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Inselromane E-Book

Julia Meier

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Beschreibung

Mit seinem zweisprachigen Roman gestaltete Oehlenschläger auf der Basis von Schnabels Insel Felsenburg ein völlig neues Werk. Durch die Fülle von Reflexionen, Prätexten, Zitaten, lyrischen Einlagen, Novellen sowie dem Einbezug von Schnabels zentralen Strukturen und Hauptfiguren entstand ein vielschichtiger und dynamischer Text, der aber bisher beim Lesepublikum und in der Forschung nur wenig Beachtung gefunden hat. Die vorliegende Untersuchung beleuchtet anhand von Bachtins und Kristevas Polyphonie- und Intertextualitätstheorien die Mehrstimmigkeit und Vielfalt des Romans, wobei die Zweisprachigkeit ebenso einbezogen wird wie die verschiedenen Fassungen, die von der Erstausgabe teilweise stark abweichen. Detaillierte Analysen zeigen, dass der Roman zu seiner Zeit neuartige literarische Verfahren für die Textproduktion fruchtbar machte.

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Julia Meier

Inselromane

Adam Oehlenschlägers Roman Die Inseln im Südmeere / Øen i Sydhavet im Dialog mit J. G. Schnabels Insel Felsenburg

Umschlagabbildung: Detail aus dem Bucheinband der 1911 erschienenen Ausgabe von Adam Oehlenschlägers Roman Die Inseln im Südmeer, Stuttgart: Holbein-Verlag (Fotografie privat).

 

Julia Meier

Universität Basel

Seminar für Nordistik

Nadelberg 6

CH-4051 Basel

https://orcid.org/0000-0003-3537–9455

 

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel im Sommersemester 2020 auf Antrag der Promotionskommission, Prof. Dr. Jürg Glauser (hauptverantwortlicher Betreuer) und Prof. Dr. Klaus Müller-Wille, als Dissertation angenommen.

 

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783772057601

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

EPUB-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ISSN 1661-2086

ISBN 978-3-7720-5760-1 (Print)

ISBN 978-3-7720-0172-7 (ePub)

Inhalt

DankFür Markus1 Einleitung1.1 Gegenstand der Untersuchung1.2 Methodisch-theoretische Zugänge und Aufbau der Arbeit1.2.1 Polyphonie, Dialogizität und Intertextualität1.3 Entstehungsprozess1.4 Rezeption und Forschungsstand1.5 Materialität der Fassungen1.6 Fazit2 Die wunderlichen Fata und Die Inseln im Südmeere: Grundzüge2.1 Die wunderlichen Fata2.2 Die Inseln im Südmeere3 Polyphone Textgestalt3.1 Oehlenschläger als „Grenzgänger zwischen zwei Kulturen“3.2 Die Inseln im Südmeere und Øen i Sydhavet – ein Roman in zwei Sprachen3.2.1 Thematische Unterschiede3.2.2 Stilistische Unterschiedea) Metaphorische Ausdrucksweise (Redewendungen, Metaphern, Sprichwörter)b) Gedichtec) Wortspiele3.2.3 Fazit zur zweisprachigen Gestaltung3.3 Sprachreflexionen3.3.1 Sprachgedanken in den Wunderlichen Fata3.3.2 Die Situation in den Inseln im Südmeere3.3.3 Der Text in den anderen Versionena) Vergleich mit Øen i Sydhavetb) Die Textausschnitte in den späteren Ausgaben3.3.4 Fazit zu den Sprachreflexionen4 Die Spuren der Prätexte4.1 Der Paratext als Reflexion des Prätextes: Titel und Vorreden4.1.1 Titel und Autorname4.1.2 Die VorredenVorrede zu Die Inseln im SüdmeereVorrede zu Øen i SydhavetDänische und deutsche Vorreden im Vergleich4.2 Textanfänge/AnfangstexteDie Anfangskapitel in weiteren Ausgaben des Romans4.3 Zweimal Alberts „Traum“: Die Stimmen der Einsiedler im Dialog4.4 Fazit5 Funktionen der Kunst in einer Biographie: Cyrillo de Valaro5.1 Die Einleitung5.2 Begegnung mit Vater und Mutter5.3 Erlebte und erzählte Entdeckungsreisen5.4 Ariosts Spinngewebe„Ariost“ in der dänischen Fassung von 1825Die Ariostepisode in den späteren Fassungen5.5 Verwandlungen5.6 Fazit6 Personenkonstruktionen: Weibliche und männliche Stimmen6.1 Liebe im Roman6.2 Walpurgisnacht der Texte6.3 Sublimierung oder Wahn?Der untersuchte Textausschnitt in den weiteren Romanausgaben6.4 Fazit7 Schauplätze7.1 „Nordisierung“7.1.1 Ein „zweiter Luther“ aus Schweden7.1.2 Olearius und Fleming im Norden7.1.3 Ein dänischer Hoffnungsanker7.1.4 Fazit zum Norden im Roman7.2 Kirchenbau7.2.1 Eine Kirche für Schnabels Insel Felsenburg7.2.2 Der Kölner DomDer Text in den weiteren Ausgaben7.2.3 Der Kirchenbau auf Oehlenschlägers Insel FelsenburgDer Text in den anderen Ausgaben7.2.4 Fazit zum Kirchenbau7.3 Heiligenstatue und NonnenklosterExkurs: Eine „Novelle“ als Singspiel8 Schauspiele im Text8.1 Albert als Schauspieler8.2 Karnevaleske Darbietungen in Kopenhagen8.3 Dramaturgische Diskussionen auf hoher See8.4 Tendenzen zum Gesamtkunstwerk8.5 Dramen auf dem Weg zur Insel Klein-Felsenburg8.6 Fazit9 SchlussbemerkungenAbstract & KeywordsKeywordsAbbildungsverzeichnisSiglen und KürzelLiteraturverzeichnisPrimärliteraturA) Adam OehlenschlägerSekundärliteraturKapitelRegister

Dank

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommer 2020 bei der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel eingereicht habe. Die Arbeit verdankt ihr Zustandekommen in erster Linie Prof. Dr. Jürg Glauser, meinem Erstbetreuer, der sie mit nie erlahmendem Interesse, unerschütterlicher Geduld, steter Ermutigung und vielen hilfreichen Hinweisen inspiriert und begleitet hat. Für dieses intensive Engagement danke ich ihm sehr herzlich. Ein grosser Dank gilt auch meinem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Klaus Müller-Wille; sein Interesse an meiner Arbeit war ebenfalls eine wesentliche Unterstützung, wie auch seine mit viel Enthusiasmus und Energie geführten Doktorandenkolloquien. Den lebendigen und spannenden Diskussionen in diesen Kolloquien verdanke ich manche Anregung. Prof. Dr. Miriam A. Locher danke ich herzlich für ihre spontane Hilfsbereitschaft und ihre guten Instruktionen zur Zoom-Sitzung, in der mein Doktorexamen abgehalten wurde.

Mein Dank geht ebenfalls an die Professor:innen Pil Dahlerup, Pernille Hermann und Dan Ringgaard für ihre Beschäftigung mit meiner Arbeit im Projektstadium. Den Peer Reviewern danke ich für genaue Lektüre und nützliche Ratschläge im Hinblick auf die Publikation. Dem Leiter des Cotta-Archivs in Marbach, Prof. Dr. Helmut Mojem, und seiner Mitarbeiterin Dr. Sabine Borchert sei für die unbürokratische Hilfe und Zustellung von Briefen aus ihrem Archiv gedankt. Dieser Dank gilt auch den Mitarbeitern der Digitalisierungsabteilung der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen, besonders dem Forschungsbibliothekar Sonny Ankjær Sahl. Den Verlagen Zweitausendeins und eBibliotek 1800 sowie der Klassik Stiftung Weimar und der Universitätsbibliothek Basel danke ich für die freundliche Erlaubnis zur Publikation von Abbildungen. Michael Redmond sei herzlich gedankt für seine uneigennützige Hilfe bei der Übersetzung des Abstracts. Ein grosser Dank geht auch an Dr. Anna Katharina Richter für ihr ausserordentlich sorgfältiges und hilfreiches Lektorat.

Der Redaktion der Beiträge zur Nordischen Philologie unter der Leitung von Prof. Dr. Lena Rohrbach danke ich sehr für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe. Auch bedanke ich mich bei der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien für die grosszügige Übernahme der Druckkosten. Herrn Tillmann Bub vom Narr Francke Attempto Verlag danke ich herzlich für seine freundliche und sehr aufmerksame Manuskriptbetreuung.

Meinen Brüdern bin ich äusserst dankbar, dass sie in der Schlussphase bereitwillig für mich eingesprungen sind und meinen Teil der Familienarbeit übernommen haben. Ellen Peters sei herzlich gedankt für viele liebenswürdige und ermutigende Mails.

Mein allergrösster Dank gebührt Markus, der mich die ganze Zeit über auf jede erdenkliche Weise unterstützt und in unzähligen anregenden, inspirierenden Gesprächen alles dafür getan hat, meine Motivation immer wieder aufzurichten und wachzuhalten. Auch danke ich ihm sehr für seine Mithilfe beim Korrekturlesen. Ihm möchte ich diese Arbeit widmen.

Für Markus

 

 

In keinem Werke habe ich mehr selbst erfunden, obschon […] einige schöne mit Kreide flüchtig hingeworfene Skizzenzüge des alten Buchs entlehnt sind, weil sie mit Oehlfarbe ausgemahlt zu werden verdienten, und weil sie mir zu eigenen Erfindungen Anlass gaben.

Oehlenschläger, Die Inseln im Südmeere I: IX.

1Einleitung

1.1Gegenstand der Untersuchung

Das Werk Die Inseln im Südmeere/Øen i Sydhavet stellt im umfangreichen dichterischen Œuvre Adam Oehlenschlägers eine Seltenheit dar: Es ist der einzige Roman dieses Autors. Oehlenschläger als Romancier – eine Vorstellung, die für seine Zeitgenossen1 etwas Befremdliches haben musste, galt der Dichter doch seit seinen frühen, mit Begeisterung aufgenommenen Werken Digte, St. Hansaften-Spil und Aladdin als begabter, ja begnadeter Lyriker und Dramatiker, dies trotz ebenfalls schon in jungen Jahren verfasster Prosatexte wie der 1805 in einem Band zusammen mit Aladdin herausgegebenen, auf der Vǫlundarkviða der Liederedda basierenden Vaulundurs Saga, dem orientalischen Märchen Aly og Gulhyndy in der Sammlung Digtninger von 1811 oder der Novellensammlung Digtninger II von 1813. Diese Werke erlangten, obwohl teilweise noch in der sogenannten „Blütezeit“ von Oehlenschlägers Schaffen entstanden, nicht den gleichen Status wie seine frühen Gedichte und Dramen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass sich Oehlenschlägers oft virtuose Sprachkunst in den Prosawerken nicht in gleicher Weise entfalten konnte wie in seinen Versdichtungen. Einer solchen Ansicht widerspricht jedoch – meines Erachtens zu Recht – die Analyse von Flemming Lundgreen-Nielsen und Mogens Løj, die einige der erwähnten Prosastücke in die zwölfbändige, zum 200-jährigen Jubiläum von Oehlenschlägers Geburtstag veranstaltete Werkausgabe aufnahmen und dem Autor in ihrem Vorwort eine nuancenreiche, gestalterisch bewusste Prosakunst attestieren (Lundgreen-Nielsen/Løj 1987: 7–16). Diese wurde aber offensichtlich von der Mehrheit der zeitgenössischen Leserschaft nicht wahrgenommen, was vielleicht einer traditionellen, aber eigentlich bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts veraltenden Auffassung geschuldet ist, wonach Verse in der Dichtkunst ein höheres Ansehen haben als Prosa. Die Literaturwissenschaftlerin Lise Præstgaard Andersen fragt sich angesichts der Tatsache, dass Oehlenschläger nur einen einzigen Roman verfasste, ob der Autor in seinem Innersten nicht selber geglaubt habe, wahre Dichtung müsse in poetischer, d.h. gebundener Form geschaffen sein (vgl. Præstgaard Andersen, o.J.). Betrachtet man die insgesamt recht reichhaltige Prosaproduktion Oehlenschlägers, zu der auch verschiedene Übersetzungen gehören, so scheint diese Frage nicht wirklich berechtigt.

Doch trifft es zu, dass der Roman in zeitgenössischen Leserkreisen keine günstige Aufnahme fand, was sicher auch damit zusammenhing, dass er in den 1820iger Jahren entstand, d.h. zu einer Zeit, da Oehlenschläger seit längerem mit der sinkenden Akzeptanz seiner Publikationen zu kämpfen hatte. Zudem entsprach der Roman kaum der Lesererwartung, die der Titel geweckt haben dürfte: Es handelt sich bei dem Werk weder um einen Abenteuerroman noch um eine der damals beliebten Reiseerzählungen aus der Südsee, sondern um ein in Romanform dargebotenes textuelles Konglomerat aus einer Fülle von kunsttheoretischen Reflexionen, Prätexten, Zitaten, Binnenerzählungen, lyrischen Einlagen etc., das Ganze konstruiert auf dem Fundament von Schnabels Wunderlichen Fata und fast gleichzeitig in zwei Sprachen veröffentlicht – kurz, ein aus heutiger Sicht vielschichtiges und im Ablauf seiner mehrfachen Umgestaltung dynamisches Textgebilde, das in der Forschung bisher – wie ich meine, zu Unrecht – nur wenig Beachtung fand.

In der Vorrede zu seinem Roman Die Inseln im Südmeere2Cotta, Johann Friedrich beschreibt Oehlenschläger, wie sich seine Beziehung zu Schnabels Wunderliche Fata einiger Seeleute (besser bekannt als Insel Felsenburg)3 entwickelte und veränderte. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hatte er den Roman als Kind auf Dänisch gelesen; diese Vermutung legen eigene Aussagen über seine Sprachkenntnisse nahe, z.B.: „Ich war zwölf Jahre alt geworden […]; ich las nur dänisch“ (Selbstbiographie1829, 1: 12).4 Diese Lektüre, die ihn in seiner Kindheit und Jugend begeistert hatte, inspirierte ihn damals zu mancherlei Phantasiebildern, die mit dem Gelesenen verschmolzen und sich zu etwas Neuem formten, weshalb ihn der ursprüngliche Roman bei einer späteren Lektüre enttäuschte. Er fand darin nur noch „einige schöne mit Kreide flüchtig hingeworfene Skizzenzüge“, die „mit Oehlfarbe ausgemahlt (sic) zu werden verdienten“ (IS I: IX).5Schmidt, Arno In diesen Worten liegt ein Schaffensplan, eine Art Poetik, die darauf abzielt, Schnabels Buch, das nun bloss noch als blasse, flüchtig geschriebene Kreideskizze empfunden wurde, zu einem farbigen Ölgemälde zu gestalten. Das Bild ist nicht neu: Wenige Jahre vor dem Erscheinen des Inselromans hatte Oehlenschläger im Vorwort zu seiner deutschen HolbergHolberg, Ludvig-Übersetzung das Verhältnis des Komödiendichters zu dessen Vorbildern (im Hinblick auf Jacob von Tybo) mit fast denselben Worten umschrieben: „Dann kann man aber auch wohl sagen, dass sich Holberg’s Stück zu jenen Plautischen und Terenzischen Scenen verhält, wie ein vollendetes Oelgemälde zu Skizzen, mit Kreide flüchtig hingezeichnet“ (Holberg’s Lustspiele1822–1823, I: XV; gesperrt im Original, kursive Hervorhebung JM.) Auch für Holberg soll mit der Kontrastierung von Kreide und Ölbild die geringe Abhängigkeit seiner Dichtung vom Prätext betont werden. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, in welcher Weise sich die Umsetzung dieser Poetik in Oehlenschlägers Roman konkretisiert, was für ein „Bild“ diese „Ausmalung der Skizzenzüge“ entstehen lässt.

Am Ende seiner Vorrede gibt Oehlenschläger eine weitere Erklärung zur Schaffung seines Romans:

Da die Handlung hier meist in Deutschland spielt, und die Personen meistens Deutsche sind, habe ich auch diese Dichtung, wie den Correggio, zuerst deutsch geschrieben, und es ist keine Uebertragung aus dem Dänischen. […] ich weiss, dass ich auch Gönner und Freunde in Deutschland habe, die ihren dänischen Blutsverwandten, wenn auch mit etwas fremdem Accente, gern sprechen hören. (IS I: XIII–XIV; gesperrt im Original)

Das Zitat weist in eine Richtung, der ich in meiner Arbeit gern folgen möchte: Es deutet die zweisprachige Produktion des Autors an, welcher den grössten Teil seines voluminösen Gesamtwerkes selber auf Deutsch übersetzte, einige Dichtungen aber, wie im Zitat erwähnt, zuerst in deutscher Sprache verfasste.6 Nähe und Distanz, die sich im Hinweis auf die Blutsverwandtschaft und den fremden Akzent ausdrücken, zeigen den Autor als einen Grenzgänger „zwischen den Sprachen“ (Blödorn 2004),7 der sich nicht auf eine einzige Sprache festlegen möchte, sondern die Polyphonie, die Mehrstimmigkeit, den vielfältigen Klang bevorzugt. Tatsächlich liegt ja in der Erwähnung des Sprechens „mit etwas fremdem Accente“ die Andeutung einer von der Normalität, vom Standard leicht abweichenden Sprache, einer Variante also, die dem Zweiklang deutsch – dänisch eine weitere Tonalität hinzufügt. Auf dieser polyphonen Basis des Romans entwickeln sich in der Folge weitere Fassungen, die ihrerseits den Text vervielfältigen, dynamisieren, einem Prozess der fortwährenden Umformung aussetzen, an der nicht nur der Autor, sondern auch spätere Herausgeber beteiligt sind, d.h. auch die Urheberschaft des Textes gestaltet sich im Lauf der Zeit polyphon.

Dass neben Schnabels Roman – dem deklarierten Prätext – noch eine Vielzahl weiterer Prätexte, intertextueller Beziehungen, Gattungsmischungen, Erzählerstimmen, etc. die Gestalt von Oehlenschlägers Text bestimmt, lädt dazu ein, diesen insgesamt als polyphones Phänomen zu betrachten und der für den Text zentral erscheinenden Mehrstimmigkeit eine Untersuchung zu widmen, welche die verschiedenen textuellen „Stimmen“ herausarbeiten und aufzeigen soll, ob sich die These bestätigt, wonach dieser Roman eindeutige Zuordnungen auf mehreren Ebenen unterläuft und zudem in seiner Entstehungszeit neuartige literarische Verfahren für die Textproduktion fruchtbar machte.

Die Konzepte der Polyphonie und Dialogizität im Sinne BachtinsBachtin, Michail M. bilden die theoretische Basis der vorliegenden Untersuchung; sie sollen jedoch gleichzeitig für andere Theorien geöffnet werden, besonders für die eng mit Bachtins Auffassungen verbundene und teilweise von ihnen herstammende Intertextualität. Die Verbindung wird explizit hergestellt in Julia KristevaKristeva, Julias Aufsatz „Le mot, le dialogue et le roman“, der ihre vielzitierte Definition der Intertextualität enthält:

Chez BakhtineBachtin, Michail M. […] ces deux axes, qu’il appelle respectivement dialogue et ambivalence, ne sont pas clairement distingués. Mais ce manque de rigueur est plutôt une découverte que Bakhtine est le premier à introduire dans la théorie littéraire: tout texte se construit comme mosaïque de citations, tout texte est absorption et transformation d’un autre texte. A la place de la notion d’intersubjectivité s’installe celle d’intertextualité, et le langage poétique se lit, au moins, comme double. (KristevaKristeva, Julia1969: 85; kursiv im Original)8Kristeva, JuliaBachtin, Michail M.

Bei Bachtin werden […] diese beiden Achsen, die er Dialog respektive Ambivalenz nennt, nicht klar unterschieden. Aber dieser Mangel an Stringenz ist eher eine Entdeckung, die Bachtin als erster in die Literaturtheorie einführt: Jeder Text konstruiert sich als ein Mosaik aus Zitaten, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle der Idee der Intersubjektivität tritt jene der Intertextualität, und die poetische Sprache liest sich mindestens als eine doppelte.9

Ergänzend zu BachtinsBachtin, Michail M. und KristevasKristeva, Julia theoretischen Überlegungen werden für die Textanalyse auch weitere Intertextualitätskonzepte sowie Erkenntnisse der Übersetzungsforschung, der Psychoanalyse und der Gender Studies beigezogen. Die Polyphonie bildet also nicht nur den Gegenstand der Arbeit, sondern ist bis zu einem gewissen Grad auch dem methodischen Zugang eingeschrieben. Im Folgenden sollen die verschiedenen, meiner Arbeit zugrunde gelegten Theoriekonzepte kurz vorgestellt werden.

1.2Methodisch-theoretische Zugänge und Aufbau der Arbeit

1.2.1Polyphonie, Dialogizität und Intertextualität

Wie erwähnt, sind die beiden Begriffe Polyphonie und Dialogizität in der Literatur- und Kulturwissenschaft eng mit dem Namen Michail M. BachtinsBachtin, Michail M. verknüpft. Bekanntlich hat Bachtin sie im Zuge seiner Analyse von Dostoevskijs Romanen zu Konzepten entwickelt und bezieht sie – jedenfalls, was die Polyphonie betrifft – auch mit einer gewissen Ausschliesslichkeit auf dessen Werk: „Unserer Meinung nach kann nur Dostoevskij als Schöpfer echter Polyphonie gelten“ (Bachtin 1971: 42).1Bachtin, Michail M. Zu diesem Schluss gelangt er im Wesentlichen durch die Erkenntnis, dass Dostoevskij seine Welt „vor allem im Raum und nicht in der Zeit“ gesehen habe, da die Hauptkategorie seiner künstlerischen Sehweise „nicht das Werden, sondern Koexistenz und Wechselwirkung“ gewesen sei (Bachtin 1971: 34; kursiv im Original). Es geht also nicht um Entwicklung, um ein zeitliches Nacheinander oder ein kausales Folgeprinzip von Phänomenen, sondern um deren Gleichzeitigkeit, um ein räumlich gesehenes Nebeneinander und Koexistieren aller möglichen, auch divergierenden Themen: „Sich in der Welt zurechtzufinden, bedeutete für ihn [Dostoevskij], alle ihre Inhalte als gleichzeitige zu denken und ihre Beziehungen zueinander in einem einzigen Augenblick zu erraten“ (Bachtin 1971: 35; kursiv im Original). Im Weiteren stellt Bachtin zur genaueren Definition seines Polyphoniebegriffs die Unterschiede zwischen dem aus seiner Sicht monologischen und dem polyphonen Roman dar, wobei er als zentrales Element der Polyphonie die Gleichberechtigung der Bewusstseine des Autors und seiner Figuren betont:

[D]as Bewusstsein des Autors macht fremde Bewusstseine (d.h. die der Helden) nicht zu Objekten und legt sie nicht in ihrer Abwesenheit endgültig fest. Es fühlt neben und vor sich gleichberechtigte, fremde Bewusstseine, die genauso unendlich und unabschliessbar sind wie es selbst. […] Vom Autor des polyphonen Romans wird nicht der Verzicht auf sich selbst und sein eigenes Bewusstsein verlangt, sondern eine ungewöhnliche Erweiterung, Vertiefung und Umstrukturierung dieses Bewusstseins, […] damit es vollberechtigte fremde Bewusstseine aufnehmen kann. (BachtinBachtin, Michail M.1971: 77)2Bachtin, Michail M.

Der polyphone Roman erscheint in der Fortführung der Argumentation als Textraum, in dem verschiedene Bewusstseine gleichrangig bestehen, eine Stimme erhalten und – ganz wesentlich für BachtinBachtin, Michail M. – miteinander in eine dialogische Beziehung treten (Bachtin 1971: 98).3Bachtin, Michail M. Der gleichberechtigten Vielfalt von Bewusstseinen entspricht die Koexistenz verschiedenster Schattierungen der sie als Medium tragenden Sprache, die

in jedem Augenblick ihrer historischen Existenz durchgängig in der Rede differenziert [ist]. Es ist dies die personifizierte Koexistenz sozioideologischer Widersprüche zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, zwischen verschiedenen Epochen der Vergangenheit, zwischen verschiedenen sozioideologischen Gruppen der Gegenwart, zwischen Richtungen, Schulen, Zirkeln usw. Diese „Sprachen“ der Redevielfalt kreuzen sich auf vielfältige Weise miteinander und bilden dadurch neue sozialtypische „Sprachen“. […] Als solche können sie sehr wohl einander gegenübergestellt werden, können sie sich wechselseitig ergänzen, können sie einander widersprechen, können sie dialogisch aufeinander bezogen sein. (BachtinBachtin, Michail M.1979: 182–183)

Es wird nicht nur durch die Anführungszeichen klar, dass der Terminus „Sprachen“ im Verlauf der Textpassage einen vom herkömmlichen Gebrauch abweichenden, viel umfassenderen Sinn annimmt; wie BachtinBachtin, Michail M. ausführt, meint er damit so viel wie „spezifische Sichten der Welt, eigentümliche Formen der verbalen Sinngebung, besondere Horizonte der Sachbedeutung und Wertung“ (Bachtin 1979: 183), ein Konglomerat, das man vielleicht – im Sinn einer den einzelnen Gruppierungen gemeinsamen Denk- und Argumentationsform – als „Diskurs“ bezeichnen könnte. Diese sich überlagernden oder überschneidenden, miteinander dialogisierenden Diskurse münden insgesamt in eine Dynamisierung des Textbegriffs, der folgerichtig auch keine stabilen Grenzen mehr kennt, woraus sich schliesslich ein Dialog zwischen Texten entwickelt:

Jedes Wort (jedes Zeichen) eines Textes führt über seine Grenzen hinaus. Es ist unzulässig, die Analyse (von Erkenntnis und Verständnis) allein auf den jeweiligen Text zu beschränken. Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten und die Umdeutung im neuen Kontext (in meinem, im gegenwärtigen, im künftigen). […] Der Text lebt nur, indem er sich mit einem andern Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Texten erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen lässt. (BachtinBachtin, Michail M.1979: 352–353)

Trotz der metaphorischen Überhöhung, die den Schluss der zitierten Stelle kennzeichnet, tritt doch das Wesentliche, BachtinsBachtin, Michail M. dynamisches Textverständnis, klar zutage. Dieses stand auch für Kristeva im Vordergrund, als sie bei ihrer Beschreibung und Analyse zweier Werke Bachtins, dem bereits zitierten Buch über Dostoevskij sowie seiner Untersuchung zu Rabelais’ Werk, den Begriff der Intertextualität prägte (Kristeva 1972: 348) – ein Terminus, der in der Folge selber polyphonen Charakter annehmen sollte, da er sehr unterschiedliche „Stimmen“, Deutungen und Definitionen umfasst. Das Spektrum reicht bekanntlich von der sogenannten „weiten“ Anschauung Kristevas,Kristeva, Julia die, wie erwähnt, jeden Text als „Mosaik von Zitaten“, als „Absorption und Transformation eines andern Textes“ versteht (Kristeva 1972: 348), bis zu „engen“ Auslegungen, die Intertextualität nur bei „markierter“, d.h. expliziter Aufnahme von andern Texten in den jeweiligen Grund- oder Haupttext erkennen (vgl. Broich 1985a: 31–47). Kristevas Lesart wird von der modernen Bachtinforschung oft als „produktives Missverständnis“ bezeichnet, da sie Bachtins Positionen (vor allem in Bezug auf Autorschaft und Autorintention) unzutreffend auf postmoderne Theoreme hin zuspitze (Grübel 2008: 317, Fussnote 3, und 342). Eine Umakzentuierung von Bachtins Konzeption der Dialogizität durch Kristeva stellte auch schon Manfred Pfister in seinem Aufsatz „Konzepte der Intertextualität“ fest (Pfister 1985a: 6–11). Sylvia Sasse hingegen ist der Ansicht, dass Kristeva mit ihrer Auffassung des „Dialogismus […] auf der Ebene des bachtinschen denotativen Wortes als Prinzip jeglichen Aussagens“ (Kristeva 1972: 357) Bachtins Ansatz nicht eigentlich erweitere, sondern bestätige, wobei Kristeva allerdings durch ihren Befund, die poetische Sprache sei als solche dialogisiert, Bachtins Differenzierung „zwischen monologischer und dialogischer Schreibweise gerade im Poetischen“ aufhebe (Sasse 2010: 91). Damit weist Sylvia Sasse auf einen wichtigen Punkt, in dem Kristeva Bachtins Konzept tatsächlich weiterentwickelt: Die von ihr postulierte, der poetischen Sprache als solche inhärente Dialogizität nähert sich postmodernen Betrachtungsweisen an, in denen es z.B. um eine Entgrenzung des Werkbegriffs geht, oder anders gesagt, um die Erweiterung der scheinbar klar feststehenden Werkgrenzen. Nicht diese Abgrenzungen im Sinne von deutlichen Konturen eines Werkes stehen im Vordergrund, sondern dessen Einflechtung in das Netz existierender Texte, die Kristeva zufolge allein schon durch das Medium Sprache gegeben ist. Die Vorstellung des Werkes als herausragender Skulptur wird abgelöst von dem Gedanken an ein Gebilde aus verschiedensten Textfäden, die es vielseitig verknüpfen – was im Übrigen ja schon der Wortsinn des lateinischen textus besagt. Dass dieses Gewebe als dynamische Textur zu verstehen ist, hat Roland BarthesBarthes, Roland deutlich gemacht, indem er den Text nicht mehr als fertiggestelltes Produkt begreift, sondern die Betonung legt auf „l’idée générative que le texte se fait, se travaille à travers un entrelacs perpétuel; […]“ [die generative Idee, dass der Text sich selbst herstellt, sich erarbeitet durch ein kontinuierliches Flechten; […] (Barthes 1973: 101).

In ähnlicher Weise sind für FoucaultFoucault, Michel die Ränder des Buches unscharf abgegrenzt, da er es in einem System von Verweisen auf andere Bücher, Texte, Sätze sieht:

C’est que les marges d’un livre ne sont jamais nettes ni rigoureusement tranchées: par-delà le titre, les premières lignes et le point final, par-delà sa configuration interne et la forme qui l’autonomise, il est pris dans un système de renvois à d’autres livres, d’autres textes, d’autres phrases: nœud dans un réseau. (FoucaultFoucault, Michel1969: 34)

Die Ränder eines Buches sind weder sauber noch scharf geschnitten: Über den Titel, die ersten Linien und den Schlusspunkt hinaus, über seine innere Gestaltung und die Form, die es als Buch konstituieren, hinaus, ist es verhaftet in einem System von Verweisen auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze: ein Knoten in einem Netzgewebe.

Diese Betrachtungsweisen bringen in unterschiedlichen Bildern den dynamischen Charakter eines Textes, Werkes oder Buches zum Ausdruck; sie betonen die Verknüpfungen oder Verflechtungen zwischen verschiedenen Texten, stellen scheinbar etablierte Werkgrenzen ebenso wie klar definierte Textränder zur Diskussion. Damit teilen sie die von KristevaKristeva, Julia im Rückgriff auf BachtinBachtin, Michail M. entwickelten Perspektiven und positionieren sich im Bereich der ontologischen Intertextualitätstheorien. Da diese jedoch dafür kritisiert wurden, kein konkretes, zur Textanalyse taugliches Instrumentarium aufzuweisen, bildeten sich im Gegenzug deskriptive Intertextualitätskonzepte heraus, die einerseits zwar in vielen Punkten an die alte Einfluss- und Quellenforschung erinnern,4Kristeva, Julia andrerseits aber doch für die Untersuchung von Texten hilfreiche Anwendungskategorien bieten und sich von den vor-postmodernen Theorien durch die Beobachtung und Beschreibung der Relationen und Interaktionen zwischen Texten unterscheiden.

So entfaltet z.B. Gérard GenetteGenette, Gérard in Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe5Genette, Gérard ein breit gefächertes System für die Beschreibung von Textbeziehungen. Er beruft sich dabei explizit auf KristevasKristeva, Julia Bezeichnung „Intertextualität“, definiert den Begriff aber „wahrscheinlich restriktiver“ (Genette 1993: 10), nämlich für die „effektive Präsenz eines Textes in einem andern Text“ (Genette 1993: 10), die er eingrenzt auf die drei Kategorien Zitat, Plagiat oder Anspielung. „Intertextualität“ in diesem engen Sinn ist für ihn nur einer von fünf verschiedenen, aber vielfach miteinander verbundenen Typen seiner Klassifizierung transtextueller Beziehungen. Neben der Intertextualität sind dies die „Paratextualität“, die er später unter dem Titel Seuils in einem eigenen Buch behandeln wird,6Genette, Gérard die „Metatextualität“ als stillschweigende oder explizite Kommentierung eines anderen Textes, die „Architextualität“, womit die auf Gattungszugehörigkeit beruhende Verbindung mit anderen Texten gemeint ist, sowie die „Hypertextualität“, jener Typus, mit dem sich Genette in Palimpseste fast ausschliesslich beschäftigt. Er versteht darunter sämtliche Beziehungen zwischen einem Prätext und einem darauf basierenden Folgetext (Genette 1993: 14–15). Seine Bezeichnungen für die entsprechende Textsituation, „Hypotext“ und „Hypertext“, weisen dabei auf die grundlegende Art dieser Beziehung zwischen zwei Texten: Es handelt sich um die „Überlagerung“ des Folgetextes über einen bereits existierenden Text, der dem neuen Werk gewissermassen „unterlagert“ ist, wie das die Vorsilben „hypo-“ und „hyper-“ zum Ausdruck bringen; daraus erklärt sich natürlich auch der Titel Palimpseste, der wiederverwendete Manuskriptseiten bezeichnet, die nach Abschaben oder Abwaschen der Erstbeschriftung neu beschrieben worden waren. Bei diesen schon aus der Antike bekannten und im Mittelalter weitergeführten Praktiken schimmerte manchmal die Erstbeschreibung noch durch, blieb also unter dem überschriebenen Text sichtbar. Auch Genettes Untertitel Die Literatur auf zweiter Stufe bezeichnet die Art der von ihm untersuchten Textbeziehung, die er gesamthaft unterteilt in „Transformation“ und „Nachahmung“; beide Begriffe erfahren zusätzliche Differenzierungen und Gliederungen, je nach Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen Hypo- und Hypertext, z.B. aus stilistischer, funktionaler oder gattungsbezogener Perspektive.

Einen weiteren wichtigen Beitrag zu einer deskriptiven Intertextualitätstheorie leistet die bereits kurz erwähnte, von Ulrich Broich und Manfred Pfister 1985 herausgegebene Aufsatzsammlung Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, die sich zum Teil als Reaktion auf GenettesGenette, GérardPalimpseste versteht, dessen Gesichtspunkte in verschiedener Hinsicht präzisiert, ergänzt und durch konkrete Analysen von Texten der englischen Literatur, die Genette trotz seiner weitgespannten Untersuchung „nur relativ selten“ berücksichtige, erweitert werden sollen (Broich/Pfister 1985: IX). In den theoretischen Prämissen etablieren die Herausgeber die Unterscheidung zwischen der Einzeltextreferenz, also dem Bezug eines Textes auf einen Prätext, und der Systemreferenz, d.h. der Beschreibung eines Textes im Verhältnis zu Gattungsnormen oder anderen strukturbildenden Textsystemen. Es wird erwähnt, dass diese Unterscheidung sich in anderer Terminologie schon bei Genette finde (Broich 1985b: 49, Fussnote 3), während gewisse Aspekte der Systemreferenz mit Elementen von BachtinsBachtin, Michail M. und KristevasKristeva, Julia Intertextualitätskonzeption übereinstimmten (Pfister 1985b: 54). So gesehen, schaffen die beiden Autoren also auch Verbindungen zwischen dem ontologischen und dem deskriptiven Intertextualitätsbegriff, wobei aber die präzisen Beschreibungen und Definitionen der verschiedenen Formen von Intertextualität für ihre Publikation bestimmend sind.

In meiner Arbeit stütze ich mich, wie erwähnt, vor allem auf die Konzepte der Polyphonie und der Dialogizität, wie sie von BachtinBachtin, Michail M. entwickelt wurden; ich möchte untersuchen, inwieweit die Präsenz anderer Texte in Oehlenschlägers Roman sich als gleichrangige „Stimmen“ im Sinne Bachtins manifestieren. Auch betrachte ich die verschiedenen, jeweils in zwei Sprachen erschienenen Fassungen dieses Romans als Phänomene, welche die Werkgrenzen durchlässig machen und das Prozesshafte, Dynamische des Textes ins Blickfeld rücken. Dennoch werde ich für die Beschreibung bestimmter formaler Aspekte von intertextuellen Beziehungen auf die Arbeiten von GenetteGenette, Gérard und Broich/Pfister zurückgreifen und überdies andere Erkenntnisse und Beiträge zur Intertextualitätsforschung, wie z.B. von Harold BloomBloom, Harold oder Renate Lachmann, einbeziehen.

Auch BachtinsBachtin, Michail M. Theorien zur Karnevals- und Lachkultur, wie er sie in seiner umfassenden Untersuchung zu Rabelais und zur Volkskultur von Mittelalter und Renaissance darstellt (Bachtin 1995), haben sich als hilfreich für die Beschreibung bestimmter Phänomene in Oehlenschlägers Roman erwiesen und sollen darum zur Stützung einzelner Analysen meiner Arbeit ebenfalls berücksichtigt werden.

1.2.2Übersetzungswissenschaft

Dass die Übersetzung als solche ihrem Wesen nach ein intertextuelles Phänomen ist, bedarf keiner weiteren Erklärung und ist in der Intertextualitätsforschung trotz unterschiedlicher Richtungen und Konzepte unbestritten. Sie kann als „Spielform der Intertextualität“ eingestuft werden, wie dies Werner von Koppenfels bezogen auf die literarische Übersetzung tut (Koppenfels 1985: 138), indem er KristevasKristeva, Julia Konzept der Intertextualität als „absorption et transformation d’un autre texte“ (Kristeva 1969: 85) auf diesen „generischen Sonderfall“ eingrenzt (Koppenfels 1985: 138). GenetteGenette, Gérard kategorisiert die Übersetzung als „Transformation“ und gliedert sie in die Unterkategorie der „ernsten Transformation“ ein, die er auch als „Transposition“ bezeichnet: „Die augenfälligste und sicherlich verbreitetste Transpositionsform besteht darin, einen Text aus einer Sprache in eine andere zu übertragen: Das ist natürlich die Übersetzung […]“ (Genette 1993: 289). Gleich zu Beginn seiner Ausführungen erwähnt er die zweisprachigen Schriftsteller, die ihr Werk in zwei Versionen verfassen, indem sie es gleichzeitig in zwei Sprachen hervorbringen oder im Nachhinein selbst übersetzen. Der Hinweis steht im Zusammenhang mit der Betonung der Bedeutung des Übersetzens für die Literatur, denn einerseits müssten ja die Meisterwerke [der verschiedenen Literaturen] übersetzt werden, andrerseits würden Übersetzungen oft selbst wieder zu Meisterwerken, wofür er Beispiele von Dichtern anführt, die Werke anderer Dichter übersetzten (Genette 1993: 289). Damit knüpft er im Übrigen an eine der drei Kategorien des Übersetzens an, die NovalisNovalis (Friedrich von Hardenberg) aufgestellt hatte, nämlich an die des „verändernden Übersetzens“, wozu der „höchste poetische Geist“ nötig sei; der wahre Übersetzer müsse „der Dichter des Dichters sein und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können“ (Novalis 1962: 353).

In der Folge geht GenetteGenette, Gérard jedoch auf diese Thematik nicht weiter ein, sondern widmet seine kurze Darstellung der für die Übersetzungswissenschaft nach wie vor zentralen Frage der Übersetzbarkeit. Die Diskussion der synchronen Transposition von einer Sprache in eine andere ergänzt er dabei um eine diachrone Dimension, womit die Probleme gemeint sind, die sich in der Übersetzung durch die Unterschiede zwischen den historischen Entwicklungsstufen der Sprachen ergeben können. Moderne Übersetzungen antiker oder mittelalterlicher Texte bewirkten, dass der Leser die historische Distanz im sprachlichen Ausdruck nicht nachempfinden könne, was allerdings, wie Genette einräumt, im Fall der Antike z.B. für französische Leser ohnehin nicht möglich wäre (Genette 1993: 292–294). Sein Bedauern darüber weist ihn implizit als Vertreter oder doch als Sympathisant der verfremdenden Übersetzung aus, d.h. jener Richtung, welche die Ausgangssprache gegenüber der Zielsprache favorisiert und ihre Eigenart in der Zielsprache wahrnehmbar machen möchte. Diese Strategie vertritt SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich in seinem grundlegenden Vortrag „Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens.“1 Er bietet darin eine theoretische Systematisierung des Übersetzens vor allem philosophischer und literarischer Texte, das gerade in seiner Zeit überaus eifrig betrieben wurde und dem deutschen Lesepublikum den Zugang zu einer Vielzahl berühmter Werke anderer Literaturen eröffnen sollte. SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich unterscheidet bekanntlich zwei Übersetzungsmethoden, die „einbürgernde“ und die „verfremdende“, wie man sie heute nennt, wobei er unbedingt für die zweite eintritt, denn nur durch eine Übersetzung, die als solche erkennbar bleibe, könne der Leser ein Bewusstsein für das Andere, für die fremde Kultur der Ausgangssprache entwickeln und dadurch eine Bereicherung der eigenen Sprache und Kultur erfahren. Schleiermacher sieht eine solche Dynamik auch generell für die deutsche Sprache: „[…] so fühlen wir auch, dass unsere Sprache […] nur durch die vielseitigste Berührung mit dem fremden recht frisch gedeihen und ihre eigne Kraft vollkommen entwickeln kann“ (Schleiermacher 2002: 92). Am Ende seiner Ausführungen würdigt er die zahlreichen Übersetzungsbemühungen seiner Zeit: „Ein guter Anfang ist gemacht, aber das meiste ist noch übrig. […] Wie sehr schon einzelne Künstler die Schwierigkeiten theils besiegt, theils sich glücklich zwischen ihnen durchgewunden haben, liegt in mannigfaltigen Beispielen vor Augen“ (Schleiermacher 2002: 92–93). Damit deutet er die rege Übersetzertätigkeit der zeitgenössischen Schriftsteller an, auf die explizit schon NovalisNovalis (Friedrich von Hardenberg) hingewiesen hatte: „[…] indem es fast keinen deutschen Schriftsteller von Bedeutung gibt – der nicht übersetzt hätte und wahrlich darauf so viel sich einbildet, als auf Originalwerke, […].“2Schlegel, August WilhelmNovalis (Friedrich von Hardenberg)Shakespeare, William

Oehlenschlägers intensive Übersetzungsarbeit, die der Autor während seiner ganzen schriftstellerischen Laufbahn betrieb, steht also in einem literaturgeschichtlichen Kontext, in welchem das Übersetzen fast selbstverständlich zur schriftstellerischen Tätigkeit gehörte. Dies betrifft neben umfassenden Selbstübersetzungen vor allem seine – ebenfalls umfangreichen – Übersetzungen anderer Autoren aus verschiedenen Sprachen ins Dänische. Das Spektrum reicht von Catull, Properz, Ovid über Petrarca, ShakespeareShakespeare, William (u.a. Sommernachtstraum), GoetheGoethe, Johann Wolfgang von (u.a. Götz von Berlichingen, Reineke Fuchs, Hermann und Dorothea), SchillerSchiller, Friedrich von (diverse Gedichte) bis zu TieckTieck, Ludwig (zweibändige Ausgabe von dessen Werken in Auswahl) und dem schwedischen Dichter Bernhard von Beskow (die Tragödien Torkel Knutsson, Kung Birger och hans ätt).3 Zu erwähnen ist hier auch die 1816 erschienene zweibändige Märchenanthologie Eventyr af forskiellige Digtere, die Märchen und märchenhafte Legenden von Musäus, Fouqué, Grimm, Tieck, Uhland, KleistKleist, Heinrich von u.a. enthält, sowie die aus dem Altisländischen übersetzte Velents Saga.4 Ein von der zeitgenössischen Übersetzungstradition abweichendes Unternehmen stellt Oehlenschlägers Übersetzung von HolbergsHolberg, Ludvig Komödien ins Deutsche dar, die er 1822/23 zum hundertjährigen Jubiläum von Holbergs „Danske Skueplads“ herausgab. 1844 fügt er diesem Grossprojekt eine deutsche Bearbeitung von Johan Herman Wessels Tragikomödie Kjærlighed uden strømper von 1772 hinzu, eine Parodie der klassizistischen französischen Tragödie, die er dem deutschen Leser mitteilen will.5

Die Vermittlung zwischen Sprachen, Kulturen, Dichtungs- und Gattungstraditionen erscheint als zentrale, verbindende Funktion dieser äusserst vielfältigen, heterogenen Übersetzertätigkeit, die ausserdem noch, wie erwähnt, den Sonderfall der Selbstübersetzung6Baggesen, Jens umfasst: Oehlenschläger hat den weitaus grössten Teil seines Gesamtwerks selber ins Deutsche übertragen.7Schleiermacher, Friedrich Eine spezielle Form dieser Autotranslation bilden jene Werke, die er, wie z.B. Die Inseln im Südmeere, zuerst auf Deutsch verfasste und anschliessend in seine Muttersprache „übersetzte“.8 Der Roman lässt sich daher in seiner Zweisprachigkeit nicht ohne weiteres anhand der Kriterien gängiger Übersetzungstheorien erfassen, die mehrheitlich auf der Basis „normaler“ Übersetzungsprozesse entstanden sind, d.h. sich auf Texte beziehen, die von einer anderen Person als dem Autor übersetzt wurden. Eine Forschungsrichtung der neueren Übersetzungswissenschaft stellt allerdings die Unterscheidung zwischen Selbstübersetzern und Übersetzern in Frage, da letztlich beide ein vergleichbares Verfahren benützten; es besteht jedoch auch eine Gegenposition, die dafür plädiert, Selbstübersetzer von der Übersetzungsthematik losgelöst als Autoren zu betrachten, die ihr eigenes Werk umschreiben („rewriting“; vgl. Boyden/De Bleeker 2013: 180). Diese beiden Positionen bilden die Eckpunkte eines Feldes, in dem u.a. Fragen nach der Motivation, der Funktion sowie der Zeitversetztheit resp. Gleichzeitigkeit der Selbstübersetzung eines Autors untersucht werden.9

Bei Oehlenschläger ist die Sachlage insofern komplizierter, als er die Rollen des Übersetzers und Selbstübersetzers in einer Person vereint, und ausserdem beide Übersetzungsformen in seinem Roman anwendet, indem er ihn nicht nur in zwei Sprachen verfasste, sondern auch Texte, vor allem Gedichte, verschiedener Herkunft darin integrierte, die er je nach Sprache in eine der beiden Versionen oder in beide übersetzte. Man kann diese pluritranslatorischen Phänomene auch als potenzierte Polyphonie betrachten, indem verschiedenste Stimmen im Roman hörbar werden und der Autor selber gewissermassen mit zwei Stimmen spricht, wodurch er einen intensiven kulturellen Transfer nicht nur zwischen zwei Sprachen, sondern aus einer Vielzahl verschiedener Kulturen in die dänische und/oder die deutsche Sprache generiert.

Am besten geeignet zur Untersuchung dieser Textsituation erscheint mir der Ansatz der Descriptive Translation Studies, vor allem ihre prozessorientierte Blickrichtung und ihre Tendenz, „den Übersetzungsprozess als ein komplexes Ensemble von intertextuellen und interkulturellen Beziehungen innerhalb einer bestimmten historischen Situation aufzufassen“ (Apel/Kopetzki 2003: 60). Die Einstufung der Selbstübersetzung als „Fortschreibung eines Werks“ (Lamping 1992: 216), als offene, für gegenseitige Ergänzungen und Veränderungen der Sprachen durchlässige Struktur könnte Hinweise für eine adäquate Beschreibung der Dynamik von Oehlenschlägers Roman im intertextuellen Beziehungsgeflecht zwischen verschiedenen Sprachen, Literaturen, Schauplätzen, etc. liefern. Stellenweise sollen aber auch andere, mehr sprachwissenschaftlich ausgerichtete Konzepte der Übersetzungsforschung beigezogen werden.

1.2.3Psychoanalyse und Literaturwissenschaft

Die oben beschriebenen Methoden der Intertextualität und der Übersetzungswissenschaft, die das Hauptinstrumentarium meiner Analysen von Oehlenschlägers Roman bilden, werden punktuell durch Elemente der psychoanalytischen Literaturwissenschaft ergänzt. Diese Theorie umfasst ein weites Spektrum an Untersuchungsgebieten: Einerseits entwickelt sie Erklärungen für den Ursprung dichterischer Kreativität und versucht dadurch die Frage nach der Entstehung von Dichtung überhaupt zu beantworten, andrerseits widmet sie sich der Untersuchung rezeptionstheoretischer, leserorientierter Prozesse ebenso wie der Interpretation autor-, werk- und figurenbezogener Aspekte. Für meine Arbeit stütze ich mich vorwiegend auf die letztgenannte Richtung, da sie sich für die Analyse bestimmter Figuren, genauer gesagt, ihrer Handlungen, Konstellationen und Beziehungen anzubieten scheint. FreudFreud, Sigmund selbst fand wichtige Erkenntnisse seiner Theorien in der Anwendung auf literarische Figuren bestätigt oder liess sich in vielen Fällen durch Literaturanalysen zur Schaffung bestimmter, auch zentraler Konzepte inspirieren. Gerade ein so fundamentales Modell wie der Ödipuskomplex beruht ja auf literarisch vermittelter Überlieferung des Mythos – ein Tatbestand, der im Übrigen die psychoanalytische Literaturwissenschaft mit Intertextualitätskonzepten verbindet. Freud demonstriert mittels verschiedener Literaturinterpretationen die Übereinstimmung seiner Theorien, wie er sie hauptsächlich in der Traumdeutung darstellte, mit Werken der Dichtkunst. Die Analogien zwischen seinen psychoanalytischen Erkenntnissen, vor allem in Bezug auf die Existenz und Funktion unbewusster Triebkräfte, wie Mechanismen der Verdrängung, der Verschiebung und Verdichtung, und den fiktionalen Darstellungen des seelisch bedingten Agierens literarischer Figuren überzeugten ihn von einer Ursprungsverwandtschaft zwischen Psychoanalyse und Literatur: „Wir schöpfen wahrscheinlich aus der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Übereinstimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, dass beide richtig gearbeitet haben“ (Freud 1995: 122). Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass „[d]ie psychologische Korrektheit etwa der vielen fiktionalen Träume oder vielsagenden Fehlleistungen in der Dichtung […] offenbar auf der grundsätzlichen Übereinstimmung der Mechanismen des Primärprozesses im literarischen Schaffen mit denen im psychischen Funktionieren überhaupt“ beruhe (Schönau 1991: 103). Diese Aussage verbindet die Vorgänge des Entstehungsprozesses von Dichtung aus psychoanalytischer Sicht mit dem hervorgebrachten Produkt, zu dem – je nach literarischer Gattung – ein Kreis handelnder Figuren gehört. Die Analyse dieser Figuren mittels psychoanalytischer Theorien wird oft als unzulässig kritisiert, da fiktive Personen keine Psyche hätten. Es liegt auf der Hand, dass sich die literarische Figurenanalyse von jener realer Personen in wesentlichen Punkten unterscheiden muss und bestimmten Begrenzungen unterworfen ist. Dennoch halte ich den Beitrag, den die psychoanalytische Literaturtheorie für das Verständnis psychischer Prozesse fiktiver Figuren leistet, für relevant, da durch ihr Instrumentarium verdeckte Subtexte ins Bewusstsein der Leser gerückt werden können, die anders kaum wahrgenommen würden, und die der Figurenzeichnung neue Facetten und Aspekte hinzufügen, wodurch natürlich auch der Gesamttext in anderem Licht erscheinen kann.

1.2.4Gender Studies

Angesichts der bemerkenswerten Anzahl neu auftretender Frauenfiguren in Oehlenschlägers Roman – bei einem insgesamt wesentlich kleineren Figurenarsenal als im Prätext – stellt sich die Frage, ob Weiblichkeit in den IS einen anderen Stellenwert habe als in Schnabels WF. In diesem Zusammenhang soll daran erinnert werden, dass neuere theoretische Konzepte wie die Gender Studies auf die Komplexität und Vielschichtigkeit der vermeintlich unproblematischen Begriffe „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ aufmerksam gemacht haben. Die Differenzierung zwischen biologischer und soziokulturell konstruierter Geschlechtsidentität führt, bezogen auf die Literaturwissenschaft, zu einer Reihe von Fragestellungen, die sich mit der Darstellung bzw. Inszenierung von Männer- und Frauenfiguren im Spannungsfeld der Konstruktion von Sex und Gender auseinandersetzen.1

Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Repräsentation von Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer Historizität zu untersuchen ist, da „der konstruktivistische Blick insgesamt eine historische Perspektive geradezu einfordert“ (Frevert 1995: 14).

Die Fülle von Reflexionen über die Zuschreibungen männlicher und weiblicher Wesensart, die besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schon fast überwältigende Dimensionen annahm, zeigt vor allem Versuche, aus bestimmten Interpretationen physiologischer Geschlechterdifferenz psychische und charakterliche Merkmale des Weiblichen zu konstruieren und festzuschreiben. Die so entstandene „Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘“ (Hausen 1976)2 wurzelte in politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen, die durch die geschlechtsspezifischen Deutungen anatomischer Befunde nun auch naturwissenschaftlich untermauert wurden; gleichzeitig schuf diese Polarisierung ihrerseits neue, von einer rigorosen Geschlechtertrennung bestimmte Verhältnisse. Die Etablierung der Geschlechterdichotomie stand im Dienst der Erhaltung der bestehenden patriarchalischen Machtverhältnisse, deren Fundament durch das Streben nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aller Menschen erschüttert zu werden drohte. Dies war der eigentliche Grund, weshalb die „Naturgegebenheit“ der weiblichen Andersartigkeit und, darauf basierend, auch die Notwendigkeit einer bestimmten geschlechtsspezifischen Rollen- und Aufgabenzuweisung bewiesen werden musste, was unter grossem Aufwand theoretischer Schriften aus allen Bereichen der Wissenschaften auch geschah. Wie Claudia Honegger aufgrund eingehender Quellenstudien darlegt, setzte um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Schaffung einer eigentlichen „weiblichen Sonderanthropologie“ ein, mit der physiologisch nachgewiesen werden sollte, dass die geringere physische Stärke der Frau eine grössere nervliche Sensibilität zur Folge hatte, woraus die Notwendigkeit bzw. Berechtigung abgeleitet wurde, der Frau spezifisch „weibliche“ Tätigkeitsbereiche zuzuweisen (Honegger 1996). Der Autorin zufolge lautet die Quintessenz verschiedener moral-physiologischer Schriften aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: „Die Frau ist ein Wesen für sich, mit einer eigenen Körperlichkeit, eigenen Krankheiten, eigenen Sitten, eigener Moral und eigenen kognitiven Fähigkeiten“ (Honegger 1996: 166).3

Diese historischen Gegebenheiten der Situation von Sex und Gender sollen einbezogen werden, wenn nach dem Stellenwert der vermehrten Neuschaffung von Frauenfiguren in den IS gefragt wird; dabei ist allerdings zu bedenken, dass literarische Figuren nicht zwingend Befunde wissenstheoretischer Schriften widerspiegeln müssen. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang etwa nach Bildern oder Konzepten, welche die binäre Opposition männlich – weiblich allenfalls durchkreuzen, die Geschlechtergrenzen verschieben, die „Ordnung der Geschlechter“ destabilisieren. Eine für die vorliegende Arbeit ebenfalls relevante Frage ist, ob sich Oehlenschlägers Roman auch im Hinblick auf männliche und weibliche Stimmen als polyphon erweist: Wird den Frauenfiguren eine genuin eigene Stimme zugestanden, oder dominiert männliche Monophonie?4 Für die Behandlung dieser und ähnlicher Fragen liesse sich auch psychoanalytisches Gedankengut einbeziehen, u.a. wenn es darum geht, die für die Konstruktion der Geschlechtsidentität verantwortlichen Mechanismen und Strategien offenzulegen.

1.2.5Aufbau der Arbeit

Die Einleitung widmet sich dem Entwicklungsverlauf von Oehlenschlägers Verhältnis zu seiner Vorlage, sowie der Rezeption seines Romans und dem Stand der Forschung. In einem buchgeschichtlich orientierten Unterkapitel wird das Zustandekommen der deutschen Erstausgabe in den brieflichen Verhandlungen mit dem Verleger CottaCotta, Johann Friedrich nachgezeichnet, auch mit Blick auf Oehlenschlägers Interesse für die Gestaltung der Erscheinungsform seines Romans. Ausserdem wird über die Entstehung der späteren Fassungen in zwei Sprachen berichtet.

Kapitel 2 bringt eine Zusammenfassung der inhaltlichen und strukturellen Hauptzüge der Inseln im Südmeere und der Wunderlichen Fata, die verhältnismässig ausführlich gehalten ist, um gleichsam als Prämisse die wesentlichen Parallelen und Differenzen zwischen den beiden Werken aufzuzeigen und so die Grundlage für bestimmte Einzelanalysen zu schaffen. Diese folgen in ihrer Anordnung nicht der Romanchronologie, weshalb die Zusammenfassung auf einen kohärenten Handlungsüberblick angelegt ist, in den sich die Detailanalysen einordnen lassen.

Darauf folgt in Kapitel 3 eine Annäherung an die „Zweisprachigkeit“ von Oehlenschlägers Roman, eingeleitet von allgemeinen Bemerkungen zur deutschen und dänischen Produktion des Autors; anschliessend gehe ich auf die spezifische Ausprägung dieser Produktionsweise in den IS ein, wobei ich hier schwerpunktmässig auf Übersetzungstheorien zurückgreife, die aber auch sonst die Basis weiterer Vergleiche der dänischen und deutschen Fassung bilden, welche die analysierten Passagen in den meisten Fällen abschliessen. Ein Unterkapitel behandelt Fragen der Zwei- und Mehrsprachigkeit auch auf der Figurenebene.

Im 4. Kapitel werden exemplarisch polyphone und intertextuelle Beziehungen zwischen den beiden Romanen untersucht, teils basierend auf den vorgestellten Intertextualitätstheorien, aber auch auf Erkenntnissen aus paratextuellen und psychoanalytischen Forschungen.

Kapitel 5 und 6 behandeln verschiedene Aspekte der Figurendarstellung in ihrer Beziehung zu literarischen und allgemein künstlerischen Phänomenen, während Kapitel 7 auf die Funktion diverser Schauplätze im Roman fokussiert, die sich im 8. Kapitel zur Hauptsache auf einen Schauplatz, nämlich die Bühne, verdichten – nach oft vertretener Ansicht die eigentliche dichterische Sphäre Oehlenschlägers, die im Roman polyvalent für Aufführungen verschiedenster Art, aber auch als imaginärer Ort für dramentheoretische Reflexionen eingesetzt wird.

Diese unterschiedlichen Analysestrategien – gleichsam Annäherungsversuche aus verschiedenen Blickwinkeln – haben zum Ziel, den Roman auf mehreren Ebenen als Produkt und Schnittpunkt vielfältiger Textbeziehungen zu zeigen, die immer wieder bald explizit, bald in verhüllter Form reflektiert werden; dabei ergibt sich, wie die Arbeit zum Ausdruck bringen soll, eine Umakzentuierung des Prätextes, die dazu führt, dass die mehrstimmige Basis von Schnabels Werk für eine zwar ebenfalls polyphone Erzählform funktionalisiert wird, in der jedoch primär andere Textstimmen die Hauptrolle spielen: Es entsteht ein selbstreflexiver Text über Texte.

1.3Entstehungsprozess

Oehlenschlägers Neuschreibung von Schnabels Wunderlichen Fata einiger Seefahrer fällt in eine Zeit, in der Schnabels Roman auch in den Kreisen gebildeter Leser wieder auf Interesse stiess, nachdem er – trotz ursprünglich grosser Beliebtheit1 – gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Misskredit geraten war, da er den Anforderungen einer von Lehrsätzen der Aufklärung geprägten Pädagogik nicht entsprach.2 Die Aufwertung der Insel Felsenburg3 hatte schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts begonnen4 und lässt sich wohl – mindestens teilweise – mit der Vorliebe der Romantik5 für historische Romane, Volksbücher, Gespenstergeschichten und Märchen erklären – Gattungen, zu denen Schnabels Roman Bezüge aufweist.

Natürlich handelt es sich bei der Insel Felsenburg nicht um einen historischen Roman im eigentlichen Sinn, schon deshalb nicht, weil der Hauptstrang des Geschehens in der Erzählgegenwart spielt, aber durch präzise zeitliche und räumliche Verankerung der erzählten Geschehnisse, die sich überdies zum Teil lange vor der Erzählgegenwart zugetragen haben, entsteht der Anschein der Historizität des Romangeschehens. Der volksbuchähnliche Charakter ergibt sich teils aus der Verbindung von Elementen des Abenteuer- und Schelmenromans mit der Robinsonadenthematik6 und der damit zusammenhängenden grossen Verbreitung des Buches,7 teils aus der Tatsache, dass die Identität des Verfassers lange Zeit im Dunkeln geblieben war.8Tieck, Ludwig Märchenhafte Züge schliesslich bestimmen immer wieder das Romangeschehen, wobei die Steigerung des Märchenhaften ins Phantastische und Gespenstische, die sich vor allem im 3. und 4. Band abspielt, auf die Romantiker eine besondere Anziehungskraft ausgeübt haben dürfte. Die Literatur früherer Zeiten bedeutete den Romantikern aber weit mehr als nur interessante Lektüre: In unterschiedlichster Weise dienten ihnen Volksbücher, Märchen, Sagen, Mythen ebenso wie geschichtliche Überlieferung als Inspirationsquelle und Stoffreservoir für ihre eigene Textproduktion. In besonderem Masse gilt dies für Achim von Arnim,Arnim, Achim von der seine Texte oft aus einer Vielzahl alter Quellen gewann, die er einem intensiven Gestaltungs- und Umgruppierungsprozess unterzog und anschliessend in einem collageähnlichen Verfahren zu einem neuen literarischen Produkt zusammenfügte. Ähnlich ging er auch bei der Bearbeitung der Insel Felsenburg vor, die er in seinen 1809 unter dem Titel Der Wintergarten erschienenen Novellenkranz integrierte (Arnim 1990, 3).9Arnim, Achim von Auf seinen Text, der durch „Quellenkombination“ (Martin 1996) polyphone Aspekte erhält und bei aller Verschiedenheit auch sonst gewisse Parallelen zu Oehlenschlägers Bearbeitung zeigt, soll in Kapitel 4.3 näher eingegangen werden.

Auch Oehlenschläger selber trug sich schon in jenen Jahren mit dem Gedanken, die Insel Felsenburg als Stoff für ein eigenes Werk zu verwenden, wie ein Zitat aus einem Brief an Goethe vom 4.9.1808 belegt: „Einen Albert Julius oder Felsenburg möchte ich auch machen, wo das Romantische wieder sein Recht behaupten sollte“ (Breve A/3: 161). Die Bemerkung steht mitten in einer Aufzählung von Dramen, die Oehlenschläger bereits geschrieben hatte: Aladdin, Hakon Jarl, Palnatoke, Axel und Walborg, und solchen, die er noch zu schreiben beabsichtigte: Correggio, Sokrates, Tordenschild (Breve A/3: 160–161),10Goethe, Johann Wolfgang von was darauf hinzuweisen scheint, dass er damals im Sinn hatte, Schnabels Roman zu einem Theaterstück umzuformen. Im Anschluss an eine längere panegyrische Passage über GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Romane fügt Oehlenschläger jedoch an:

Ich hätte auch Lust (sans comparraison) (sic) einen Roman zu schreiben; ich darf es aber nicht; man kriegt immer Lust sein eignes Leben zu schreiben; wenigstens geht es mir so, und da muss man sich hundertmahl in Acht nehmen, und darf es nicht ein mahl (sic) so gut machen wie es wirklich in der That war. (Breve A/3: 162; gesperrt im Original)

Jahre später überwand er sein Zögern, einen Roman zu schreiben, und wählte als Stoff für sein Vorhaben die Insel Felsenburg, die er – entgegen seinen (vermuteten) ursprünglichen Plänen – schliesslich doch nicht für ein Drama benützt hatte.11 Seine Stoffwahl verbindet ihn mit mehreren anderen Autoren, die fast zur gleichen Zeit ebenfalls an einer Neuschreibung von Schnabels Roman arbeiteten.

Zu erwähnen sind insbesondere Karl Lappes Ausgabe von 1823, eine zusammenfassende und erheblich verkürzende Nacherzählung, die vor allem für die Jugend bestimmt war,12 und die weit berühmtere, sogenannte „TieckTieck, Ludwig’sche Ausgabe“, die 1828 unter dem Titel Die Insel Felsenburg oder Wunderliche Fata einiger Seefahrer – Eine Geschichte aus dem Anfang des18. Jahrhunderts erschien. Von Tieck stammt in dieser stark überarbeiteten, sechsbändigen Ausgabe allerdings nur das Vorwort, eine dialogisierte „Vorrede“13Tieck, LudwigCervantes, Miguel de, die in detaillierter Argumentation die Neuausgabe „diese[r] alte[n] Robinsonade“ (Tieck 1848: 135) rechtfertigt und am Ende feststellt: „Ein berühmter dänischer Dichter, Oehlenschläger, hat mit dem deutschen Bearbeiter zugleich dieses Buch angekündigt“ (Tieck 1848: 169). Oehlenschlägers Roman wird dabei nicht etwa als lästiges Konkurrenzprodukt angesehen, sondern gilt, ganz im Gegenteil, als „Zeichen, wie sehr man etwas Besseres und Veraltetes in unserer neuen Zeit wieder benötigt“ (Tieck 1848: 170).

Das wesentliche Argument für die Neuausgabe, das sich aus TiecksTieck, Ludwig Vorrede herauskristallisiert, bildet die Einschätzung der Zeitumstände: Die „neue Zeit“, so wird gesagt – gemeint sind die Restaurationsjahre nach der Französischen Revolution –, sei trotz restaurativer Bemühungen von Auflösungstendenzen in Familie und Staat geprägt, sie sei „verwirrt und verstimmt“, während die Insel Felsenburg aus einer „naiven Zeit“ herrühre, in der die Schriftsteller

noch ohne Kunst und Bildung, ohne eigentliches Studium, aber auch ohne alle Kränklichkeit und süsse Verweichlichung wie ohne falsches Bewusstsein und literarischen Hochmut nur ihrer Phantasie […] so bescheiden und redlich folgten und eben deshalb so vieles in einem richtigen Verhältnis, ja mit einem grossartigen Verstand, darstellen konnten, was bei anscheinend grösseren Mitteln so vielen ihrer Nachfolger, die so oft das Verzerrte als das Geniale nahmen, nicht gelingen wollte. (TieckTieck, Ludwig1848: 168)

Deshalb eigne sich die Insel Felsenburg, obwohl ihr Name lange Zeit „etwas ganz Verächtliches“ bezeichnete, als „treuherzige Chronik“ zur Ergötzung, Belehrung und Erbauung einer Zeit, die ihre Naivität verloren habe (TieckTieck, Ludwig1848: 168–169).

Im Gegensatz zu TiecksTieck, Ludwig auf allgemeiner Zeitkritik basierender Begründung für die Neuausgabe der Insel Felsenburg gibt Oehlenschläger in seiner Vorrede zu Die Inseln im Südmeere für seine Bearbeitung rein individuelle Gründe an:

Wenn es wahr ist, dass unsere Kindheit, mit ihren Gefühlen und Vorstellungen, das Thema aller künftigen Compositionen des Lebens gibt,14Herder, Johann GottfriedMoritz, Karl Philipp so ist der Grund auch angegeben, warum der Verfasser dieses Werkes einige Hauptzüge des alten Romans Felsenburg zum Stoffe gegenwärtiger Dichtung nahm. Dieses alte Buch hatte grossen Eindruck auf meine jugendliche Phantasie gemacht. (IS I: III; gesperrt im Original)15Goethe, Johann Wolfgang vonMoritz, Karl PhilippLaxness, Halldór

Damit greift er – ohne gleich „sein eignes Leben zu schreiben“16Goethe, Johann Wolfgang von – doch auf autobiographische Elemente zurück. Obwohl sich eine gewisse Parallele zwischen TiecksTieck, Ludwig Empfehlung eines Romans aus „naiver“, unverdorbener Zeit und Oehlenschlägers Beschäftigung mit einem Text aus seiner Kindheit, seiner persönlichen „naiven“ Zeit also, erkennen lässt, ist doch die jeweilige Ausgangslage der beiden Verfasser grundlegend verschieden: Tieck schrieb seine Vorrede auf die Bitte des Verlegers zu einer von unbekannter Hand redigierten Neuausgabe, hatte also mit der Bearbeitung selbst, wie schon erwähnt, gar nichts zu tun,17Tieck, Ludwig während Oehlenschläger den Text selber umgeschrieben, oder vielmehr, wie er sich ausdrückt, neu erfunden hat – sein Roman könne nur bedingt eine „Bearbeitung des alten“ heissen (IS I: IV), denn: „In keinem Werke habe ich mehr selbst erfunden […]“ (IS I: IX; beide Zitate gesperrt im Original). Dies erklärt auch, warum er in seiner Vorrede den Inhalt des alten Romans nur kurz streift – wie schon in der Einleitung (Kap. 1.1 dieser Arbeit) angedeutet, betrachtet er den neuen Text als seine eigene Dichtung, was sich übrigens auch in der Wahl eines eigenen Titels ausdrückt. Näheres zur Titelwahl und zu Oehlenschlägers Vorrede werde ich in Kapitel 4.1 ausführen.

1.4Rezeption und Forschungsstand

Es scheint selbstverständlich, dass die Rezeption, die Oehlenschlägers Roman in Dänemark und in Deutschland erfuhr, für das jeweilige Sprachgebiet gesondert betrachtet werden muss. Doch stellt sich auch die Frage, ob nicht die Rezeptionszeugnisse des einen Landes die Aufnahme im andern Land beeinflussten, und umgekehrt.

Zunächst jedoch zur Rezeption in Dänemark: Sie scheint kühl, um nicht zu sagen, ablehnend gewesen zu sein. Oehlenschläger selber schreibt darüber in seiner wenige Jahre später entstandenen Autobiographie:1

I Danmark ville Øen i Sydhavet ikke smage. Jeg havde ladet den danske Oversættelse udkomme paa Subscription; syntes man maaskee: det var for meget at betale og for meget at læse paa engang? Jeg veed ikke; nok, man var misfornøjet med Bogen, og jeg troer især De, som ikke havde læst den. (LevnetII: 206)

In Dänemark wollte die Inseln im Südmeer lange Zeit nicht schmecken. Ich hatte die dänische Uebersetzung auf Subscription erscheinen lassen; glaubte man vielleicht, es koste zu viel und sei zu viel auf ein Mal zu lesen? Ich weiss es nicht; genug, man war mit dem Buche unzufrieden, und ich glaube ganz besonders die, welche es nicht gelesen hatten. (Meine Lebens-Erinnerungen4: 18)2

Eine ausführliche Darstellung der zeitgenössischen Rezeption in Dänemark findet sich im Kommentar zur Ausgabe von Oehlenschlägers Briefwechsel; dort werden verschiedene Urteile erwähnt, die zeigen, dass Oehlenschlägers sarkastischer Schlusssatz nicht ganz ohne Berechtigung war (Breve B/5: 234–237). Die Kritikpunkte waren sowohl formaler wie inhaltlicher Natur: Dem Roman fehle die Einheit; ausserdem weise die Handlung zu viele Unwahrscheinlichkeiten auf. Blicher fand ihn langweilig (Breve B/5: 236). H.C. AndersenAndersen, Hans Christian gefiel der dritte Teil, vom vierten jedoch schien ihm nur der Anfang gut, der Rest langweilte auch ihn (Andersen 1971, 1: 11 u. 12).

Die Aufnahme der Inseln im Südmeere in Deutschland scheint ebenfalls nicht sehr enthusiastisch gewesen zu sein, wie aus dem Kommentar zur Briefausgabe hervorgeht (Breve B/5: 150–151), auch wenn Oehlenschläger in der erwähnten Autobiographie nicht ohne Stolz vermerkt: „Tre for mig meget hæderlige Recensioner udkom i Tyskland om dette Værk“ (LevnetII: 206).3 Dabei dürfte es sich u.a. um Rezensionen im Literatur-Blatt zum Morgenblatt für gebildete Stände handeln. Darin heisst es am 14.7.1826 (221, 1. Spalte):

Wir finden historische Charaktergemälde wie bey Walter Scott,Scott, Walter didaktische Ausschweifungen wie in TiecksTieck, Ludwig Novellen, humoristische wie bey Jean Paul, etwas Grauenhaftes wie bey Hoffmann, eine Ruhe, Klarheit und Milde der Darstellung wie in Goethe’Goethe, Johann Wolfgang vons Wilhelm Meister oder NovalisNovalis (Friedrich von Hardenberg) Ofterdingen, und sentimentale Schwärmerey wie in der Insel Felsenburg, die dem ganzen zu Grunde gelegt ist.4

Diese Worte lassen bestimmte polyphone Aspekte von Oehlenschlägers Roman anklingen, indem sie den Text als Synthese der verschiedenen Strömungen und Richtungen der Romantik beschreiben. Mit der Erwähnung ScottsScott, Walter zieht der Kritiker eine Parallele zum damaligen Hauptvertreter der Gattung des Romans; gleichzeitig stellt er das Werk – und dessen Autor – mit den berühmtesten Namen der deutschen Romantik auf eine Stufe. Damit scheint Oehlenschläger eine Bestätigung seines Anspruchs auf eine bedeutende Position in der deutschen Literatur gefunden zu haben.5 Allerdings erfährt die lobende Stellungnahme der erwähnten Kritik eine Einschränkung im Schlusssatz: „Bey so vielen Vorzügen ist es mir aber doch zuweilen vorgekommen, als ob der sogenannte deus ex machina, der hilfreiche Zufall, allzuoft vom Himmel herabgefallen wäre“ (Literatur-Blatt zum Morgenblatt für gebildete Stände56/1826: 223, 2. Sp.). Diese Rezension erschien – bezeichnenderweise ohne die kritische Schlussbemerkung – auf Dänisch übersetzt in Kjøbenhavnsposten vom 7.4.1827: Obwohl der Roman, wie erwähnt, in Dänemark mehrheitlich auf Ablehnung stiess, fühlte man sich durch das ausländische Lob offenbar doch geschmeichelt und wollte es möglichst uneingeschränkt zur Geltung kommen lassen. Die zweite Rezension im Literaturblatt zum Morgenblatt für gebildete Stände vom 19.12.1826, verfasst von Karl August Böttiger, schliesst mit den Worten:

Auch dieser Roman hat seine Unwahrscheinlichkeiten und schwachen Seiten. Möge die Kritik ihr strenges Richteramt noch weiter verwalten. Aber der gebildete Kreis des deutschen Volks ist durch diess Erzeugnis eines Dänen wirklich reicher geworden! (Böttiger 1826: 403, 2. Sp.)

Diese insgesamt sehr wohlwollende Besprechung wurde von Christian Wilster in Kjøbenhavnsposten vom 23.1.1827 in dänischer Übersetzung integral wiedergegeben. Oehlenschläger verschweigt in seiner Autobiographie jedoch nicht, dass es in Deutschland auch ablehnende Rezensionen seines Werkes gab. Seine Worte „Nogle andre reve det ned“ (LevnetII: 206)6 beziehen sich vermutlich u.a. auf die ausführliche, in den Blättern für literarische Unterhaltung Nr. 2 vom 3.7.1826: 5–8 und Nr. 3 vom 4.7.1826: 9–11 erschienene Besprechung des 1. und 2. Teils, die in der Beilage zu den Blättern für literarische Unterhaltung Nr. 3 vom 30.3.1827 mit der Rezension des dritten und vierten Teils fortgesetzt wurde. Diese durchwegs missbilligende Beurteilung wird eingeleitet mit einer Bemerkung betreffend „Hr Oehlenschläger, der längst und mit Ehren in der deutschen Literatur Eingebürgerte“, die zeigt, dass Oehlenschläger zu jener Zeit tatsächlich in gewisser Weise zu den deutschen Dichtern gezählt wurde, dies hauptsächlich aufgrund seiner „so überaus gelungene[n] Behandlung des Märchens von der Wunderlampe“ und als „Dichter des Correggio“, wie der Rezensent in Erinnerung ruft. Umso herber seine Enttäuschung über Oehlenschlägers Roman, den er Punkt für Punkt mit der Insel Felsenburg vergleicht, der aber seines Erachtens in keiner Weise an Schnabels Werk heranreicht. Abgesehen von „tiefem Gefühl in einigen Zügen“ und „treffenden Bemerkungen über Welt und Leben“ findet er kaum Positives in dem „mancherlei Fadaisen und Trivialitäten“ enthaltenden Text. Eine lange Liste von Anachronismen und sonstigen Ungereimtheiten, die Oehlenschläger unterlaufen seien, bildet den Hauptinhalt der Rezension, die im Übrigen explizit auf die Vorrede des Autors verweist: Der „ermattende Leser“ wisse je länger, je weniger, „was der Umschmelzer mit dieser ganzen Operation eigentlich beabsichtet [sic], und wie er die in der Vorrede so hochgestellten Tendenzen derselben zur Erfüllung gebracht habe“ (Beilage zu den Blättern für literarische Unterhaltung3/1827: ohne Seitenzahlen). Und geradezu karikierend nimmt die Rezension Oehlenschlägers Vorhaben auf, bestimmte „Skizzenzüge“ aus Schnabels Buch zu übernehmen und auszumalen (IS I: IX), wenn es weiter heisst:

[…] oder fiele es nicht überall in die Augen, dass gerade Das [sic], was aus seiner buntscheckigen Uebertünchung als kräftiger Pinselstrich hervortritt, meist nur die Grundzüge des alten Bildes sind, welche sich mit Gewalt nicht haben vertilgen lassen. (Beilage zu den Blättern für literarische Unterhaltung3/1827: ohne Seitenzahlen)

Obwohl diese Rezension in den dänischen Zeitungen nicht erschien, wurde sie mit grosser Wahrscheinlichkeit dennoch vom Kreis der gebildeten Leser in Kopenhagen rezipiert, da die Kenntnis der deutschen Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Dänemark – zumindest bei den oberen Ständen – noch immer sehr verbreitet, ja, selbstverständlich war (vgl. Winge, V. 1996: 57).

Um auf die anfangs gestellte Frage betreffend mögliche Wechselwirkungen der dänischen bzw. deutschen Rezeption zurückzukommen: Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die lobenden deutschen Rezensionen, die in einer Kopenhagener Zeitung publiziert wurden, die Ansicht über Oehlenschlägers Roman veränderten. Immerhin zeigt die Tatsache ihres Erscheinens in Kopenhagen ein gewisses Bemühen um eine Ehrenrettung Oehlenschlägers; ebenso drückt sich darin wohl auch ein beginnender Nationalstolz aus, der durch positive Signale aus dem Ausland, besonders aus dem so wichtigen deutschen Bruderland, Nahrung erhalten sollte. In Deutschland dagegen ging das Interesse an dem „in die deutsche Literatur eingebürgerten“ dänischen Dichter nicht so weit, dass man die Existenz einer dänischen Version seines Romans und deren Rezeption in Dänemark auch nur zur Kenntnis genommen hätte.

In den Literaturgeschichten wird der Roman, sofern er überhaupt Erwähnung findet, ebenfalls eher negativ beurteilt, wie folgende Beispiele zeigen: Vilhelm Andersen sieht ihn als Flucht aus der unbehaglichen Gegenwart in das Paradies der Kindheit und als Abschluss einer romantischen Periode, die Oehlenschläger statt mit Ideen, nur noch mit Stoff aus seinen Erinnerungen habe füllen können (Andersen, V. 1964/1924: 109–110). Gustav Albeck kritisiert das Werk als „ulideligt lang og udtværed“ (Albeck u.a. 1967: 111).7 Billeskov Jansen hält es für ein Zeugnis der Krise, in der sich die romantische Erzählung in den 1820er Jahren in Dänemark befunden habe (1969: 132