Inselspiel - Anja Eichbaum - E-Book

Inselspiel E-Book

Anja Eichbaum

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Silvester am Conversationshaus: Auf Norderney fiebern die Urlauber dem Feuerwerk entgegen. Auch Inselpolizist Martin Ziegler und Polizeipsychologin Ruth Keiser sind voller Pläne für das neue Jahr. Da zerreißt ein Knall den Winterzauber. Ein Unheil jagt in dieser Nacht das andere, bis eine Entführung am Neujahrsmorgen erst recht das Tor zur Hölle öffnet. Und niemand weiß: Was ist wahr? Was unwahr? Was Wirklichkeit? Und was Wahn? Ein Trip voller Angst beginnt. Die Würfel scheinen längst gefallen …

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Seitenzahl: 547

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Anja Eichbaum

Inselspiel

Kriminalroman

Zum Buch

Paranoia Silvesterstimmung am Conversationshaus: Auf Norderney fiebern die Urlauber mit Eierpunsch, Tanz und Musik dem Feuerwerk entgegen. Die Pensionswirtin Marthe Dirkens übt sich in Teezeremonie und Zukunftsvorhersagen. Auch Inselpolizist Martin Ziegler und Polizeipsychologin Ruth Keiser sind voller Pläne für das neue Jahr. Da zerreißt ein Knall den Winterzauber. Was erst nach Streich und Übermut aussieht, entpuppt sich als Auftakt einer Unglücksserie, die die Nacht durchzieht. Ein Unheil jagt das andere, bis eine Entführung am Neujahrsmorgen erst recht das Tor zur Hölle öffnet. Martin Zieglers Welt gerät aus den Fugen. Und niemand weiß: Was ist wahr? Was unwahr? Was Wirklichkeit? Und was Wahn? Ein Trip voller Angst beginnt. Können die Ermittler das Spiel noch einmal drehen? Die Würfel scheinen längst gefallen …

Anja Eichbaum stammt aus dem Rheinland, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Als Diplom-Sozialarbeiterin ist sie seit vielen Jahren leitend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Frühere biographische Stationen wie eine Krankenpflegeausbildung und ein „halbes“ Germanistikstudium bildeten Grundlage und Füllhorn zugleich für ihr literarisches Arbeiten. Aus ihrer Liebe zum Meer entstand ihr erster Norderney-Krimi, denn ihre Bücher verortet sie gerne dort, wo sie am liebsten selber ist: am Strand mit einem Kaffee in der Hand. Nach Ermittlungen auf Norderney mit Abstechern an die Ostsee und ins Rheinland, agieren ihre Protagonisten erneut auf der ostfriesischen Insel.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Emile Noir / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7770-6

Zitat

Die einzige Person,

der nicht geholfen werden kann,

ist diejenige,

die anderen die Schuld gibt.

Carl Rogers (Amerikanischer Psychologe und Psychotherapeut)

Personenregister der Protagonisten

Martin Ziegler, Dienststellenleiter Norderney

Anne Wagner, Ärztin

*

Ruth Keiser, Polizeipsychologin

Oskar Schirmeier, Journalist

*

Daniela Prinzen, geborene Rick

Frank Prinzen

Marthe Dirkens

*

Gert Schneyder, Mordkommission Aurich

Renate Lichterfeld, Aurich

Nicole Ennert, Olaf Maternus, Silke Habicht, Ronnie Heitbrink, Polizei Norderney

Weitere Personen, alphabetisch

Busch, Heiner

Hansen, Frauke

Jepsen, Bjarne

Klawitz, Bernd

Kröger, Simone

Lange, Oliver

Mahmoud, Khalid

Neuhaus, Brit

Petersen, Eske

Van der Maulen, Hans

Wagner, Monika

Wagner, Richard

27. Dezember

Norddeich-Mole

»Ich hasse es. Ich hasse es. Verdammt, ich hasse es.«

Martin Ziegler schreckte hoch. Dabei zog der Gurt stramm und schnitt ihm in den Hals. Er blinzelte gegen Lichtpunkte an, die zerfließende Strahlen in die Dunkelheit schickten. Der Asphalt glänzte vor Nässe, während die Scheibenwischer quietschten. Es dauerte einen Moment, bis Martin realisierte, dass er sich auf dem Beifahrersitz seines Wagens befand. Er schien tief in den Sitz und in den Schlaf gerutscht zu sein, wenn er sich recht erinnerte, hatten sie doch gerade erst Hamburg passiert. Was aber nicht sein konnte, denn das Auto stand eindeutig unter dem Dach des Ticketschalters der Reederei Frisia. Das hingeworfene »Moin« des Kassierers sowie sein stoischer Blick an Anne vorbei, als er die Insulaner-Card zurückgab, ließen Martin eins und eins zusammenzählen.

»Reihe zwei.«

»Ernsthaft keine Zusatzfähre?«

»Nö.«

»Aber warum?« Anne schlug auf das Lenkrad. »Es ist Freitag, Hauptanreisetag zwischen Weihnachten und Neujahr – und es gibt keine weitere Fähre?«

»Doch.«

Anne drehte ihr Gesicht zu Martin und sah ihn eindringlich an. Sie wollte offensichtlich, dass er die Dinge in die Hand nahm. Nur dass er keine klare Orientierung hatte. Um welche Fähre ging es eigentlich? Er schielte auf das Armaturenbrett. »Phhht«, entfuhr ihm ein Seufzer.

Anne rollte die Augen. »Was – doch? Kommt eine oder nicht?«

»Klar kommt eine. Die reguläre um 18.15 Uhr.«

»Und die Zusatzfähre?«, versuchte Anne es erneut.

»Fährt da vorne.« Der Mann machte eine unbestimmte Handbewegung. »17.10 Uhr. Die letzte von 13 Zusatzfahrten.«

»13?« Martin stöhnte auf. »Und ich habe mich für den Silvesterdienst eingetragen.«

»Frag mich mal.« Anne klang entnervt. »So ein verdammter Mist. Manchmal verfluche ich dieses Inselleben. Als wenn ich nichts Besseres zu tun hätte, als eine Stunde in der Wartereihe zu stehen.«

»Soll ich uns einen Kaffee holen? Einen Snack? Ein Fischbrötchen?«

Anne schnaufte nur, während sie den Wagen in die richtige Spur lenkte. »Ich habe nicht vor, in diesem Jahr noch etwas Kalorienhaltiges zu mir zu nehmen. Du kannst mir mal die Wasserflasche reichen. Nach der Schlemmerei über Weihnachten. Aber hol dir ruhig einen Milchkaffee.«

Er sparte sich, sie auf die verquere Reihenfolge ihrer Sätze hinzuweisen. Er wusste ja, was sie meinte. Braten mit komplettem Beilagenprogramm, eine Pute am ersten Weihnachtstag und Raclette am zweiten, quasi als vorgezogenes Silvesterprogramm. Dazu üppige Familienfrühstücke und Weihnachtskuchen am Nachmittag, jeweils mit wechselnder Besetzung, denn wenn die Tochter heimkehrte, reichte man sie gerne einmal bei Verwandten, Nachbarn und Freunden herum. Sekt und Wein und hier und da ein Eierlikör. Allein bei der Erinnerung wurde sein Bauch schwer, der Gürtel eng.

»Du hast recht. Wasser reicht für die nächsten Tage. Was bin ich froh, dass …« Er stoppte mitten im Satz.

Anne löste ihren Gurt und drehte sich zu ihm hin. »Komm, sag es ruhig. Dass du es keinen Tag länger ausgehalten hättest. Bei meiner Familie.«

»Mein Gott, so, wie du es ausdrückst, hört es sich schlimm an. Aber …« Er hob die Schultern.

»Jetzt schau nicht so schuldbewusst.« Anne beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Geht mir doch genauso. Mir ist das auch zu viel. Zu viel, zu eng, zu erdrückend. Ich bin froh, dass wir noch zwei Tage für uns haben. Das ist einfach kein Urlaub, keine Erholung, wenn ein Programmpunkt den nächsten jagt. Dabei ist Ruhe das, was ich mir an Weihnachten am meisten ersehne. Ein paar Tage Winterschlaf halten, ein gutes Buch lesen, einen Strandspaziergang machen, leckeres Essen und ein Rotwein gehören dazu, aber in Maßen.« Sie lachte auf. »Nicht diese Völlerei. Vollkommen aus der Zeit gefallen.«

Martin zog Anne zu sich rüber. »Ich bin froh, dass du es richtig verstehst. Ich käme nie auf die Idee, etwas gegen deine Familie zu sagen. Ich bin froh, dass sie sich anscheinend auch mit mir abgefunden haben.«

»Abgefunden? Meine Oma ist vollkommen vernarrt in dich.« Sie grinste. »Und das ist das Wichtigste.«

Martin nickte nachdenklich. Stimmt, Annes Oma mochte ihn. Das schon. Aber ihre Eltern? Sie hatten sich keine Blöße gegeben. Den Schein gewahrt. Höflich und zuvorkommend. Wie man einen Gast des Hauses empfängt. Ob sie ihn als geeigneten Schwiegersohn ansahen oder darauf hofften, dass er nur ein Zwischenspiel blieb, hatte er nicht herausgefunden. Vordergründig schienen sie sich weder am Altersunterschied noch an seinem rückschrittigen Karriereweg zu stören. Ganz traute er der Sache nicht. Man war nicht miteinander warm geworden. In ein paar Tagen würde er es wissen. Wenn er endlich Nägel mit Köpfen machte und Anne die Fragen aller Fragen stellen würde.

»Was ist?«, fragte Anne. »Du schaust so …«

»Wie denn?«

»Naja, halb versonnen, halb sorgenvoll. Ich kann es gar nicht richtig sagen.«

»Weder noch.« Er versuchte, das Thema zu wechseln. Nicht, dass Anne mit ihrem siebten Sinn hinter die geplante Überraschung käme. »Ich habe nur daran gedacht, dass deine Eltern gerne Silvester mit uns verbracht hätten.«

Anne schüttelte sich. »Ich bin froh, dass wir den Absprung geschafft haben. Ja klar, vielleicht noch ein oder zwei Tage länger in Lübeck, das wäre nicht schlecht gewesen. Wenn wir uns wenigstens mit meinen Freundinnen hätten treffen können. Aber meine Mutter hätte auch das nicht zugelassen. Zumindest keinen Zug durch das weihnachtliche Nachtleben. Sie hat ja schon Theater gemacht, als wir uns mit Brit zum Frühstück im Café verabredet hatten.«

Martin verdrehte unwillkürlich die Augen.

»Was ist jetzt? Gegen Brit hast du wohl nichts einzuwenden?«

»Gegen sie nicht. Mir fiel nur gerade dieser Gutmensch von Lübeck ein, dieser Hans, der sich ungefragt dazugesetzt hat.«

Anne lachte und boxte ihn in die Seite. »Du bist unfair. Hans ist wirklich einer der Guten. Wenn du wüsstest, wen er schon zurück auf die rechte Bahn gebracht hat, da kann sich mancher Streetworker eine Scheibe von abschneiden.«

»Wenn du meinst. Ich fand ihn nervig.«

»Wie du alle Männer aus meiner Blase nervig findest?« Anne lachte spitzbübisch. »Mach dir doch nicht immer so viele Gedanken. Schließlich bin ich jetzt mit dir auf dem Weg zurück nach Hause. Und das ist Norderney. Nicht Lübeck. Und auch nicht Boltenhagen. Denn ganz ehrlich: Auf Silvester in unserem Ferienhaus, wie meine Eltern das wollten, habe ich wirklich null Bock.«

»Ein paar Tage Ostsee, das wäre vielleicht doch ganz nett gewesen?« Martin ließ das Fenster runter. »Ich würde gerne mal wieder in euer Holzhaus. Im Winter ist es bestimmt noch reizvoller.« Anne machte es ihm nach und öffnete auch ihr Fenster. Sie sog die Nordseeluft tief ein. »Kann sein. Aber dann ohne meine Familie. Meine Mutter würde mich nur überall als ihre Tochter, die Ärztin, vorstellen. Und ich wäre damit beschäftigt, mir die geschwollenen Fußfesseln, die verdächtigen Muttermale und belegten Zungen der Ferienparkgäste anzuschauen. Nee, lass mal. Das brauche ich wirklich nicht.«

Martin grinste. »Und dass wir heute schon zurückfahren müssen, ist ja auch nur eine halbe Notlüge gewesen. Silvester schieben wir wirklich beide Dienst.«

»Siehst du, genauso habe ich mir das überlegt. Und weil wir für unseren Dienst an der Gesellschaft belohnt werden müssen, werden wir uns bis Silvester eine ganz besonders kuschelige Zeit gönnen. Du und ich. Und nur das, worauf wir beide Lust haben.«

»Lust?« Martin zog sie über die Gangschaltung hinweg auf seine Seite. »Höre ich Lust? Damit können wir gerne sofort loslegen.«

Anne stieß sich mit den Armen zurück. »Das hättest du wohl gerne. Hier auf dem Serviertablett. Vor aller Augen. Zur Freude aller Spanner und Voyeure. Und mit viel Glück landen wir damit heute noch auf Instagram.«

»Ach, Anne, schau dich doch um. Die paar Ostfriesen hier interessieren sich mehr für Wind und Wetter. Und die Touris, die warten nur auf die Frisia. Die wollen nur eines: rüber auf die Insel. Nur ich, ich will zusätzlich auch dich. Sogar: nur dich!«

30. Dezember

Norderney

»Ich werde dich in die Hölle bringen.« Anne hob den Zeigefinger und den kleinen Finger wie eine Hard-Rockerin zum Satansgruß, während sie mit kreischender Stimme mitsang. Dabei wippte ihr Kopf nach vorne. Die Haare, schon vom Wind durchgepustet, seit sie die Mütze abgelegt hatte, verdeckten ihre Augen. Mit ihren heruntergezogenen Mundwinkeln und den karminrot geschminkten und leicht geschürzten Lippen sah sie zornig und traurig zugleich aus.

Martin Ziegler schaute amüsiert auf sie herab. Anne, die Frau, die ihn immer wieder überraschte. Anne, seine Freundin und in nicht allzu ferner Zukunft seine Ehefrau. Anne, die seriöse Ärztin, die unter den Klängen der AC/DC-Coverband zur dunklen Metallerin mutierte und den Songtext von »Hells Bells,« der im Deutschen noch böser wirkte als im englischen Original, textsicher herausbrüllte. Martin konnte nur hoffen, dass Annes Patienten vorschriftsmäßig in ihren Krankenhausbetten lagen und nicht Zeugen ihrer düsteren Verwandlung wurden.

»Moin, Chef.« Ein Finger tippte an seine Schulter, und seine Mitarbeiterin Nicole brüllte ihm den Gruß ins Ohr. »Scheint ja eine heiße Nummer zu sein, diese Band. Erweckt selbst die Boomer. Dahinten headbangen sogar ein paar mit Rollator.«

»Boomer?« Martin sah die Polizistin, die sich vor drei Jahren vom Festland auf die Inselwache hatte versetzen lassen, fragend an.

»So nennt man doch die gealterten Babyboomer von damals. Also die Generation zwischen meinen Eltern und, na ja, den Leuten in deinem Alter. Glaube ich jedenfalls, dass du noch nicht zu der Kategorie zählst.«

»Boomer. Aha.« Er rieb über sein Kinn und hoffte, dass seine Gesichtszüge ihm nicht zu sehr entglitten. Sein Alter machte ihm zu schaffen. Aus Gründen. Von denen einer genau vor ihm abrockte und sich köstlich zu amüsieren schien.

Nicole grinste, als sie in Annes Richtung deutete. »Und bei ihr? Liegt es an der Musik oder am Eierpunsch?« Sie hob die Schultern. »Da kann man schon ein wenig neidisch werden.«

»Du hast doch gleich Feierabend. Und nicht zu vergessen: morgen an Silvester frei. Wo ist denn Ronnie?«

»Macht Fotos. Beziehungsweise spielt Fotomodell. Für einen Trupp Frauen, die gern ein Bild mit einem Uniformierten für Facebook haben wollen. Kennst du doch.« Sie brüllte gegen die Musik an, die beim Schlussakkord noch lauter wurde. Wenn das überhaupt möglich war.

Martin lachte. Er wusste, wovon Nicole sprach. Zwischen Weihnachten und Silvester war auf der Insel von jetzt auf gleich wieder Hochsaison. Geschäfte und Restaurants, die in der Winterzeit geschlossen hatten, zogen für eine Woche die Rollgitter hoch, polierten Tresen und Gläser, kreierten Silvestermenüs für diejenigen, die rechtzeitig vor einem halben Jahr Tische reserviert hatten, suchten verzweifelt nach Personal für die wenigen Tage, das den verwöhnten Gästen die Wünsche von den Lippen ablas, bestellten Waren in die Lebensmittelgeschäfte, als gälte es, das Schlaraffenland zu beliefern, während die Frisia die Fährüberfahrten verdoppelte und verdreifachte, orderten Feuerwerk und Unterhaltungsprogramm für den Winterzauber auf dem Kurplatz und den Silvesterball im Conversationshaus, um dann am 2. Januar gemeinschaftlich die Türen zu schließen, die Rollläden herunterzulassen, zum Winterfahrplan zurückzukehren und erneut in den gemächlichen Ruhezustand der rauen und kalten Monate zu fallen.

Nicole rollte mit den Augen. »Morgen kann man hier kaum stehen. Viel zu voll. Mir jedenfalls. Ich bin jedes Mal heilfroh, wenn das mit dem Feuerwerk und den vielen Menschen gutgeht.«

»Dafür hast du frei. Ich hingegen …«

»Hast freiwillig angeboten, den Dienst in der Silvesternacht zu übernehmen. Weil deine Anne auch Dienst im Krankenhaus hat. Also keine Beschwerden.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, keine Beschwerde. Alles ist gut so, wie es ist.« Er lächelte über seine eigenen Worte. Nach einem Jahr, das wieder einmal voller Zweifel und von zeitweiligem Misserfolgserleben geprägt war, schien sich jetzt das Leben zum Guten zu wenden. So glücklich und zufrieden wie heute war er schon lange nicht mehr gewesen.

Die Glocken der Hölle erklangen erneut und fielen mit dem donnernden Applaus zusammen. Frenetisch wurde nach Zugaben verlangt, und Anne drückte ihm das Glas mit dem mittlerweile abgekühlten Eierpunsch in die Hände. Rhythmisch hob sie ihre Arme mit den gespreizten Fingern in die Luft.

»Deine Anne ist definitiv keine Boomerin, eher Gothic, was? Pass mal auf, dass die uns nicht in den letzten Tagen des Jahres den Teufel beschwört. Raunächte, du weißt schon, da passieren Dinge zwischen Himmel und Erde, wie sonst zu keiner Zeit.« Sie heulte auf wie ein Werwolf. »Wobei, mir kann es ja egal sein. Ich habe frei. Und ich werde mich morgen so weit wie möglich weg von allen Menschen an den Strand setzen und das neue Jahr erwarten. Nur das Meer, der Himmel und ich. Beste Kombi überhaupt.«

»Ja, ja.« Martin sah sich nach Ronnie um. Nicoles Sprüche kratzten an seiner Stimmung. Manchmal war ihre Dampfplauderei für ihn schwer zu ertragen. Besonders heute an ihrem freien Abend. Während sie morgen arbeiten müssten. Als hätte sie es gespürt, drehte Anne sich genau jetzt zu ihm um. Sie strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen wirkten in dem warmen Licht der Weihnachtsbeleuchtung erhitzt.

»Hach, war das großartig. So jung habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Das erinnert verdammt an unsere Medizinerpartys.« Erst jetzt schien sie Nicole wahrzunehmen. »Sorry. Du Ärmste musst Dienst schieben, während wir uns amüsieren.«

»Kein Problem. Morgen ist ja Rollentausch.« Nicole grinste und hob die Finger in Rockermanier. »Auch wenn ich es etwas ruhiger angehen werde.«

»Das kann ich gut verstehen.« Anne wurde ernst. »Martin und ich mögen beide kein Silvester. Somit sind wir morgen im Dienst gut aufgehoben. Beim Jahreswechsel wird es dabei erfahrungsgemäß nicht langweilig. Kein Problem, solang alle Glieder dranbleiben. Ich meine wegen des Feuerwerks. Nicht, dass ihr was anderes denkt.«

Martin schüttelte den Kopf. Nein, an abgetrennte Gliedmaßen wollte er nicht denken. Weder in die eine noch in die andere Richtung. Er war sich sicher: Dieses Jahr würde ruhig zu Ende gehen. Ohne Turbulenzen. Ohne Sorgen, Ängste und Zweifel. Nur mit guten Gefühlen und der Aussicht auf ein besonderes Ereignis. Auf ein Jahr, in dem Anne Wagner seine Frau werden würde.

31. Dezember

Norderney

»Mein Kind, wo haben wir denn bloß das Blei? Ich kann es nirgends finden.«

Daniela Prinzen ließ den Kochlöffel zurück in die Mitternachtssuppe gleiten, die auf dem Herd köchelte, und drehte sich um.

»Blei?«

»Ach Gottchen, was ist denn mit dir? Da stelle ich eine ganz normale Frage, und du siehst mich an, als hätten mich alle guten Geister verlassen. Nimm die Fäuste wieder aus den Hüften, du machst mir Angst mit deinem grimmigen Gesichtsausdruck. Was habe ich denn Falsches gesagt?«

»Blei.«

»Ja, genau. Nach Blei habe ich gefragt. Ich verstehe nicht, warum du so harsch reagierst.«

»Meine liebe Frau Dirkens.« Daniela stockte und ließ ihre Hände sinken. Ob die alte Dame sich wirklich nicht mehr erinnerte? Sanfter als bisher fuhr sie fort: »Das hat einen guten Grund. Es ist gerade ein paar Wochen her, dass wir über Blei in Heinrich Heines Haaren diskutiert haben, und wo das hingeführt hat, da will ich gar nicht dran denken.«

»Ach herrje. Jetzt, wo du es sagst.« Marthe Dirkens schlug sich die Hand vor den Mund. Aber Daniela sah genau, wie ihre Augen aufblitzten. Und das war der Grund, dass sie sofort Strenge in ihre Stimme legte. »Ich kann nur hoffen, dass Sie uns nicht schon wieder in Situationen bringen, die dramatisch enden könnten.«

»Ich?«, quiekte Frau Dirkens. »Weil ich nach Blei frage? Wo denkst du hin, mein Kind.«

Daniela zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht so sicher, was ich denken soll. Also raus mit der Sprache. Was hat es diesmal mit dem Blei auf sich?«

Marthe Dirkens drückte sich an ihr vorbei. Mit dem Kochlöffel rührte sie in dem großen Topf, während sie sich mit der anderen Hand den aufsteigenden Duft zuwedelte. »Köstlich. Wirklich hervorragend, deine Suppe.«

»Frau Dirkens!«

»Jaja, ist schon gut. Ich verstehe nur nicht, wie du so auf der Leitung stehen kannst, mein Kind. Man könnte meinen, du wirst alt.«

Daniela holte tief Luft. Das war ja wohl die Höhe. Sie war halb so alt wie Frau Dirkens, die auf die 80 zusteuerte und immer mehr Anzeichen von Wunderlichkeit und Vergesslichkeit zeigte. Doch dann hörte Daniela das leise Kichern. Sah die schmalen Schultern zucken, den Kopf beben. Verdammt. Frau Dirkens führte sie mal wieder an der Nase herum und hatte sichtlich Spaß daran.

»Beruhige dich mal, Kind. Nicht, dass ich schon am frühen Morgen etwas zur Stärkung aus dem Giftschrank holen muss.«

Daniela brach in Gelächter aus. »Daher weht der Wind.«

Es war unglaublich. Marthe Dirkens, früh verwitwet, hatte dieses Haus lange Jahre als Pensionswirtin betrieben und es erst vor einiger Zeit auf Daniela und ihren Mann Frank übertragen. Dafür war sie ins Dachgeschoss gezogen, wo sie lebenslanges Wohnrecht genoss, während Daniela aus der etwas altbackenen Unterkunft ein kleines, modernes Hostel gemacht hatte. Wer auch immer mit der alten Dame zu tun hatte, kam unweigerlich in den Genuss ihres »Giftschranks«, in dem sie eine stattliche Sammlung exquisiter Whiskeys verwahrte, mit denen sie ihre täglichen Teezeremonien aufwertete. So jedenfalls würde Marthe es beschreiben.

Zu dumm für sie, dachte Daniela, dass zuletzt die Ärzte den Verzicht auf Alkohol anmahnten. Doch Marthe Dirkens, Liebhaberin des englischen Adels, verwies gerne auf das hohe Alter der Queen und beharrte darauf, dass Elisabeth im Buckingham Palace ähnlichen Gewohnheiten nachginge. Und immer wieder fand sie Gründe, den Giftschrank öffnen zu müssen.

»Der Wind, der Wind, das himmlische Kind«, äffte Frau Dirkens derweil ihre Stimme nach. »Dann eben nicht.«

»Genau. Eben nicht. Bestimmt nicht heute am helllichten Tag. Ich für meinen Teil möchte Mitternacht noch gern erleben.«

»Aha!« Marthe Dirkens streckte den Zeigefinger in die Luft, pustete ihre lilafarbene Strähne im silbrigen Haar aus dem Gesicht und ruckelte an ihrer Brille. »Jetzt sorgst du für kriminelle Fantasien.«

»Was?« Daniela schüttelte den Kopf. »Blödsinn. Sagt man doch so. Raus mit der Sprache. Was ist mit dem Blei?«

»Kindchen, Kindchen, bist du immer noch nicht darauf gekommen? Zähl doch mal zwei und zwei zusammen. Silvester. Mitternachtssuppe. Ekel Alfred im Fernsehen. Na, was fehlt da noch?«

»Blei?«

»Der Kandidat hat 100 Punkte. Womit sonst sollen wir denn das Bleigießen machen?«

»Ähm.«

»Was ähm? Weißt wohl auch nicht mehr, wo wir das Blei haben. Ich bin mir sicher, wir haben noch Reste vom letzten Jahr.«

Daniela biss sich auf die Lippen und wandte sich geschäftig der Suppe zu. Bäng. Da war es wieder. Sie hatten damals kein Blei gegossen. Weil es verboten worden war. Und sie hatten eine lange Diskussion darüber mit Frau Dirkens geführt. Bis jemand die Idee mit dem Wachs gehabt hatte. Was so schlecht funktioniert hatte, dass sie alle miteinander beschlossen hatten, die alte Tradition zu begraben. »Wat mutt, dat mutt«, hatte Marthe Dirkens gesagt und einen Whiskey darauf getrunken.

Und nun wusste sie nichts mehr davon. Wie manch anderes nicht. Am Anfang hatte Daniela es für normale Vergesslichkeit gehalten, aber zuletzt hatte sie sich zunehmend gesorgt. Nun gab es Hinweise, dass ganz grundsätzlich etwas nicht stimmte. Sie alle warteten auf Untersuchungen, die Anfang Januar stattfinden sollten. Danielas Augen wurden feucht, als sie daran dachte.

»So schlimm ist das nun auch nicht, dass du nicht weißt, wo du das Blei gelassen hast. Das ist doch keine Träne wert.«

Daniela lächelte. Frau Dirkens vergaß vielleicht vieles, aber sie war eine gute Beobachterin. Sie konnte ihr nur schlecht etwas vormachen. Doch die Wahrheit, die konnte sie ihr nicht sagen. Wenn für Marthe Dirkens Bleigießen zu Silvester dazugehörte, dann war das so. Und das konnte kein Gesetz und keine EU ändern. Auch sie, Daniela, nicht.

»Stimmt, Frau Dirkens«, sagte sie munterer, als ihr zumute war. »Ich habe das Blei bestimmt verbummelt. Wissen Sie was? Sie setzen sich jetzt hier auf den Stuhl, ich koche Ihnen einen Tee und dann laufe ich schnell und besorge noch etwas Blei für heute Abend. Einverstanden?«

Marthe Dirkens strahlte. »Hört sich nach einem guten Plan an. Wenn du mir dazu noch eben den Whiskey aus dem Giftschrank holen könntest? Dann hätte ich nichts mehr zu meckern.«

Daniela seufzte. Whiskey oder Blei? Pest oder Cholera? Im Zweifel wohl beides. Das Leben war kein Ponyhof.

*

»Ich denke an dich.«

»Und ich an dich. Punkt Mitternacht.«

Martin setzte ein gespielt grimmiges Gesicht auf. »Nur dann?«

»Herr Ziegler, ich werde im Dienst sein und mich den Patienten widmen müssen.« Nun war es an Anne, ernst zu bleiben. Aber Martin sah, wie ihre Mundwinkel zuckten.

»Na dann, Frau Wagner«, griff er den Tonfall seiner Lebensgefährtin auf, »auf einen ruhigen Dienst. Vielleicht fällt zwischendurch doch ein kleiner Gedanke an mich ab.«

»Blödmann!« Anne streckte ihm die Zunge raus. »Du weißt doch, dass Silvesternächte immer Überraschungspakete sind. Nur ruhig, das sind sie selten.«

»Wem sagst du das.« Martin seufzte. »Meinen Nachtdienst habe ich mir zwar selbst eingebrockt. Zu wenig Chefqualitäten, würden jetzt manche wieder sagen. Stimmt ja auch. Aber meine Mannschaft hat es gefreut, dass ich bereit war, heute Nacht einzuspringen. Was hätte ich machen sollen? Den Mangel verwalten, bis auch die Letzten aus der Truppe keine Lust mehr haben?«

»Ist doch bei uns das Gleiche. Vor allem beim Pflegepersonal. Ich hoffe, dass wir ausreichend besetzt sind für das, was ihr uns heute Nacht reinspült.«

»Hey, hey, das klingt, als hätten wir Schuld, dass es zum Jahreswechsel bei euch turbulent wird. Aber wir füllen die Menschen weder mit Alkohol ab noch heizen wir Streit und Eifersucht an und erst recht tragen wir keine Schuld an den elendigen Verletzungen durch Feuerwerkskörper.«

»Puh, vor Letzterem graust es mir am meisten. Ich habe das Gefühl, die Leute besorgen sich Jahr für Jahr mehr von diesen illegalen Knallkörpern.« Anne zog ihre Wollmütze über den Kopf. »Für mich wird es jedenfalls Zeit. Ich habe versprochen, rechtzeitig zur Ablösung da zu sein. Blöd halt, dass Patriks Mutter ausgerechnet an Silvester Geburtstag hat.«

»Ich würde sagen, sehr praktisch für deinen Kollegen.«

Anne warf ihm einen schnellen Blick zu. »Du musst nicht so ironisch sein.«

»Na ja, normalerweise wäre er als Neuzugang an eurer Klinik doch definitiv mit der Silvesternacht dran gewesen.«

»Es ist ein runder Geburtstag. Habe ich dir doch erzählt.« Anne klang genervt. »Ich hinterfrage ja auch nicht dein heutiges Einspringen.«

»Das fiel mir leicht, weil du den Dienst im Krankenhaus zugesagt hattest.« Martin versuchte, gelassen zu wirken. In Wirklichkeit passte es ihm nicht, dass Anne dem Wunsch ihres Kollegen so schnell nachgegeben hatte. Das war kein Personalnotfall wie bei ihnen auf der Polizeiwache. Aber Schwamm drüber. Jetzt waren sie beide im Dienst, und das war besser, als den Jahreswechsel alleine auf der Couch zu verbringen.

»Wie dem auch sei, ich muss los.« Anne kam zu ihm, fasste seine Hände und hob ihr Gesicht zu ihm hoch. »Jetzt lass uns nicht in so einer miesen Stimmung auseinandergehen. Bekomme ich einen Kuss?«

Martin grinste. »Einen? Von mir aus alle Küsse dieser Welt und noch ganz etwas anderes.« Er deutete mit dem Kopf nach hinten.

»Martin! Bleib mal ernst.«

Er beugte sich zu ihr und küsste sanft ihre Lippen. Dann zog er sie eng an sich. »Ich mag dich gar nicht gehen lassen«, flüsterte er in ihre Haare. »Wenn ich mir vorstelle, dass ich dich erst nächstes Jahr wiedersehe.«

Anne wand sich in seinen Armen. »Das kitzelt, wenn du an meinem Ohr flüsterst. Und ich muss wirklich los. Wirklich.« Das letzte Wort sprach sie mit Nachdruck, während sie sich von ihm wegdrückte.

Mit zwei, drei Schritten war sie an der Tür und drehte sich zu ihm um. Der Blick, den sie ihm zuwarf, war voller Wärme, Liebe und Zärtlichkeit. »Ich würde auch lieber bei dir sein. Um Mitternacht denken wir aneinander. Egal, was gerade zu tun ist. Einverstanden?«

»Klar doch. Und in jeder weiteren Minute, die dich von mir trennt, auch.«

»Du grenzenloser Süßholzraspler und Romantiker. Hab ich dir schon gesagt, dass ich genau das an dir liebe?« Mit einem Satz war sie zurück bei ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und umschlang mit ihren Armen seinen Hals. Genauso stürmisch küsste sie ihn. Voller Leidenschaft und Begierde. Martin schloss die Augen. Diese Frau. Diese Frau war alles, was er vom Leben wollte.

»Es ist endgültig höchste Zeit.« Etwas außer Atem zog Anne ihre verrutschte Mütze gerade, holte ihre Handschuhe aus der Manteltasche und winkte ihm zu. »Ich wette mit dir, wir sehen uns heute Nacht. Ich bin schon jetzt gespannt, was ihr für uns habt. Bitte nur vollständige Patienten, mit zwei Augen und zwei Ohren, zwei Armen, zwei Händen und zehn Fingern. Und am liebsten um Punkt Mitternacht. Das wär doch was? Gerne mit ›Hells Bells‹ aus der Bluetooth-Box.«

Sie hob die Hand zum Teufelsgruß. Und weg war sie.

*

Daniela zog die Wollsocken über die Füße und ließ sich müde in den Ohrensessel des Kaminzimmers fallen. Der kleine Raum war neben dem Schlafzimmer, an das sich ein winziges Bad anschloss, der einzige, den Frank und sie privat nutzten. Das brachte der Hostelbetrieb so mit sich. Sie boten ihren Gästen ein offenes und familiäres Haus mit gemeinschaftlicher Nutzung des großen Wohn- und Essbereichs. In der Dachgeschosswohnung lebte Frau Dirkens, und das war gut so. Daniela vermisste nichts. Aber dieser Raum, den sie etwas überambitioniert Kaminzimmer nannten, obwohl er nur einen kleinen Ofen besaß, war ihr Rückzugsort für die seltenen Momente, in denen sie Ruhe brauchte und keinen anderen Menschen sehen wollte. Außer Frank natürlich. Der durch sein Pendeln aufs Festland zu wenig Zeit mit ihr verbrachte. Zu oft fühlte es sich an, als lebte sie ausschließlich mit Frau Dirkens zusammen, die immer wieder einen Anlass fand, um Danielas Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Genau das war heute passiert. Daniela seufzte. Sie wollte der alten Dame nicht unrecht tun, aber so langsam mussten sie miteinander neue Spielregeln für das Zusammenleben festlegen. Oder sie würde lernen müssen, Nein zu sagen. Sich besser abzugrenzen. Mehr Gelassenheit zu entwickeln.

»Die richtigen Gedanken zu Silvester!«, murmelte sie vor sich hin. Erst einmal würden sie die anstehenden Untersuchungen bei Frau Dirkens abwarten müssen. Danielas Magen krampfte sich zusammen. Je nach Ergebnis würden sie vor neuen Fragen und Entscheidungen stehen. Darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Sie hatte Frau Dirkens’ Stimme im Ohr, die es abgelehnt hatte, sich während Weihnachten und des Jahreswechsels in Sorgen zu ergehen.

»I will cross the bridge when I come to it«, hatte sie zu der verdutzten Ärztin gesagt, die ihr mit bedauernder Stimme mitgeteilt hatte, dass der Facharzttermin erst im Januar zu bekommen sei. Daniela, die Frau Dirkens’ Angewohnheit kannte, in den ungewöhnlichsten Augenblicken auf englische Redewendungen zurückzugreifen, hatte losgeprustet und sich einen tadelnden Blick der Medizinerin eingefangen. Natürlich wusste sie, dass die bisherigen Untersuchungsergebnisse vermuten ließen, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war in dem fast 80-jährigen Körper von Marthe Dirkens, aber deren Lebensphilosophien gerieten deswegen nicht ins Wanken. Und falls der Gleichmut ein Teil der zu befürchtenden Erkrankung war, war das bestenfalls ein Segen. Die alte Dame hatte recht. Gedanken konnten sie sich dann machen, wenn sie im übertragenen Sinne an die Brücke kamen. Vorher lohnte alles Spekulieren nicht.

Daniela griff zu der Tasse mit dem warmen Kakao, Marshmallows und Sahne. Nicht gut für ihre Figur, aber fürs Gemüt. Nach der Rennerei am Nachmittag, um auf der Insel Restbestände fürs Bleigießen zu finden, hatte sie sich das entschieden verdient. Sie zog den Krimi, der auf dem Beistelltisch lag, heran und schlug die Seite mit dem Lesezeichen auf. Doch nach ein paar Minuten merkte sie, dass nichts von dem Gelesenen in ihrem Kopf ankam.

In Gedanken war sie bei den Begegnungen der letzten Stunden. Norderney war zwar eine kleine Stadt, aber gefühlt ein großes Dorf. Ein Dorf, in dem jeder jeden kannte, und wo die soziale Kontrolle funktionierte, ob man das wollte oder nicht. In den Wintermonaten rückten sie zusammen. Nicht mehr so wie in früheren Zeiten, sagten die Einheimischen. Sie waren nicht immer glücklich, wohin die Insel sich entwickelte, vor allem, wenn das Geld nicht in der eigenen Kasse landete.

Daniela schaute nachdenklich auf ihre Füße und wackelte mit den Zehen in den bunt geringelten Stricksocken. Sie waren der einzige Farbtupfer an ihr, weil sie gewohnheitsmäßig von Kopf bis Fuß in schwarzen Klamotten steckte. Sie konnte von Glück sagen, dass sie auf Norderney gut angenommen worden war. Das hatte sie sicher Marthe Dirkens zu verdanken, die sie und das neumodische Hostel mit Zähnen und Klauen bei den Einheimischen verteidigte. Obwohl die alte Dame selbst nicht auf der Insel geboren worden war, kannte und schätzte sie nach über 50 Jahren jeder, der mit ihr zu tun hatte.

So war das auch ihr selbst geschehen. Wer hätte denn gedacht, dass aus den Familienurlauben in der Kindheit in eben dieser Pension einmal ihr eigener Betrieb, ihr eigenes Tea-Time-Hostel würde? Nur weil Marthe Dirkens mit ihrem großen Herz sie unter ihre Fittiche genommen hatte.

Daniela legte das Buch beiseite. Lesen hatte keinen Sinn. Krimilesen schon gar nicht. Dafür fehlte ihr die Konzen­tration. Sie zog stattdessen ihr Handy aus der Hosentasche. Schade, dass Frank noch unterwegs war. Zu gern hätte sie gewusst, ob das, was ihr eben einer ihrer jungen Gäste empfohlen hatte, Hand und Fuß hatte. Frank als ITler würde es wissen. Und einen Versuch war es wert.

Sie öffnete den App-Store und suchte nach dem passenden Widget. Tatsächlich. Unfassbar, was es alles gab.

Sie gab ihr Passwort ein, um den kostenpflichtigen Kauf zu tätigen. Besser als nichts, war die Devise.

Ihre Augen brannten, als sie aufs Display starrte. Daran war der kalte Nordseewind schuld. Er hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben, und als sie vorsichtig mit den Handschuhen darüber gewischt hatte, verlief ihr Make-up und machte alles nur schlimmer. Zu Hause angekommen sah sie wie zu besten Heuschnupfenzeiten aus. Daniela schniefte, während sie sich wie durch einen Schleier durch die Anwendung klickte.

In ihrem Kopf hallten die Antworten wider, die sie auf der Suche nach einem alten Bleigießen-Set erhalten hatte. Am freundlichsten hatte in der Stadt der Spielwarenladen reagiert und sie auf das Verbot hingewiesen. Im Kiosk hatte die Aushilfe sie ausgelacht. Ob sie ahne, wie oft sie heute schon danach gefragt worden sei? Es wäre die Idee für ein Geschäft unter dem Ladentisch gewesen, wenn sie denn alte Sets gehabt hätte. Aber leider nein. Ihre Freundin Jacqueline aus dem Gästehaus ein Stück die Straße runter war sogar in den Keller gegangen und hatte in ausgemusterten Kisten gekramt. Vergeblich.

Zu guter Letzt hatte sie sogar bei Trödel-Tammo an die Holztür geklopft. Das hätte sie sich schenken können. Dieser wortkarge Ostfriese hatte sie als Luder vom Festland beschimpft, das schleunigst dahin zurückkehren sollte, statt ihre Nase in die Angelegenheiten der Norderneyer zu stecken und nur für Wirbel zu sorgen. Als er nach einem Besen griff, war Daniela mit erhobenen Händen zurückgewichen. So wichtig war das Bleigießen doch nicht.

Als sie dann eben in der Küche gestanden hatte, waren zwei ihrer Gäste, Lars und Lina, dazugekommen, um den Sekt, den sie um Mitternacht am Strand trinken wollten, kaltzustellen. Den Abend würden sie bei einem Fünfgangmenü in einem Restaurant verbringen, das sie schon vor einem dreiviertel Jahr gebucht hatten. Genau wie die Unterkunft bei ihr. So war das. Jedes Jahr ein wenig früher. Norderney war hip. Ob man das gut fand oder nicht.

Sie rührte mit dem Schneebesen in dem Topf mit Milch, als Lars fragte, ob alles okay mit ihr sei. So viel zu familiärer Atmosphäre in ihrem Hostel, hatte sie gedacht. Und hatte von ihrem vergeblichen Versuch erzählt, ein altes, weil verbotenes Bleigieß-Set aufzutreiben.

Was für ein Glück, dachte sie jetzt, während sie das Handy in ihrer Hand langsam herumdrehte. Und zurück, um das Ergebnis zu betrachten.

Erst da nahm sie Marthe Dirkens wahr, die im Türrahmen stand. Sie hatte weder ihr Klopfen noch das Klacken der Klinke gehört, so vertieft war sie in ihre Gedanken gewesen.

»Hier bist du also, mein Kind. Ich habe dich gesucht und mir Sorgen gemacht.« Marthe Dirkens schaute neugierig auf Danielas Hand. »Darf ich fragen, was du da machst?«

Daniela zögerte einen Moment. Doch dann grinste sie und antwortete: »Bleigießen. Ich gieße Blei. Was sonst soll man denn an Silvester machen?«

*

Bonn

Ruth Keiser ging jeden Raum mit langen Schritten ab, als wollte sie die im Exposé angegebenen Maße überprüfen. In Gedanken verteilte sie die Bilder aus ihrer Osnabrücker Wohnung an den Wänden, platzierte ihre weiße Couch, den niedrigen Couchtisch, die Bücherregale im größten Zimmer und überlegte, ob sie einen separaten Tisch benötigen würde oder eher eine Wohnküche mit Esstresen und Barhockern.

Es war verrückt. Absolut verrückt und surreal. Das war nicht sie, die hier stand und sich diese Gedanken machte. Nicht sie, die nur noch heute und morgen hatte, um eine Entscheidung zu treffen, die ihr Leben auf den Kopf stellen würde.

Langsam ließ sie sich an der Wand entlang zu Boden gleiten. Sie zog ihre Knie an und umfasste sie mit beiden Händen. Machte sich zu einem winzigen Paket, zog sich in sich selbst zurück und lauschte der inneren Stimme. Verrückt. Verrückt. Verrückt. Das war alles, was sie laut und deutlich vernahm. Erneut fuhren ihre Blicke über die Wände. Dann legte sie den Kopf auf die Knie und schloss die Augen.

Heute noch und morgen.

Den Schlüssel des Hauses hatte ihr der Makler freundlicherweise überlassen, weil er den Kauf für so gut wie abgeschlossen hielt. Alle Formalien waren geklärt, alle Voraussetzungen lagen auf dem Tisch. Einkommens- und Vermögensnachweise, die Bankzusage für den Kredit, die Angebote für die Risikolebensversicherung. Niemand hatte Bedenken. Warum auch? Das, was Ruth umtrieb, war etwas anderes. Etwas, was nicht zu fassen und schon gar nicht zu erklären war.

Der Makler war verwundert, dass sie nicht sofort unterschrieben hatte. Die Lage. Der Preis. Der Mangel. Das Schnäppchen. Die einmalige Gelegenheit.

Ruth hatte im Anschluss an jedes Gespräch einen Lachkrampf bekommen, wenn sie mit Oskar die einzelnen Argumente seziert hatte. Natürlich war es kein Schnäppchen, was ihnen offeriert worden war. Bei Weitem nicht. Andererseits war es fast unmöglich, in der Rheinschiene überhaupt ein halbwegs bezahlbares Haus zu ergattern, das kein kompletter Sanierungsfall war. Und wenn sie beide zusammenlegten, dann lagen sie über dem, was die Bank an Eigenanteil für die Kreditvergabe verlangte. Warum also zögern? Hatte der Makler doch jede Menge weiterer Interessenten. Sagte er zumindest. Ist so, hatte Oskar bestätigt. Und dass es ein Wink des Schicksals wäre, ausgerechnet jetzt dieses Haus angeboten zu bekommen.

Ruth schnaubte. Wink des Schicksals, ja klar. Aus Oskars Sicht war das so. Er hätte sofort Nägel mit Köpfen gemacht. Hätte das hellblaue Holzhaus, das kaum größer als eins dieser Tiny Houses wirkte, die neuerdings als Lösung für modernes, städtisches Wohnen angepriesen wurden, vom Fleck weg gekauft. Und wie immer, wenn Oskar euphorisch wurde, aktivierte sich ihr automatisches emotionales Bremssystem.

Wie schon oft hatte sie kalte Füße bekommen. Auch wenn sie einsah, dass das Haus innen mehr Wohnraum offenbarte, als sie ihm von außen zugetraut hätte. Das Erdgeschoss war offen und durchgängig, nur durch versetzte Wände abgeteilt. Küche, Ess- und Wohnbereich. Dazu eine Mini-Vorratskammer, ein Garderobenschrank, die Gästetoilette. Oben ein großzügiger Raum als Schlafzimmer, ein Bad mit Dusche und kombinierter Wanne, daneben rechts und links zwei kleine Kammern.

Mehr Platz als in ihrer Osnabrücker Wohnung. Keine Frage. Und trotzdem war das Engegefühl nach jedem Maklergespräch intensiver geworden. Schnürte ihr die Luft ab. Sodass ihre Gedanken wirr, ihre Gefühle unberechenbar wurden.

Warum tat sie sich so schwer? Was ließ sie zögern? Gab sie der Beziehung zu Oskar überhaupt eine Chance?

Als Psychologin, die sie war, hatte sie die Mechanismen verstanden. Es war ihr Lebensprinzip auszuweichen. Zu entfliehen. So wie sie es in ihrer Ehe gemacht hatte, als sie Michael verlassen hatte, um ihren eigenen Karriereweg zu gehen. Und Lisa-Marie, ihre damals kleine Tochter, bei ihrem Mann zurückgelassen hatte. Ihr Wunsch nach Selbstbestimmung und Ungebundenheit hatte immer gewonnen.

Auf dem Boden des ungeheizten Hauses wurde es kalt. Ruth blies in ihre Hände. Überhaupt, es wurde Zeit. Oskar stand in ihrer gemeinsamen Übergangswohnung, die sie gemietet hatten, und kochte das Silvesteressen. Ein paar wenige Freunde würden den Abend mit ihnen verbringen. Essen, reden, Rotwein trinken. An einem gemütlichen Holztisch mit Kerzen und einer Pendelleuchte obendrüber.

Ruth lachte. Vielleicht sollte sie das mit dem Essbereich überdenken. Theke und Barhocker passten eher zu ihrem Singleleben, das sie nach und nach aufgegeben hatte. Jetzt musste sie neu entscheiden. Nicht nur über Küche und Esstisch.

Sie stieß sich vom Boden ab. Die Baugenehmigung für einen Wintergarten läge vor, hatte der Makler gesagt. Ruth legte den Kopf an die Scheibe und sah hinaus in die Dunkelheit. Der Garten war schön und schlicht genug, um ihr nicht zu viel grünen Daumen abzuverlangen. Die Südwestlage brachte Licht. Sie sah im Geiste, wie sie unter einem verglasten Vorbau ihre Yogamatte ausrollte. Das zumindest wäre perfekt. Sie zog die Luft ein. Zumindest das.

Gerade als sie in ihrer Jackentasche nach dem Schlüsselbund suchte, zerriss ein Knall die Stille. Gleichzeitig vibrierte ihr Handy in der Hosentasche. Sie zuckte zusammen. Doch ein Blick aufs Display ließ sie lächeln. Telepathie funktionierte also auch bei Rabenmüttern über weite Strecken. In dem Fall bis nach Konstanz zu ihrer Tochter Lisa-Marie.

»Ich habe gerade an dich gedacht«, sagte sie statt einer Begrüßung, während draußen goldene Tropfen vom Himmel regneten.

»Das hoffe ich doch«, sagte Lisa-Marie. »Ich nämlich auch an dich.«

Ruth nahm den mitfühlenden Ton wahr und versteifte sich. »Hat Oskar dich gebeten, mich anzurufen?«

Lisa-Marie antwortete nicht. Immerhin. Keine Lügen und Ausflüchte.

Ruth hörte, wie ärgerlich sie klang: »Warum versteht er nicht, dass ich mich noch stärker entziehe, wenn ich unter Druck gesetzt werde?«

»Er versteht es ja. Deswegen hat er mich gebeten. Er hat Angst, dass du die Entscheidung zu lange herauszögerst und das Haus dann weg ist.« Sie machte eine Pause, aber Ruth spürte, dass noch etwas kam. »Er liebt dich, Mama. Er liebt dich sehr.«

»Ich weiß«, antwortete sie leise. »Das macht es für mich so schwer.«

»Deine Entscheidung steht fest?«

»Ich bin gerade im Haus. Der Makler lässt mir Zeit bis übermorgen. Um 8 Uhr morgens erwartet er meinen Anruf. Die anderen Bewerber stehen Schlange. ›Die Lage, diese Lage‹«, äffte sie den Agenten nach.

»Hat er ja nicht unrecht mit, wenn ich höre, was ihr mir erzählt. Die Nähe zum Rhein, und hinter der nächsten Straße geht es ins Siebengebirge. Im Stadtteil ist alles überschaubar, trotzdem bist du schnell in der Innenstadt. Und das Haus an sich. Das würde auch mir gefallen.«

Ruth schwieg einen Moment. »Na ja«, sagte sie dann. »Es würde eines Tages dein Erbe sein.«

»Mama!« Der Ausruf klang entsetzt. »Was sind denn das für Szenarien?«

»Realistische. Ich verbrate bei einem Kauf alles, was ich bisher angespart habe.«

»Und investierst in Immobilien. Besser geht es doch nicht. Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Aber das meinte ich gar nicht. Sondern deinen Entschluss, das Haus alleine zu kaufen.«

»Wenn ich es kaufe, ja. Dann kaufe nur ich. Es wird kein gemeinsames Projekt.«

»Warum?«

»Weil ich nicht eines Tages auseinanderrechnen möchte, was meins ist und was seins. Nicht mit einem gemeinsamen Eintrag in die Grundschuld auseinandergehen müssen. Kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich merke, dass ich mich nicht wohlfühle.«

»Okay.« Ruth konnte sich vorstellen, wie Lisa-Marie bestätigend mit dem Kopf nickte. »Das kann ich nachvollziehen. Aber er könnte bei dir wohnen und …« Sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen. »So etwas wie Miete zahlen?«, fuhr sie unsicher fort.

»Darüber haben wir gesprochen. Aber ich glaube, es ist keine gute Idee. Im Moment jedenfalls nicht. Mir ist das alles – zu eng.«

»Zu eng? Das Haus ist nicht groß, okay, aber größer als deine Wohnung in Osnabrück und eure Übergangswohnung. Dort klappt es doch hervorragend mit euch.«

»Weil es auf Zeit angelegt ist und war. Wie soll das hier werden? Ein gemeinsames Schlafzimmer? Oder Oskar bekommt nur eines der kleinen Kämmerlein? Das ist beides unvorstellbar. Für mich.«

»Verstehe.« Lisa-Marie quietschte einen Kuss durchs Telefon. »Ich verstehe dich wirklich. Besser, als du glaubst. Aber darüber reden wir, wenn ich dich besuchen komme. In deinem neuen Haus. Ich nehme gerne die Kammer. Zumindest für ein paar Tage.«

Ruth lachte. »Schon verstanden. Du willst, dass ich den Schritt gehe.«

»Weil ich glaube, dass man dich manchmal zu deinem Glück zwingen muss.«

Wieder böllerte es draußen am Himmel.

»Okay, Liebes.« Ruth holte tief Luft, »Ich verspreche dir hoch und heilig …«

»Ja?«

»… im nächsten Jahr eine Entscheidung zu treffen. Und jetzt wünsche ich dir einen guten Rutsch. Ich melde mich nach Mitternacht.«

*

Norderney

Martin Ziegler hatte für das ganze Nachtdienstteam Essen bestellt. Am frühen Abend, wenn die Feriengäste in den Restaurants saßen, blieb ihnen genügend Ruhe. Er hatte in der kleinen Küche den Tisch mit Engelservietten, Weihnachtsbaumkugeln, Tannenzweigen sowie Nüssen und Schokoladennikoläusen geschmückt. Nun dampften die Gerichte, die er dazwischen platziert hatte, und lockten mit ihrem Duft die Mannschaft aus den Büroräumen.

»Mensch, Chef, an Tagen wie diesen muss man dich glatt loben«, frotzelte Ronnie und stieß ihn in die Seite.

Martin drohte ihm mit der Suppenkelle: »Gut zu wissen. Ich erinnere dich beim nächsten Mitarbeitergespräch.« Ronnie lachte. Sie wussten beide, dass er keiner der Chefs war, die auf ihre Macht und Autorität pochten.

»Da hat sich ja die Küche wieder richtig ins Zeug gelegt.« Silke hatte ihren Finger in die Schüssel getunkt und lutschte ihn genüsslich ab. »Köstlich.«

»Hey, hey!«, ermahnte Ronnie sie. »Wir fangen gemeinsam an, und zwar mit Manieren.«

»Manieren? Was war das noch mal?« Silke wedelte mit ihrer Hand vor seinem Gesicht.

»Lasst gut sein«, sagte Martin und kam sich vor wie ein weises Familienoberhaupt. »Jeder so, wie er mag und Lust hat. Die Nacht wird wahrscheinlich lang, laut und lebhaft. Also gönnt euch was.«

»Laut und lebhaft bestimmt, aber lang? Lang sind nur die Nächte, in denen auf der Insel gar nichts passiert und der Dienst kein Ende nimmt. So viel Berichte kann man gar nicht schreiben.«

»Oder Angry Birds spielen«, warf Silke mit einem Seitenblick auf den Kollegen ein.

»Schluss jetzt«, versuchte sich Martin doch an einem Machtwort. »Ich habe keine Lust auf schlechte Stimmung, und wenn ihr zwei so weitermacht, zieht mindestens einer von euch heute noch ein langes Gesicht.«

»Gut gesprochen.« Die Unterstützer-Kollegen drängten sich um den Tisch. »Wir sollten essen, solange der Braten warm und der Notruf kalt ist.«

»Siehst du, Silke, die Kollegen vom Festland wissen, wie es geht. Also Frieden für heute?« Ronnie hielt ihr die ausgestreckte Hand hin, die sie abklatschte.

Im selben Augenblick ließ ein ohrenbetäubender Knall sie zusammenfahren. Die Fensterscheiben zitterten.

Silke, die in der Linken ihre gefüllte Suppenschale hielt und die Schöpfkelle wie einen Staffelstab an Ronnie weitergeben wollte, drehte sich so abrupt um, dass sie Uwe, dem Kollegen vom Festland, das Glas aus der Hand schlug. »Ups«, machte sie und traf in der Rückwärtsbewegung den Suppentopf vom Buffet, der genauso zersprang wie das Glas auf dem Boden.

Ronnie verdrehte die Augen. »Das ist jetzt nicht wahr, oder? Soll das hier eine dieser Slapstick-Nummern werden, wie sie heute Abend im Fernsehen laufen? Hätte ich das mal gewusst. Ein Tigerfell habe ich bestimmt im Keller.«

»Scherben bringen Glück.« Sie sah sich entschuldigend um.

»Glasscherben aber nicht,« antwortete Ronnie.

»Deswegen habe ich das Porzellan gleich folgen lassen.« Silke lachte schrill.

»Schade um das gute Essen.« Martin tapste zwischen den Bruchstücken zum Fenster. »Diese verdammte Knallerei in der Silvesternacht.« Auf dem Parkplatz stieg Rauch vor den geparkten Dienstfahrzeugen auf.

»Ach, lass doch die Leute. Ein harmloser Spaß. Ich kann es einfach nicht ertragen, dass alles moralisch hinterfragt wird. Brot statt Böller. Als wenn das so funktioniert.« Ronnie klang genervt.

»Du hast anscheinend kein Haustier«, warf Uwe ein. »Meine Frau wird die ganze Nacht damit beschäftigt sein, unseren verängstigten Hund zu beruhigen.«

»Ist genug jetzt.« Martin hob die Hand. »Ich will darüber keine Diskussionen, sonst geraten wir uns diese Nacht wirklich in die Haare. Kaum etwas, wo die Meinungen unterschiedlicher sein könnten.«

»Es geht ja auch beides. Spenden und böllern«, warf Silke schnell ein, die ein wenig hilflos versuchte, mit Haushaltspapier die weit verspritzte Suppe aufzuwischen.

»Schluss damit. Augenblicklich. Es ist erlaubt, und nur das zählt für uns heute. Was ihr privat davon haltet, hat im Dienst nichts zu suchen.«

»Aber du hast doch eben selbst …« Glücklicherweise reichte ein Blick von ihm, dass Silke achselzuckend verstummte. Martin schloss das Fenster. »Wahrscheinlich nur ein paar Halbstarke, die es der Polizei in der Silvesternacht mal zeigen wollen.«

»Wie wir früher«, lachte Uwe und stupste Ronnie an. »Das habt ihr doch auch gemacht, Böller in …«

Die Explosion war ohrenbetäubend. Silke duckte sich hinter den Stuhl, alle anderen drückten sich von der Tür weg und sicherten mit den Händen ihre Köpfe. Der ganze Raum schien zu beben. Die Glastür, die den Eingangsbereich abtrennte, klirrte, und Martin rechnete damit, dass sie jeden Augenblick zersprang. Verdammt, was war hier los?

»Briefkästen«, flüsterte Uwe, als das Knallen verstummte.

»Was?« Martin verstand nicht, was Uwe sagen wollte.

»Dass wir früher die Briefkästen gesprengt haben. In der Silvesternacht.« Seine Stimme zitterte. »Ihr etwa nicht?«

*

»Neumodisches Zeug, so ein Blödsinn.« Marthe Dirkens ließ sich gar nicht mehr beruhigen. Daniela grinste Frank an, während sie verstohlen eine drehende Handbewegung machte. Dass sie eine App fürs Handy zum Bleigießen benutzen wollte, war zu viel für die alte Dame gewesen.

»Was bin ich froh, dass mir noch etwas eingefallen ist.« Frau Dirkens stapelte die benutzten Teller und legte klirrend die Löffel hinein.

»Lassen Sie alles stehen, ich räume gleich ab. Was ist Ihnen denn eingefallen?«, reagierte Daniela träge. Wie immer hatte sie zu viel Brot zur Suppe gegessen. Sie schielte auf ihr Handy. Erst kurz vor 22 Uhr. Noch über zwei Stunden bis zum Jahreswechsel. Auch wenn sie die Mitternachtssuppe schon intus hatten. Am besten kochte Frank einen starken Kaffee, damit sie das neue Jahr nicht verschliefen.

»Kein Weg umsonst, mein Kind, das war immer meine Devise.« Frau Dirkens zupfte die Tischdecke zurecht. Energisch und schwungvoll wie zu ihren besten Pensionszeiten. »Ich hole dann mal die Zutaten.«

»Zutaten?«

»Was denn sonst? Wenn Frank das Teewasser aufsetzt, husche ich schnell nach oben zum Giftschrank.«

Frank stand beflissen auf, aber Daniela zog ihn am Arm zurück. »Das mit der Treppe, dem Giftschrank und dem Huschen, das übernehmen dann mal lieber wir. Damit alle heil im nächsten Jahr ankommen.«

Frau Dirkens zog die Brille auf die Nasenspitze und funkelte Daniela über den Rand hinweg an. »Danke für die Blumen. Ich weiß selbst, dass ich alt und gebrechlich bin.«

Daniela hob abwehrend die Hände. »Es war nett gemeint.«

»Nett gemeint ist das Gegenteil von nett.« Marthe Dirkens schob die Brille wieder auf die Nase. »Oder so ähnlich«, murmelte sie leise hinterher.

»Ich mache das gerne.« Franks Stimme klang so weich und versöhnlich, dass sich Frau Dirkens’ Gesichtsausdruck sofort entspannte. »Wobei du, mein Schatz, eher nach einem Latte macchiato aussiehst.«

»Nichts da, nichts da.« Marthe Dirkens wedelte mit dem Zeigefinger. »Ihr könnt doch nicht sämtliche Traditionen über den Haufen werfen. An Silvester gibt es Mitternachtssuppe, eine spezielle Teezeremonie und Bleigießen.« Das letzte Wort klang triumphierend. »Und wer weiß, wie oft Marthe Dirkens noch Silvester feiert? Diesmal jedenfalls«, jetzt pochte sie mit dem Finger auf ihre Brust, »läuft das alles so, wie es guter ostfriesischer Brauch ist. Jedenfalls unter meinem Dach.«

»Okay.« Daniela kapitulierte. Dann eben Tee. Mit Sahnewölkchen. Und mit schottischem Whiskey aus dem Giftschrank nach dem speziellen Rezept von Frau Dirkens. Was daran ostfriesisch war, wusste sie zwar bis heute nicht, aber guter Brauch, der war es, leider nicht nur an Silvester.

Mit Tellern und klappernden Löffeln in der Hand taperte Frau Dirkens zur Tür. »Wenn du schon mal das Feuerzeug holst, Frank, und den Topf mit dem kalten Wasser«, sagte sie im Rausgehen.

»Wasser? Wozu soll das gut sein?« Frank sah Daniela fragend an.

Sie seufzte, während sie das Handy in der Hand hochhielt. »Mist. Wahrscheinlich hat sie vergessen, dass wir die App zum Bleigießen haben. Oder sie hat es falsch verstanden. Siehst du, das ist einer der Momente, von denen ich immer rede. Es macht mir Angst, wie sie die Sachen vergisst. Oder falsch versteht.«

»Vielleicht falsch verstehen will?«

»Auch das. Aber es lässt sich nicht mehr auseinanderhalten.« Daniela schluckte. »Nächstes Jahr …«

»… ist noch weit weg«, ergänzte Frank und gab ihr einen Kuss. »Mach dir nicht zu viele Sorgen. Bitte.«

»Na gut.« Sie lächelte ihn an. »Ich versuche es. Mit dir an meiner Seite ist es gleich viel besser.«

»Siehst du. Alles wird gut. Alles.«

Daniela lehnte sich entspannt zurück. Noch einmal kippte sie das Handy von oben nach unten und imitierte dabei, wie das geschmolzene Blei ins Wasser lief. Ein Probedurchgang konnte nicht schaden.

»Tada!«, rief sie, als sie das Smartphone wieder umdrehte. »Tada!«, wiederholte sie tonlos. Und schaute entgeistert auf ein gesprungenes Display.

*

»Wer kommt denn auf so eine Idee?« Martin sah sich den gesprengten Briefkasten im Eingangsbereich der Polizeiwache an.

»So Halbstarke, wie wir es früher waren«, murmelte Uwe.

»Das meine ich nicht.« Martin schüttelte den Kopf, während er mit dem Fuß die Böllerreste vorsichtig hin und her schob. »Sondern wer verbaut ausgerechnet in einer Polizeistation eine solche Konstruktion? Nicht außen an der Wand. Nein, ein Briefschlitz, der alles direkt nach innen leitet. Bei der Polizei.«

»Lass mal gut sein, Chef. Liegt sicher daran, dass wir hier weder in Hamburg, Bremen oder Frankfurt sind. Sondern in einer kleinen Dienststelle auf einer überschaubaren Insel im Ostfriesischen Meer.«

Silke kicherte. »Hört sich an wie einer dieser Romane. Ihr wisst schon: die kleine Bäckerei, die kleine Bücherei, der kleine Stoffladen. Na ja oder so ähnlich.«

Martin schaute sie fragend an. »Hab ich etwas verpasst?«

»Ach, schon gut.« Silke winkte ab. »Ronnie hat wahrscheinlich recht. Kein Mensch rechnet hier mit Attentaten auf die Polizeistation.«

»Attentat.« Ronnie höhnte. »Geht es noch eine Nummer größer? Mensch, lasst mal die Kirche im Dorf. Und seid froh, dass hier nichts Schlimmes passiert. Es ist ja, als wolltet ihr es beschwören.«

»Bestimmt nicht.« Martin bückte sich und hob ein Stück Papier auf. Nach einem kurzen Blick reichte er es an Uwe weiter.

»Dachte ich mir schon. Irgend so ein ausländisches Zeug. Da weiß man nie, womit die gestopft sind. Die haben eine Sprengkraft, da kommt kein deutscher Chinaböller heran.«

»Deutscher Chinaböller, auch nicht schlecht.« Silke grinste. »Mensch, Männer, jetzt macht doch nicht solche Gesichter. Es ist nichts Dramatisches passiert. Bis auf den Schreck. Unsere Türen haben gehalten. Und wenn jetzt einer von euch den Besen holt, ist die Sache für heute vergessen. Um den Briefkasten kümmern wir uns im Neuen Jahr.«

»Vergessen?« Uwe schaute zwischen Silke und Martin hin und her. »Ich weiß ja nicht. Auch wenn wir früher selbst …« Seine Stimme verlor sich.

Martin räusperte sich. »Silke hat recht. Schwamm drüber. Wir liefern uns kein Katz-und-Maus-Spiel mit ein paar wild gewordenen Jugendlichen. Zumindest, wenn keine weiteren Schadensmeldungen reinkommen.«

»Hoffen wir mal, dass sie wenigstens nüchtern genug bleiben, um sich nicht selbst zu verletzen. Leider sagt die Erfahrung oft etwas anderes. Osteuropäische Böller, da ist der Wodka meist nicht weit.« Uwe zuckte mit den Schultern.

»Ach, interessante Schlussfolgerung. Ihr hattet dann früher zu euren Chinaböllern Reiswein?«, stichelte Silke.

»Hört auf.« Martin hielt die Innentür auf. »Kein Streit am letzten Abend.«

»Am letzten Abend.« Silke schien es nicht lassen zu können. Sie reckte sich und wischte mit weit ausholenden Handbewegungen vor ihm herum. »Wie kryptisch. Wessen letzter Abend soll es denn sein?« Sie zeigte abwechselnd auf die um sie stehenden Männer. »Du, du oder du? Oder etwa ich? Vielleicht aber auch nur ganz banal der letzte Abend des Jahres. Der letzte Abend – huh. Entscheidet euch.«

Ronnie verdrehte die Augen. »Keine Ahnung, wer dir heute was in den Kaffee geträufelt hat. Vielleicht sollten wir einfach weitermachen im Programm. Was gab es noch mal zu essen?«

Martin seufzte. So hatte er sich seinen Dienst nicht vorgestellt. »Suppe jedenfalls nicht.« Doch dann lachte er auf. »Es sei denn, wir statten Marthe Dirkens einen Besuch ab.«

»Erst Silke, jetzt du.« Ronnie sah ihn fragend an. »Habt ihr gemeinsam etwas eingeworfen?«

»Nun mal langsam, Ronnie. Vergiss nicht, wer ich bin.« Martin drückte die Schultern nach hinten. »Ich habe die alte Dame heute Nachmittag getroffen, und sie bedauerte es sehr, dass Anne und ich den Silvesterabend nicht bei ihr verbringen. Mit Mitternachtssuppe. Daher der Gedanke.«

»Mitternachtssuppe. Schon klar.« Ronnie klopfte ihm auf die Schulter. »Und danach einen guten Schluck aus dem Giftschrank. Chef, ich bin dabei. Wir sollten unbedingt bei Marthe Dirkens vorbeischauen. Nicht auszudenken, wenn auch im Hostel die Böller fliegen. Prävention und Schutz der Inselbewohner ist unsere dringlichste Aufgabe.«

»Quatschkopf«, stupste Martin ihn in die Seite. Chef hin oder her. Es würde eine unterhaltsame Nacht werden, das stand fest.

*

»Puh, ich kann es kaum glauben. Wenn das mal nicht die Ruhe vor dem Sturm ist.« Anne Wagner schob die Papierauflage zusammen, zerknüllte sie und stopfte sie in den Abfallbehälter. »Am ganzen Abend nur ein dickes Knie. Immerhin der Klassiker nach dem Silvesterlauf am Nachmittag.«

Frauke Hansen, die den Pflegewagen aufräumte, hielt abrupt inne. »Bist du wahnsinnig?«, flüsterte sie. »Willst du das Unglück heraufbeschwören? Ich sage dir, du hast Schuld, wenn wir diese Nacht nicht mehr zum Luftholen kommen.«

»Ach Frauke, komm mir nicht mit so einem Aberglauben. Als wenn so ein daher geworfener Satz einen Einfluss darauf hätte, was wir in der Silvesternacht zu tun bekommen. Luftholen wirst du noch genug. Nämlich in deinen Rauchpausen mit unserem diensthabenden Notarzt.« Sie zwinkerte Frauke zu. »Habe ich recht?«

Frauke strich sich über ihre dunklen raspelkurzen Haare und verzog das Gesicht. »Wenn du meinst.«

»Nichts meine ich. Lass dich nicht ärgern. Das gehört alles dazu. Besonders zu den Nachtdiensten. Besonders in Nächten wie diesen.«

»Nächten wie diesen? Jetzt klingst du aber apokalyptisch, Frau Doktor. Fang mir bloß nicht mit den Raunächten an. Wie meine Mutter.« Frauke machte eine wischende Handbewegung vor ihrem Gesicht.

Anne lachte. »Wie, du auch? Ist das nicht seltsam, dass diese alten Geschichten auch heutzutage immer und immer wieder erzählt werden?« Sie zog an der Papierrolle, um die Behandlungsliege neu abzudecken. »Noch schlimmer ist, dass mir die Sachen selbst durch den Kopf gehen, obwohl ich nicht daran glaube. Aber einmal gehört, bleiben sie haften.«

»Du meinst, dass man in diesen Nächten keine Wäsche waschen soll?«

»Ja, genau.« Anne wedelte mit dem weißen Papier. »Vor allem diese Geschichte, dass man keine Leintücher über Silvester hängen lassen soll, weil daraus dann im neuen Jahr ein Leichentuch wird.«

»Hm, genau das habe ich heute auch noch erzählt bekommen.«

»Da hilft nur eines: es trotzdem machen.« Anne straffte ihre Schultern. An der Tür drückte sie mit dem Arm den Hebel des Desinfektionsmittels. »Ich habe heute extra unsere Bettwäsche gewaschen. Vielleicht wirken aber die alten Geschichten auch nicht mehr seit dem Verzicht auf weißes besticktes Linnen. Wir haben jedenfalls bunte Ikea-Bezüge.«

Frauke kicherte. »Klasse. Das merke ich mir, um es meiner Mutter um die Ohren zu hauen.«

Anne rieb über ihre rauen Hände, um das scharfe Mittel besser zu verteilen. »Früher machten die Geschichten wahrscheinlich Sinn. Damit verschafften sich die Frauen und speziell die Dienstmädchen eine Verschnaufpause vor der schweren Arbeit. Ich habe in einem Freilichtmuseum einmal gesehen, was für ein Knochenjob es war, diese Leinentücher zu waschen. Ich glaube einfach, dass die Raunächte eine Erfindung sehr kluger Frauen waren, die sich nicht anders zu helfen wussten.«

»Die die Dummen bis heute glauben?« Frauke bog sich vor Lachen.

»He, he!« Anne drohte spielend mit dem Zeigefinger. »Lass das nicht deine Mutter hören.«

»Ach die!« Frauke machte eine wegwerfende Bewegung. »Aber ich meine es ja auch nicht so. Irgendwie …«

»Genau, irgendwie beschäftigt es uns dann doch alle. Wahrscheinlich sind wir in den dunklen Wintermonaten insgesamt für metaphysische Fragen offen. Ich sage ja, ganz frei bin ich davon nicht, auch wenn ich versuche, den Verstand dagegenzuhalten.«

»Schön gesagt, Anne. Ich bin wirklich froh, dass du diese Nacht Dienst hast. Bei dir habe ich immer das Gefühl, auf Augenhöhe unterwegs zu sein. Du weißt schon, das Ärzte-Schwestern-Ding. Du lässt einen das nie spüren.«

»Oh.« Anne runzelte die Stirn. »Das sollte längst der Standard sein. Ich wäre nie eine vernünftige Ärztin geworden, wenn mich nicht die Pflegekräfte geschult hätten. Wenn ich alleine an mein erstes Blutabnehmen am lebenden Objekt denke.«

»Sollte, ist es aber nicht.« Frauke zuckte mit den Schultern.

»Aber unser Notarzt? Der gehört doch sicher mehr in meine Kategorie, oder? So auf Augenhöhe?« Sie schob die schwere Tür der Ambulanz ein Stück zurück und verschwand dahinter, um dann zurückzurufen: »Oder soll ich besser sagen, auf Kusshöhe?«

»Anne, du …«

Sie hörte, wie Frauke nach Worten suchte. Lachend steckte sie den Kopf wieder in den weißen Raum. »Kleiner Spaß. Ich schau mal auf Station, ob alles ruhig ist. Geh du ruhig vor die Tür. Zum Luftholen. Das NEF steht vor der Tür, die Besatzung auch. Wetten, es bleibt ruhig? Was hältst du von einer Partie Backgammon – in einer halben Stunde? Irgendwie müssen wir uns die Nacht ja um die Ohren schlagen. Bis gleich. Und grüße den Kollegen.« Mit einem Ruck schob sie die Tür zu. Lächelnd blieb sie in dem hellen Flur der Notfallambulanz stehen. Auf einmal waren sie ganz nahe, die Erinnerungen. An das Pflegepraktikum. Die Famulatur. Den ersten eigenverantwortlichen Nachtdienst als Assistenzärztin. Das Backgammon-Spiel. Und an Khalid. Khalid, die Ewigkeit. Wirklich ewig her, dass sie das letzte Mal an ihn gedacht hatte. Ein brummender Ton riss sie aus ihren Gedanken. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung, froh darüber, dass der Piepser sie an ihre Arbeit auf der Station erinnerte. Verrückt, diese Erinnerungen. Wahrscheinlich waren doch die Raunächte daran schuld.

*

»Unfassbar. Ich habe einen richtigen Schreck bekommen.« Frank ließ Danielas Handgelenk los.

»Und ich erst.« Daniela pustete eine Haarsträhne nach oben.

»Was ist denn mit euch?«, fragte Marthe Dirkens, als sie mit der Whiskeyflasche in der einen und einer Pappschachtel in der anderen zurück zum Tisch steuerte. »Und wo sind der Tee, die Sahne, das Geschirr und vor allem das Wasser?«

»Ach, Frau Dirkens.« Daniela drehte immer noch verwundert das Handy von einer Seite auf die andere.

»Was ist denn das für eine Antwort? Nichts als ein Seufzen. Nennt ihr das Silvesterstimmung?«

Frank schob seinen Stuhl zurück. »Ich gehe ja schon. Dann kann Daniela Ihnen einmal vorführen, was so ein Handy heutzutage alles kann.« Er schüttelte den Kopf. »Einem suggerieren, dass das Display kaputt ist. Diese App-Entwickler sind ja so was von bescheuert.«

»Aber sie machen damit Geld«, rief Daniela ihm hinterher. »Mach doch auch mal so etwas.«

»Nur wenn du in eine Casting-Show gehst.« Frank war in der Tür stehen geblieben und warf ihr eine Kusshand zu.