Inselzirkus - Gisa Pauly - E-Book
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Inselzirkus E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Eigentlich wollte sich Mamma Carlottas Enkelin Carolin als Komparsin für eine Telenovela bewerben, doch engagiert wird nicht sie, sondern die Oma. Schwiegersohn Erik Wolf hat derweil andere Sorgen: Die Leiche eines Klatschreporters wird aus dem Lister Hafen gefischt, und schon bald steht ein beliebter Schauspieler unter Verdacht. Dann gibt ein weiterer Todesfall Rätsel auf – der Chef der Filmproduktionsfirma wird tot aufgefunden. Zum Entsetzen von Mamma Carlotta sind die Hauptverdächtigen ihre Kolleginnen am Set … Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta!  Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust –  die Romane von Gisa Pauly sind ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre. 

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Mein Dank geht an meinen Sohn Jan, Polizeihauptkommissar in Münster, der dafür gesorgt hat, dass Erik Wolf keine Fehler bei der Ermittlungsarbeit macht, und an meine Freundin Gisela Tinnermann, die die 446 Seiten lange Rohfassung während ihres Urlaubs in Oberstdorf las.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage Mai 2011

ISBN 978-3-492-95229-3

© Piper Verlag GmbH, München 2011

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung der Fotos von Anett Beinsen und Darlyne A. Murawski / National Geographic / Getty Images

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Mit der Ruhe war es vorbei. Noch am Vormittag hatte die Stille über dem Dorfteich von Wenningstedt gestanden, wie immer, wenn das Wetter so gut war, dass die meisten Touristen sich am Strand aufhielten. Zwar hatte das Wasser noch keine Badetemperatur, aber die Sonne, die mittags hervorgekommen war, machte den Aufenthalt am Meer angenehm. Kraft hatte sie noch nicht, doch fast jeder streckte ihr das Gesicht entgegen und genoss ihre Wärme, die kurz vor Ostern kostbar war.

Nun aber war die Stille verflogen. Das Geklapper von Fahrrädern schreckte die Enten auf, Klingeln, quietschende Bremsen, Gelächter, laute Stimmen. Die Spaziergänger, die sich auf den Bänken am Dorfteich ausruhten, machten lange Hälse, der Küster öffnete die Tür der Friesenkapelle und trat neugierig auf die Straße. Alle schienen sich zu fragen: Was ist los? Wo wollen die vielen jungen Leute hin?

Mamma Carlotta wusste es. Und sie wäre dem Strom gern gefolgt, aber Felix und Carolin hatten ihr leider das Versprechen abgenommen, sich zurückzuhalten. »Es ist peinlich, mit der Oma da anzutanzen!« Das fand Mamma Carlotta ärgerlich, aber versprochen war versprochen. Obwohl sie der Meinung war, dass sie es verdient hätte, der Sache aus der Nähe zuzuschauen. Schließlich hatte sie es ihren Enkeln ermöglicht, ihr Glück zu versuchen. Da wäre ein wenig Dankbarkeit angebracht gewesen.

Ihr Schwiegersohn war strikt dagegen gewesen, aber Mamma Carlotta hatte die Pläne der Kinder verteidigt: »Lass sie doch, Enrico! Es ist ja nur ein Spaß!«

»Ein Spaß?« Erik hatte seine Schwiegermutter mit einem vielsagenden Blick auf Carolin aufmerksam gemacht, die auf der Terrasse stand und mit entrückter Miene etwas in die Bäume deklamierte, was im Wohnzimmer nicht zu verstehen war. »Ich will nicht, dass ihr solche Flausen in den Kopf gesetzt werden.«

Was Erik Flausen nannte, bezeichnete Carolin als »die Chance ihres Lebens«, und Felix sah es als Möglichkeit, »dicke Kohle zu machen«. Carolins Ambitionen gefielen Mamma Carlotta weitaus besser, aber ein zukünftiger Fußballprofi hatte eben eine andere Motivation als ein junges Mädchen, das sich soeben der Schauspielkunst verschrieben hatte.

Mamma Carlotta konnte sich über die Haltung ihres Schwiegersohns nicht genug wundern. »Du bist wie die älteste Schwester meiner Mutter«, hatte sie Erik vorgehalten. »Tante Ilaria hat sich gegen alles gewehrt, was nicht alltäglich war. Nicht mal zu heiraten hat sie sich getraut. Sie wollte lieber als alte Jungfer sterben als an Aufregung.«

»War das nicht die Tante, die hundert geworden ist?«, hatte Erik gefragt. »Da siehst du’s! Ein langweiliges Leben ist gesund.«

»Hundert Jahre Langeweile?« Für Mamma Carlotta kam diese Möglichkeit nicht infrage. »Da sterbe ich lieber mit achtzig bei einem Flugzeugabsturz.«

Tante Ilaria hatte sich selbstredend niemals getraut, ein Flugzeug zu besteigen, was Mamma Carlotta heute nur noch ein verächtliches Lächeln entlockte. Dass sie selbst, bevor sie zum ersten Mal von Rom nach Hamburg geflogen war, mehrere Rosenkränze gebetet hatte, erwähnte sie mittlerweile nicht mehr gern. Von Flugangst wollte sie nichts wissen und fürchtete auch keine himmlische Strafe mehr, weil sie sich etwas herausnahm, was für eine italienische Mamma eigentlich nicht vorgesehen war. Ihr Dino, Gott hab ihn selig, hätte das jedenfalls behauptet, wenn sie ihn um das Geld für ein Flugticket nach Sylt gebeten hätte.

Das Leben bot so viel Unterhaltsames, wenn man sich nur darauf einließ. Wie konnte Erik mit Desinteresse und Widerwillen reagieren, wenn sich auf Sylt etwas so Aufregendes zutrug wie die Dreharbeiten zu einer Telenovela, die ganz Deutschland kannte und die in synchronisierter Fassung sogar in Italien gesendet wurde! Dort allerdings nur im Spätprogramm, eine ungünstige Zeit, da das Abendessen in der Familie Capella selten vor zehn Uhr endete.

Aber Carlottas Schwiegertochter Sandra sorgte gelegentlich dafür, dass der Secondo ausfiel oder dass jedem Familienmitglied nur ein Pfirsich in die Hand gedrückt wurde, der dann Dolce genannt wurde. Damit konnte man sich vor den Fernseher setzen und die Telenovela »Liebe, Leid und Leidenschaft« sehen, die in Italien »L’amore, la pena e la passione« hieß.

Seit bekannt war, dass der beliebte Filmstar Bruce Markreiter eine Gastrolle übernehmen würde, beklagte sich Mamma Carlottas ältester Sohn Guido immer öfter, weil das Essen abgekürzt wurde, nur noch selten Tiramisù auf den Tisch kam und der Espresso vor den Fernseher getragen wurde. Dass der Handlungsstrang, in dem Markreiter eine tragende Rolle spielte, auf Sylt gedreht wurde, hatte Mamma Carlotta leider vor ihrer Abreise nicht mehr mitbekommen. Sonst wäre ihre gesamte Nachbarschaft längst darüber informiert, dass Carlotta Capella in den Flieger nach Hamburg gestiegen war, um direkt im Filmgeschäft zu landen.

Aber das hatte auch etwas Gutes. Die Überraschung würde umso größer sein, wenn sie mit der überwältigenden Neuigkeit nach Umbrien zurückkehrte, dass sie tiefe Einblicke in »Liebe, Leid und Leidenschaft« gewonnen hatte. Demnächst würde ihr ganzes Dorf die Serie im Fernsehen verfolgen. Erst recht, wenn Carlottas Enkelkinder auf dem Bildschirm zu sehen sein würden. Den Pfarrer ihres Dorfes würde sie bitten, den Fernsehapparat in den Gemeindesaal zu stellen, wie er es bei den Fußballweltmeisterschaften tat, damit Mamma Carlotta im Kreise sämtlicher Dorfbewohner den denkwürdigen Moment genießen konnte, wenn ihre Enkel sich als Komparsen einem Millionenpublikum präsentierten.

»Una comparsa?« Sie hatte sofort verstanden, worum es ging, als Carolin ihr direkt nach ihrer Ankunft auf Sylt von der Chance berichtete, bei »Liebe, Leid und Leidenschaft« mitzuwirken. »Signora Calzolaio – ihr wisst doch, die Frau des Apothekers – war auch mal una comparsa. Im Theater von Modena. Zwanzig Jahre ist das her, aber sie redet heute noch davon. Dabei hatte sie nicht mehr zu tun, als schreiend von der Bühne zu laufen, nachdem der Hauptdarsteller des Dramas erstochen worden war. Aber wenn sie davon redet, spricht sie immer von ihrer Zeit am Theater. Als hätte sie eine große Karriere abgebrochen, indem sie in unser Dorf kam, um den Apotheker zu heiraten.« Mamma Carlotta hatte ihren Schwiegersohn streng angesehen. »Signora Calzolaio hält ihrem Mann bei jedem Ehekrach vor, sie habe seinetwegen auf eine Theaterkarriere verzichtet. Willst du dir später auch jahrelang vorhalten lassen, dass du die Kinder um eine interessante Erfahrung gebracht hast?«

Es war Erik anzusehen, dass er das nicht wollte. Und irgendwann hatte er wie erwartet nachgegeben. »Du bist wie Lucia!«, hatte er gesagt und versucht, verdrießlich auszusehen. Aber Mamma Carlotta wusste genau: Immer wenn er seine Schwiegermutter mit seiner verstorbenen Frau verglich, war sein Schimpfen nur die äußere Verkleidung eines Gefühls, das er nicht zeigen wollte.

Sie stellte ihr Fahrrad vor der Friedhofspforte ab, blickte den Kindern nach und versuchte, nicht gekränkt zu sein, weil die beiden ihr zum Abschied nicht nachwinkten. Anscheinend wollten sie ihren Klassenkameraden weismachen, dass sich ihre Großmutter rein zufällig in der Nähe aufhielt und nichts mit dem zu tun hatte, was seit Tagen auf dem Schulhof das Gesprächsthema Nummer eins war. Und ihre Nonna wollten sie damit wohl an ihr Versprechen erinnern, dass sie nur ein kleines Stück mit ihnen zusammen fahren würde und dann einen Besuch an Lucias Grab machen wollte.

Mamma Carlotta blieb noch eine Weile vor dem Friedhofstor stehen und sah dem Strom der Fahrradfahrer nach. So viele? In der Zeitung war die Rede von einigen Komparsen gewesen, die die Produktionsfirma brauchte. Viele der jungen Leute würden vermutlich unverrichteter Dinge zurückkehren müssen. Mamma Carlotta blutete das Herz, wenn sie daran dachte, dass man Carolin und Felix abweisen könnte.

Besonders Carolin würde leiden, die sich seit Tagen mit einem Theaterstück auf diesen Tag vorbereitete, das »Minna von Barnhelm« hieß. Wenn sie deklamierte: »Was redest du von Stürmen, da ich bloß herkomme, die Haltung der Kapitulation zu fordern?«, sah Mamma Carlotta nur fragend in das schwärmerische Gesicht ihrer Enkelin und wagte nicht, sich zu erkundigen, was der Dichter, von dem sie noch nie gehört hatte, damit wohl ausdrücken wollte. Aber anscheinend war dieser Gotthold Ephraim Lessing über jeden Zweifel erhaben, denn Frau Olsted, Carolins neue Deutschlehrerin, hatte ihn den wichtigsten Dichter der deutschen Aufklärung genannt. Mamma Carlotta hatte nicht einmal zu fragen gewagt, was mit deutscher Aufklärung gemeint war, und erst recht den Einwand heruntergeschluckt, dass man für eine Komparsenrolle sicher nicht ein komplettes Theaterstück auswendig lernen müsse.

Alina Olsted vertrat jedoch die Meinung, dass eine derart intensive Beschäftigung mit einem Theaterstück nur von Nutzen sein konnte, und da die junge Referendarin angeblich aussah wie Cindy Crawford, waren ihre Ansichten bei Carolin ebenso populär wie das weltbekannte Model.

Carolin hatte sofort eine Modezeitschrift hervorgeholt und sie ihrer Nonna hingehalten. »Cindy Crawford war sogar mal mit Richard Gere verheiratet.«

Mamma Carlotta gab ihrer Enkelin recht, dass Cindy Crawford eine außergewöhnliche Frau sein musste, wenn sie diesen Mann erobert hatte. Und dass eine Frau, die ihr ähnlich war, auch ähnlich außergewöhnlich sein musste, stand außer Frage.

»Den Leberfleck auf der Oberlippe hat Frau Olsted auch«, erklärte Carolin. »Und sie ist beinahe so groß und so schlank wie Cindy Crawford. Nur ihre Haare sind dunkler.«

Schon am nächsten Tag hatte Mamma Carlotta Carolins Lehrerin kennengelernt und festgestellt, dass der Leberfleck auf der Oberlippe fast das Einzige war, was an Cindy Crawford erinnerte. Aber selbst wenn sie keine Frau war, für die Richard Gere eine Schwäche entwickeln würde, war sie doch sehr attraktiv.

Mamma Carlotta wandte sich ab und schob die Friedhofspforte auf. Kaum hatte sie sie hinter sich geschlossen, breitete sich die Stille vor ihr aus. Dieser Ort war auch dann ruhig, wenn um ihn herum der Lärm brandete. Immer wenn Carlotta Capella zum Grab ihrer Tochter ging, war diese Stille in ihr. Dann schrie nicht mal mehr die Frage in ihrem Kopf, warum dieser unaufmerksame Fahrer ausgerechnet in dem Moment die Gewalt über seinen Lkw verloren hatte, als Lucia ihm entgegengekommen war.

Der Wenningstedter Friedhof besaß kein Gräberfeld, auf dem sich ein Grab ans nächste anschloss. Nein, dieser Friedhof war ein Garten, mit einer großen, von Bäumen bestandenen Grünfläche. Die Grabsteine und Holzkreuze wirkten nicht so wuchtig, weil es vor ihnen kein Rechteck gab, das die Größe und Form eines Sarges hatte, sondern nur ein kleines Rund, das mit Blumen bestanden war. Für Mamma Carlotta war es ein großer Trost, durch diesen Garten zu gehen, der für die Toten angelegt worden war. Und als sie vor dem weißen Stein stand, der Lucias Namen trug, konnte sie ihn sogar anlächeln.

Unhörbar erzählte sie ihrer Tochter, dass Carolin und Felix etwas ungeheuer Interessantes vorhatten. »Du hättest es ihnen doch auch erlaubt, piccola mia? Enrico ist ja immer so … so …« Ihr fiel die Vokabel für »altmodisch« nicht ein, aber Lucia würde schon verstehen, was sie meinte. Und sie würde sich da oben im Himmel auch nicht darüber wundern, dass ihre Mutter vor ihrem Grab in Gedanken deutsch mit ihr sprach. Mamma Carlotta wusste, dass Lucia eine Sylterin geworden war, dass sie hier ihre Heimat gefunden hatte und glücklich gewesen war. Wenn sie in Umbrien mit Lucia Zwiesprache hielt, geschah das immer in ihrer Muttersprache, auf Sylt jedoch redete Mamma Carlotta mit ihrer Tochter deutsch.

Sie zupfte lächelnd ein paar welke Blüten von den weißen Primeln und legte die kleinen hellen Kiesel zurück, die der Wind auf den Weg geweht hatte. Sie war Erik dankbar, dass er prunkende Farben von Lucias Grab fernhielt. Sie hatte ihr Leben lang das Helle, Klare verkörpert, für ihre Eltern und Geschwister und auch für Erik und die Kinder. Das strahlende Weiß passte sehr gut zu ihr.

Carlotta suchte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche, wischte den hellen Findling sauber, auf dem Lucias Name stand, dann richtete sie sich auf und betrachtete das Grab, wie sie früher ihre Tochter betrachtet hatte, wenn sie sich für einen Tanzabend zurechtgemacht hatte. »Nun werde ich mal sehen, ob die Kinder Erfolg haben bei diesem … Casting. Sie wollten nicht, dass ich sie begleite, aber glaubst du, dass sie etwas dagegen haben, wenn ich mal schaue, was sich dort so tut? Ganz unauffällig. Was meinst du?« Sie wartete eine Weile, dann war sie sicher, Lucias Zustimmung zu spüren. »Nur ein kurzer Blick! Das wird schon nicht so schlimm sein!«

Bevor sie sich abwandte, machte sie ihre Tochter noch auf etwas aufmerksam, was sie am Grab ihres Mannes versteckt hätte. »Ich habe mir Stiefeletten gekauft, Lucia! Was sagst du dazu?«

Ihre Tochter hatte an den Füßen ihrer Mutter nie etwas anderes gesehen als Pantoletten, weiße im Sommer und schwarze im Winter. Seit dem letzten Sommer besaß Mamma Carlotta jedoch helle Sneakers und seit zwei Tagen modische Stiefeletten, die Carolin ihr empfohlen hatte. Dass sie mittlerweile auch auf das Schwarz, die Farbe der italienischen Witwen, verzichtete, auf Sylt eine Hose trug und sogar die Benutzung von Lockenstab und Lippenstift gelernt hatte, wusste ihre Tochter längst.

Die Verwandlung von der dicken italienischen Mamma, die seit dem dreißigsten Geburtstag einen Haarknoten trug, in eine mollige Mittfünfzigerin, die hübsch anzusehen war mit ihren kurzen, grau durchwirkten Locken und den blitzenden dunklen Augen, wollte sie auf keinen Fall mit dem Tod ihres Mannes in Zusammenhang gebracht wissen. Wenn in ihrem Dorf eine diesbezügliche Bemerkung gemacht wurde, war sie mit einer Korrektur schnell bei der Hand. Schließlich besuchte sie seit Dinos Tod regelmäßig die Insel Sylt, um sich um ihre Enkelkinder zu kümmern. Und dort ging es so schick und mondän zu, dass man gar nicht umhinkam, sich der Eleganz ein wenig anzupassen. Das war der Grund für ihre Veränderung. Da ließ sie sich von den anderen Frauen in ihrem Dorf nichts einreden.

Sie hielt den rechten Fuß hoch, damit ihr Hosenbein ein paar Zentimeter in die Höhe rutschte und der Schaft ihrer neuen Stiefeletten zu sehen war. »Sie sind sogar erstaunlich bequem, Lucia!«

Als sie davon überzeugt war, dass ihre Tochter diese sensationelle Anschaffung gebilligt hatte, ging sie zur Friedhofspforte zurück. Ihre Bewegungen wurden wieder leicht, ihre Schritte flink, ihre Augen groß und neugierig. Unsichtbar würde sie sich machen! Kein Mensch würde merken, dass sie sich diesem Casting näherte, um ein bisschen davon mitzubekommen. Später, in ihrem Dorf in Umbrien, würde sie allein schon Aufsehen erregen, weil sie das Wort Casting kannte und wusste, was es damit auf sich hatte. Wenn sie dann noch ihren Nachbarinnen erklären konnte, wie so ein Casting ablief, würde es Gesprächsstoff für viele Wochen geben.

Tabakrauch waberte durch den Raum, vermischt mit Knoblauchduft, gelegentlich erklangen Gelächter und Gläserklirren, und geredet wurde für friesische Verhältnisse viel und laut. Von der Atmosphäre einer Trattoria zu sprechen wäre übertrieben gewesen, aber die Vorspeisenplatten auf den Schreibtischen vermittelten doch ein wenig italienische Lebensart, und die Polizeibeamten begleiteten jede Geste mit »Prego!« und »Grazie!«, was noch beim zehnten Mal für Heiterkeit sorgte.

Rudi Engdahl, der seinen Geburtstag feierte, hob das Glas. »Ein Hoch auf die Schwiegermutter von Hauptkommissar Wolf!«, rief er. »Ohne sie hätten wir zwar Bier und Schnaps, aber nichts zu essen.«

Als Mamma Carlotta gehört hatte, dass Polizeiobermeister Engdahl seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, hatte sie sich umgehend an die Arbeit gemacht. »Alkohol auf nüchternen Magen ist ungesund«, hatte sie erklärt, womit sie zweifellos recht hatte.

Allerdings schien Erik der Genuss von Alkohol in Kombination mit italienischen Vorspeisen nicht wesentlich gesünder zu sein. Wenn er in die glasigen Augen seiner Mitarbeiter sah und versuchte, die Worte zu verstehen, die von ihren schweren Zungen rollten, konnte er nicht erkennen, dass dieser Umtrunk anders verlief als alle anderen vorher, die ohne Antipasti hatten auskommen müssen. Eins aber war sicher: Der Polizeiobermeister fühlte sich hochgeehrt, weil die Schwiegermutter seines Chefs etwas zu seiner Geburtstagsfeier beigesteuert hatte, und sah sogar so aus, als erschiene ihm Mamma Carlottas Geschenk weitaus kostbarer als die Schnapsgläser mit den nautischen Motiven, für die die Kollegen des Polizeireviers zusammengelegt hatten.

Die Plastikgabeln, die Rudi Engdahl besorgt hatte, waren gar nicht zum Einsatz gekommen. Die Kollegen der Spurensicherung hatten damit angefangen, mit den Fingern nach den marinierten Paprikaschoten zu greifen, den Kopf in den Nacken zu legen und sie über den Mund zu halten wie ein Fischer einen frisch ausgenommenen Hering. Daraufhin hatten es alle so gemacht. Mit den Fingern fischten sie nach den Oliven und Champignons, die sich immer schwerer fangen ließen, je fettglänzender die Finger waren und je unkoordinierter die Bewegungen wurden. Erik ärgerte sich, dass er diese Feier am helllichten Tag nicht verhindert hatte, und brachte unauffällig ein paar Akten in Sicherheit, als er sah, dass sich Vetterich, der Chef der Spurensicherung, die Finger daran abwischte. Und als Rudi Engdahl zum mindestens siebten Mal die Schnapsgläser nachfüllte, fragte er seinen Assistenten flüsternd: »Haben Sie wirklich die Eingangstür abgeschlossen? Wäre ja peinlich, wenn ausgerechnet jetzt jemand käme.«

Sörens rundes Gesicht mit den glänzenden roten Wangen hatte sich von Stunde zu Stunde tiefer verfärbt. »Die Tür ist zu«, entgegnete er und schien mit diesen vier Wörtern rhetorisch schon überfordert zu sein.

Deshalb fügte Dr. Hillmot, der trinkfeste Gerichtsmediziner, begütigend hinzu: »Es ist doch zurzeit nichts los. Die Vorsaison beginnt ja gerade erst.«

Erik nickte und kippte den Schnaps, den Engdahl ihm gerade eingeschenkt hatte, unauffällig in eine der Topfpflanzen, die schon so viel überstanden hatten, dass sie wohl auch an diesem Schnaps nicht eingehen würden. Hoffentlich würde es auf Sylt in den nächsten Stunden keinen Verkehrsunfall geben, der die Kollegen vom Streifendienst voll in Anspruch nähme. Sie hatten nämlich versprochen, Rudi Engdahl und seine Geburtstagsgäste nach Hause zu bringen, wenn der Umtrunk vorbei war.

Schon jetzt gab es keinen mehr unter ihnen, der fahrtüchtig war. Schlimmer! Die meisten von ihnen waren kaum mehr in der Lage, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren, und gelacht wurde mittlerweile über die Fliege an der Wand. Das Gegröle, das durchs Polizeirevier Westerland dröhnte, war für Erik, der noch nie in seinem Leben in lautes Gelächter eingestimmt hatte, nur schwer zu ertragen. An die ohrenbetäubenden Unterhaltungen, die ihm in Umbrien entgegengeschlagen waren, wenn er die Familie seiner Frau besuchte, hatte er sich einigermaßen gewöhnt, und seinen italienischen Verwandten hielt er zugute, dass sie sich benahmen, wie es ihrer Mentalität entsprach. Wenn sich aber Menschen so gebärdeten, ohne dass es ihrer Wesensart entsprach, war das weitaus schlimmer. Die Mitarbeiter des Polizeireviers Westerland wurden Erik von Stunde zu Stunde und von Glas zu Glas fremder.

Der Einzige, der sich auch unter Alkoholeinfluss so verhielt wie immer, war Dr. Hillmot. Das lag womöglich daran, dass der Beruf ihn abgestumpft hatte. Der dicke Gerichtsmediziner reagierte auf alles mit Gleichmut – auf eine Leiche genauso wie auf drei Gläser Ramazzotti, auf lallende Polizeibeamte oder den Mageninhalt eines Kollegen, der es nicht mehr bis zur Tür schaffte und sich geistesgegenwärtig in den Übertopf einer schütteren Sansevieria erbrach.

Das Grölen der Geburtstagsgäste, die ihren Kollegen samt Sansevieria und Übertopf aus dem Raum schoben, weckte Enno Mierendorf, der soeben den Kampf gegen die Müdigkeit verloren hatte und Anstalten machte, vom Stuhl zu sinken. Schlagartig erinnerte er sich, an welchem Stand der Unterhaltung er sich geistig aus dem Staub gemacht hatte. »Da fällt mir auch ein guter Witz ein! Also … kommt ein Mann zur Polizei …«

Mierendorf glaubte zunächst, die jäh einsetzende Stille hätte mit dem allseitigen Interesse an seinem Witz zu tun. Dann aber ging ihm auf, dass das Telefon zu läuten begonnen hatte.

Erik, der jeden zweiten Schnaps in der Topfblume entsorgt hatte, erkannte etwas schneller als alle anderen, dass Schwierigkeiten auf sie zukommen könnten. »Vielleicht ist es nur jemand, der eine Anzeige aufgeben will, den können wir auf morgen vertrösten. Aber es könnten auch die Kollegen von der Streife sein. Wenn die eine Massenkarambolage haben …«

»… fahren wir eben Taxi«, ergänzte Sören und griff nach der Schnapsflasche.

»Es könnte auch die Staatsanwältin sein«, meinte Erik und registrierte, dass Sören die Flasche prompt wieder wegstellte.

Erik ging zum Telefon und legte den Zeigefinger auf die Lippen, ehe er den Hörer abnahm. Tatsächlich waren von da an nur Geflüster und unterdrücktes Prusten zu hören.

Das Gespräch dauerte nicht lange. Hinterher flüsterte niemand mehr, und Enno Mierendorf dachte nicht mehr daran, den Witz zu Ende zu erzählen. Eriks Gesicht sprach Bände.

»Schlimmer als die Staatsanwältin?«, fragte Sören, der seit einer Stunde mit den Zischlauten Probleme hatte, das schwierige Wort aber trotzdem einigermaßen verständlich herausbrachte.

Erik nickte ernst. »Die Küstenwache hat gerade eine Leiche aus dem Wasser gezogen. Und es sieht nicht nach einem Unfall aus …«

Mamma Carlotta bummelte an der Friesenkapelle vorbei, ließ den Spielplatz links liegen und betrachtete lange das Feld, das sich dahinter auftat, als machte sie sich Gedanken über das Getreide, das der Bauer dort angepflanzt hatte. Gelegentlich wurde sie von einem Nachzügler überholt, der sich tief über den Lenker beugte und sein Fahrrad erst ausrollen ließ, als er die lange Schlange der Mitbewerber sah und sich sagen musste, dass er zu spät gekommen war.

Wo sonst das Zelt des Inselzirkus aufgestellt wurde, war in diesen Monaten eine Leichtbauhalle errichtet worden, in der sich die Kulissen für die Innenaufnahmen von »Liebe, Leid und Leidenschaft« befanden. Die Zirkuswagen standen wie gewohnt an ihrem Platz, an der Grenze des großen kreisförmigen Areals. Der Inselzirkus hatte sie der Produktionsgesellschaft zu Verfügung gestellt, damit in ihnen die Büros, die Maske und die Garderobe untergebracht werden konnten.

Mamma Carlotta beschleunigte ihren Schritt nicht, obwohl sie sich mittlerweile an die kleinen spitzen Absätze ihrer Stiefeletten gewöhnt hatte. Gemächlich ging sie weiter wie jemand, der die Absicht hat, das Hünengrab Denghoog zu besichtigen, sah in den Himmel und blickte den Möwen nach. Eine Touristin, die sich daran freute, dass das Wetter es schon vor Ostern so gut mit der Insel meinte. Sollte sie jemandem auffallen, würde der Eindruck entstehen, sie nähere sich rein zufällig der langen Schlange, die sich vor einem der Zirkuswagen aufgestellt hatte.

Dass sie vorher ihre neuen Stiefeletten auf Hochglanz poliert und die Hose extra gebügelt hatte, würde niemand bemerken. Die Kinder hatten ja zum Glück keinen Blick für das Äußere ihrer Großmutter. Sie hatten nicht einmal gesehen, dass sie Rouge und Lipgloss benutzt und Carolins Wimperntusche ausprobiert hatte. Wie gut, dass ihre Schwägerin, die Carlotta in modischen Dingen immer ein Stück voraus war, ihr einen gelben Pullover geliehen hatte. Der war in diesem Frühjahr angeblich hochaktuell und sollte den Syltern zeigen, dass auch eine italienische Großmutter etwas von Mode verstand. Mamma Carlotta fühlte sich bestens gerüstet für jede Überraschung, die so ein Casting bereithalten mochte.

Sie machte einen langen Hals. Felix und Carolin trennten noch mindestens dreißig Mitbewerber von der Casting-Chefin. Zum Glück waren die beiden derart darauf konzentriert, Schritt für Schritt ihrem Ziel näher zu rücken, dass sie ihre Großmutter nicht bemerkten. Und Mamma Carlotta achtete sorgfältig darauf, von ihnen nicht gesehen zu werden. Auf keinen Fall wollte sie sich später Neugier vorwerfen lassen, wo sie doch nichts anderes hergeführt hatte als das Interesse am Unbekannten. Sollte das etwa verwerflich sein?

»Wollen Sie sich nicht auch bewerben?«, hörte sie da eine Stimme. »Mich wollen die nicht, aber Sie sehen ja ganz manierlich aus.«

Mamma Carlotta fuhr herum. Vor einem dichten Gebüsch saß ein Mann undefinierbaren Alters auf einer schmuddeligen Decke und grinste sie an. Neben ihm stand ein Einkaufswagen mit vielen prall gefüllten Plastiktüten.

»Manierlich?« Dieses Wort hatte sie noch nie gehört.

»Ich habe extra meinen Platz in der Friedrichstraße aufgegeben. Die zahlen einem Komparsen hundert Euro am Tag. Die könnte ich gut gebrauchen.«

Mamma Carlotta machte einen Schritt auf den Mann zu und betrachtete ihn genauer. Er steckte in schmutziger Kleidung, seine Haare waren lange nicht gewaschen worden, sein Gesicht war von einem ungepflegten Bart überwuchert.

»Haben Sie keine Wohnung?«

Der Mann kicherte. »Sie sind ja eine Schnellmerkerin.«

»Kein Dach über dem Kopf?« Mamma Carlotta starrte ihn betroffen an und vergaß für eine Weile ihre Enkel und die Casting-Chefin von Eidam-TV. Natürlich gab es auch in Umbrien Obdachlose, aber dort war es warm, in ihrem Dorf gab es Scheunen, Unterstände für ausrangierte Autos, große Gärten mit behaglichen Lauben und notfalls die Kapelle, aus der noch nie ein Obdachloser vertrieben worden war. Schlagartig wurde ihr klar, dass Obdachlosigkeit nicht überall gleich schrecklich war. In der Kälte einer Nordseeinsel bedeutete es etwas ganz anderes, seine Wohnung zu verlieren, als in Süditalien, wo die Temperaturen sich auch im Winter selten dem Gefrierpunkt näherten. Über die soziale Kälte, die sich anscheinend parallel zu den Wetterverhältnissen entwickelte, wollte sie gar nicht nachdenken.

»Gibt es auf Sylt kein Haus für … für …« Ihr fiel keine Bezeichnung ein, die einerseits auf diesen armen Kerl zutraf, ihn aber andererseits nicht verletzte.

»Penner?« Er schien weitaus weniger Probleme mit der Beschreibung seines Lebens zu haben. »Nö, da lasse ich mich nur blicken, wenn’s gar nicht anders geht.«

Mamma Carlotta wurde nervös, weil ihr der eigentliche Grund ihrer Anwesenheit wieder einfiel. »Haben Sie genug zu essen? Soll ich Ihnen was bringen? Ich habe Antipasti eingelegt. Mögen Sie so was? Frische Panini gebe ich Ihnen natürlich dazu.«

Der Obdachlose rappelte sich hoch. Anscheinend hatte er lange nicht mehr ein solches Angebot bekommen. »Das würden Sie für mich tun?« Überwältigt streckte er Mamma Carlotta die Hand hin, die sich zwar über seine Dankbarkeit freute, die Hand aber trotzdem nicht gern ergriff. »Ich heiße Busso. Busso Heinemann! Also, es wäre … wäre mir eine Ehre … wie soll ich sagen? Einfach toll wäre das.«

Mamma Carlotta wischte sich unauffällig die rechte Hand an der Jacke ab. »Gut! Dann bringe ich Ihnen bei nächster Gelegenheit etwas vorbei.«

»Sie werden mich auf jeden Fall hier finden! Ich bleibe sitzen, bis die merken, dass die auch mal einen wie mich als Komparsen gebrauchen können. Hundert Euro am Tag! Das muss man sich mal vorstellen! Ich muss in Ruhe nachrechnen, wie viele Flaschen Köm man davon kaufen kann.«

Mamma Carlotta sah ihn streng an. »Sie sollten sich lieber was Anständiges besorgen. Obst, Gemüse, frisches Brot.«

Busso merkte, dass er einen Fehler gemacht hatte, der ihn die Zuneigung dieser freundlichen Dame kosten konnte. »Klar! Vitamine sind ja sehr wichtig.«

Mamma Carlotta sah an ihm herab. »Und eine neue Hose könnten Sie auch gebrauchen.« Sie dachte kurz nach. »Schade! Mein Schwiegersohn hat eine andere Figur. Sonst würde ich nachsehen, ob es eine Hose gibt, die er nicht mehr trägt.«

Busso war begeistert und versuchte ihr erneut die Hand zu schütteln, doch Mamma Carlotta machte einen Schritt zurück. »Vielleicht klappt’s ja noch mit einer Komparsenrolle.«

»Ich bleibe jedenfalls hier, bis die Dreharbeiten vorbei sind«, sagte Busso und ließ sich wieder auf der Erde nieder. »Die Schauspieler sind spendabel. Die bringen mir oft was zu essen. Und der private Wachdienst lässt mich in Ruhe. Die wissen, dass ich nichts klaue. Mir geht’s hier gut.«

»Das freut mich.« Mamma Carlotta verabschiedete sich, weil sie gesehen hatte, dass die Casting-Chefin sich erhob, als hätte sie etwas Wichtiges zu vermelden. »Bis später!«

Unzufrieden betrachtete die Casting-Chefin die vielen Jugendlichen, die sie hoffnungsvoll anblickten. Die ersten zwanzig hatte sie zum Eingang der Halle gewinkt, wo sie von einer dicken Frau in Empfang genommen wurden. Das waren anscheinend die Beneidenswerten, die das Casting bestanden hatten. Es sah nicht so aus, als könnten die sechzig bis siebzig, die noch warteten, auch eine Chance bekommen.

»Hat in der Zeitung etwa gestanden, dass ich hundert Schüler brauche?«, fragte die Casting-Chefin ungehalten. »Warum habt ihr nicht eure Eltern geschickt? Mehr als zwanzig junge Leute brauche ich wirklich nicht.«

Die Enttäuschung war den Jugendlichen sogar von hinten anzusehen. Einige drehten sich schon um und machten Anstalten zu gehen. Felix und Carolin rührten sich zwar nicht vom Fleck, aber Mamma Carlotta war sicher, dass auch sie soeben ihre Hoffnung begruben. Für Felix würde es nicht weiter schlimm sein. Wenn er nicht ausgewählt wurde, hatte er sich nur damit abzufinden, dass er etwas länger auf die total angesagten Turnschuhe sparen musste. Aber für Carolin würde eine Welt zusammenbrechen. Mamma Carlotta blutete schon jetzt das Herz, wenn sie daran dachte, mit welcher Inbrunst ihre Enkelin »Minna von Barnhelm« auswendig gelernt hatte, um gut gerüstet für das Casting zu sein.

An ihr lag es wirklich nicht, dass sie plötzlich der Casting-Chefin aufgefallen war. Total unaufdringlich hatte sie sich verhalten, war nur ein wenig herumgeschlendert und hatte die Zirkuswagen betrachtet, als ginge sie das Casting überhaupt nichts an. Was konnte sie dafür, dass die Produktionsgesellschaft unbedingt ältere Komparsen haben wollte? Und dass Mamma Carlotta weit und breit die Einzige war, die die dreißig überschritten hatte? Wenn man mal von Busso Heinemann absah. Ihre Enkelkinder, vor allem Carolin, blickten sie trotzdem strafend an, während sie an ihnen vorbei auf den Tisch zuging, hinter dem die Casting-Chefin residierte.

»Wie sieht’s mit Ihnen aus?«, wurde Mamma Carlotta gefragt. »Haben Sie Lust, als Komparsin zu arbeiten?«

Mamma Carlotta stand da wie vom Donner gerührt. Vorsichtshalber drehte sie sich nicht zu Felix und Carolin um, als sie antwortete: »Wenn Sie meinen!« Sie gab sich große Mühe, so auszusehen, als wäre ihr dieses Angebot gleichgültig und sogar ein wenig lästig. Trotzdem ergänzte sie vorsichtshalber: »Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tue, will ich nicht so sein.«

Nun wurde die Casting-Chefin sogar freundlich. »Sie sind Italienerin? Könnte sein, dass ich dann sogar eine kleine Sprechrolle für Sie habe. Trauen Sie sich das zu?«

»Ma certo«, hätte Mamma Carlotta am liebsten gerufen, spürte aber die bohrenden Blicke ihrer Enkel im Rücken und beließ es daher bei einem zaghaften Nicken. »Ich werd’s versuchen.«

»Perfekt! Dann gehen Sie bitte zu Tanja hinüber.« Die Casting-Chefin wies zu der dicken Frau, die sich um die zwanzig Auserwählten kümmerte, die von allen anderen neidisch beäugt wurden. »Sie wird Ihre Personalien aufnehmen und Ihre Handynummer notieren, damit wir Sie jederzeit erreichen können.«

Die Gedanken jagten durch Mamma Carlottas Kopf. Handynummer? Sie besaß kein Handy! Aber sollte sie das zugeben? Dann war sie ihre Komparsenrolle womöglich gleich wieder los! Ob Felix ihr wohl sein Handy leihen würde, den einzigen Gegenstand, auf den er sorgfältig achtgab? Oder Carolin? Konnte Mamma Carlotta erwarten, dass ihre Enkelin für eine Weile auf ihr Handy verzichtete, wo sie schon keine Komparsenrolle bekommen hatte? Nein, das konnte sie Carolin nicht antun!

Sie richtete sich auf und sah die Casting-Chefin an wie ein Star, der gebeten worden war, sich unter Wert zu verkaufen. »Eine Bitte habe ich noch! Meine Enkel müssen auch Komparsenrollen bekommen. Das ist meine Bedingung.« Sie drehte sich um und stellte fest, dass Carolin und Felix die Einzigen waren, die noch direkt hinter ihr standen. Alle anderen hatten eingesehen, dass sie zu spät gekommen waren.

Mamma Carlotta winkte die beiden mit einem verschwörerischen Augenzwinkern, das die Casting-Chefin nicht sehen konnte, an ihre Seite. »Felice! Carolina! Kommt her!« Anschließend lächelte sie die Casting-Chefin so lange an, bis die endlich zurücklächelte. »Meine Enkelin will Schauspielerin werden. Sie lernt gerade ein Stück auswendig. Diese Minna … von diesem Dichter …«

Nun schien Carolin das Gefühl zu haben, dass der Moment da war, auf den es ankam. Sie trat einen Schritt vor und sagte: »›Minna von Barnhelm‹ von Gotthold Ephraim Lessing. Ich möchte mal die Rolle der Minna spielen. Vielleicht auch die der Franziska, wenn ich für die Minna noch zu jung bin.«

»Das hättest du dir sparen können«, brummte die Casting-Chefin. »Wenn wir dich brauchen, dann nur, um von links nach rechts zu laufen oder umgekehrt.«

Nun machte Felix auf sich aufmerksam. »Das kriege ich hin«, sagte er und ließ seine dunklen Augen blitzen, die eindeutig eine größere Wirkung auf die Casting-Chefin hatten als »Minna von Barnhelm«.

»Also gut, meinetwegen.« Die Casting-Chefin betrachtete Felix mit einem anerkennenden Blick. »Deine Klamotten sind genau richtig. Komm ja nicht auf die Idee, was anderes anzuziehen, wenn es so weit ist.«

Felix strahlte. »Geil!« Derartigen Zuspruch hatte er noch nie bekommen, wenn es um seine Garderobe ging. Seit Jahren ließ er an seinen Körper nichts anderes heran als überdimensionale Jeans, die die obere Kante seiner Unterhose freiließen, deren Schrittnaht zwischen den Knien baumelte und die so lang waren, dass sie wie eine Ziehharmonika auf seine Schuhe fielen. Die wiederum sahen aus, als wären sie drei Nummern zu groß, weil Felix sie nicht schnürte, damit sie möglichst breit wirkten und ihn zu dem schlurfenden Gang zwangen, der in seinen Augen so cool war. Mit anderer Kleidung hätte Felix also gar nicht dienen können.

»Nur auf das Käppi wirst du verzichten müssen«, sagte die Casting-Chefin in diesem Augenblick. »Was du da auf dem Kopf hast, ist total out.«

Felix starrte sie an, als hätte sie ihm vorgeschlagen, im Tutu über die Kurpromenade von Westerland zu tanzen. Felix ohne Käppi war genauso undenkbar wie Felix im schwarzen Anzug! Es gab kaum eine Mahlzeit, die nicht mit der Debatte begann, ob ein Käppi bei Tisch erlaubt war oder nicht.

Nach Mamma Carlottas Meinung war es nicht erlaubt, aber ihre diesbezüglichen Erziehungsmaßnahmen hatten bis jetzt nichts gefruchtet. Deswegen rechnete sie fest damit, dass Felix abwinken und auf seine Komparsenrolle verzichten würde. Doch zu ihrem Erstaunen zog er lächelnd das Käppi vom Kopf und zeigte der Casting-Chefin seine dunklen Locken.

»Du bist ja ein schnuckeliges Kerlchen«, sagte sie lächelnd, was Felix sich gefallen ließ, ohne zu rebellieren. »So schöne Haare und dann so ein hässliches Käppi!« Sie schüttelte missbilligend den Kopf, und Felix steckte sein Käppi, das er sonst nicht einmal zum Waschen aus der Hand gab, in die Hosentasche.

Während Mamma Carlotta mit ihren Enkeln zu der Halle hinüberging, sonnte sie sich in dem schönen Gefühl, den Kindern zu etwas verholfen zu haben, was ihnen sehr wichtig war. Dass sie auch für sich selbst etwas erreicht hatte, konnte ihr niemand vorwerfen. Sie war ja geradezu gedrängt worden, sich als Komparsin zur Verfügung zu stellen. So würden es hoffentlich die Kinder darstellen, wenn Erik sich erkundigte, warum seine Schwiegermutter demnächst im Fernsehen zu bewundern sein würde.

Zwei Streifenwagen fuhren Richtung List. Im ersten saß Erik mit Sören Kretschmer und dem Gerichtsmediziner, im zweiten folgten die Mitarbeiter der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle, deren Bestand allerdings deutlich reduziert war. Einer der Spurensicherer hatte sich stöhnend an die Sansevieria geklammert, als er von der Wasserleiche gehört hatte, ein zweiter war grün im Gesicht geworden, im Toilettenraum verschwunden und nicht wiederaufgetaucht, und ein dritter musste von seiner Frau in die Nordsee-Klinik gefahren werden. Er war auf den drei Stufen gestolpert, die aus dem Polizeirevier hinausführten, und dabei so unglücklich gestürzt, dass Dr. Hillmot zu Wiederbelebungsversuchen herbeigeholt werden musste. Die waren dann zum Glück doch nicht nötig, aber als der arme Kerl endlich wieder auf den Beinen stand, sah er aus, als hätte er eine schwere Schlägerei hinter sich.

Erik starrte aus dem Autofenster in die Dünenlandschaft, die im Norden der Insel immer mächtiger wurde, immer weltentrückter und unverbildeter. Auf der Straße, die wie ein langes schwarzes Band die Dünenlandschaft durchschnitt, war nicht viel los. Der Streifenwagen konnte schnell fahren, kam ohne viel Bremsen und Gasgeben aus, sodass sich Eriks Magen allmählich beruhigte. Und während er konsequent in die Landschaft blickte, die für ihn immer noch etwas Erlösendes hatte, wurde auch sein Kopf wieder klarer. Der Fahrer des Streifenwagens war zum Glück damit einverstanden gewesen, das Fenster während der Fahrt leicht geöffnet zu lassen, weil kalte, klare Luft bekanntlich zur Ausnüchterung beitrug.

Ob das bei Sören etwas fruchtete, vermochte Erik allerdings nicht zu sagen. Sein Assistent saß blass und mit geschlossenen Augen neben ihm. Dabei stöhnte er leise, aber so häufig, dass sich Erik bang fragte, ob das Kommissariat Westerland an diesem Tag einen schweren Imageverlust erleiden würde. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass der Tatort besonders weiträumig abgesperrt und der Kontakt der Polizeibeamten mit der Bevölkerung auf das Notwendigste beschränkt wurde. Hoffentlich hatte die Leiche nicht schon tagelang im Wasser gelegen. Ein solcher Anblick konnte auch einem Beamten, der bei bester Kondition war, den Magen umdrehen. Und wenn er selbst daran dachte, spürte er auch gleich wieder diese besorgniserregende Linie, die den Magen direkt mit dem Gaumenzäpfchen verband.

Erik versuchte sich abzulenken, während sie auf List zufuhren. Schrecklich, dieser riesige Hotelneubau am Ortsrand! Die geduckte Ladenzeile auf der linken Straßenseite passte nicht zu dieser protzenden Eleganz. Kurz vor einer Rechtskurve sah er auf der linken Seite das Geschäft, das er schon lange aufsuchen wollte. Dort gab es schöne hölzerne Gartenmöbel und in der Skulpturengalerie mannshohe Figuren aus glasfaserverstärktem Kunststoff, die er sich immer schon mal näher ansehen wollte. Als sie auf der Rückseite der Alten Tonnenhalle in den kleinen Kreisverkehr einbogen und den Parkplatz ansteuerten, der zwischen der »nördlichsten Fischbude Deutschlands« und dem »Erlebniszentrum Naturgewalten« angelegt worden war, fühlte er sich tatsächlich besser. Sein körperliches Unwohlsein war in den Hintergrund getreten.

Der Streifenwagen fuhr bis zum Eingang des Platzes, auf dem einmal eine Fischbude gestanden hatte, aus der mittlerweile ein kulinarischer Welterfolg geworden war. Bei schönem Wetter war dort immer viel los, aber auch jetzt, kurz vor Ostern, waren viele Touristen aus allen Teilen der Insel gekommen, um dort zu essen, zu bummeln, zu shoppen oder in der Sonne zu sitzen. Das Angebot von Jürgen Gosch beschränkte sich längst nicht mehr auf eine Fischbude, sondern erstreckte sich mittlerweile über die Alte Bootshalle, das Restaurant Knurrhahn, das Hafendeck und den kleinen Fischmarkt in der Tonnenhalle. Eine lebendige Piazza war entstanden, auf der sich Mamma Carlotta wie zu Hause fühlen würde. Erik nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit seiner Schwiegermutter nach List zu fahren. Dort würde es ihr gefallen!

Zwei Männer vom Sicherheitsdienst erwarteten sie an der Schranke, die dafür sorgte, dass kein Auto unbefugt den Platz befuhr, und winkten sie durch. Ein weiterer Mann vom Sicherheitsdienst kam angelaufen und lotste sie vorsichtig weiter, während ein anderer die Neugierigen zurückdrängte, die sich überall versammelten, wo die Polizei auftauchte.

Die Bänke vor der Alten Bootshalle waren dicht besetzt mit Touristen, die ihre Mittagsmahlzeit genossen. Wer dort einen Platz gefunden hatte, durfte sich glücklich schätzen. Er war der Sensation nahe, ohne dass er sich Gaffer nennen lassen musste. Alle anderen drängten sich dort zusammen, wo die Ausflugsdampfer an- und ablegten.

Die Frage, wo die Leiche gefunden worden war, erübrigte sich damit. Der Fahrer des Streifenwagens hielt auf die dicht gedrängte Menschenmenge zu. Erik beugte sich vor und bat die beiden Streifenbeamten auf den Vordersitzen: »Können Sie bitte die Stelle möglichst schnell und weiträumig absperren? Dr. Hillmot möchte die Leute nicht auf den Zehen stehen haben, während er die Leiche in Augenschein nimmt.«

»In Ordnung!«, kam es von vorn zurück. »Aber ich glaube, die liegt unten, wo die Schiffe anlegen. Da lassen sich die Leute leichter auf Abstand halten.«

Erik warf Sören einen Blick zu. »Reißen Sie sich zusammen«, sagte er strenger, als er eigentlich wollte.

Immerhin erreichte er, dass Sören seinen Oberkörper straffte, tief durchatmete und eine Miene zog, wie der Durchschnittsbürger sie von einem Kriminalbeamten erwarten mochte.

Dann sah er zu dem zweiten Streifenwagen, der sich dicht hinter ihnen hielt. »Nur gut«, raunte er Sören zu, »dass die Spurensuche sowieso nicht ergiebig ausfallen dürfte. Hier laufen ja täglich Tausende herum.«

»Wenn der Fundort überhaupt der Tatort ist«, entgegnete Sören.

Erik stieg als Erster aus. Sehr behutsam, erst das rechte, dann das linke Bein. Er sah an sich herab, stellte fest, dass die öligen Antipasti Spuren auf seiner Breitcordhose hinterlassen hatten, und zog die Enden seines Schnauzers in die Mundwinkel, als wollte er nicht beim Lächeln erwischt werden. Niemand erwartete von einem Kriminalbeamten im Einsatz ein gepflegtes Äußeres, aber in diesem Fall wäre es ihm tatsächlich lieber gewesen, er trüge keine ausgebeulte Cordhose, keinen bequemen Pullunder und nicht ausgerechnet das uralte blau-weiß karierte Hemd mit dem durchgescheuerten Kragen.

Tief wollte er die kalte, klare Luft einatmen, scheiterte aber schnell an den Gerüchen, die die Firma Gosch der Nordseeluft beigefügt hatte. Über dem Platz hing der Duft von gebratenem Fisch, den Erik eigentlich liebte, der in diesem Moment jedoch verhängnisvoll werden konnte. Er atmete so flach wie möglich und versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass ein gebratenes Rotbarschfilet, ehe es auf den Teller kam, ein glitschiger Fisch gewesen war, der in einem Netz oder an der Angel gezappelt hatte, bevor man ihm die Eingeweide herausriss …

»Mir ist schlecht«, hörte er Sören flüstern, war aber unfähig, etwas Aufmunterndes zurückzuflüstern. Erik hoffte, dass er sicherer wirkte als sein Assistent, der steifbeinig neben ihm herging, hoch aufgerichtet und aufs sichere Vorankommen konzentriert wie alle Betrunkenen, die ihrer Umwelt weismachen wollen, dass sie voll auf der Höhe sind.

Erik beschloss, Sören so wenig wie möglich zu beachten, um nicht in den Sog seiner Schlagseite zu geraten. Bedächtig strich er sich seinen Schnauzer glatt, wie er es immer tat, wenn ihm etwas bevorstand, was seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Dann fasste er die beiden Männer ins Auge, die neben dem Ticketshop standen und dafür sorgten, dass der Eingang frei blieb, den sonst die Touristen benutzten, wenn sie Kutterfahrten oder Touren zu den Seehundbänken unternehmen wollten. Erik schwankte, als er sich an die Bewältigung der Stufen machte, und tastete nach einem Halt. Rechts von ihm, auf der Terrasse des Hafenrestaurants, saßen viele Leute, die nicht nur den Toten betrachteten, sondern womöglich auch ihn.

Tanja Möck öffnete die Tür der großen Leichtbauhalle, nachdem sie warnend auf ein rotes Lämpchen gezeigt hatte, das oberhalb des Eingangs angebracht war. »Wenn das brennt, darf die Tür niemals geöffnet werden. Das heißt: Achtung, Aufnahme! Eine Aufnahme zu stören ist so ziemlich das Schlimmste, was passieren kann.«

Ihre Worte sollten streng klingen, aber ihr Lächeln war derart freundlich und ihre Augen blickten so sanft, dass Mamma Carlotta an ihre Nachdrücklichkeit nicht glauben mochte. Auf keinen Fall würde sie ihre Gutmütigkeit herausfordern, aber sie war überzeugt, dass Tanja Möck für alles Verständnis hatte, notfalls auch dafür, dass ihre Anweisungen missachtet wurden.

Sie betraten einen Gang, der sich nach links und rechts erstreckte. Gegenüber des Eingangs befand sich eine weitere Tür, über der es auch ein rotes Licht gab, das genauso dunkel war wie das Licht an der Außenseite des Gebäudes.

»Hier gilt das Gleiche«, sagte Tanja Möck, zog ihre Bluse vom Körper, wedelte sich mit dem Stoff Kühlung zu und ließ sie wieder fallen. »Wenn Sie in die Kantine wollen, niemals durch diese Tür, wenn das rote Licht brennt!«

»Capito«, flüsterte Mamma Carlotta ehrfürchtig.

Tanja Möck zeigte den Flur entlang. »Hier geht’s auch zur Kantine, aber durch die Kulissen ist es kürzer.«

Sie öffnete die Tür und ließ Mamma Carlotta eintreten. Staunend blieb diese auf der Schwelle stehen und sah sich um. Was für Dimensionen! Für eine einzige Fernsehserie dieser monumentale Aufwand! Keineswegs protzig und erst recht nicht so luxuriös wie das Ergebnis, das über den Bildschirm flimmerte. Nur beeindruckend groß war der Ort, wo diese Bilder entstanden.

Die Kulissen nahmen den größten Teil der Halle ein. Ein einziger riesiger Raum, in dem sich ein ganzes Fernsehleben abspielte! Viele kleine Nischen, in denen zwei Wohnzimmer, eine Küche, ein Büro, ein Fitnessraum, das Sprechzimmer eines Arztes und eine Polizeistation aufgebaut waren, die später auf dem Bildschirm doppelt oder dreimal so groß wirken würden. Vor diesen Kulissen liefen Schienen von einem Ende der Halle zum anderen, auf denen die Kameras zu der Position fuhren, in der sie gebraucht wurden.

Mamma Carlotta hatte in den letzten Tagen viele Folgen von »Liebe, Leid und Leidenschaft« gesehen, die Carolin aufgezeichnet hatte, um gut fürs Casting gerüstet zu sein. Sie hatte die attraktiven Menschen bewundert, die stets gut frisiert und mit makellosem Make-up zu sehen waren, egal, in welcher Lebenslage sie sich gerade befanden. Sie hatte die schöne Atmosphäre bestaunt, die Räume mit den kostbaren Möbeln und die teure Kleidung, in der die Akteure eine Heimsuchung nach der anderen bewältigten und dabei nichts von ihrer Attraktivität einbüßten. Was hatten diese armen Menschen alles durchzustehen! Kaum waren sie einer Katastrophe entronnen, kam schon die nächste, und wenn man gerade auf ein Happy End hoffen durfte, erschien garantiert ein Nebenbuhler oder eine verflossene Geliebte und machte alles wieder kaputt. Aber die Betroffenen veränderten sich unter diesen Schicksalsschlägen kaum. Nach einer kurzen Phase der Depression fanden sie allesamt zügig ins normale Leben zurück und damit todsicher den nächsten Kandidaten, der sie unglücklich machen würde.

Wenn Mamma Carlotta da an die Signora Endrizzi dachte! Die huschte, seit sie von ihrem Mann verlassen worden war, wie ein Schatten ihrer selbst durchs Dorf, und seit ihr Sohn gegen den Willen der Mutter eine Norwegerin mit zwei unehelichen Kindern geheiratet hatte, ging sie kaum noch vor die Tür. In »Liebe, Leid und Leidenschaft« dagegen hatte eine der Hauptdarstellerinnen kaum festgestellt, dass sie mit ihrem Halbbruder verheiratet war, da wurde auch schon ihr Sohn entführt, und das ausgerechnet von ihrer Zwillingsschwester, die sie nicht kannte, weil die beiden direkt nach der Geburt getrennt worden waren. Aber ging die arme Frau deswegen nicht mehr vor die Tür? Im Gegenteil! Sie kümmerte sich nicht nur erfolgreich um ihr privates Desaster, sondern leitete ganz nebenbei auch noch einen Kosmetikkonzern. Und das alles in großer Pracht und edelstem Design. Davon blieb aber augenscheinlich nichts übrig, wenn die Scheinwerfer erloschen.

Die unbeleuchteten Kulissen waren unordentlich zusammengerückt worden, sahen düster und schäbig aus, und Mamma Carlotta fragte sich, wie daraus wieder das vornehme Wohnzimmer eines Arztehepaars oder die technisch hervorragend ausgestattete Küche ihrer Tochter werden sollte, die als Studentin mehr Geld zur Verfügung hatte als jeder ihrer Professoren. War sie jetzt mit der Scheinwelt konfrontiert worden, von der Erik gesprochen hatte? Wenn sie auch wie jeder Mensch wusste, dass der Alltag nicht so viele Überraschungen bot, wie die Fernsehmacher in eine knappe Stunde steckten, und kein Mensch ständig derart gewaltige Schicksalsschläge aushalten musste wie die Helden von »Liebe, Leid und Leidenschaft«, tat es ihr doch weh, gleich in den ersten Minuten nach ihrem Eintritt in diese andere Welt aller Illusionen beraubt zu werden.

Tanja Möck hatte diese Illusion womöglich nie gekannt. Sie schien ohnehin nicht in diese flüchtige, überbordende Welt zu passen. Ihre Fettleibigkeit kam Mamma Carlotta vor wie der Ausdruck einer tiefen Zufriedenheit, die mit einer guten Portion Gleichgültigkeit angereichert war, ihre Psyche schien so rund und gemütlich zu sein wie ihr Körper, ihre Seele zu unbeweglich für böse Gedanken. Wenn sie lächelte, verzog sie einen Mundwinkel, als wäre ihr ein breites Lächeln zu anstrengend, und der Ausdruck ihrer Augen veränderte sich nie. Gleichgültig sah sie über alles hinweg, nur gelegentlich kniff sie die Augen zusammen, als blinzelte sie gegen die Sonne. Immer dann, wenn sie Gelächter hörte, einen hellen Ruf oder eine kecke Antwort auf eine vorwitzige Frage. Ob sie sich dann heimlich diese Leichtigkeit wünschte, die ihr selbst nicht gegeben war?

Mamma Carlotta starrte noch immer auf die Kulissen, die ihr so deutlich vor Augen führten, dass hier nur eine Simulation erzeugt wurde, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hatte. Aber dann öffnete sich am anderen Ende der Halle die Tür zur Kantine, und die Realität wurde ins Zauberland zurückversetzt: Bruce Markreiter trat heraus, der große Schauspieler, der auch in Italien bekannt und beliebt war. Ein Star! Ein Mensch, der von unzähligen anderen bewundert wurde, dem junge Mädchen nachliefen, damit sie ein Autogramm von ihm bekamen! Ein Mann, der mit einer Schauspielerin verheiratet war, die noch berühmter war als er selbst. Die sogar in Hollywood Erfolge feierte! Ein solcher Mann ging an Mamma Carlotta vorbei, ohne dass der Himmel einstürzte!

Sie drehte sich um und starrte ihm mit offenem Mund nach. Wenn sie das in ihrem Dorf erzählte! Signora Alberici, die in der Adventszeit das Krippenspiel einübte und während dieser Wochen ständig von gestischen Möglichkeiten, Darstellungsmethoden und Sprachimpulsen redete, würde sie glühend beneiden. Carlotta Capella war dem großen Bruce Markreiter nahe gewesen! So nahe, dass sie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Ob sie ihm nachgehen und ihn um ein Autogramm für Signora Alberici bitten sollte?

Doch noch ehe sie den Mut dafür aufgebracht hatte, wurde die Kantinentür erneut aufgerissen, und ein Mann stürzte heraus, älter und kleiner als Markreiter, aber genauso schlank und sportlich wie er. »Hat jemand Bruce gesehen?« Er rollte das r im Namen des Schauspielers und begleitete seine Worte mit einer temperamentvollen Geste, die Mamma Carlotta vertraut war. So machte es jeder Italiener, wenn er erregt war.

»Angeblich hat er schon jeden nach mir gefragt. Aber keinem Einzigen hat er verraten, wo er hin ist! Merda!«

Tanja Möck zeigte wortlos zum Ausgang der Halle, durch den Bruce Markreiter soeben verschwunden war. Der Mann ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie dem Schauspieler nach. »Der ist heute mit der Zange … wie sagt man?«

Tanja ergänzte lächelnd: »Mit der Zange nicht anzufassen. Ich weiß! Du bist nicht der Erste, der sich beklagt! Der Außendreh war eine Katastrophe!«

Der Mann machte eine Geste, als wollte er Bruce Markreiter bei Gelegenheit den Hals umdrehen. »Der Wind zu kalt, der Tee zu heiß, il caffè nicht süß genug und der Sand zu sandig!«

Wieder nickte Tanja, ohne dass sich an ihrem Lächeln etwas änderte. Sie verlor es nicht, es vertiefte sich aber auch nicht. »Und dass er letzte Nacht schlecht geschlafen hat, daran sind wir alle schuld!«

Nun hatte Mamma Carlotta genug gehört. »Sie sind Italiener?« Strahlend hielt sie ihm die Hand hin. »Che gioia!«

Die Freude war auch auf seiner Seite. Luca Medina war ebenso begeistert wie Mamma Carlotta, einen Menschen aus seiner Heimat zu treffen, wenn sie auch auf die Schnelle keine Gemeinsamkeiten fanden. Luca Medina stammte aus Florenz, wo Carlotta noch nie gewesen war, und hatte von dem umbrischen Dorf, in dem sie seit ihrer Geburt lebte, nie etwas gehört. Aber das spielte keine Rolle. Eine gemeinsame Muttersprache verband auch dann, wenn sie gerade nicht gesprochen werden konnte, weil Tanja Möck neben ihnen stand, die keiner von ihnen aus dem Gespräch ausschließen wollte.

Sie berührte Mamma Carlottas Arm. »Kommen Sie! Reden wir über Ihren Einsatz!«

Der Abschied fiel herzlich aus. Luca Medina konnte es nicht erwarten, Mamma Carlotta wiederzusehen, und sie freute sich schon jetzt darauf, etwas von seinem Leben in Florenz zu erfahren.

»Arrivederci, Signora!«

»A più tardi!«

Tanja Möck wartete geduldig, bis die Begeisterung überwunden war, dann öffnete sie die Tür zur Kantine und schob Mamma Carlotta in einen großen Raum, in dem es summte wie in einem Bienenstock. »Luca Medina ist Bruce Markreiters Stuntman«, erklärte sie. »Es gibt ein paar gefährliche Szenen, in denen er gedoubelt werden muss.«

»Stuntman?« Mamma Carlotta fuhr zu Luca Medina herum. Was ein Stuntman war, wusste sie, die hießen in Italien auch so: Männer, die für einen Schauspieler ihr Leben riskierten, die über fahrende Eisenbahnwaggons liefen, sich von einem Hubschrauber abseilen ließen und von einem rasenden Auto zum anderen sprangen. Und so einer hatte vor ihr gestanden, ohne dass sie ihn zu den interessanten Einzelheiten seines Berufs befragt hatte! Sie nahm sich fest vor, das bei nächster Gelegenheit nachzuholen.

Die Kantine platzte aus allen Nähten. In der hinteren Ecke standen die Jugendlichen, deren Personalien aufgenommen wurden. Felix hatte sein Käppi noch immer nicht aufgesetzt und schien gerade Fragen zu seiner Person zu beantworten. Carolin stand mit einem so konzentrierten Gesichtsausdruck neben ihm, als bereitete sie sich darauf vor, gleich etwas aus »Minna von Barnhelm« zu deklamieren. Die anderen tuschelten und zeigten unauffällig auf die Schauspieler, die sich in der Nähe der Theke niedergelassen hatten.

Mamma Carlotta hörte, wie die Casting-Chefin rief: »Keine Autogrammwünsche! Klar? Hier wird gearbeitet! Wer die Schauspieler belästigt, kann gleich wieder gehen.«

Alle nickten brav und kicherten nur hinter vorgehaltener Hand, als einem der Hauptdarsteller der Kaffeebecher aus der Hand rutschte und dessen Inhalt sich über die Schauspielerin ergoss, die in der Telenovela seine Geliebte spielte. Seit Jahren betrog er seine Ehefrau mit ihr, was mit Ausnahme der Gattin alle wussten. Hätte diese Szene im Drehbuch gestanden, wäre es wohl mit der Affäre der beiden endlich vorbei gewesen, derart wütend wurde der arme Kerl angefahren: »Erst kannst du deinen Text nicht und dann noch so was!«

Sie warf einen vernichtenden Blick zurück, dann kam sie auf Tanja Möck zugelaufen. »Du musst dafür sorgen, dass diese Hose morgen wieder sauber ist. Ich lege sie in die Maske! Okay?«

Sie wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern war schon verschwunden, während der Schuldige noch an seiner eigenen Hose herumrieb.

Tanja Möck war nicht anzusehen, ob sie den Auftrag überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Mamma Carlotta hätte ihn am liebsten wiederholt, um sicherzustellen, dass die Schauspielerin am nächsten Tag mit einer sauberen Hose vor die Kamera treten konnte. Aber sie kam nicht dazu. Von der Theke löste sich ein Mann, der schnurstracks auf Tanja Möck zukam. Er hätte ihr Bruder sein können. Genauso dick war er und ebenso unvorteilhaft gekleidet, sein Haar war noch schütterer als Tanjas, seine Nase ähnlich breit und großporig wie ihre. Während Tanja Möck ihre unattraktive Erscheinung hinter Gleichgültigkeit versteckte, trug der Mann, der auf sie zutrat, alles, was ihn hässlich machte, erstaunlich selbstbewusst zu Markte.

»Hast du eine Location gefunden?«, fragte er.

Tanja schüttelte den Kopf. »Aber eine Italienerin«, antwortete sie und deutete auf Mamma Carlotta.

Die setzte ihr schönstes Lächeln auf, weil ihr schwante, dass sie einen wichtigen Mann vor sich hatte, der auf die kleine Sprechrolle, die ihr in Aussicht gestellt worden war, großen Einfluss haben konnte. Dass sie mit ihm nur ungern Bekanntschaft schloss, stand fest, aber dass sich Freundlichkeit bei ihm ebenso auszahlen konnte wie beim Eierlieferanten ihres Dorfes, war ebenso gewiss. Der überließ den Dorfbewohnern, die ihm freundlich begegneten, nämlich die frischen Eier, während die bärbeißige Lehrerwitwe und der Polizist, der hinter den Parksündern her war, sich mit den Eiern begnügen mussten, die Signor Adelchi zufällig hinter einem Busch entdeckt hatte, ohne zu wissen, wann die Hühner sie dort gelegt hatten.

Der Eierlieferant war genauso unsympathisch wie dieser Mann, der seinen Bauch vorschob wie ein bedeutendes Persönlichkeitsmerkmal und über Mamma Carlotta einfach hinwegsah. Trotzdem hätte sie sich überwunden, ihm die Hand zu reichen, und ihn mit vielen schönen Worten begrüßt, wenn er nur ein wenig Interesse daran bekundet hätte.

»Eine Sylterin hätte es auch getan«, sagte er zu Tanja, »wenn sie den italienischen Akzent hinkriegt.«

»Das muss eine Italienerin aber gar nicht erst üben«, verteidigte sich Tanja und schob Mamma Carlotta zu einem Stuhl, der an dem einzig freien Tisch stand. »Und die Sache mit der Location ist eigentlich gar nicht meine Aufgabe als Assistentin der Geschäftsführung.«

»Steht das so in deinem Vertrag?«, fragte der Mann grinsend und zeigte dabei seine nikotinverfärbten Zähne. »Assistentin der Geschäftsführung? Hätte auch Mädchen für alles drinstehen können. Also sieh zu, dass du eine Location findest. Wir haben keinen Platz für eine weitere Kulisse, Zeit fürs Bauen auch nicht und Geld fürs Material erst recht nicht.«

Mit einer weiteren Anmerkung Tanjas zu diesem Thema schien er nicht zu rechnen, und in dem Moment, als eine sehr hübsche und sehr junge Schauspielerin an ihm vorbeiging, hatte er Tanja und auch Mamma Carlotta schon vergessen. »Wie geht’s meinem Küken? Sind die ersten Szenen im Kasten?«

»Alles bestens, Harry! Hast du was anderes erwartet?«

Die junge Frau warf selbstbewusst die langen blonden Haare zurück und ging zur Theke. Ihre Bewegungen zeigten, dass sie damit rechnete, von begehrlichen Blicken verfolgt zu werden.

Tanja Möck setzte sich neben Mamma Carlotta. »Harry Jumperz, unser Chefautor«, raunte sie ihr zu. »Vor dem ist keine sicher. Jedenfalls nicht, wenn sie jung und hübsch ist.«

Mamma Carlotta sah staunend zwischen Tanja Möck und dem Chefautor hin und her. »Obwohl er selbst so fett und hässlich ist?«, fragte sie zurück und gab sich keine besondere Mühe, leise zu sprechen. Wenn ein Mann sich so verhielt wie dieser Harry Jumperz, dann war sie nicht einmal sicher, ob sie von ihm überhaupt eine Sprechrolle haben wollte!

Aus ihrer Abneigung wurde helle Empörung, als sie merkte, wie Harry Jumperz die jungen Komparsinnen musterte, die sich weiter in der Kantine herumdrückten, obwohl das Casting beendet war. Hier spielte das Leben, das auf dem Bildschirm so fern und nun plötzlich so nah war. Die reiche Arzttochter war hier gar nicht nach dem neuesten Schick gekleidet, und ihre intrigante Cousine wirkte ohne das raffinierte Make-up geradezu erschreckend normal.

»Da sind ja ein paar süße Küken dabei«, bemerkte Harry Jumperz.

»Aber nicht deine Altersklasse!«, kam es vom Nachbartisch, an dem drei Schauspielerinnen saßen, die den Lebensabschnitt des Kükens schon eine Weile hinter sich gelassen hatten.

»Nur kein Neid«, gab Harry Jumperz grinsend zurück. »Frauen werden mit den Jahren eben immer älter und Männer immer schöner. Das wisst ihr doch! Oder kriegen Männer vielleicht Zellulite?«

»Kriegen Frauen etwa eine Glatze und Potenzstö­rungen?«

Mamma Carlotta starrte die Frau erschrocken an, die es gewagt hatte, dem Chefautor von »Liebe, Leid und Leidenschaft« derart Paroli zu bieten.

Aber Harry Jumperz konnte entweder Spaß verstehen, oder er war wirklich so selbstsicher, wie er sich gab. »Eine Glatze spielt überhaupt keine Rolle, wenn der Kopf, zu dem sie gehört, genial ist. Und Potenz ist eine Frage der Intelligenz! Sexualität beginnt nämlich im Kopf, meine Liebe!«

»Und wo sie endet, wissen wir ja.«

Dieser Satz war mehr für die beiden Tischnachbarinnen bestimmt gewesen als für Harry Jumperz. Was er bedeuten mochte, wagte Mamma Carlotta sich nicht vorzustellen.

Der Chefautor schien sowohl von seiner Intelligenz als auch von seinen physischen Vorzügen derart überzeugt zu sein, dass ihn kein Spott berührte. Mit gönnerhaftem Lächeln ging er auf die jugendlichen Komparsen zu, darunter auch Carolin und Felix, die anscheinend fanden, dass es ihr gutes Recht war, dort zu bleiben, wo sich ihre Großmutter aufhielt. Besorgt beobachtete Mamma Carlotta, wie Harry Jumperz sich an ihre Enkelin wandte und sie mit einer Bemerkung zum Lachen und gleichzeitig zum Erröten brachte. Es fiel ihr schwer, sich auf Tanja Möcks Worte zu konzentrieren.

»Sie werden in eine Gaststätte gehen und vor sich hin murmeln: ›Was ist das für eine … Kaschemme!‹ Am besten wäre hier das italienische Wort.«

»La bettola«, sagte Mamma Carlotta, ohne Harry Jumperz aus den Augen zu lassen, der auf Carolin einredete und währenddessen Felix mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass er ihn mit seiner Schwester allein lassen solle. Jedenfalls las Mamma Carlotta das aus seiner Gestik heraus. Prompt wurde ihr warm, weil Empörung sie grundsätzlich erhitzte. Sie zog ihre Jacke aus und zupfte den gelben Pullover über ihre Hüften. In Umbrien hätte nun jeder gewusst, dass man mit Carlotta Capella besser vorsichtig umging. Wenn sie an ihrer Kleidung herumzerrte, dann war das in etwa so, als krempelte sich ein Mann die Ärmel hoch und ballte die Fäuste.

Tanja bemerkte nicht, dass Mamma Carlotta abgelenkt war. »Dann also: ›Was ist das für eine … Bettola!‹«, sagte sie. »Und Ihr Gesicht muss ausdrücken, was mit Bettola gemeint ist. Eine Kaschemme!« Sie sah Mamma Carlotta fragend an. »Haben Sie verstanden, Signora? Die Location dafür suchen wir noch. Und wenn Sie da wieder rauskommen …«

Nun unterstand sich Harry Jumperz, nach Carolins Arm zu greifen. Mamma Carlotta glaubte hören zu können, wie er zu Carolin sagte: »Komm mit in mein Büro, dort sind wir allein.«

Sicher war sie sich keineswegs, ob sie diese Aufforderung richtig von seinen Lippen abgelesen hatte, aber dass sie den Sinn seiner Worte erfasst hatte, daran zweifelte sie keinen Moment.

»… dann sagen Sie: ›Der Espresso schmeckt wie Spülwasser‹…«

Harry Jumperz beugte sich vor, um Carolin etwas zuzuflüstern, dabei strich seine Hand über ihren Rücken …

In diesem Moment sprang Mamma Carlotta auf. »Che bellimbusto!«

Harry Jumperz fuhr erschrocken zusammen, als er von hinten tätlich angegriffen wurde. Das Tätliche beschränkte sich zwar auf einen knappen Stoß, der ihn zwang, einen Schritt zur Seite zu machen, aber die nun folgende verbale Attacke gab ihm deutlich zu verstehen, dass die Rempelei der Beginn eines heißblütigen Angriffs werden konnte.

»Sie hören sofort auf, meine Enkelin zu belästigen! Sie ist nicht Ihr Küken! Capito?«

Mamma Carlotta war außer sich! Und wenn sie außer sich war, hatte sogar Signor Tomanesco Angst vor ihr, der im Nachbardorf einen Schlachthof leitete und nicht davor zurückschreckte, mit eigener Muskelkraft einen Hammel zu schlachten, wenn die entsprechende Maschinerie ausgefallen war. Seit er sich einmal unterstanden hatte, Carlottas Jüngsten in die Kunst einzuweisen, den schlachtreifen Gänsen kurz vor Martini den Hals umzudrehen, machte er um das Haus der Familie Capella einen großen Bogen. Damals war Mamma Carlotta ebenfalls außer sich gewesen, und Signor Tomanesco hatte für einen Augenblick befürchten müssen, dass es ihm so ergehen könnte wie seinen Gänsen.

Mamma Carlottas Stimme wurde immer lauter, während sie auf den Chefautor einredete, ihre Gesten immer überschäumender, ihre Sorge, sich um ihre Rolle zu reden, war weg, und es kam ihr überhaupt nicht in den Sinn, dass Carolin sich womöglich lieber vom Chefautor berühren ließ, als sich damit abzufinden, »Minna von Barnhelm« vergeblich auswendig gelernt zu haben.

»È inaudito! Unglaublich! Unerhört!«

In der Kantine waren die Gespräche verstummt. Ungläubig wurde Mamma Carlotta angesehen.

»Wissen Sie eigentlich, dass mein Schwiegersohn Polizeibeamter ist? Dem werde ich erzählen, dass Sie versucht haben, seine Tochter zu belästigen. Dann können Sie sich auf was gefasst machen!«