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Im dritten Teil der Intersolar Trilogie entscheidet sich das Schicksal der beiden Generationenraumschiffe Humanity und Intersolar. Denn nach Jahrhunderten in der interstellaren Leere zwischen den Sternen wird das Erreichen des Ziels für die Menschen an Bord zur Realität. Die unglaubliche Reise, deren Start niemand an Bord selbst erlebt hat, neigt sich ihrem Ende entgegen. Doch der Einflug ins fremde Sonnensystem ist keine einfache Angelegenheit und fordert letztlich einen schmerzlichen Preis. Zudem steht immer noch die Frage im Raum, ob der Zielplanet über ein für Menschen lebensfähiges Ökosystem verfügt. Was die, von allen gefürchtete, Frage miteinschließt, ob er bereits intelligentes Leben hervorgebracht hat. Doch wie werden die Menschen an Bord damit umgehen, dass ein ultimativer Wandel ihres Lebensstils, ihrer Gewohnheiten und ihrer Umgebung erfolgen wird? Denn auf einem Raumschiff geboren und auf einem Raumschiff gelebt, wartet nun das Unbekannte, in Form der Oberfläche eines Planeten. Mehr noch, all die Planeten und Monde eines Sonnensystems und etwas, was niemand in aller Echtheit je gefühlt hat. Das Licht und die Wärme einer Sonne.
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Seitenzahl: 497
Veröffentlichungsjahr: 2021
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300 Jahre nach dem Start befinden sich die Humanity und die Intersolar im, immer noch Jahrzehnte dauernden, Anflug auf das Ziel ihrer Reise. Das 19,93 Lichtjahre von der Erde entfernte Sonnensystem Delta Pavonis.
Mit jedem Jahr, dem die Schiffe dem Ziel näher kommen, erhält die Frage, ob man zu denen gehört, die Pavonis lebend erreichen, mehr und mehr Bedeutung. Und die Erreichbarkeit des Ziels erschafft die Ungeduld des Wartens.
Wie wird es sein, wenn die Schiffe die weite Leere zwischen den Sonnen verlassen?
Wie wird er sein, der Flug durch ein fremdes Sonnensystem?
Wie wird sie sein? Die Neue Welt?
Wie wird sie die Menschen empfangen?
Und wie werden die Menschen mit ihr umgehen?
Wenn man sich an etwas klammert, bleibt man an dem, an dem man sich klammert.
Veränderung ist der Feind der Klammer.
Veränderung ist der primäre Weg der Evolution.
Denn ohne Veränderung hätte sich das Leben nicht entwickelt.
Ohne Veränderung würde es keine Menschheit geben.
Die Entwicklung einer intelligenten Spezies ist abhängig davon, dass es Veränderung gibt.
Umweltbedingte Anforderungen an neue Fähigkeiten sind die
Voraussetzung für evolutionäre Anpassung, bis hin zur Entwicklung komplexer kognitiver Fähigkeiten, so wie es, bei der Spezies Mensch, geschehen ist.
Komplexe kognitive Fähigkeiten sind die Voraussetzung für die Entwicklung von Technik.
Und Technik ist die Voraussetzung dafür, dass das irdische Leben den Weg ins Universum findet.
Veränderung ist der Motor, der die Menschheit vorantreibt.
Ungebremste Gier ist der Lenker, der den falschen Weg weist.
Ist es richtig, eine neue Welt zu suchen, ohne die alte Welt mit Liebe und Würde zu behandeln?
Geboren wird die Zukunft
aus den Taten der Vergangenheit.
J. P. Rohlin © 2017
Widmung
In der Hoffnung, dass wir lernen, die Erde so zu lieben, wie sie uns liebt.
Warum soll man sich jemanden zum Untertan machen, den man zum Freund haben könnte?
Timing
Komplex
Spekulationen
Katastrophe
Wertvoll
Unplanbar
Planbar
Randzone
Verpflichtungen
Allein unter Vielen
Styphus
Fragen
Auf geradem Weg
Unerwartetes
Miteinander
Slow down
Planeten
Endanflug
Warten
Der Moment
Der erste Schritt
Arbeit
Ausblick
14.05.2408: 266 Jahre nach Start
»Ich werde wohl nie erfahren, ob ich mich geirrt habe.«
»Nein, wirst du nicht. Und damit wirst du leben müssen. Aber ist schließlich auch das Schicksal aller Wissenschaftler, deren Prognosen die eigene Lebenserwartung übertreffen.«
Vashny Annadiems Lippen formierten sich zu einem mitfühlenden Lächeln. Ganze 10 Sekunden blickte sie auf den vor ihr sitzenden Genetiker.
»Na, das hilft dir wohl auch nicht.«
»Stimmt, zu wissen, dass es anderen auch so gehen mag, hat keine, absolut keine, Auswirkungen auf meine Stimmung. Wie denn auch? Würden Zahnschmerzen weniger schmerzen, wenn nicht nur ich, sondern alle sie haben?« Marten Trane sog hörbar Luft durch die Nase. Und dann war an seinen Wangen zu sehen, dass seine Zunge Zähne abtastete.
»Gehen wir es doch noch mal durch. Oder besser gesagt, sag es mir noch einmal.« Diesmal versuchte Vashny es mit einem aufmunternden Blick.
»Die vor 60 Jahren entdeckten Veränderungen des genetischen Codes der neuen Generation. Also der damals neuen Generation. Die ersten Prognosen deuteten auf eine Lebenserwartung von etwa 155 Jahren hin.«
»Ja, weiß ich. War ja dabei.«
»Ja, weiß ich. Ich war dabei, als du dabei warst.« Es klang wie eine Mischung aus Ironie und Missmut.
»Also, zurück zur Prognose. Die Vitalparameter von Menschen der neuen Generation, die heute über 80 Jahre alt sind, liegen über den zu erwartenden Werten. Sie müssten älter aussehen. Sie müssten sich älter fühlen. Und die organische Degeneration müsste deutlich über dem liegen, was wir beobachten können. Kurz gesagt, alle Werte, vom Kreislauf bis zu den Hormonen, hinken um 20 bis 30 Jahre hinterher.«
»So viel?« Vashny hob überrascht die Augenbrauen.
»Ja, so viel.« Marten zog das Wort ’viel‘ etwas in die Länge.
»Und das bedeutet, wie du dir sicher denken kannst, dass die bisher kalkulierte Lebenserwartung eine mehr als nur schwammige Prognose ist. Die ich übrigens gerne aktualisieren würde. Was mir aber schwerfällt, da ich keine Chance habe zu prüfen, ob diese Prognose dann einen höheren Wahrscheinlichkeitsgehalt hat. Das heißt, ich mache eine neue Prognose, ohne zu wissen, ob die besser ist, und ohne die Chance zu haben, sie noch ein weiteres Mal zu verbessern.« Und diesmal war es das Wort ’weiteres‘, das eine unnatürliche Länge erhielt.
»Ich auch nicht.« Aber kaum waren die Worte raus, merkte Vashny, dass sie missverständlich waren, weil Marten sie auf das ’verbessern‘ beziehen konnte.
»Ich meinte, ich werde auch nicht mehr erleben, ob sich deine neue Prognose, wenn du sie denn machst, als präziser erweist.« Etwas, was sich wie ein halbherzig unterdrücktes Seufzen anhörte, kam aus ihrer Nase.
»Und ja, ich weiß, nur weil es mir genauso geht, geht es dir dadurch um kein Stück besser. Apropos Stück, wie wäre es mit einem Stück Kuchen?«
»Jetzt?« Tonfall und Tonfrequenz erinnerten Vashny daran, dass 10 Uhr abends nicht die ideale Zeit für Kuchen war.
»Also gut, keinen Kuchen. Wollt dich ja nur aufheitern. Oder zumindest ablenken.«
»Misslungen.«
»Sag mal, seit Arne....«
»Misslungen!«
Vashny kniff die Lippen zusammen. Marten daran zu erinnern, dass er seit 2 Wochen alleine wohnte, war etwas, von dem sie sich nun fragte, wie sie überhaupt auf die Idee kommen konnte, es zu versuchen.
»Ich denke, ich mach’s.«
»Was?«
»Die Prognose.«
»Ich dachte, du wolltest nicht.«
»Muss aber. Die Auswirkungen sind zu gravierend. Denn wenn es stimmt, ist die empfohlene Lebensaltersgrenze, die für die neue Generation auf 145 Jahre angedacht wurde, viel zu gering angesetzt. Denn bei einer natürlichen Lebenserwartung, die mit ziemlicher Sicherheit 170 Jahre erreicht, wären das 25 eher 30 Jahre weniger Lebenszeit. Und das steht in keinem Verhältnis zu unseren 8 bis 12 Jahren.«
Abermals presste Vashny die Lippen aufeinander. Sie selbst war nun 90 Jahre alt. Und nichts sprach dagegen, dass sie die möglichen 112 tatsächlich schaffen konnte. Allein die ebenso empfohlene wie erwartete Altersgrenze verlangte danach, dass es nicht viel mehr als 100 sein sollten.
10 Jahre Leben. Zu opfern für das Wohl der Gemeinschaft. Zur Ermöglichung einer ausgeglichenen Geburtenrate. 10 Jahre, die in ihr danach riefen, gelebt zu werden.
»Ja, du hast recht. Aber du weißt auch, dass wir das nicht mehr entscheiden werden. Das ist ein Problem, was erst in 20, 30 Jahren akut werden wird. Niemand aus unserer Generation, niemand von uns Kurzlebigen, wird dann noch da sein, um Entscheidungen zu treffen.«
»Stimmt. Wir Normalen sind eine aussterbende Art. Trotzdem dürfen wir eine solche Information nicht zurückhalten. Sie muss publiziert werden. Denn je früher man planen kann, desto besser kann man planen. Was recht hilfreich ist, wenn die Geburtenrate so früh wie möglich angepasst werden soll.«
»Geburtenrate.« Vashny wiederholte nur dieses eine von Martens Worten.
»Es ist schon verrückt, wie technisch, wie unnatürlich unsere Gesellschaft ist. Und alles nur deswegen, weil die Schiffe nicht größer sind.«
»Hätte man sie größer bauen können? Ich weiß es nicht. Weiß ja nicht, was man vor 300 Jahren für Mittel und Möglichkeiten hatte. Vielleicht würde die Erde heute weit größere Schiffe bauen. Bessere. Schnellere. Sicherlich schnellere. Nützt uns das etwas?«
»Nein. Und weißt du, Marten, es macht auch überhaupt keinen Sinn, darüber nachzudenken. Es ist nun mal so, wie es ist. Und je mehr man es akzeptiert, desto weniger regt es einen auf.«
»Funktioniert das?« Skepsis lag in seinen Worten.
»Funktioniert es bei dir? Kannst du deine Emotionen einfach so mit ein bisschen Akzeptanz beruhigen?«
»Würde es dir helfen, wenn ich sage, dass es funktioniert?«
»Nein.«
»Also gut, es funktioniert nicht.«
»Und?« Wieder erschien ein Schmunzeln auf Vashnys Lippen. »Hilft es dir, es zuzugeben?«
»Nein, tut es nicht.«
»Na ja, was soll’s. Allzu lange müssen wir unsere Emotionen ja nicht mehr ertragen.« Vashnys Lächeln verschwand.
»Ja. Ein paar Jahre noch.« Es klang gedrückt. Und war weit davon entfernt, so etwas wie Akzeptanz zu enthalten. »Weißt du, Vashny, ich bin 89 Jahre alt. Und ich fühle keinen Unterschied zu der Zeit, wo ich 69 Jahre alt war. Und wenn ich meine DNA so ansehe, dann wird das die nächsten 10 Jahre auch so bleiben.« Martens Augen richteten sich auf die blanke Oberfläche des Tisches.
»Hundertfünfzehn.« Die Zahl war kaum mehr als ein Flüstern. »Das ist meine genetische Lebenserwartung.« Abrupt hob er die Augen wieder und blickte Vashny direkt an.
»Ich bin 89 Jahre und fühle mich jung. Ich mache Sport. Ich habe...., hatte eine Beziehung. Und es gibt kein einziges Organ in meinem Körper, das nicht gut funktioniert. Also warum bitte....«
»Nein, Marten, bitte nicht.«
»Ja, du hast recht. Zum Wohle der Gemeinschaft. Und 10 Jahre sind ja auch nicht zu verachten. Ist ja noch jede Menge Zeit. Jedenfalls solange sie vor einem liegt.«
»Dabei....«
»Nein, Marten, bitte nicht.«
»Möchtest du einen Kaffee?«
»Um diese Zeit?«
*
Ein Finger berührte ein Sensorfeld und das Bild auf dem Display schien einzufrieren.
Sinan Onru, Captain der Humanity und bedeutendste Persönlichkeit der neuen Generation der Langlebigen, blickte nachdenklich auf das Abbild von Marten Trane und Vashny Annadiem.
»Dave.«
»Was kann ich für dich tun, Sinan?«
»Die Aufzeichnung wurde manipuliert.«
»Das ist korrekt. Ein Abschnitt mit, als persönlich deklarierten, Daten wurde von Marten Trane, mit Zustimmung von Vashny Annadiem, gelöscht.«
»Gibt es eine Möglichkeit der Rekonstruktion?«
»Nein.«
Sinans Hand ballte sich zur Faust. Nur kurz zeigte es den Unmut, den er empfand. 50 Jahre lang hatten Marten und Vashny sein Leben begleitet. Und so, wie er den Genetiker kennengelernt hatte, betraf die Löschung dieser persönlichen Daten auf keinen Fall das, was unter die Rubrik Kaffeeklatsch fiel. Was immer er auch gesagt hatte, es hatte Bedeutung gehabt.
»Dave. Gibt es eine vollständige Originalversion?«
»Die von dir aufgerufene Aufzeichnung ist das Original.«
Wieder ballte sich Sinans Hand zur Faust. Und wieder einmal wünschte er sich, Dave aus den Schiffssystemen entfernen zu können. Ihn, der seit Beginn der Reise ununterbrochen präsent war und dessen Androidenkörper der Avatar des Schiffscomputers war. Dave konnte nicht entfernt werden. Er konnte nicht deaktiviert werden. Jedenfalls nicht, ohne damit die Humanity in ernste Schwierigkeiten zu bringen. Dave war das Schiff. So, wie Ave es bei der Intersolar war.
Aber Sinan hätte die restlichen Jahre seines Lebens darauf verwettet, dass Dave ihm, bezüglich der Aufzeichnung, etwas verschwiegen hatte.
Machte es überhaupt Sinn, den Androiden damit zu konfrontieren? Nein, sicherlich nicht. Denn wenn Marten ihn dazu verpflichtet hatte, die Aufzeichnung zu schützen, gab es keinen Weg, das zu ändern.
»Dave. Verifiziere folgende Spekulation und berechne ihren Wahrscheinlichkeitswert. Der gelöschte Teil der Aufzeichnung enthält Äußerungen von Marten Trane, die sich auf genetische Themen beziehen.«
»Wahrscheinlichkeitswert 78,7 Prozent.«
»Seine Aussagen beinhalten Informationen, die die Lebenserwartung seiner Generation betreffen.«
»Wahrscheinlichkeitswert 98,2 Prozent.«
»Hat Marten wissenschaftlich relevante Dokumentationen verfasst, die eine Erweiterung der Lebenserwartung der alten Generation zum Thema haben?«
»Nein.«
»Theorien, Spekulationen oder Aussagen, die belegen, dass er in dieser Richtung geforscht hat?«
»Keine, die über den Stand deiner eigenen Forschungen hinausgehen.«
»Aber er hielt es für möglich?«
»Ja.«
*
Ebenso monoton wie endlos wirkte der hell erleuchtete Korridor, durch den Sinan Onru schwebte. Auf den ersten Blick herrschte, hier im zentralen Rumpf der Humanity, absolute Schwerelosigkeit. Bis auf die Mikrogravitation des Materials der Korridorwand. Wie viele Tage würde es wohl dauern, bis sie einen leblos treibenden Körper zu sich heranziehen würde?
Leblos. Das Wort zog durch Sinans Gedanken. Und es fühlte sich seltsam an. 57 Jahre war es nun her, dass er das letzte Mal mit Marten Trane gesprochen hatte. Wenige Tage, bevor dieser im Alter von 104 Jahren gestorben war.
77 Jahre war er selbst damals alt gewesen. Und allzu gut erinnerte sich Sinan daran, wie er sich vorgestellt hatte, dass sein eigenes Leben nur noch knapp 20 Jahre dauern würde.
Und nun, mit 134 Jahren, wirkte die 160, die als definierte, empfohlene Altersgrenze galt, unangenehm nahe. Es gab zwar keinen Zwang, dieser Grenze zu folgen. Aber es wurde allgemein erwartet.
2247 war die erste Langlebige geboren worden. Als die Erste einer neuen Generation von Menschen. Vor 2 Monaten hatte ihr Leben geendet. Und niemand wusste, wie alt sie wirklich hätte werden können.
In 26 Jahren würde sein eigenes Leben vorbei sein. Jedenfalls, wenn er der offiziellen Regel folgte. Aber wo war seine wahre Grenze? 180? 190? Und wenn für ihn selbst 190 Jahre möglich waren, und sein Körper fühlte sich an, als wäre er dazu in der Lage, wie viele waren dann tatsächlich möglich?
Wo war das Maximum? Wie alt konnte ein Mensch der neuen Generation werden? Wenn man ihn ließe.
Zum Wohle der Gemeinschaft an Bord beider Schiffe war das etwas, was man erst herausfinden würde, wenn Pavonis II erreicht war. Wenn Menschen auf dem Planeten, der Neuen Welt, leben konnten.
100 Jahre noch. 70 Jahre zu viel. 70 Jahre zu weit...
Nach fast 2 Minuten schwerelosem Schweben erreichte Sinan das Ende des Korridors in Form eines Verteilerknotens.
Mehrere Korridore zweigten von ihm ab. Und der Captain der Humanity wählte den, der zum oberen Teil des Bugschilds führte.
Abermals folgte ein langsames Schweben durch einen langen Korridor. Nach 150 Metern und dem Passieren von 3 weiteren Verteilerknoten erreichte er sein Ziel. Ein Schott, mit der Aufschrift MLG. Multilevel Gravity Center.
Und direkt darunter, und sichtlich nachträglich angebracht, das Wort ‘Schleuder‘.
Das Wort entlockte Sinan ein Schmunzeln. Dann öffnete er das Schott und zog sich ins Innere eines radförmigen Raums. 10 Meter breit und 63,7 Meter im Durchmesser, hatte der Raum eine effektive Länge von 200 Metern.
Direkt vor seinen Augen entstand flimmernd die Zahl 0,5. Was bedeutete, dass das MLG auf einen Rotationswert eingestellt war, der per Fliehkraft eine Gravitation von 0,5 Gravo erzeugte. Es war der Wert, der einige Jahre nach Abflug der Schiffe als Standardwert, für das Arbeitsmodul, die Wohnmodule und das Landwirtschaftsmodul, eingeführt worden war.
Ein Wert, der dem Wohl der strukturellen Lebenserwartung des Schiffes diente. Und so ziemlich alles, was dem Wohl des Schiffes diente, diente letztlich auch dem Wohl der Menschen an Bord. Das Leben jedes Einzelnen hing davon ab, dass es den Schiffen gutging. Und jeder an Bord wusste, dass die Sicherheit der Schiffe mehr wert war, als das Leben eines Menschen.
Sinan fasste einen Haltegriff, brachte seinen Körper in Position und wartete, bis die Rotation des Raums die, zur Seite hin offene, Liftkabine in die richtige Position gebracht hatte.
Dicke Polster an den Seiten sorgten dafür, dass der Einstieg in die sich drehende Kabine keine blauen Flecken hinterließ. Manuell aktivierte Sinan den Lift, der ihn zum Boden des Centers brachte. Und während der Lift nach unten fuhr, begann die Gravitation spürbar zu werden.
Absolut menschenleer präsentierte sich das Multilevel Gravity Center Sinans Augen. Was nicht verwunderlich war. Denn im Schiff war es kurz nach Mitternacht. Eine Zeit, in der eher selten jemand an körperliches Training dachte. Und auch Sinan war nicht zum Trainieren hergekommen.
Prüfend machte der Captain einige Schritte über die blauweiße Laufbahn, die sich über den gesamten Innenraum des MLG erstreckte.
Dann begann er zu laufen. Langsam, eher gemütlich, ohne Hast und ohne Ehrgeiz. Einfach nur ein leichtes Laufen, das man auch als sehr schnelles Gehen hätte bezeichnen können.
Wenig mehr als eine Minute brauchte er, um die Runde zu vollenden. Direkt neben dem Lift blieb er stehen und kontrollierte seine Vitalwerte.
128/83 bei einer Pulsfrequenz von 116 und einer um 80 Prozent erhöhten Atemfrequenz. Werte, die zeigten, dass hier ein absolut fitter Körper unterwegs war.
»Gravitation auf 0,86 Gravo erhöhen.«
»Achtung, Gravitation wird auf 0,86 Gravo erhöht.«
Kein Fenster im MLG erlaubte den Blick auf die Sterne. Und nur ein Blick auf die Sterne, oder die Rotationsmodule, hätte anzeigen können, dass sich die Umdrehungsgeschwindigkeit des Raums erhöhte. Lediglich das Gefühl der Schwere nahm immer mehr zu. Und fühlte sich für Sinan bald so an, als ob er einen Raumanzug angelegt hätte. Denn seine, bei 0,5 Gravo, 46 Kilogramm Körpergewicht waren nun zu 79 Kilogramm geworden. 33 Kilogramm mehr Gewicht, die im Stehen deutlich erträglicher wirkten als im Laufen. Und genau damit begann der Captain nun.
Mit dem gleichen Tempo wie zuvor machte er sich auf die 200 Meter lange Runde. Blieb aber nach knapp 40 Metern stehen. Um gleich darauf die restlichen 160 Meter in einer Mischung aus Laufen und Gehen zurückzulegen. Und zurück am Start lehnte er sich mit dem Rücken an die Liftkabine.
148/92. Pulsfrequenz 146. Atemfrequenz 290 Prozent.
Minutenlang blieb Sinan einfach nur stehen. Dann ging er die wenigen Schritte zu einem Fitnessgerät hinüber und setzte sich auf dessen Bank.
0,86 Gravo. Das war die Gravitation von Pavonis II. Es war etwas mehr als das 1,7fache von dem, was an Bord herrschte. Und wie Sinan Onru es soeben, das erste Mal in seinem Leben, bewusst erlebt hatte, war es deutlich zu viel.
Der Sprung von 0,5 Gravo zu 0,86 Gravo war mehr als nur unangenehm. Und es würde nicht nur die Muskeln betreffen. Der gesamte Organismus würde leiden. Das Herz, es würde auf ewig stärker pumpen müssen, um das Blut in den Kopf zu treiben. Und die Gelenke würden auf Dauer das höhere Gewicht ertragen müssen.
Die Menschen mussten darauf vorbereitet werden. Dazu gab es keine Alternative. Und es war auch von Anfang an geplant gewesen. Die letzte Generation sollte mit mehr als 0,5 Gravo aufwachsen. 70 Jahre vorher sollte die Gravitation an Bord schrittweise erhöht werden. Pro Jahr um 0,01 Gravo. 36 Jahre lang. Kein schlechter Gedanke. Kein schlechtes Konzept. Und genug Zeit zur Anpassung.
Wenn sich nur nicht die Bedingungen geändert hätten. 70 Jahre, das war für die neue Generation weniger als die Hälfte der natürlichen Lebenserwartung. Und alle, die jetzt 60 Jahre alt waren, würden Pavonis lebend erreichen.
Nach mehr als einem halben Leben bei 0,5 Gravo Schwerkraft mussten alle an 0,86 Gravo gewöhnt werden. Und je früher man damit begann, desto besser und einfacher würde es sein. Reichte es, in 30 Jahren damit zu beginnen? Konnten Körper, die ihren Zenit an Regenerationsfähigkeit schon weit überschritten hatten, noch an die höhere Schwerkraft angepasst werden?
Sinans Kopf begann wie von selbst mit den Drehbewegungen eines Neins.
*
»Wir erhöhen die Gravitation.«
»Jetzt schon?« Centya Xiu nahm überrascht den Kopf ein wenig zurück. Die Bürgermeisterin der Intersolar, und ehemals Sinans Partnerin, verzog skeptisch die Lippen.
»Ist das nötig?«
»Ich war gestern in der Schleuder. Seitdem weiß ich, wie sich 0,86 Gravo anfühlen. Und ich muss zugeben, dass ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass es einem schon nach 40 Metern den Spaß am Laufen verdirbt.«
»40 Meter?« Centyas Augen wurden deutlich größer. Dann entstand ein besonderer Glanz in ihrem Blick, den Sinan nur zu gut kannte.
»Hat dir wohl die Motivation gefehlt. Vielleicht schaffst du ja mehr, wenn ich hinter dir bin.«
»Ich würde dich vorlassen.«
»Ja, so kenn ich dich. Aber wir können ja mal schauen, wer von uns weiter kommt.«
»Wie viel wiegst du.?«
»Ernsthaft?« Gespielte Entrüstung erschien in Centyas Mimik.
»Willst es nicht sagen?«
»Ich bin erschüttert, dass du es nicht weißt!« Gleich darauf zeigte ihr Gesicht eine professionelle Überlegenheit. »27 Kilogramm. Heute erst gewogen. Warum willst du das wissen?«
»Weil es einen nicht unbedeutenden Unterschied macht, ob man plötzlich 33 Kilogramm mehr wiegt oder nur schlappe 19 Kilogramm.«
»Ah, ja, verstehe. Müsst ich halt vorher was essen gehen.«
»Wenn das mal reicht.«
»Spaß beiseite. Hab‘ verstanden, dass wir da bald was machen müssen. Auch wenn es uns nicht mehr betrifft.«
»Aber es betrifft Menschen, die wir kennen. Und zwar alle, die in 100 Jahren noch keine 160 Jahre alt sind.«
Ein Hauch von Traurigkeit legte sich über Centyas Antlitz.
Die Gedanken der Bürgermeisterin der Intersolar waren bei ihrem gemeinsamen Sohn. Auch er würde Pavonis knapp verfehlen. Und das war allein ihre Schuld. Der Wunsch, ein Kind zu haben, war einfach zu drängend gewesen. Und weder sie selbst noch Sinan hatten damals damit gerechnet, dass die neue Generation weit älter werden würde, als die anfangs avisierten 160 Jahre.
Erst 20 Jahre später war das Thema einer zu frühen Geburt ins Bewusstsein der Menschen gekommen. Abrupt war daraufhin die Geburtenrate gesunken. Viele, viel zu viele, hatten versucht, es hinauszuschieben. Die Zuweisung zur Zeugung eines Kindes war verbunden mit dem Bestehen einer eingetragenen Partnerschaft. Ab Zuweisung hatte ein Paar 5 Jahre Zeit für die Zeugung eines Kindes, bevor die Zuweisung des Rechts auf Nachwuchs erlosch.
Und als die Kalkulationen begannen, ab welchem Geburtsdatum eine Chance bestand, Pavonis lebend zu erreichen, hatte es aufgehört mit den eingetragenen Partnerschaften. Auch die Auflösung von Partnerschaften war vorgekommen. Einzig aus dem Grund, um das Datum einer Zuweisung zu verschieben. Was sogar bis zum Antrag auf Schwangerschaftsabbruch geführt hatte. Nur eine Verordnung, dass bei medizinisch nicht notwendigen Schwangerschaftsabbrüchen das Recht auf Nachwuchs erlosch, hatte geholfen, solche Forderungen zu stoppen.
Aber letztlich hatte dies die Auswirkungen des Versuchs des ‘Geburtentimings‘ nur abgeschwächt. Und deshalb gab es eine demografische Lücke. In Form einer fast 20 Jahre umfassenden Zeitspanne, in der kaum Kinder geboren worden waren.
»Ich befürchte, dass eine Erhöhung der Schwerkraft nur denen gefallen wird, die Pavonis erreichen werden.« Centya sprach das aus, was Sinan wenige Minuten zuvor durch den Kopf gegangen war.
»Ich befürchte, es ist noch weitaus schlimmer.« Sinans Tonfall deutete an, dass er etwas ansprach, das ihm nicht behagte. Und das so unwillkommen wie unvermeidlich war.
»Was meinst du?«
»Ich meine, dass unsere Gesellschaft gespalten ist. Und zwar in die, die Pavonis erreichen können. Und in die, die vorher das Ende ihrer Lebenszeit erreichen werden.«
»Du sprichst von einer Zweiklassengesellschaft?«
»Ich spreche vom Neid derer, die das Schicksal der zu frühen Geburt nicht akzeptieren können. Ihnen wird die Erhöhung der Schwerkraft wie ein Apfel vorkommen, der direkt vor ihnen hängt und den sie dennoch nicht essen können. Wir mindern ihre Lebensqualität zum Wohl derer, auf die sie neidisch sind. Etwas zu tun, das sowas auslöst, ist das Gegenteil von dem, was man in einer Gemeinschaft tun sollte.«
»Ja, ich verstehe. Und du hast auch recht. Aber gibt es denn einen Weg, das zu verhindern? Wir müssen die Schwerkraft erhöhen. Wir haben keine andere Wahl. Vielleicht können wir es noch ein wenig hinauszögern. Aber letztlich müssen wir es tun.« Jede Spur von hintergründigem Humor war aus Centyas Augen verschwunden. Stattdessen beherrschte tiefe Nachdenklichkeit ihr Gesicht.
»Vielleicht sollten wir es mal demonstrieren. Erhöhen wir die Schwerkraft auf 0,86 Gravo. Nur damit alle wissen, was auf sie zukommt. Denn je besser es alle verstehen, desto mehr werden die, die Pavonis nicht erreichen, es akzeptieren.«
»Ja, vielleicht sollten wir das tun.« Wobei Sinan nicht wirklich überzeugt aussah. Einzig seine Verbundenheit zu seiner ehemaligen Partnerin ließ ihn ihren Vorschlag widerspruchslos annehmen.
»Aber dann sollten wir recht bald danach mit der Prozedur beginnen. Ich habe dafür mal einige Optionen durchkalkuliert. Wenn wir die Schwerkraft jedes Jahr um 0,005 Gravo erhöhen, erreichen wir den Zielwert in 72 Jahren.«
»Zweiundsiebzig.« Nur dieses eine Wort kam aus dem Display, auf dem Centyas Gesicht zu sehen war. Und beiden war klar, dass in dieser Zahl das Wissen stand, dass sie beide das Erreichen des Zielwerts nicht mehr erleben würden.
*
»Timing bedeutet nicht nur, dass man zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Es bedeutet auch, dass man etwas genau zu dem Zeitpunkt hat, an dem man es benötigt.« Sinan machte eine Pause, die er nutzte, um die maßgeblichen Teilnehmer der Konferenz ins Auge zu fassen. Darunter befanden sich die Chefingenieurin der Humanity, Xunshi Liang. Und ihr Kollege, Churan Shojanov, von der Intersolar.
»Unter Timing fällt somit auch, dass man all das, was man können muss, zu dem Zeitpunkt kann, zu dem man es braucht. Für uns bedeutet das, dass wir nicht nur technisch, sondern auch körperlich vorbereitet sein müssen.« Wieder machte Sinan eine Pause. Diesmal aber, ohne jemanden direkt anzusehen.
»Was das Körperliche betrifft, ist das Timing eine Frage der zeitgerechten Anpassung. Aber diese darf nicht oberflächlich sein. Es genügt nicht, einfach nur die Muskeln zu trainieren. Es genügt nicht, einfach nur stärker zu werden, um der Gravitation von Pavonis zu widerstehen. Das ist etwas, was man mit zwei, drei Jahren Training erreichen kann.« Erneut wartete der Captain der Humanity einen Moment.
»Was wir aber wirklich erreichen müssen, ist die genetische Adaption an die auf Pavonis, unserer neuen Heimat, herrschenden Umweltbedingungen. Gravitation, Druck, Sauerstoffgehalt, all das muss den Weg in unsere DNA finden. Und das gelingt nur, wenn wir die Umweltbedingungen, hier, auf unseren Schiffen, denen von Pavonis angleichen.«
Praktisch sofort kam von Churan Shojanov eine Wortmeldung, die von Sinan auch umgehend angenommen wurde.
»Eine Erhöhung des Drucks von 0,6 Bar auf 1,37 Bar wird die Belastung der Außenhüllen mehr als verdoppeln. Die Dekompressionswirkung bei einem Leck wäre katastrophal.«
»Weshalb wir das auch nicht tun werden.« Sinans Mimik ließ keinen Zweifel daran, dass er den Einwand ernst nahm.
»Jedenfalls jetzt noch nicht.«
Man konnte Churan und auch Xunshi ansehen, dass sie nicht nur irritiert, sondern besorgt waren. Ließ Sinans ’noch nicht‘ doch die Option zu, dass der Luftdruck sehr wohl erhöht werden würde. Nur eben jetzt noch nicht.
Aber Sinan fuhr fort, bevor Xunshi oder Churan einen weiteren Einwand erheben konnten.
»Wenn wir im Orbit von Pavonis sind und der Luftdruck hier an Bord 0,6 Bar beträgt, muss jeder, der vom Planeten zurück an Bord kommt, eine mehrstündige Dekompressionsphase durchlaufen. Das bedeutet, dass spätestens im Orbit von Pavonis die Schiffe einen Druck von 1,37 Bar aushalten müssen. Und nach allem, was ich über die Konstruktion weiß, sind sie dafür gebaut worden, das auch auszuhalten. Trotzdem schlage ich umfangreiche strukturelle Prüfungen vor, damit wir sicher sein können, dass Alter und Materialermüdung nicht zu einem Problem werden. Wie ich anfangs ja erläutert habe, ist Timing ein überaus wichtiges Thema. Und eine gute Vorbereitung ist der Schlüssel zu einem erfolgreichen Timing.«
Für einen kurzen Augenblick hatte Sinan den Eindruck, in einigen Augen ein stummes ’Warum wir?‘ zu sehen. Schließlich waren es noch 100 Jahre bis Pavonis. Und die meisten der Konferenzteilnehmer würden in 100 Jahren nicht mehr an Bord sein. Zumindest nicht mehr in ihrer jetzigen Form.
»Für unsere Kinder. Alles, was wir tun, ist für die Zukunft unserer Kinder. Denn je besser wir jetzt und heute damit beginnen, Vorbereitungen zu treffen, desto besser werden unsere Kinder vorbereitet sein. Und desto besser sie vorbereitet sind, desto leichter und erfolgreicher wird ihr Leben auf der neuen Welt sein.« Immer leiser wurde Sinans Stimme zum Ende hin. So leise, dass man gar nicht anders konnte, als aufmerksam zu lauschen, um zu hören, was er sagte.
»Alles, was wir tun, ist für die Zukunft unserer Kinder. Und genau betrachtet ist der Sinn unseres Lebens, unsere Kinder an das Ziel dieser Reise zu bringen.« Das Gesicht seines Sohnes flammte in ihm auf. »Oder zumindest deren Kinder.«
*
»Nette Rede.« Gale Losh hatte abgewartet, bis alle Konferenzteilnehmer den Raum verlassen hatten, bevor sie sich zu Sinan und Centya gesellte.
»So sinnvoll, wie notwendig.«
»Ja, notwendig wird es wohl.« Einige Male glitt Gales Blick zwischen Sinan und Centya hin und her. Was der Bürgermeisterin der Intersolar nicht so gut gefiel.
»Es wird nur nicht allen gefallen.«
»Die Erhöhung der Gravitation geschieht so langsam, dass sie praktisch nicht fühlbar ist. Das betrifft auch die 0,005 pro Jahr. Die Rotation wird nicht sprunghaft erhöht, sondern sehr langsam. Wie lange genau, Sinan?«
»Zweimal 0,0025 innerhalb von einer Woche.«
»Habt ihr mal darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen wird, wenn die Bewegung der Sterne immer schneller wird? Wenn sie fast doppelt so schnell vorbeigleiten.«
»1,7 mal so schnell.«
»Gut, dann halt nur 1,7 mal so schnell. Auch das wird nicht gerade angenehm. Allein, wenn ich es mir vorstelle, wird mir schon schwindlig.«
»Ich denke nicht, dass du es erleben wirst.«
Eine unangenehme Spannung entstand zwischen ihnen. Dann war es Gale Losh, die sich als Erste entschloss, es nicht an sich heranzulassen. »Na ja, man kann ja die Abdunklung der Fenster auch bei Tag beibehalten. Wer braucht schon Aussicht. Gibt ja sowieso nichts zu sehen da draußen. Nichts, gar nichts. Außer immer nur dem Gleichen.«
»Abdunkeln?« Eher ungewollt kam das Wort über Centyas Lippen. Mehr als Feststellung gedacht, als wie eine Frage.
»Ja. Warum nicht. Denn wenn man nicht sieht, dass sich was bewegt, merkt man es auch nicht. Und manchmal ist es auch besser, wenn man weniger sieht.« Wieder schwankte ihr Blick zwischen Centya und Sinan.
*
Mit zügigen Schritten betrat Sinan die Kommandozentrale der Humanity. Den Kommandositz nicht wahrnehmend, wandte er sich nach rechts. Noch im letzten Schritt griff er nach dem Sitz neben Xunshi Liang und setzte sich.
»Du willst wissen, ob sie es aushält.« Xunshis Kopf drehte sich ein wenig zur Seite, gerade so weit, dass sie Sinan aus den Augenwinkeln heraus ansehen konnte.
»Den Test meine ich.«
»Ja, richtig.« In Gedanken verglich Sinan das Antlitz der Chefingenieurin mit dem von Centya. Und obwohl seine ehemalige Partnerin 57 Jahre älter war als Xunshi, war optisch davon nicht viel zu sehen. Was daran lag, dass Centya eine, selbst für Langlebige, außergewöhnliche Vitalität hatte. Und Sinan überlegte in diesem Moment, ob das vielleicht sogar der Grund für ihre Trennung gewesen war.
»Also, welche Belastungen verursachen wir, wenn wir die Rotation soweit erhöhen, dass wir auf 0,86 Gravo kommen?« Er hörte die Worte, während er sie sprach, so als hätte er sie selbst gar nicht gesprochen.
»Knapp 70 Prozent des empfohlenen Maximums, bei einer zusätzlichen Toleranz von 20 Prozent. Kurzfristig sollte uns das keine Probleme bereiten. Langfristig führt es zu einer Reduzierung der Betriebsdauer der Rotationsfähigkeit.«
»Um wie viel Jahre?«
»Die Module sind ausgelegt für mindestens 450 Jahre wartungsfreien Betrieb. Die Erhöhung der Rotationsgeschwindigkeit auf 0,86 Gravo war dabei für die letzten 70 Jahre Flug kalkuliert. Also selbst wenn wir 30 Jahre früher damit beginnen, dürfte es keine Probleme geben. Schließlich hat sich die Flugzeit, durch die Beschleunigung auf 17.200 Kilometer pro Sekunde, ja um mehr als 30 Jahre verkürzt. Wir sollten uns also wegen der zusätzlichen Belastung keine Gedanken machen müssen.«
»Und das Gleiche gilt auch für die Intersolar?«
»Ja, absolut. Die Schiffe sind schließlich baugleich.« Ein subtiles Gefühl, dass in Sinans Frage noch mehr steckte, entstand in Xunshi.
»Hast du es mit Churan besprochen?«
»Nein, noch nicht. Warum?«
»Kennst du die Geschichte der Intersolar?« Der Hauch einer Rüge lag in Sinans Stimme.
»Meinst du die ganzen 270 Jahre? Pardon, 280 Jahre, wenn man die Kiellegung hinzuzieht.« Betont langsam drehte Xunshi ihren Stuhl um 90 Grad nach rechts.
»Oder meinst du den Vorfall beim Abflug?«
Beide Augenbrauen des Captains hoben sich und formulierten eine stumme Aufforderung, weiterzusprechen.
»Ja, ich kenne die Daten. Ein partieller Triebwerksausfall beim Fluchtmanöver aus Jupiters Orbit zwang die Intersolar in einen Überschlag. Die Beschleunigungskräfte lagen aber 12 Prozent unter dem Toleranzwert. Zudem waren die Rotationsmodule fixiert. Wir können davon ausgehen, dass es keinen Schaden verursacht hat. Auch keinen strukturellen, der sich erst später auswirkt.«
»Sprich trotzdem mit Churan.« Bestenfalls Dave wäre es aufgefallen, dass Sinan ein anerkennendes Nicken in dem Moment abbrach, in dem es entstehen wollte.
»Also gut, kann ja nicht schaden.« In einer geschmeidigen Bewegung stand die Chefingenieurin auf. »Jetzt?«
»Ja. Jetzt.«
»Gut. Ich war schon länger nicht mehr auf der Intersolar. Kann wirklich nicht schaden, wenn ich mir das Schiff mal wieder ansehe.«
Für einige Momente blickte Sinan sie nur stumm an. Während Xunshi genau diese Momente lang darauf wartete, dass der Captain einen Einwand vorbrachte.
»Ich komme mit.«
Für Xunshi wirkte es fast ebenso wie ein Einwand.
*
Noch auf dem Weg zum Wohnmodul und den dort heckseitig angebrachten Shuttlehangars blieb Xunshi plötzlich stehen.
»Wir nehmen das nächste Shuttle.«
Drei Schritte machte Sinan noch, bevor er sich umdrehte und die Chefingenieurin mit einem fragenden Blick bedachte, in dem das Verlangen nach einer ausführlichen Erklärung lag.
»Vertrau mir.«
»Eine Stunde.«
»Eine Stunde und 12 Minuten, um genau zu sein. Sagen wir einfach, ich brauch vorher noch einen anständigen Cappuccino. Am besten im Kuschenkos.«
Unwillkürlich drehte sich Sinans Blick in Richtung des Freizeitdecks. Tatsächlich war es nicht weit, bis zum berühmtesten Café beider Schiffe.
Gerüchteweise hatte Nureja Kenli, die erste Captain der Humanity, es aufbauen lassen. Nur 12 Meter vom Obelisken entfernt. Dem schwarz glänzenden Denkmal Huw Kuschenkos. Dem einzigen Denkmal, das an Bord beider Schiffe existierte. Und niemand wusste mehr, welchen Namen das Café ursprünglich mal gehabt hatte, bevor die Menschen angefangen hatten, es einfach nur Kuschenkos zu nennen.
Fast 270 Jahre war das nun her. Und egal, wie sehr Sinan sich vorstellte, was das für eine Zeitspanne war, es gelang ihm nicht. Wie viele Geschichten hatten die Schiffe erlebt? Wie viele Schicksale? Was war in diesen 270 Jahren alles geschehen, was man Historie hätte nennen können? Eine Historie, die nicht annähernd vergleichbar war, mit dem, was man auf der Erde unter Historie verstand.
Verglichen mit den Geschichten der Erde, herrschte auf den Schiffen eine monotone Gleichförmigkeit. Es gab fast nichts, was sich veränderte. Keine bedeutenden Entwicklungen. Erst recht kein Entdecken neuer Länder. Oder die Eroberung neuen Lebensraums. Das Leben an Bord war monoton.
Gewiss, das Leben war komfortabel. Es war geradezu idyllisch. Es gab keinerlei Probleme. Nichts, das geeignet gewesen wäre, eine echte Existenzangst zu verursachen.
Sicher, jede größere Kollision würde die Existenz aller praktisch sofort beenden. Mitunter derart schnell, dass niemand es überhaupt bemerken würde. Man würde tot sein, bevor man den Einschlag von etwas, das nur wenig größer als ein Fußball sein musste, auch nur spüren konnte. Eine Kollision oder ein Unfall war das Einzige, was die Existenz gefährden und vorzeitig beenden konnte. Gut, vielleicht noch der Ausfall der Nahrungsmittelproduktion. Oder ein Versagen der Lebenserhaltung. Aber all das war nur technisch.
Eine soziale Ursache hingegen, die die Existenz gefährden konnte, gab es nicht. Alle an Bord wurden gleich gut versorgt. Für alle an Bord gab es Privaträume. Jeder an Bord konnte über sein Leben frei entscheiden. Konnte wählen, ob er arbeiten wollte oder sein Leben Spiel, Sport und Künsten widmete. Niemand musste Angst haben, irgendwann nicht mehr ausreichend versorgt zu werden. Diese Form der Existenzangst gab es an Bord nicht. Und vielleicht war genau das ein Fehler.
Erst als er das Kuschenkos und den schräg dahinter stehenden Obelisken sah, fiel Sinan auf, dass er den ganzen Weg über schweigend neben Xunshi hergegangen war. Ohne dass sie, die als eher redselig bekannt war, auch nur den Versuch eines Gesprächs gestartet hatte.
Und gerade diese Einfühlsamkeit, dieser Verzicht, dem Rededrang nachzugeben, ließ Sinan an seinen Sohn denken. Wie viele Jahre war Tensin älter? Waren es 8 oder 9? Und spielte es eine Rolle? Beide waren in einem Alter, wo die Frage des Nachwuchses längst ein Thema war. Beide hatten noch nicht erkennen lassen, dass sie Nachwuchs planten. Etwas, was Sinan im Fall seines Sohnes so langsam zu denken gab. Rein theoretisch hatte Tensin noch 80 Jahre Zeit damit. 70, wenn er das Aufwachsen seines Kindes miterleben wollte. Nur würde er dann kaum noch eine Frau unterhalb der Menopause finden.
Noch war Zeit. Noch gab es keinen Grund zur Eile. Aber in spätestens zwanzig Jahren würde es zum Thema werden. Aber in zwanzig Jahren war Sinans offizielle Lebenszeit vorbei. In zwanzig Jahren würde er nicht mehr da sein, um zu erfahren, ob es einen Enkel geben würde oder nicht.
Aber die Vorstellung, dass es keinen geben würde, lag weit jenseits dessen, was der Captain der Humanity als akzeptabel ansehen konnte. Denn zwanzig Jahre waren ziemlich genau zehn Jahre zuviel. Sein Sohn musste demnächst Aktivitäten entwickeln. Unbedingt.
»Den Tisch hier?« Einladend deutete Xunshi auf den Tisch, der am äußeren Rand der Terrasse stand. Von dort hatte man einen guten Blick auf den Obelisken. So gut, dass man sogar die Inschrift erahnen konnte.
»Ja.« Nur dieses kurze ’Ja‘ kam über Sinans Lippen, wobei er es bewusst nicht einmal hörte. Denn seine Gedanken waren immer noch bei seinem Sohn. Und ohne dass er es merkte, begannen diese Gedanken seine Augen auf die Hüften der Frau vor ihm zu lenken.
Tief in seinem Unterbewusstsein prüfte ein eher winziger Teil seines Gehirns die Größe von Xunshis Becken. Der gleiche Teil kam zu dem Ergebnis, dass es für die Geburt eines Kindes ausreichend dimensioniert war.
Und ohne es zu merken, ohne zu wissen, warum, erhöhte sich bei Sinan die Bereitschaft zur Akzeptanz der Frau gegenüber, die er bisher nur rein beruflich betrachtet hatte.
Ebenso unbewusst entstand in ihm eine Vorstellung. Und die Vorstellung legte, ebenso unbewusst, die Vorlage für eine Idee.
»Möchtest du auch einen Cappuccino?«
»Was? Ah, ja, Cappuccino. Ja, nehm ich.«
»Zwei Cappuccino! Extra Schokostreusel.« Xunshi lehnte sich entspannt zurück. Hielt dabei aber ihren Blick zur Bar gerichtet, wo eine Serviceeinheit mit der Zubereitung begann.
»Wie lange bist du jetzt Chefingenieurin?«
»Was? Ich? Mmmm, 7 Monate. Ziemlich genau 7 Monate.«
»Fühlst du dich dem gewachsen? Oder möchtest du, dass wir Arthur hinzuziehen?«
»Traust du es mir nicht zu?«
»Doch absolut.« Das ’doch‘ klang lauter als gewöhnlich. Als ob Sinan versucht war, Wogen zu glätten, bevor sie entstanden.
»Ich dachte nur, es könnte nützlich sein.«
»So viel ich weiß, hat Arthur sich der Malerei gewidmet. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, hatte ich den Eindruck, dass er von Technik nichts mehr wissen will. Klar, natürlich weiß er noch so einiges über das Schiff und seine Technik. Ich bin mir nur nicht sicher, ob er sein Wissen noch mal einsetzen will.«
»Du meinst, er würde ablehnen?«
»Ich meine nur, dass es ihm keinen Spaß machen würde. Mehr meine ich nicht und mehr weiß ich nicht.«
»Du musst es wissen.«
»War ja lange genug seine Assistentin.«
So unauffällig wie überhaupt möglich versuchte Sinan, in ihrer Mimik zu lesen. Nutzte dabei auch, dass Xunshi sich auf den Cappuccino konzentrierte, der gerade serviert wurde.
Aber keine Spur von Verärgerung war zu erkennen. Eher eine geruhsame Entspanntheit. Seine indirekten Zweifel an ihrer Kompetenz hatten sie emotional also nicht berührt.
Zufrieden griff Sinan nach seiner Tasse. Probierte vorsichtig den noch viel zu heißen Cappuccino, indem er lediglich etwas von der Sahne nahm.
Emotionale Stabilität und Ausgewogenheit. War das nicht die beste Voraussetzung für eine stabile Beziehung? Eine, die Aussicht auf längeren Bestand hatte?
Technisch würde es passen. Intellektuelles Niveau. Sportliche Interessen. Neigungen. Konversationsniveau. Alter. Ja, es würde alles passen. Allein die Emotionen fehlten. Und das war etwas, was man weder planen noch steuern konnte. Nur die Voraussetzungen, die konnte man schaffen. Und das Erste, was es dazu brauchte, war Kontakt.
*
Xunshi wartete gerade mal solange, bis Sinan sich in seinem Sitz im Shuttle zurechtgesetzt hatte.
»Also gut, es gab natürlich einen Grund, warum ich noch ins Kuschenkos wollte. Und es war nicht wegen dem Cappuccino.«
»So wa...«
»Wir sind zwar in einem gewöhnlichen Shuttle, aber es ist kein gewöhnlicher Flug. Eigentlich sollte es geheim bleiben. Auch mir hat man es nur im Vertrauen gesagt. Deswegen durfte ich es dir vorher auch nicht sagen.«
Ganz langsam begann eins von Sinans zwei Ohren mit dem Versuch, den Schwall der Worte einfach durchzulassen. Jedenfalls solange, bis es Worte waren, die das eigentliche Thema betrafen.
»An dem Shuttle selbst ist auch nichts ungewöhnlich. Auch nicht am Flug. Ist also ein ganz normaler Flug zur Intersolar rüber. Aber trotzdem ist es etwas ganz Besonderes.«
Wären die Trommelfelle seiner Ohren nicht absolut dicht gewesen, Sinans inneres Seufzen wäre qualmend aus ihnen herausgekommen.
»Weiß gar nicht, wie man so etwas überhaupt geheimhalten konnte. Sind ja offizielle Daten. Kann ja jeder nachlesen. Und wenn man da nur ein wenig rechnet.«
Redeschwall. Das Wort erschien bildhaft in Sinans Kopf und wurde mit jedem von Xunshis Worten dicker und breiter. Und gerade als er sich für deren nächsten Worte wappnete, wurden Lautsprecher aktiv.
»Liebe Gäste, hier spricht euer Copilot. Ich habe die Ehre, euch mitteilen zu dürfen, dass unser Pilot, Askem Darnell, gleich zu seinem fünfunddreißigtausendsten Shuttleflug startet.«
»Verdammt!« Das Wort kam mit tiefer Herzhaftigkeit von Xunshis Lippen. Und Sinan konnte nicht anders, als ein breites Grinsen aufzusetzen.
*
»Wie hat er das eigentlich geschafft? Ich meine fünfunddreißigtausend Flüge. Das ist eigentlich nicht vorstellbar.«
»Nein? Dann rechne es doch mal aus. Da hätten wir 56 Jahre als Pilot mit 2 Flügen pro Tag, an etwa 320 Tagen pro Jahr. Voila, schon sind wir bei 35.000.«
»Schon.« Es klang, als ob Sinan das Wort zum ersten Mal in seinem Leben aussprach. Denn immer noch konnte er sich nicht vorstellen, wie es sein konnte, dass man 35.000 Mal zwischen der Humanity und Intersolar hin- und herflog.
Was gleich darauf die Frage in ihm auslöste, wie viele Flüge es wohl insgesamt gegeben hatte. Wie oft waren Shuttle in den letzten 270 Jahren zwischen den beiden Schiffen unterwegs gewesen? Ein Teil von ihm weigerte sich, die Zahl zu kalkulieren. Ein anderer Teil von ihm nahm die 35.000 Mal 10 und die Summe davon Mal 5.
Und der Teil von ihm, der sich eben noch geweigert hatte, die Zahl zu berechnen, behauptete nun, dass sie unmöglich stimmen konnte. Wohl wissend, dass in den nächsten 100 Jahren noch einmal eine halbe Million Flüge hinzukommen würden.
»Unglaublich«
Es war ein Wort, bei dem sich Xunshi nicht erinnern konnte, wann sie es jemals aus Sinans Mund gehört hatte. Aber gab es denn überhaupt ein treffenderes Wort? Noch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, erreichten sie Centya Xius Büro.
»Sinan, Xunshi. Kommt, Churan wartete schon auf uns. Gab es Probleme mit dem Shuttle?« Wobei die Frage sichtlich an Sinan gerichtet war.
»Nein. Es gab nur noch etwas Diskussionsbedarf bezüglich der Landwirtschaft.« Eher beiläufig formulierte Centyas ehemaliger Partner seine Antwort. Von der Xunshi wusste, dass sie so nicht stimmte. War es eine emotional stimulierte Ausrede? Die eigentlich gar nicht notwendig war?
Centya verzichtete auf die Nutzung eines Konferenzraumes und führte ihre Gäste zu Churan Shojanovs Büro. Der Chefingenieur der Intersolar hatte sich offenbar vorbereitet. Und es betraf nicht nur einen zusätzlichen Stuhl. Auch seine Möbel hatte er so angeordnet, dass 5 Personen an einem Tisch derart Platz fanden, dass alle einen Blick auf das dreidimensionale Abbild der Intersolar hatten, das als Hologramm an dem Kopfende des Tisches schwebte, an dem kein Stuhl platziert war.
Direkt neben Churan stand Ezra Tunali, die Captain der Intersolar. Schräg hinter ihr befand sich ein zusätzlicher Tisch, mit Kaffee, Tee und Gebäck. Und ein filigraner, kaum eineinhalb Meter großer Androide wartete auf die Anweisung, etwas davon zu servieren.
»Sinan, Xunshi, schön, euch zu sehen.« Ezra Tunali deutete lächelnd auf die freien Stühle. »Bitte setzt euch doch. Wie war der Flug? Centya erwähnte etwas von Shuttleproblemen.«
»Es lag wohl eher an meinen Füßen.« Xunshi hob kurz die Schultern und fügte ein charmantes Lächeln hinzu. »Nächstes Mal kommen wir dafür zu früh.«
»Hauptsache, ihr seid hier. Wir können dann auch gleich anfangen.« Ezra wartete noch bis sich alle gesetzt hatten, bevor sie fortfuhr. »Ich denke, wir sind uns einig, dass die Schwerkraft erhöht werden muss. Wir sind uns auch einig, dass vor der eigentlichen Erhöhung eine Demonstration erfolgen soll, bei der wir die Schwerkraft kurzfristig auf den Endwert von 0,86 Gravo erhöhen.« Zwei Wimpernschläge lang wartete sie auf etwaige Einwände.
»Ich war neugierig. Hab’s ausprobiert und eine halbe Stunde lang 0,86 Gravo erlebt. Und ich muss zugeben, es hat mir ganz und gar nicht gefallen. Was mich betrifft, können wir aus der geplanten halben Stunde 10 Minuten machen. Wir könnten aber auch die Bürger nacheinander ins Multi Gravity Center schicken. Dort kann jeder, und zwar so lange er will, erleben, wie sich eine Schwerkraft anfühlt, die 1,7 mal höher ist, als das, was man gewohnt ist.«
»Mag sein. Für einen einfachen Eindruck mag das ja genügen. Aber wir wollen keinen Eindruck vermitteln. Wir wollen, dass die Menschen es mit dem Leben an Bord verbinden. Und deshalb sollten sie das Gefühl der höheren Gravitation auch dort haben, wo sie täglich leben.« Sinan sprach nun in der für ihn typisch eindringlichen und fordernden Art, die Centya nur zu gut kannte.
»Und sie sollen auch keine Chance haben, zu entscheiden, wann sie es erleben, oder wie lange es dauert. Der Ausschluss jeder persönlichen Einflussnahme ist ein wichtiger Faktor, um das Erlebnis als unabänderlich zu empfinden.«
Centya fragte sich, wie viele im Raum wussten, dass Sinans erstes Studium das der Sozialpsychologie gewesen war. Lange bevor er die Laufbahn gestartet hatte, die ihm am Ende den Posten des Captains der Humanity ermöglicht hatte. Und den er, mit zwei Unterbrechungen, seit 73 Jahren innehatte.
Nie zuvor hatte jemand dreimal das Amt des Captains übernommen. Niemals zuvor war jemand 42 Jahre lang ununterbrochen Captain gewesen.
Aber vor Sinan Onru hatte kein Captain eine höhere natürliche Lebenserwartung als 112 Jahre gehabt. Und es hatte für einen Captain eine Altersgrenze von 70 Jahren gegolten.
All das war Historie. Kaum mehr als 300 der alten Generation lebten noch. Die Epoche der ’Kurzlebigen‘ neigte sich unwiderruflich ihrem Ende entgegen. Es war abzusehen, wann keiner von ihnen mehr geboren werden würde. Sie wussten es. Und hatten sich weitgehend zurückgezogen. Kaum jemand von ihnen war noch bereit, ein Amt in der Schiffsführung zu übernehmen. Was dafür gesorgt hatte, dass die alten Regeln nicht mehr gebraucht wurden. Weshalb es für das Amt des Captains keine Altersgrenze mehr gab. Und aus der Sicht eines Langlebigen waren 73 Jahre weniger als die Hälfte eines Lebens.
Die Evolution selbst hatte die Grundlage für neue Regeln geschaffen. Und nur die Evolution wusste, was sie sich dabei gedacht hatte.
Ebenso konnte auch nur die Evolution die Antwort darauf geben, warum die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht nur die Fortpflanzung betrafen. Um wie viel einfacher könnte es sein, wenn....
»...unterbewusstes Empfinden. Ja, das sehe ich genauso. Wir sollten es also tun.«
Effektiv gereizt und wachgerüttelt, von dem Wort ’unterbewusstes‘, schob sich Centya Xius Konzentration wieder in den Vordergrund und verdrängte alle Gedanken an Sinans Vergangenheit. Mit routiniert überspielter Verlegenheit richtete sie ihre Augen auf Churan, der aber keine Anstalten machte, noch etwas hinzuzufügen.
»Dann wäre da nur noch die Frage des Wann.«
»Ja, wann?« Nur, um zu demonstrieren, dass ihre volle Aufmerksamkeit der Gesprächsrunde galt, stellte Centya die Frage des Wann‘s in den Raum. Noch bevor sie bemerkte, dass sie Sinan damit indirekt zustimmte. Und die Verlockung, Widerspruch zu üben, kam so um einen Hauch zu spät.
»Morgen, übermorgen. Es spielt keine Rolle. Wir könnten es jederzeit machen. Wir brauchen dafür nicht einmal Vorbereitungen. Aber wir sollten es natürlich ankündigen.«
»Churan hat recht. Wir sollten, nein wir müssen, es ankündigen. Drei, vier Tage sollten genügen. Ist ja keine große Sache. Und in 40 Minuten vorbei. Falls wir bei der geplanten halben Stunde bleiben.«
Nur kurz war Shojanovs Nicken, mit dem er sich bei Xunshi, für deren Zustimmung, bedankte.
»Gut, dann schlage ich vor, wir machen es in vier Tagen. Von heute an. Jemand dagegen?« Ganz bewusst hatte Sinan diese Form der Abstimmung gewählt. Denn es war eine der einfachsten Methoden, um zu verhindern, dass Zweifler, bei einer Frage nach Zustimmung, Ablehnung zeigen konnten, nur dadurch, dass sie ihre Hand nicht hoben. Und da keiner einen Einwand erhob, lehnte Sinan sich sichtlich zufrieden zurück und betrachtete das Thema als erledigt.
»Was ist mit der Landwirtschaft?« Die Frage kam so laut wie unerwartet. Und sie kam von Ezra Tunali.
Die Entspannung wich aus Sinans Gesicht, während sich der Captain der Humanity wieder vorbeugte.
»Die Landwirtschaft ist nicht betroffen. Keine der Pflanzen wird je auf Pavonis stehen. Und niemand wird längere Zeit im Landwirtschaftsmodul arbeiten. Es gibt also keinen Grund, die Rotationsgeschwindigkeit des Moduls zu erhöhen.«
»Ich habe auch nicht an Pflanzen oder Menschen gedacht. Sondern an die strukturelle Belastung des zentralen Rumpfs und der Rotationsgetriebe. Ich darf daran erinnern, dass das Landwirtschaftsmodul sich gegenläufig dreht. Wir sollten also kalkulieren, wie sehr die Erhöhung der Rotation die Harmonie der Drehimpulse der Rotationsmodule beeinträchtigt.«
Ungewöhnlich lange blieb Sinan ruhig. Und nur er selbst wusste, wie sehr es ihn ärgerte, dass er selbst nicht daran gedacht hatte. Der Ärger wurde noch größer, als er sich vorstellte, dass eine einzige kurze Frage an Dave Klarheit gebracht hätte. Aber Dave jetzt, von der Konferenz aus, zu kontaktieren, stieß auf emotionalen Widerstand. Plötzlich, noch während er eine Antwort formulierte, fiel ihm etwas ein.
»Es würde Auswirkungen auf die Bewässerung haben. Die humusführende Schicht ist zwar nur 30 Zentimeter dick, aber eine höhere Gravitation wird das Wasser zum unteren Bereich hin verschieben. Für alle Pflanzen mit einem flachem Wurzelwerk wäre das ungünstig. Bevor wir über eine Erhöhung der Gravitation der Landwirtschaftsmodule nachdenken, muss geklärt werden, welche Wirkung es auf die Erträge haben wird.«
»Dann steht potentielle Ertragsleistung konträr zur Frage der strukturellen Integrität. Da fragt man sich doch, was davon wichtiger ist.« Ohne es zu wissen, schob sich Centyas Kinn ein wenig vor. Etwas, was Sinan aber nicht entging.
»Umso genauer müssen wir es prüfen.«
Und Centya fragte sich, was Sinan daran so gut fand, wie er es offensichtlich tat.
*
»Wenn wir schon mal hier sind, sollten wir die Gelegenheit nutzen.«
Xunshi Liang blickte durch die große Fensterfront des Starset Café hinab zum Freizeitpark. Gerade noch sichtbar, bevor die Wölbung des Bodens ihn den Blicken entzog, schimmerte der Beginn des Wüstenabschnitts. Ein Besuch dort war verlockend. Umso mehr, da die Humanity über eine ähnliche Landschaft nicht verfügte. Und da kam ihr Sinans Vorschlag, noch einen Tag länger an Bord der Intersolar zu bleiben, nicht ungelegen.
»Du meinst, da wir ja schon mal alle wichtigen Leute beisammen haben, könnten wir das Thema Landwirtschaftsmodul hier und jetzt klären. Innerhalb von nur einem Tag.«
»Oder zwei Tage. Potentiell so viele, wie es braucht.«
»Ja, stimmt eigentlich. Dringende Terminsachen gibt’s ja eher selten. Besser gesagt, keine. Jedenfalls hab ich noch keine erlebt. Auch das hier würde ich nicht als überaus dringend bewerten.«
»Wäre doch mal was anderes.«
»Wieso? Wie denn?«
»Indem wir es einfach als dringend betrachten. Wir können nicht wegdiskutieren, dass wir ein Problem haben, das gelöst werden muss. Je früher und besser wir es lösen, desto erfolgreicher sind wir. Und Erfolg zu haben, ist für manche Menschen vergleichbar mit einem dringenden Bedürfnis. Also, je mehr Erfolg du haben willst, ich meine als Chefingenieurin, desto mehr solltest du unser Problem als dringlich betrachten.«
Für die Dauer von mindestens 5 normalen Atemzügen blieb Xunshis Mund offen stehen, ohne dass ein Hauch von Luft ihn passiert hätte.
»Tee. Ich mag noch einen Tee. Hallo! Service! Noch einen Tee! Apfel-Zimt. Gesüßt mit grünem Sirup.«
»Ist was? Magenschmerzen? Sodbrennen?«
»Nein, üb‘ nur schon mal, dringlich zu sein.«
*
Hätte Xunshi nur ein einziges Mal zurückgeblickt, hätte sie auf Sinans Lippen ein zufriedenes Lächeln sehen können. Aber so blieb es ihr verborgen. Und als sie das Ende des Korridors erreichten, der ins Zentrum des Rotationsgetriebes des Landwirtschaftsmoduls führte, zeigte Sinans Gesicht wieder nichts anderes als ein professionelles Studieren seiner Umgebung.
Immer noch schwerelos schwebend, erreichten sie den Eingang zum Lift, der sie auf die äußerste Ebene des Landwirtschaftsmoduls brachte.
»Ist es denn zu glauben, dass ich hier noch nie war.« Xunshis Augen klebten förmlich an der transparenten Liftwand, als die Kabine Ebene für Ebene durchquerte und der untersten Ebene entgegensank. Und mit jeder Ebene erhöhte sich die Schwerkraft. 0,5 Gravo waren es, als der Lift anhielt und sie ihn verließen. Gerade, als ein Mann ihn erreichte, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Sinan Onru hatte.
»Xunshi, du kennst ja meinen Sohn Tensin.«
»Jaaa... wann war das noch gleich....«
»Bei meiner Wiedereinführung als Captain der Humanity. Im August vor sieben Jahren.«
»Stimmt.« Xunshis Gesicht hellte sich sichtlich auf. »Ich erinnere mich. Und ob ich mich erinnere. An dem Tag habe ich mehr über Pflanzen erfahren, als es zu wissen gibt.«
»Was nicht wirklich möglich ist.« Jedes einzelne Wort betonend und dabei seinen Vater ansehend, kam der Satz aus Tensin Onru heraus.
»Nicht dass mich Pflanzen nicht interessieren. Auch Hydroponie ist ein total spannendes Thema. Es ist nur so, dass, wenn man nach einer Party Kopfschmerzen hat, die normalerweise von was anderem kommen.«
Unmerklich schob sich Sinan ein wenig nach hinten. Und deutlich früher als geplant, überlegte er, ob er die beiden jetzt schon allein lassen sollte.
»Heißt es nicht, Schmerzen sind der beste Beweis für Lebendigkeit?«
»Tut dir was weh?« Xunshi schaffte es, professionell besorgt zu wirken. Während sich in ihrem Kopf bereits der nächste Satz bildete.
»Nein. Wieso?«
»Naja, was die Lebendigkeit betrifft. Vielleicht möchtest du mal wieder einen Beweis erleben.« Ein spöttisches Lächeln begann in ihren Mundwinkeln und zog sich hinauf bis in ihre Haarspitzen. »Vielleicht kann ich da helfen.«
Vor Sinans Augen entstand das Bild einer jungen schwarzhaarigen Frau, die über den Boden eines Planeten schritt. Und mit nichts hätte er erklären können, wieso es das Bild einer Frau war.
»Tust du schon.« Andeutungsweise tippte Tensin an seine rechte Schläfe. »Ich bedank mich später dafür. Und solange der Lebendigkeitsbeweis noch einigermaßen erträglich ist, könnten wir uns dem widmen, weswegen ihr hergekommen seid.«
»Gute Idee. Ich nehme an, du hast etwas vorbereitet.«
»Ja, habe ich.«
»Hat es etwas mit Kopfschmerzen zu tun?«
»Nein.«
»Ist es essbar?«
»Nein!«
»Warum bin ich dann hier?«
»Wir sollten uns beeilen.« Demonstrativ tippte Tensin erneut an seine Schläfe. Sofort danach erhöhte er sein Schritttempo. Was auf Xunshi aber ohne Wirkung blieb.
Dave! Der Name stach abrupt in Sinans Gedanken. Jetzt, genau jetzt, wäre ein guter Moment, dass Dave ihn kontaktierte. Genau jetzt wäre ein dringender Termin überaus nützlich. Der Gedanke wurde zu einem Wunsch. Und der Wunsch begann sich zu wiederholen. Während sein Schritttempo ganz allmählich hinter dem Tempo seines Sohnes und seiner Chefingenieurin zurückblieb.
*
»72 Jahre für die Erhöhung von 0,5 auf 0,86 Gravo. Das bedeutet, dass für die nächsten 36 Jahre die Belastung nicht über 0,68 Gravo steigt. Aus meiner Sicht bekommen wir 36 Jahre lang keine Probleme mit unterschiedlicher Fliehkraftbelastung.« Xunshi gab sich zuversichtlich. Und genau diese Zuversicht lag auch in dem Blick, den sie Tensin zuwarf.
»Und was ist mit den restlichen 64 Jahren? Plus geschätzte 3 Jahre im Orbit von Pavonis, bis die Schiffe wirklich nicht mehr gebraucht werden?«
Im letzten Moment konnte Sinan verhindern, dass die plötzlich aufkeimende Emotion in seine Stimme durchschlug. Denn der Gedanke, dass es die Humanity einmal nicht mehr geben würde, dass der Tag kommen würde, an dem das Schiff nicht mehr gebraucht würde, hatte einen emotionalen Schub ausgelöst.
»Wenn wir den Simulationen trauen, müssten die Schiffe es aushalten. Das Problem ist nur, dass die Simulationen nicht die Schiffe sind. Einfach ausgedrückt. Wir haben keine absolute Gewissheit.«
»Wie hoch wäre denn diese Gewissheit, wenn die Belastung bei 0,68 Gravo bliebe?« Betont ruhig, fast vorsichtig, sprach Tensin die Frage, die mehr ein Vorschlag war, aus.
»Du meinst, die Rotation der Landwirtschaft erst anzupassen, wenn der Wert in den anderen Modulen 0,68 Gravo erreicht hat? Dass wir am Ende 0,86 drüben haben und 0,68 hier?«
»Wäre doch machbar.«
Xunshi zog die Oberlippe hoch, was fast wie ein Schmollen wirkte. Tief in Gedanken versunken ging sie Tensins Vorschlag durch. Was nicht wirklich notwendig war. Denn es war nun wirklich keine schlechte Idee, ein funktionierendes System, wenn man es denn ändern musste, so behutsam wie möglich zu ändern. Einzig, dass sie von Sinans Sohn kam, ließ sie ihre Nachdenklichkeit hinausziehen.
»Und die Auswirkungen auf deinen ....Garten...?«
»Garten.« Tensin Onru, Sohn von Centya Xiu und Sinan Onru, Leiter der Landwirtschaft der Intersolar, senkte seinen Kopf, barg sein Gesicht in seiner linken Hand und seufzte.
»Weniger schlimm, als Worte es in Ohren sein können.«
Abrupt hob er den Kopf wieder und blickte seinen Vater an.
»Vielleicht sollten wir morgen weitermachen und jetzt erstmal was zu Abend essen.«
»Mmmh, weißt es also nicht.« Pure Herausforderung lag in Xunshis Blick. Ebenso herausfordernd spitzte sie die Ohren in Erwartung einer Antwort. Die eigentlich nichts anderes sein konnte, als ein Eingeständnis von Unwissenheit.
»Weißt du. Wenn ich alles wüsste, würde ich nicht hier sitzen und mit euch reden, sondern euch nur sagen, was ihr machen sollt.«
»Und du meinst, wir würden auf dich hören?«
»Ist doch nur eine Frage der Intelligenz.«
»Was? Das Machen? Oder das Hören? Soll ja Leute geben, die so ihre Schwierigkeiten haben, Verständliches zu fabrizieren.«
»Hören und Machen. Denn die Frage, ob man auf das Richtige hört, ist eine Frage der Intelligenz. Es ist die Art von Intelligenz, die man braucht, um zu erkennen, dass das Gehörte das Richtige ist. Es dann zu machen, ist nur noch der Sieg der Einsicht über all die emotionalen Neins, die aufgrund weniger intelligenter Gründe entstehen können.«
Mit unerschütterlicher Geduld und dem Interesse eines ehemaligen Sozialpsychologen verfolgte Sinan Onru das verbale Schachspiel der beiden.
Und was immer aus den beiden wurde, wenn denn etwas aus ihnen wurde, dann würde der Tag kommen, an dem er versucht sein würde, das ein oder andere gemeinsame Abendessen eher kurz zu gestalten. Ganz plötzlich erschienen ihm die verbleibenden 26 Jahre bis zum Erreichen seiner offiziellen Altersgrenze als überaus kurz. Unangenehm kurz.
*
»Und? Was hältst du von ihm?« Sinan stocherte in seinem Frühstück, als suchte er nach etwas Schmackhaftem oder nach etwas, was da nicht hingehörte.
»Intelligent, kompetent, zieht schnell die richtigen Schlussfolgerungen. Ich denke, er ist genau der Richtige. Deshalb sollten wir das tun, was er empfehlen wird.«
‚Genau der Richtige‘. Die Worte unterbrachen Sinans Rumstochern. Stattdessen griff er zum Löffel und rührte in seinem Kaffee. Ebenso rührten die Worte in seinen Vorstellungen. Aus den Vorstellungen bildete sich ein Satz. Der sich nur durch einen einzigen Buchstaben von den drei Worten unterschied. Ein Buchstabe nur. Am Ende des Wortes weg und in die Mitte ein neuer platziert für ein... ‚Genau die Richtige‘, das war alles. Mehr brauchte es nicht. Abgesehen davon, dass diese Worte aus Tensins Mund kommen mussten.
»Und ich bin ziemlich sicher, dass es das sein wird, was wir gestern besprochen haben. Wir ziehen die Rotation des Landwirtschaftsmoduls erst in 36 Jahren Stück für Stück nach. Viel behutsamer geht es nicht. Und Behutsamkeit ist die Art, wie wir mit den Schiffen umgehen müssen.«
Gedanken an Centya drangen in Sinans Bewusstsein. Erinnerungen an Streitigkeiten und an Meinungsverschiedenheiten, die allzu oft auf falschem Verständnis beruhten. Die wahre Bedeutung eines Satzes, die den Zuhörer nicht erreichte, weil sich in ihm die Worte zu einer anderen Bedeutung formten. Oder einfach nur Vorstellungen auslösten, die eine andere Bedeutung hatten. Über das Gleiche reden und es doch verschieden zu verstehen. Wie oft war das passiert? Und hätte man es mit Behutsamkeit verhindern können?
Wie wichtig war es denn, dass die eigene Meinung zu der Meinung eines anderen Menschen wurde? Wurde sie dadurch besser? Wahrer? War es wichtig, einen anderen Menschen von etwas zu überzeugen, was nichts als eine Meinung war?
»Du hast recht. Die Schiffe sind unser Leben. Die Basis unserer Existenz. Sie sind wie das Herz einer Mutter, das erst aufhören darf zu schlagen, wenn das Kind geboren ist.«
»Was war in deinem Kaffee?«
»Ich hab noch nicht getrunken.«
»Herz einer Mutter...., was für ein Vergleich. Und überhaupt, das Herz einer Mutter darf erst aufhören zu schlagen, wenn das Kind kein Kind mehr ist.« Xunshi gab ihrer Stimme einen belehrenden Tonfall.
»So wie die Schiffe erst Schaden nehmen dürfen, wenn auf Pavonis eine Kolonie steht. Und deine emotionale Beteiligung zeigt mir, dass mein Vergleich recht wirksam war.« Sinan griff nach dem Kaffee und trank einen Schluck.
»Normaler Kaffee. Echt zu empfehlen.«
Nur kurz blickte Xunshi auf das Schwarz des Kaffees, dann schweiften ihre Augen über die Dünen der Wüstenlandschaft und hin zur Simulation einer aufgehenden Sonne. Rechts oberhalb der Sonne war plötzlich ein Fuß zu sehen. Dann ein zweiter. Aus den Füßen wurden Beine, ein Bauch, ein Oberkörper und schließlich der Kopf von Tensin Onru.
Zügig kam Sinans Sohn näher. Scheinbar mühelos bewegten sich seine Füße durch den lockeren Sand, mit dem Xunshi so einige Mühen gehabt hatte.
»Da kommt Tensin.«
Sinan drehte sich halb um und sah den gewölbten Boden hinauf. Es wirkte, als ob Tensin einen schrägen Hang hinabstieg, obwohl Schritt und Körperhaltung einem Gehen auf ebener Fläche entsprachen. Langsam drehte sich Sinan wieder um. Erneut griff er zum Kaffee, trank diesmal etwas länger und beobachtete über den Rand der Tasse hinweg Xunshis Augen. Ein amüsiertes Glitzern war dort zu sehen. Die Frage war nur, ob es hell und tief genug war.
»Ihr habt euch ja einen interessanten Platz für’s Frühstück ausgesucht. War das deine Idee?« Fragende Augen richteten sich auf Xunshi.
»Mir war danach. Auf der Humanity haben wir keine Wüste. Und nach all dem Grün gestern ist etwas Kontrast genau das Richtige.«