Metallbett über den Laminatboden zurück an die Wand. Manchmal machte sie sich zu viele Gedanken. »Gekauft ist gekauft, basta«, murmelte sie vor sich hin, als sie hörte, wie sich die Eingangstür öffnete. Sie zupfte an der Bettdecke, dann trat sie auf den Flur.

Frau Dirkens kämpfte sich die Treppe hoch, in jeder Hand eine Büchertasche. Als sie Daniela hörte, hob sie den Kopf und geriet ins Schwanken. Sie ließ eine Tasche fallen und griff nach dem Geländer.

Daniela eilte ihr entgegen. »Frau Dirkens, um Gottes willen, jetzt lassen Sie doch die schweren Taschen stehen. Wenn Sie die Treppe runterfallen, war das keine Unterstützung.«

»Na, das ist ja eine Begrüßung.« Marthe Dirkens schien sich in jeder Hinsicht gefangen zu haben.

»Das ist nur der Schreck. Entschuldigung. Ich bin sehr froh, dass Sie mir den Gang zur Bibliothek abgenommen haben. Aber ein Unfall muss jetzt wirklich nicht sein.«

»Wann muss ein Unfall denn mal sein?«, gab Frau Dirkens zurück, und Daniela grinste über diese weise Einsicht.

»Stimmt. Manchmal drückt man sich etwas unbeholfen aus.«

»Papperlapapp. Das passiert. Sind nun mal so Redensarten. Aber wenn du hier ein literarisches Ambiente schaffen willst, musst du auch auf die Sprache achten.«

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht.« Daniela lachte. »Schon wieder so ein Spruch. Und literarisches Ambiente ist vielleicht ein bisschen weit hergeholt, oder? Ich freue mich nur so, dass ich das Zimmer für wahrscheinlich drei bis vier Wochen vermieten kann. Das ist im November ja keine Selbstverständlichkeit. Zumal in unserem Hostel nicht, bei dem wir auch ausdrücklich Kurzaufenthalte anbieten.«

»Womit ihr gut getan habt, mein Kind.«

Daniela grinste und griff nach den Taschen. Frau Dirkens, die lange die Pension geführt hatte, würde nicht aufhören, sie als Kind zu betiteln. Wie sie die alte Dame niemals würde duzen können. Auch wenn sie unter einem Dach wohnten. Daniela hatte mit ihrem Mann Frank das Haus auf Rentenbasis übernommen und führte es mit einem neuen Konzept weiter. Die ehemalige Pensionswirtin war ins Dachgeschoss gezogen, wo sie lebenslanges Wohnrecht hatte. Und sie unterstützte Daniela, wo es ging.

Sie hörte, wie Frau Dirkens hinter ihr schwerfällig die Treppe hochkam. »Wirklich, Daniela«, sagte sie, als sie auf dem Treppenabsatz angekommen war, von dem aus der lange Flur zu den Gästezimmern führte, »das war das Beste, was ihr aus dem Haus machen konntet. Nicht nur, dass ich davon profitiere, ihr habt es geschafft, den Charme des Hauses zu erhalten und trotzdem etwas Neues und Modernes zu machen.«

»Weil uns für mehr das Geld fehlte.«

»Aber vielleicht ist es gerade das, womit ihr unter dem Strich gut fahrt. Während alle anderen auf der Insel luxussanieren und immer teurere Unterkünfte produzieren, bietet ihr eine günstige Übernachtungsmöglichkeit mit wenig Luxus, dafür aber viel persönlicher Hingabe an. Und«, sie machte eine Pause, in der sie tief Luft holte, »gibt euch der Erfolg nicht recht? Ich finde schon.«

Daniela nickte. »Doch, das stimmt. Wir hatten bisher eine fantastische Saison. Die Kalkulation ist aufgegangen. Die Betten standen auch mit den Kurzübernachtungen nicht leer. Ich hätte nicht gedacht, wie viele spontane Buchungen wir unter der Woche hereinbekommen.«

»Siehste«, sagte Frau Dirkens und machte eine Handbewegung, als wolle sie Daniela vor sich her scheuchen, »das ist das Rezept. Antizyklisch nennt man das auf Neudeutsch, habe ich letztens im Fernsehen gesehen. Wenn man sich anders verhält als die breite Masse, und entgegen dem, was als Trend beschrieben wird. Und in so etwas bin ich Expertin. Wenn ich zum Beispiel meine amerikanischen Cookies statt ostfriesischem Teegebäck serviere.«

Daniela kicherte. »Ja, ja, Sie sind sowieso ein Eigengewächs. Jeder, der Sie kennt, kann ein Lied davon singen.«

»Ich bin stolz darauf, mein Kind. Sich nie verbiegen lassen, das war immer mein Anspruch. Deswegen schauen mich auch manche auf der Insel schief an. Ich bin immer meinen eigenen Weg gegangen. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, wer weiß, vielleicht wäre ich dann auch auf die Idee mit dem Hostel gekommen.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Daniela und betrat das Zimmer mit dem Wandtattoo. »Ich bin schon froh über das großzügige Frühstückszimmer, das Sie vor Jahren angebaut haben. Das und der herrliche Garten, beides ist bei den eher kleinen Grundstücken auf Norderney etwas Besonderes.«

»Siehst du, und das Schicksal wollte, dass du das fortführst. Und wenn ich eines Tages die Radieschen von unten betrachte, dann weiß ich alles in guten Händen. Meinen Giftschrank wirst du auch erben. Den gebe ich aber erst ab, wenn ich nicht mehr kann. Solang musst du warten, mein Kind.«

»Hoffentlich noch viele Jahre, Frau Dirkens. Das ist mein größter Wunsch.« Sie überfiel Wehmut, wenn sie daran dachte, dass Marthe Dirkens die 70 längst hinter sich gelassen hatte. Wie gut, dass sie bis auf kleinere Einschränkungen so munter war wie zu der Zeit, als Daniela mit ihren eigenen Eltern bei ihr Urlaub gemacht hatte. Seitdem diese nicht mehr lebten, waren Frau Dirkens und Norderney wie eine zweite Heimat für sie als gebürtige Rheinländerin geworden. In den letzten Jahren und Monaten sogar zum ersten Zuhause. Sie hatte es keine Minute bereut: ihren Umzug, die Übernahme der Pension, die Heirat mit Frank und das Zusammenleben mit Marthe Dirkens unter einem Dach.

»Oha.« Marthe Dirkens Blick fiel auf den Spruch an der Wand. »Voltaire. ›Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.‹ Ha! Sehr, sehr gut. Was für ein Vorsatz.« Sie warf Daniela mit Daumen und Zeigefinger einen Kuss zu. »Formidable, mon Dieu.«

»Klingt zwar seltsam, aber so habe ich es ja auch gemacht, als ich beschlossen habe, nach Norderney zu ziehen. Ich wusste, dass es mir gut tut und ich hier mein Glück finde.«

»Du bist ja auch ein rheinisches Glückskind. Du würdest überall an Land gehen können. Voltaire wohl eher nicht. Trotzdem ist dieser Spruch perfekt. Mit den Büchern, die ich besorgt habe, wird das richtig was hermachen. Für deinen Langzeitgast. Diese Doktorandin. Wie ist sie überhaupt auf dich gekommen?«

»Erinnern Sie sich an den Artikel, den Oskar über unser Hostel in diesem Reisemagazin veröffentlicht hat? Den Artikel hatte sie im Kopf, als feststand, dass sie ihre Doktorarbeit über Heinrich Heine schreiben wird. Weil er auch auf Norderney war. Und weil sie Hostels von ihren Rucksackreisen kennt und über alles liebt, hat sie bei uns angefragt.«

Marthe Dirkens wiegte den Kopf hin und her. »Sie erwartet aber jetzt nicht eine Hütte voller junger Menschen, die auf Reisen sind, oder? Das kann Norderney im November nicht bieten, auch du nicht.«

»Nein, nein.« Daniela hatte begonnen, die Bücher, die Frau Dirkens besorgt hatte, im Zimmer zu verteilen. Zwei auf den Nachttisch und einige stehend und liegend auf die Fensterbank. Einen kleinen Stapel schichtete sie auf eine Metallkonstruktion, die sie in einem der Dekorationsläden auf der Insel gefunden hatte. Mit dieser sah es aus, als hingen die Bücher freischwebend an der Wand. »Das haben wir besprochen. So ist es ihr ganz recht. Das Flair des Hostels, hat sie gesagt, verbunden mit Ruhe zum Arbeiten und Familienanschluss so viel, wie sie will. Ab und an bekommt sie Besuch, auch das haben wir besprochen, deswegen auch das variable Zimmer, in dem das zweite Bett aufgeklappt werden kann. Und mit ihrem Laptop ist sie sowieso flexibel, meinte sie.«

»Das hört sich nach einem perfekten Gast an, Daniela. Glückskind, das du bist.« Marthe Dirkens wies auf den Spruch an die Wand. »Um deine Gesundheit muss ich mir also keine Sorgen machen. Zumindest dann nicht, wenn du jetzt einen Tee mit mir trinkst.« Sie blinzelte verschwörerisch. »Schade, dass Voltaire daran nicht mehr teilnehmen kann.«

*

Martin Ziegler fuhr mit dem Daumen in den Hosenbund. Dem Kuchen, den die Kollegen heute Mittag aus der Kaffeegenießerei geholt hatten, konnte er einfach nicht widerstehen, so oft er sich das vornahm. Im Herbst, wenn auf den Tennisplätzen die Saison beendet wurde, fiel es ihm schwer, für ausreichend Ersatz an Bewegung zu sorgen. Dass er viele Wege mit dem Fahrrad erledigte, war auf der Insel nichts Besonderes, das gehörte für die Norderneyer zur Alltagsroutine. Nur Olaf riss seine Anzahl an Kilometern runter, wenn er seine tägliche Radrunde bis in den Inselosten ausdehnte.

Es half nichts. Entweder er verzichtete im Winter auf den Kuchen oder er musste sich eine Ersatzsportart für die kalte Jahreszeit suchen. Annes Aufforderung, sie beim Joggen am Strand zu begleiten, hatte er zurückgewiesen, und dabei würde es bleiben, obwohl er sonst am liebsten jede Minute mit ihr verbrachte. Laufen, das war nichts für ihn. Genauso wenig wie Yoga, auch wenn er Annes Beweglichkeit bewunderte. Er war sich sicher, er würde sich in einem solchen Kurs zum Affen machen.

Zu Hause konnte er das Angebot des Sportvereins näher unter die Lupe nehmen. Irgendetwas würde sich finden, und für den Anfang reichten ein paar Sit-ups.

Immerhin war ihm wegen des Kuchens und des engen Hosenbundes eine Idee für Annes Überraschungsparty gekommen. Er würde Ruth fragen, ob sie sich an einer lustigen Darbietung, die mit den Yogaposen zu tun hatte, beteiligen wollte. Sie würde protestieren, ihm einen Vogel zeigen und sagen, dass sie solche Feiern zu den verschiedenen Anlässen schon immer gehasst und sich ihnen verweigert habe, aber er hoffte, dass durch Oskars Einfluss und mit seiner Hilfe ihr Widerstand brechen würde. Schließlich ging es um Annes Geburtstag und nicht um eine Verabschiedung im Polizeipräsidium. Sie wären unter sich.

»Yoga«, schrieb er deswegen auf einen Zettel, den er aus der Box vor sich fischte. Dann faltete er die Notiz mehrfach, griff zu seinem Portemonnaie, das an der Schreibtischkante lag, und schob das Papier zwischen die Geldscheine.

»Chef, wir fahren eine Runde Streife, bist du gleich noch da?« Nicole steckte den Kopf durch den Türspalt.

Martin schielte auf die Uhrzeit, die am Rand des Computerbildschirms angezeigt wurde. »Ich denke nicht. Zeit, Feierabend zu machen und die Überstunden des Sommers abzubauen. Ist ziemlich tote Hose gerade. Selbst bei den Mails.« Er deutete auf den offenen Posteingang, obwohl Nicole ihn nicht von der Tür aus erkennen konnte. »Nur die Mail von einem der Kollegen, der uns über den Sommer verstärkt hat. Hast du aber sicher in deinem Postfach gesehen.«

»Ja, habe ich. Schön, dass es ihm so gut gefallen hat. Ich werde immer wehmütig, wenn die Verstärker weg sind.«

Martin lachte. »Dann müssen wir uns wieder gegenseitig auf den Keks gehen, meinst du? Und im Zweifel mehr Dienst schieben, wenn die Erkältungszeit losgeht. Aber andererseits: Wir sind auf der Insel, Nicole. Auf der Insel! Du weißt doch, wie viele uns darum beneiden.«

»Die meisten, die uns beneiden, würden es genau einen Herbst und Winter auf Norderney aushalten. Und in der Zeit nur jammern, was ihnen alles fehlt.«

»Ach komm, die ganz ruhigen Zeiten gibt es doch gar nicht mehr. Hör dich mal bei den alten Insulanern um. Manch einem ist das gar nicht recht. Sie kämen nicht mehr zur Ruhe, sagen sie. Klubs bis Ende Oktober, selbst im November sind noch viele Hotels gebucht, von den Zweitwohnungen mal ganz abgesehen. Und wenn der Winterzauber losgeht, ist es doch so voll wie im Hochsommer.«

»Jaja, ich weiß, und dann ist Karneval und dann schon wieder Ostern.« Nicole imitierte die Litanei, die sie kannten. »Aber Geld verdienen wollen sie alle.«

»Es braucht eben auch Zeit, das Geld auszugeben. Mal sechs Wochen schließen und selbst in die Sonne fliegen, das ist nicht mehr so einfach, wenn die Touristen offene Gaststätten, Geschäfte und Hotels erwarten.«

»Bin gespannt, wann sich das auf uns positiv auswirkt. Uns könnte eine dauerhafte Verstärkung auch guttun. Es würde die allgemeine Arbeitszufriedenheit stärken. Also dann, Chef. Schönen Feierabend.«

Martin winkte ihr zu, warf einen letzten Blick auf seine Mails und schloss das Fenster. Es war Zeit, für heute Schluss zu machen. Solche Tage sollte er nutzen. Nicole hatte recht. Einen Automatismus, dass sie über die ganze dunkle Jahreszeit hinweg im Ruhemodus verharrten, gab es nicht mehr. Neben den Veränderungen im Tourismus hatten sie häufig mit randalierenden oder kiffenden Jugendlichen, mit Streitereien zwischen Einheimischen und Zweitwohnungsbesitzern, mit aufgebrachten Handwerkern und Verkehrsunfällen mit E-Bikes und Scootern zu tun. Selbst das Thema Fahrerflucht kam nicht selten vor. Was damit zu tun hatte, dass ab dem Spätherbst das Saisonverkehrsverbot aufgehoben war. Für manch einen kam das der Aufhebung der Straßenverkehrsordnung gleich. Wenigstens spülte es Geld in die Staatskasse.

Während er den Computer herunterfahren ließ, trat er ans Fenster. Nicole und Ronnie stiegen in den Pritschenwagen. Ihr ganzer Stolz, auch wenn er sich am Strand öfter festfuhr, als sie das erwartet hatten. So war das mit den Behörden. In Berlin wie auf Norderney. Die einen verwalten und bestellen, die anderen baden es aus. Auf den Straßen aber verschaffte ihnen das Fahrzeug Aufmerksamkeit. Zumindest, wenn sie sich durch Heerscharen von Sommergästen oder Klubreisenden kämpfen mussten. Polizisten in Uniform gefielen gerne als Fotoobjekt, solang sie keine Anweisungen gaben. Die Spaß- und Freizeitgesellschaft war mittlerweile überall. Die Insel kein Ort ostfriesischer Genügsamkeit. Schon lange nicht mehr.

Einem plötzlichen Impuls folgend, riss Martin das Fenster auf und gestikulierte in Richtung des Wagens, den Nicole auf dem Hof der Polizeistation wendete. Ronnie ließ die Scheibe runter.

»Ist noch was, Chef?«

»Nein. Nichts.« Martin hob entschuldigend die Hände. »Wollte nur einen guten Dienst wünschen. Wenn noch was ist, wisst ihr ja, wie ihr mich erreicht.«

Ronnie salutierte lachend. »Aye, aye, Sir. Bei einer plötzlichen Gefahrenlage melden wir uns. Wir halten dann mal Ausschau.«

»Witzbold«, rief Martin zum Auto runter und schloss das Fenster. Sicher war es der kneifende Hosenbund, der dieses komische Bauchgefühl machte.

*

»Das muss ich loben, mein Kind, dass Oskar mich immer aufs Neue mit außergewöhnlichem Whiskey verwöhnt. Wer hätte das gedacht.« Marthe Dirkens hielt die Flasche, die sie aus dem Schrank geholt hatte, in die Höhe. »Wobei ich mir das hätte denken können. So wie du hat auch dein Cousin das Herz auf dem rechten Fleck.«

Daniela stellte die Teekanne auf das Stövchen zurück, während die Kluntjes in den Tassen knackten. »Ich glaube eher, ich muss mit Oskar reden, weil der Teekonsum im Haus drastisch angestiegen ist. Sie werden ja nicht müde, unseren Gästen Ihre spezielle Teezeremonie nahezubringen.« Sie versuchte, ernst zu bleiben. »Ich möchte nicht schuld sein, wenn Doktor Matzdorf schimpft.«

»Papperlapapp! Doktor Matzdorf würde dazu nie etwas sagen. Er weiß, was gut für mich ist. Ein Arzt vom alten Schlag. Nicht einer, der einen immer optimieren will.«

»Optimieren?« Daniela grinste. »Wer sagt denn so was?«

»Na alle. Diese ganzen Gesundheitssendungen im Fernsehen. Nein, nein, unser Doktor macht das richtig.«

Sie verbiss sich die Bemerkung, dass es womöglich daran lag, dass der Arzt selbst den Genüssen des Lebens nicht abgeneigt war. Wie man auf der Insel munkelte, litt er unter der einen oder anderen Wohlstandskrankheit. Daniela verstand, dass die Patienten sich bei so einem Mediziner angenommen fühlten.

»Ich glaube, Doktor Matzdorf wartet nur auf den Tag, an dem er zum Hausbesuch kommen darf«, antwortete sie stattdessen.

»Jaja, das kann gut sein. Er fragt jedes Mal nach meinem Giftschrank.« Frau Dirkens kippte einen großzügigen Schluck in die Tassen und setzte sich. »Aber noch ist es nicht so weit. Ganz nach dem Motto: ›A whiskey a day keeps the doctor away.‹ Hat bisher geklappt.«

Daniela kippte den Löffel, mit dem sie die Sahne vorsichtig vom Rand aus in die Tasse laufen lassen wollte, mit Schwung um.

»Kind, was machst du denn? So gibt das doch keine Wölkchen.« Marthe Dirkens grinste sie an und deutete auf den eigenen Tee, wo sich die Sahne lehrbuchhaft ausbreitete. »Nur weil ich solch gute Ratschläge auf Lager habe? Das mit dem täglichen Apfel kann doch jeder. Aber jeder bin ich nicht, war ich noch nie.«

»Frau Dirkens, Sie machen mich fertig. Wir kennen uns so lange, aber Sie sind immer für eine Überraschung gut.«

»So soll das auch bleiben, mein Kind. Deswegen jetzt einmal etwas anderes. Die Eske habe ich unterwegs getroffen. Sie hat mir mit den Taschen geholfen. Sie hat sich über die alten Schinken aufgeregt, na, du kennst Eske ja. Aber dann hat sie etwas gesagt, worüber ich jetzt die ganze Zeit nachdenke. Sie meinte nämlich, dass wir doch lieber diese Krimis auslegen sollten, die die Gäste so gerne lesen. Und dann fiel mir ein, weißt du noch, wir haben doch bei deiner Hochzeit schon einmal davon geredet.« Die alte Dame senkte die Stimme und starrte in die Luft.

»Frau Dirkens?« Daniela winkte mit der Hand. »Ich kann Ihnen nicht folgen. Krimis? Hochzeit? Ich hoffe, Sie wollen nicht darüber sprechen, was damals auf der Insel passiert ist.«

»Nein. Natürlich nicht. Ich musste nur gerade noch einmal nachdenken. Helene, so heißt sie doch. Richtig?«

»Helene? Sie sprechen in Rätseln.«

»Diese Krimiautorin. Die Ruth kennt. Weil sie zusammen studiert haben.«

»Ach so. Die Helene. Helene Dannenberg. Stimmt. Das Buch hatte ich dabei, als ich Ruth auf der Fähre kennenlernte.«

»Siehst du. Das hatte ich in Erinnerung. Unglaublich, wie das Leben so spielt. Dass Ruth jetzt mit deinem Cousin liiert ist.«

Daniela klopfte mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln auf den Tisch. »Es tut mir leid. Ich kann Ihnen heute nicht folgen. Worüber reden wir jetzt? Über Ruth? Über Oskar? Oder über Helene Dannenberg, die Krimiautorin?«

»Ach Kind, entschuldige. Du musst mich ja heute für vollkommen konfus halten.«

Daniela schüttelte den Kopf. Fast hätte sie gesagt, nicht nur heute. Aber das wäre ungerecht gewesen und würde ein falsches Licht auf die alte Dame werfen. Die Sprunghaftigkeit in den Gedanken und im Reden war ein Markenzeichen von Marthe Dirkens, solang sie sich erinnern konnte. Wie es die spezielle Teezeremonie und die Whiskeyflasche im Giftschrank waren. Deswegen hob sie nur fragend die Teekanne hoch.

Statt einer Antwort verteilte Marthe Dirkens erneut die Kluntjes auf die Tassen. »Was ich eigentlich sagen wollte: ob man diese Frau Dannenberg nicht einmal einladen sollte?«

»Jetzt erinnere ich mich. Irgendjemand hatte vor meiner Hochzeit davon gesprochen. Die Krimiautorin kommt in den Lesekreis und liest vor.«

»Genau. Aber das war eher eine Schnapsidee. So eine Krimiautorin wird wohl Besseres zu tun haben.«

»Aber? Irgendeine neue Idee muss Ihnen ja nach dem Gespräch mit Eske gekommen sein.«

»O ja. So ist es. Wir laden Frau Dannenberg ein, auf die Insel zu kommen und hier vor Ort zu schreiben.« Marthe Dirkens breitete ihre Hände aus und sah sie triumphierend an.

Daniela runzelte die Stirn. »Nur damit ich es richtig verstehe: Was genau heißt ›vor Ort‹?«

»Na hier. In einem deiner Gästezimmer. So wie diese Doktorandin. Nur, dass diese Krimiautorin kein zahlender Gast ist, sondern den Aufenthalt frei hat, wenn sie sich im Gegenzug verpflichtet …« Frau Dirkens stützte an dieser Stelle ihr Kinn in die Hand und sah nachdenklich in die Luft.

»Wenn sie in dieser Zeit an einem Norderney-Krimi arbeitet, vielleicht?«, bohrte Daniela nach.

»Ja, genau. An so etwas dachte ich. Und dann erwähnt sie in einem Nachwort, dass sie hier bei dir im Tea-Time-Hostel die Möglichkeit hatte, an ihrem Buch zu arbeiten. Was wäre das für eine Werbung!«

»Die Idee ist Ihnen aber nicht deswegen gekommen, weil Sie hoffen, in das Buch hineingeschrieben zu werden?« Daniela legte den Kopf schräg und pustete sich eine Strähne aus der Stirn.

»Blödsinn«, gab sich die alte Dame empört. »Na ja, böse wäre ich nicht. Jeder hofft doch auf ein bisschen Ewigkeit und Nachruhm. Oder etwa nicht?«

»Frau Dirkens, über Sie wird die Insel noch in 50 Jahren reden, auch ohne Kriminalromane. Was für eine verrückte Idee. Das müssen wir Ruth erzählen. Ich höre sie jetzt schon lachen.«

»Ach, Kind. Lass mal. Das muss nicht sein, dass ihr euch über mich alte Frau lustig macht. Ich dachte ja nur. Aber sicher hast du recht. Auch für mich sollte gelten: ›Schuster, bleib bei deinem Whiskey.‹ Und das tue ich.« Damit griff sie nach der Flasche und goss sich einen weiteren Schuss in die halb leere Teetasse.

Daniela sah ihr zerknirschtes Gesicht. Sicher war sie sich nicht, ob Frau Dirkens das Sprichwort absichtlich verändert hatte. Wenn ihre sprunghaften Gedanken doch ein Anzeichen für anderes wären? Ihr zog sich der Magen zusammen. Nein, daran durfte sie überhaupt nicht denken.

»Ach was«, sagte sie deswegen beschwichtigend. »Ich überlege das einmal. Bei Gelegenheit fragen wir Ruth, was sie von der ganzen Geschichte hält. Abgemacht?«

Frau Dirkens hob den Kopf. »Meinst du? Fragen kostet schließlich nichts.«

Daniela schob ihre Teetasse zurück. »Wir werden sehen. Jetzt ruft die Arbeit.«

Was für ein Glück, dass sie wenig Kontakt zu Ruth und Oskar hatte. Sie würde so schnell nicht in der Pflicht stehen. Bis dahin war längst Gras über die Sache gewachsen. Daniela kicherte. »Oder in Whiskey ertränkt«, murmelte sie vor sich hin, als sie einen letzten Blick in das vorbereitete Gästezimmer warf.

*

Das Kribbeln im Bauch wurde stärker. In seinem Bemühen, die Angelegenheit langsam anzugehen, hatte er viele Umwege in Kauf genommen. Nur nicht zu früh das wahre Interesse verraten, war seine Devise. So machte man das in der Szene. Um die Preise niedrig zu halten. Er war froh gewesen, dass die Kommunikation zwischen ihnen ohne moderne Medien auskam. Die wenigen Telefonate waren über ein Knurren am Ende der anderen Leitung kaum hinausgegangen. Stattdessen waren Postkarten gekommen. Hier waren in gestochen scharfer, mikroskopisch kleiner Schrift die Verkaufsdetails beschrieben. Nüchterne Karten, von denen er nicht geahnt hatte, dass man sie noch erwerben konnte. Kein Nordsee-Motiv, kein Wahrzeichen, keine Strandansicht. Vielmehr ein gelbstichiges Weiß. Vorfrankiert in einer längst vergangenen Zeit. Zwar in diesem Jahrtausend und nach der Euroumstellung. Dennoch musste eine weitere Briefmarke die Differenz ausgleichen. Oben links der Absender auf Norderney. Unten rechts seine eigene Dienstadresse. Sicher war sicher. Auf der sonst blanken Rückseite: Titel, Verfasser, Erscheinungsjahr, Auflage, Zustand und zuletzt der Preis. Kein Foto. Das Ganze verschlüsselt, wie besprochen. Und dann zum Schluss das Inserat.

»Freue mich auf meinen Schatz am 24.11. auf Norderney. Alles ist vorbereitet. H.H.«

Bothe musste grinsen. Wie oft hatte er als Junge Geheimcodes entwickelt. Wer hätte gedacht, dass ihm das einmal zugutekommen würde. Jetzt, fast am Ende seiner Laufbahn, aus der nie die Karriere geworden war, die er sich erträumt, die er sich erhofft hatte. Ausgebremst im Mittelbau der Universität. Einer der aussterbenden Beamten im Rang eines Akademischen Rates. Immerhin. Den Jüngeren waren solche Berufschancen verwehrt. Für ihn und seine Ambitionen war es trotzdem nicht genug. Weil er größer geträumt hatte. Weil er hoch gehandelt worden war. Damals, nach seiner fulminanten Doktorarbeit. Die dennoch in die wissenschaftliche Sackgasse geführt hatte. Abgestellt. Kaltgestellt. Vergessen im Germanistischen Seminar.

Jetzt aber. Es fühlte sich an, als könnte er an alte Zeiten anknüpfen. Alle sollten sehen, dass sie sich getäuscht hatten. In ihm, Rainer Bothe, Literaturwissenschaftler aus Leidenschaft. Heine-Spezialist. Es hatte Langmut gebraucht. Er würde der Welt beweisen, dass er ein Trüffelschwein war. Einer, der nicht aufgab, bis er den Schatz in den Händen hielt.

Er musste zugeben, dass er sich von diesem Besuch ein direkteres Ergebnis versprochen hatte. Das Herantasten, der Kontaktaufbau, die Nebenschauplätze hatten so viel Zeit gekostet, dass er ungeduldig geworden war. Was blieb ihm anderes übrig, als einzuwilligen?

Aber was war all das, wenn er heute Nacht den kostbaren Besitz sein eigen nennen konnte? Die Vorsicht schien ihm angebracht. War er doch der Letzte, der sich ein Scheitern wünschen würde.

Er klopfte auf das Bündel Geldscheine, das er bei sich trug. Gut investiertes Geld. Keine Frage. Eine Investition in seine akademische Reputation. Um ihn kam in Zukunft niemand mehr herum. Forschen statt lehren. Diesen aufgeblasenen, überkandidelten Studenten zeigen, was sie waren im Vergleich zu ihm. Ein Nichts, ein absolutes Nichts.

Das Kribbeln. Wie damals. In seinen ersten Wochen an der Universität. Da war er wieder. Der Traum von wissenschaftlichem Ruhm.

*

Bonn

»Überraschung!«

Ruth sah von ihrem Laptop auf. Oskar stand vor ihr und wedelte mit zwei ausgedruckten Eintrittskarten vor ihrer Nase. »Waren wir uns nicht einig, dass ich keine Überraschungen mag?« Sie schob mit den Händen ihre Haare zurück, die zu lang geworden waren. »Ich müsste unbedingt zum Friseur.«

»Wer redet denn hier von Friseur? Was ich habe, ist bedeutend besser.«

»Na, dann zeig her.« Ruth zog eine Haarsträhne bis vor die Augen, betrachtete die Spitzen und ließ sie wieder los, um nach den Karten zu greifen. Der Vortrag, den sie ausarbeitete, verlangte ihr viel ab, und sie wusste nicht, ob sie Oskar böse oder dankbar für die Störung sein sollte.

Doch statt ihr die Karten zu geben, zog er sie zurück, drehte sich im Kreis und marschierte durch das Zimmer, wobei er ein Bein schwungvoll nach vorn setzte und das andere hinterherzog. Dabei begann er zu singen:

»15 Mann auf des toten Manns Kiste,

jo ho – und ’ne Buddel voll Rum!«

»Oskar, du Kindskopf, ich arbeite. Was willst du mir sagen?«

»Was meinst du denn, was das ist?« Wieder intonierte er die beiden Liedzeilen und bewegte sich dazu durch den Raum.

Ruth klappte den Laptop zu, stand auf, ließ sich gegen ihn sinken und küsste ihn. Lang und intensiv. Immer, wenn er sich lösen wollte, köderte sie ihn erneut mit ihrer Zungenspitze.

»Hmm«, gab er zwischendurch von sich. Seine Versuche, sich Gehör zu verschaffen, schienen ihr mehr als halbherzig.

Stattdessen schob er sie durch den Raum, wobei er erneut den hinkenden Gang imitierte. Vor dem Bücherregal blieb er stehen und griff nach einer Buddelflasche, in der ein Segelschiff aufgezogen war.

Ruth musste lachen. »Okay, ich verstehe. Du willst mit mir segeln gehen.«

»Selbst wenn. Es interessiert dich nicht. Das sehe ich dir an. Genauso wenig wie diese Karten hier.«

»Doch. Das tut es. Wirklich.« Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände.

»Und deswegen kannst du auch nicht mit dem Küssen aufhören«, presste er zwischen den Lippen hervor.

»Das ist nur, weil ich überarbeitet bin. Eine paradoxe Reaktion. Ich schwöre.«

Oskar drehte eine ihrer Locken mit seinen Fingern. »Also gut. Ich glaube dir. Unter einer Bedingung: Laptop aus, Jacke an. Überraschung: go!«

»Och nein!«

»Och doch! Bedingung ist Bedingung. Du hast übrigens recht: Es hat mit Schiffen zu tun. Jo ho – und ’ne Buddel voll Rum!« Er steckte die Eintrittskarten in seine Gesäßtasche, nahm sie bei der Hand und begann, im Polkatakt mit ihr durch den Raum zu tanzen.

»15 Mann auf des toten Manns Kiste,

jo ho ho – und ’ne Buddel voll Rum!«

Keine Viertelstunde später saßen sie in ihrem Mini. Oskar hatte die Playlist seines Handys gestartet, und die rauen und rockigen Shantys der Gruppe Santiano drangen aus den Boxen.

»Langsam glaube ich, du willst mir etwas Bestimmtes sagen«, grinste Ruth. »Hat es im weitesten Sinne etwas mit der Seefahrt zu tun?«

»Wer weiß es, wer weiß es«, antwortete Oskar kryptisch. »Du hast noch eine Antwort frei.«

»Gut, ich lege mich fest. Keine Dampferfahrt auf dem Rhein.« Sie schaute ihn von der Seite an. Ihr Lächeln hatte etwas Triumphierendes, aber sie schaffte es nicht, es zu unterdrücken. »Kasalla!«

Oskar sah sie entgeistert an. »Kasalla?«, fragte er nach. »Was ist damit?«

Jetzt war Ruth verunsichert. »Die Karten. Nun ja, ich dachte, wir fahren auf ein Konzert. Kasalla. Diese Band aus Köln.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Na ja. Ich war doch im Bad, bevor wir los sind. Da habe ich Piratenlieder gegoogelt. Kasalla singt doch dieses Lied. ›Piraten‹.«

Oskar schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und lachte. »Oh, Mensch. Wer glaubt denn so was? Googeln im Bad ist aber ein ganz schlimmer Fall von Besserwisserei, Frau Psychologin. Und das Lied heißt Pirate. Ohne N.«