Intimität - Ava M. Levin - E-Book

Intimität E-Book

Ava M. Levin

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Beschreibung

Wie entsteht Intimität, was verhindert sie? Warum lieben wir nicht so, wie wir könnten? Lassen sich Nähe und Autonomie zu gleichen Teilen leben? Und was hat unser Sex damit zu tun? Ein ebenso treffender wie aufschlussreicher Blick darauf, wie wir zueinander finden.

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über die Autorin

Ava M. Levin ist Autorin, Bodyworkerin und systemische Coachin für Intimität und Sexualität. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg. www.avalevin.com

INHALT

Warum so kompliziert?

Die Kunst von Sex und Liebe

Wo Intimität anfängt …

… und wo sie weitergeht

Sex? Kann ich.

Darf ich, will ich oder muss ich?

Liebe ist nur, wenn …

Sex ist nur, wenn …

Berühren und berührt werden

Toller Körper, toller Sex

Selbstbestätigte Intimität

Solo-Sex

Lustresonanz

Gute Beziehung gleich guter Sex?

Ist Intimität exklusiv?

Wie viel Zeit braucht Intimität?

Sex und Orgasmus

Intime Wünsche

Die Angst vor Intimität

Muss Liebe harmonisch sein?

Kann ich meine Partner*innen ändern?

Liebe und Sex: keine Frage des Glücks

Intimität erfahren

WARUM SO KOMPLIZIERT?

Ach, es ist kompliziert … So beginnt es meist, wenn ich mit anderen über ihr Sex- und Liebesleben spreche. Mein Beruf bringt das Privileg mit sich, dass mir unterschiedlichste Menschen ihre intimsten Gedanken anvertrauen. Gedanken, die ihnen zuvor meist nicht wirklich bewusst waren und in denen ich mich regelmäßig selbst wiedererkenne. Beziehungen scheinen grundsätzlich kompliziert zu sein, ebenso das, was in unserer Sexualität passiert. Und tatsächlich: Was ich in meinen Gesprächen zu hören bekomme, das sorgt nicht nur für tiefen Frust bei allen Beteiligten, es ist außerdem auch nur schwer zu durchschauen. Vor allem aber verhindert das Durcheinander, dass zwei (oder mehr) Menschen aufeinander zugehen. Intimität, also eine tiefe Verbindung, entsteht dann gar nicht erst. Oder sie bleibt im Beziehungsalltag auf der Strecke.

Wer mit wem oder auch nicht, und wenn doch, dann wie, wir alle könnten Drehbücher mit unseren Lovestorys füllen. Bestehend aus den großen und kleinen Dramen, die uns zwangsläufig passieren, wenn Liebe im Spiel ist. Aber warum ist das so? Wie kann uns etwas so Großartiges wie Sex und Liebe manchmal solche Probleme machen? Und das in Serie? Warum vermeiden wir echte Intimität, statt sie zuzulassen?

Aus meiner eigenen Geschichte weiß ich: Es liegt an den zahlreichen Missverständnissen, Glaubenssätzen und Vorurteilen, die uns in Bezug auf Liebe und Sexualität prägen. Deswegen können wir so schlecht loslassen. Deswegen fallen wir immer wieder auf die gleichen „Typen“ herein, und deswegen sind wir in Gedanken schon bei der nächsten Beziehung oder beim nächsten Date. Das Resultat: Wir plagen uns mit Dingen wie Eifersucht, Verlust- und Bindungsängsten, Enttäuschung, sexuellen Störungen, Einsamkeit, Scham, Schuldgefühlen oder Liebeskummer herum, statt eine der fantastischsten Erfindungen der kulturellen und geistigen Evolution zu feiern: unsere Fähigkeit zu intimen Begegnungen.

Es wird Zeit, mit den hartnäckigsten Mythen und Glaubenssätzen aufzuräumen, die Beziehung verhindern. Und die dafür sorgen, dass wir auf Distanz gehen. Sex und Liebe sind nicht von sich aus kompliziert, wir machen sie dazu. Trotz aller Aufgeklärtheit, trotz der Vielfalt an Lebens- und Liebesmodellen, die uns mittlerweile zur Verfügung stehen, kommen wir immer wieder an den gleichen Punkt, an dem wir uns selbst im Weg stehen. Oder an dem wir unseren Partner*innen die Schuld für etwas geben, das eigentlich unsere eigenen blinden Flecke betrifft.

All die Gespräche, die täglich von unzähligen Paar- und Sexualtherapeut*innen sowie Coaches geführt werden, bei stark wachsendem Bedarf, drehen sich immer wieder um dieselben Fragestellungen: Wie sieht unsere ureigene und stets ganz individuelle Sexualität aus? Wie können wir in Beziehung gehen, ohne uns selbst aufzugeben? Konkreter: Was wollen wir in der Liebe, was wollen wir beim Sex? Und wie lässt sich beides miteinander verbinden? Erstaunlicherweise setzen wir uns nur selten mit derlei Fragen auseinander oder reden darüber in unseren Beziehungen. Nahezu alle Menschen, die zu mir kommen, haben anfangs keine konkrete Vorstellung davon, wie eine Intimität aussehen könnte, die ihren Bedürfnissen entspricht.

Aus all dem, was ich höre, spricht Verunsicherung – bei Mann und Frau gleichermaßen. Verunsicherung darüber, ob Liebe uns einschränkt oder verletzt, aber auch darüber, wer wir als sexuelle Wesen sind und wie wir uns ausdrücken sollen. Die Verunsicherung wird verstärkt durch Vorurteile, Fehleinschätzungen, aber auch durch ein Gefühl der Scham, das wir alle kennen. Gerade wenn es um Liebe, Sex und unseren Körper geht. Doch wenn wir uns unserer selbst nicht sicher sind, dann können wir nur schwer irgendwelchen Bedürfnissen auf den Grund gehen – und auch nur schwer lieben.

Die Frage „Und, wie war ich?“ ist ein Symbol dieser Unsicherheit – egal ob sie nun ausgesprochen wird oder unbewusst in unserem Kopf herumschwirrt, egal ob nach dem Sex oder nach dem Ende einer Beziehung. Wenn wir alle wüssten, was wir in der Liebe und im Bett wollen, und wenn wir dies auch noch klar kommunizieren könnten, dann wäre alles ganz einfach. Wir könnten Lust und Liebe genießen, statt der letzten Beziehung hinterherzutrauern oder die letzten Dates zu verfluchen. Ganz so einfach ist es leider nicht. Aber wir können daran arbeiten, besser zu verstehen, was Intimität verhindert, wie sie von Neuem entsteht und wie wir sie vertiefen.

Für dieses Buch habe ich intime Momente unterschiedlicher Art gesammelt, ergänzt um (anonymisierte) Erfahrungen jener Menschen, denen ich helfen darf. Nur so konnte eine möglichst umfassende Sicht dessen entstehen, was wir Intimität nennen. Noch ein Hinweis: Ich nutze in meinem Text das Gendersternchen, manchmal spreche ich aber auch von Frau, Mann oder nutze den allgemeinen Begriff „Partner“, um den Inhalt lesbar zu halten. Es versteht sich von selbst, dass ich damit jederzeit alle sexuellen Identitäten anspreche und meine.

DIE KUNST VON SEX UND LIEBE

Was ist Intimität? Und vor allem: Unter welchen Bedingungen erfahren wir sie? Ist „intim sein“ erst dann, wenn wir uns körperlich nahekommen und Sex haben, oder fängt Intimität nicht viel früher an? Braucht es die Liebe dazu?

Unsere Vorstellungen einer intimen Begegnung sind so vielfältig, wie wir selbst es sind. Und doch versuchen wir ein Leben lang, uns ein Bild von Liebe und Intimität zu machen, um dieses Ideal dann auch zu erreichen – mal mehr, mal weniger erfolgreich. In wohl keinem anderen Bereich kommt es zu so vielen Missverständnissen wie bei jenen Gelegenheiten, in denen wir andere Menschen in unseren intimen Raum lassen. Egal ob es dabei um Liebe, Sexualität oder einfach „nur“ um Freundschaft geht.

Intimität umfasst so viele Aspekte unseres eigenen Lebens, aber auch unseres Zusammenlebens, dass es schier unmöglich scheint, allgemeingültige Definitionen zu finden. Der Dudenweist auf zwei grundlegende Begriffsebenen der Intimität hin. Auf ein vertrautes, intimes Verhältnis einerseits, das auch Vertraulichkeit einschließt, auf der anderen Seite steht die „sexuelle, erotische Handlung, Berührung oder Äußerung“. Unabhängig davon kann sich Intimität in ganz unterschiedlichen Bereichen unseres Zusammenlebens zeigen, von Liebesbeziehungen und ähnlichen Konstrukten über die Familie bis hin zum Freundeskreis.

Je nachdem, in welchem Lebensbereich wir uns gerade befinden, hat „Intimität“ für uns eine andere Bedeutung oder auch Färbung. Gedanklich sind wir schnell versucht, Intimität mit körperlicher Interaktion und Sexualität gleichzusetzen. Das zeigt sich unter anderem daran, dass es umgangssprachlich umso „intimer“ wird, je mehr die sexuelle Komponente einer Beziehung im Vordergrund steht – selbst wenn rein platonische oder auch familiäre Verbindungen genauso innig, vertraut und einzigartig sein können.

Ihr volles Spannungsfeld – aber auch ihr volles Potenzial – zeigt Intimität meist dann, wenn zwei Menschen eine Liebesbeziehung eingehen. In seinem Roman „Diesseits vom Paradies“ prägte der Schriftsteller Francis Scott Fitzgerald das Zitat:

Sie schlüpften zügig in eine Intimität, von der sie sich nie erholten.

Wir versuchen ein Leben lang, „echte“ im Sinne von authentische Intimität zu erlangen. Idealerweise mit einer Person, die einige gern als „seelenverwandt“ bezeichnen. Um dann überwältigt festzustellen, wie dieser Prozess, wenn man ihm eine Chance gibt, keinen Stein auf dem anderen lässt.

Doch wie entsteht sie nun, jene Dynamik, nach der wir uns sehnen, die wir aber gleichzeitig fürchten? Der Paar- und Sexualtherapeut Tobias Ruland schreibt dazu in seinem Buch „Die Psychologie der Intimität“, das in keinem Paar-Bücherschrank fehlen sollte:

Intimität gedeiht dann, wenn es zwei Menschen gelingt, trotz der unvermeidlichen Probleme und Verletzungen des Lebens immer den Respekt füreinander zu bewahren, sich einander authentisch zu offenbaren und jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um sich auf Augenhöhe zu begegnen.

Dabei braucht es für Intimität keineswegs immer genau zwei Personen. Jeder Mensch kann seine ganz eigene Intimität aufbauen und erfahren, sich selbst gegenüber. Intim sein geht also auch für Singles. Hinzu kommen Dreier- und sonstige Konstellationen, die zwar weniger verbreitet sind, aber genauso intensiv sein können wie das klassische Doppel.

Je nach Betrachtungsweise kann Intimität unter anderem bedeuten: Momente intensiver Begegnungen und intensiven Erlebens, das Empfinden von Nähe zu einer Person, ein Aufeinander-Zugehen mit abgelegtem Visier und Panzer (also in Authentizität), ein Prozess der fortlaufenden persönlichen Entwicklung, aber auch das Ablegen von Grundannahmen, Vorurteilen und Sicherheiten – ein Prozess, der Mut und Neugier erfordert. Intimität beinhaltet gleichzeitig etwas, das wir mit einem anderen Menschen (oder mit uns selbst) teilen wollen, meist mit einem gewissen Grad der Exklusivität. Wir haben nicht den Anspruch, mit allen Menschen „intim“ zu sein, auch das macht unsere Liebe so besonders.

Unser Intimleben unterliegt der Kontrolle unterschiedlicher Institutionen, sozialen Normen und Bindungen an vorgegebene Rollen. Das mag sich in den letzten Jahrzehnten verbessert haben, doch auch heute noch sind wir längst nicht so frei und selbstbestimmt, wie wir es gern wären. Nun ist es nur bedingt hilfreich, auf unsere kollektive oder individuelle Vergangenheit zu starren, um ihr gleichsam die Verantwortung dafür zu geben, dass wir Intimität häufig eben nicht unbekümmert leben. Doch wenn wir uns fragen, warum wir in bestimmten Situationen so und nicht anders handeln, wenn wir anderen Menschen nahe sind oder nahe sein wollen, dann kann uns unsere Vergangenheit einen Hinweis geben. Einen Hinweis auf die Ursachen, aber auch auf erlernte Verhaltensmuster.

Die Erkenntnisse hieraus ermöglichen einen Blick auf Alternativen. Nähe kann in der Regel nur dann entstehen, wenn man bereit ist, die alten Muster loszulassen. Wie oft vermeiden wir Intimität, obwohl sie zum Greifen nah ist? Der Autor und Journalist Daniel Schreiber formuliert in seinem Essay „Allein“ eine Erfahrung, die den meisten von uns bekannt sein dürfte, in der einen oder anderen Form:

Wenn man spürt, dass so etwas wie Intimität mit einer Person möglich wäre, weist man diese Person ab, aufgrund vergangener Erfahrungen, weil man seine eigene Verletzlichkeit nicht aushält.

Auf eine sexuell-intime Beziehung übertragen bedeute dies:

In vielen Fällen kommt es zu einer Dynamik aus Exzess und Entsagung, sexuellen Eskapaden und Abstinenz, völligem Kontrollverlust und totaler Kontrolle, zu einer Dynamik, die man selbst nur schwer durchschauen kann und die dazu führt, dass man das, was man am meisten braucht, nicht bekommt: wirkliche Nähe.

Schreiber nennt in diesem Zusammenhang den Begriff der „sexuellen und emotionalen Anorexie“. Das dahinterliegende Verhaltensmuster zeichne sich folgendermaßen aus: Betroffene Personen erhalten unbewusst den Zustand eines „emotionalen Hungers“ aufrecht, indem sie echte Intimität vermeiden. Dazu entwickelten sie eine Reihe von – ebenfalls unbewussten – Vermeidungsstrategien.

Nun muss die Vermeidung von Nähe nicht immer gleich pathologischer Natur sein. Und doch haben wir alle in unserem Leben Erfahrungen gemacht, die das Gehirn „Alarm“ schreien lassen, während wir uns eigentlich nach mehr Kontakt und Verbundenheit sehnen. So wie bei meiner Klientin Anna. Sie gab sich betont locker, als ich sie das erste Mal traf – ein Zeichen, dass es in ihr anders aussah. Anna kam ohne viel Umschweife gleich zur Sache: „Ich verstehe nicht, warum ich mich beim Sex nicht fallenlassen kann!“ Schließlich fehle es ihr nicht an Gelegenheit. „Allerdings gerate ich immer an die falschen Männer.“ Eine Aussage, die ich in meiner Arbeit durchaus öfter höre, auch umgekehrt, von Männern über Frauen.

In unseren Gesprächen kommt recht schnell heraus: Anna hat sich, ihren Körper und ihre Grenzen noch nie wirklich selbst gespürt, was hauptsächlich in ihrer Biografie begründet ist. Nun lebt sie unbewusst das weiter, was ihr als scheinbare „Intimität“ vermittelt wurde. Obwohl (oder gerade weil) sie sich selbst nicht spüren kann, sucht die junge Frau regelmäßig nach anonymen Sex-Dates, bei denen sie rein als Objekt benutzt wird. Auf diese Weise gerät sie gar nicht erst in Gefahr, sich selbst spüren zu müssen. Die Suche nach Nähe – und die Herausforderungen, sie zu finden – hat viele Gesichter.

Schon der Gedanke an körperliche Berührung, die vom gewohnten, betäubenden Schema abwich, ließ meine Klientin unruhig werden. Durch ihre Begegnungen mit Männern wiederholte sie fortlaufend ein Muster, ausgelöst durch leidvolle Erfahrungen in der Vergangenheit, ohne den Zusammenhang mit der fehlenden Berührbarkeit zu erkennen. In der Körperarbeit begegne ich öfters Menschen mit vergleichbaren Erfahrungen, die von Grund auf neu lernen müssen, sich berühren zu lassen. Das Sich-berühren-Lassen ist dabei durchaus im doppelten Wortsinn gemeint.

Ein nicht alltägliches Beispiel, klar. Viele von uns sind in der glücklichen Lage, durchaus Nähe und Intimität zulassen zu können. Und meist begegnen wir Partner*innen, die es gut mit uns meinen. Doch auch dann hat es die Intimität schwer. Der gute Wille allein reicht nicht aus, um sie dauerhaft zu festigen, wir alle kennen Strategien zur Vermeidung von „zu viel“ Nähe. Jede engere Beziehung erfordert es, dass beide Beteiligte gemeinsam an deren Herausforderungen wachsen wollen. Dass wir oft nichts Neues mehr wagen, sobald wir einen Partner gefunden haben, liegt an der scheinbaren Sicherheit, die uns genau diese Partnerschaft vermittelt. Wir hoffen unbewusst, alles werde schon irgendwie dauerhaft so weiterlaufen, wie wir es von der ersten Verliebtheit her kennen.

Tragischerweise führt genau dieses Festhalten am Status quo dazu, dass wir mehr und mehr „miteinander aneinander vorbeileben“, wie es die Sexologin Silvia Messenlehner formuliert. Wenn dann kein neuer Zugang zu intimen Momenten geschieht, dann trennen sich viele Paare. Beide versuchen ihr Glück mit einem neuen Partner, so lange, bis sich auch dort wieder der Alltag einschleicht. Natürlich gibt es Beziehungen, deren Ende für die Beteiligten besser ist als deren Fortbestand. Niemand sollte von dem Gefühl beherrscht sein „durchhalten zu müssen“. Und doch verfolgen uns jene Dämonen unserer Persönlichkeit, denen wir uns nicht stellen, regelmäßig weiter, in jeder neuen Beziehung. Man spricht dabei auch von Schattenanteilen, also von persönlichen Eigenschaften, die wir gern verdrängen. Sie machen unser Dasein genauso aus wie jene Qualitäten, derer wir uns bewusst sind.

Egal ob wir nun mit uns selbst zu kämpfen haben und/oder mit den Herausforderungen einer Beziehung: Damit Intimität überhaupt erst entstehen kann, braucht es eine stabile Grundlage, nämlich Vertrauen. Vertrauen in unser Gegenüber, aber zunächst einmal Vertrauen in uns selbst. Mit mangelndem Selbstvertrauen akzeptieren wir gar nicht erst, dass andere Menschen uns nahe sein wollen. Und mangelnde Körperakzeptanz überträgt diesen Umstand auf unsere Sexualität.

In diesem Buch geht es hauptsächlich um jene Aspekte der Intimität, die unser Liebesleben betreffen. Doch natürlich kann nahezu jede Begegnung, jede Erfahrung ein intimer Moment sein, in dem wir uns öffnen und als nahbare Menschen erfahren – wir müssen nur genau hinschauen. Ich erlebe solche Augenblicke etwa dann, wenn ich voller Bewusstheit Zeit mit meiner Tochter verbringe. Wenn sie mich ganz offen an ihren Herausforderungen teilhaben lässt, die das Heranwachsen nun einmal mit sich bringt. Oder wenn ich mich meiner Partnerin gegenüber so als Mensch zeigen darf, wie ich bin, mit all meinen Facetten, aber auch Unsicherheiten.

Intimität umfasst – wie auch die Liebe – alle Bereiche unseres Lebens. Und damit auch dessen Ende. Der Wunsch nach Begegnungen, die uns nahegehen, ist existenziell in uns verankert. Dass genau dies unsere Menschlichkeit ausmacht, wurde mir klar, als ich „Mehr vom Leben“ las. Ein Buch der Sterbe- und Trauerbegleiterin Johanna Klug, in dem sie von ihren Begegnungen auf einer Palliativstation berichtet. Und damit von ihrem täglichen Umgang mit dem Sterben. Sie schreibt darin, als wesentliche Erkenntnis aus ihren Erfahrungen:

Das Leben als endliches Geschenk anzuerkennen, verändert. Und die Menschen, die sich davor drücken und den Tod verdrängen und verleugnen, die werden sich bis zuletzt mit Oberflächlichkeiten beschäftigen, um dort ihre „Erfüllung“ zu suchen.

Und weiter:

Der Tod ist nicht erklärbar und bleibt ein ewiges Rätsel – für jeden von uns. Doch aus dieser Unsicherheit heraus agieren wir mit Angst, Verdrängung und Schweigen [...] Genauso wie wir übers Leben reden und Pläne für die Zukunft schmieden, sollten wir auch dem Tod einen festen Platz darin geben und nicht länger tabuisieren.

Sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen ist ein genauso intimer Akt, wie uns lebendig zu zeigen. In einer ganz anderen, aber umso wichtigeren Form. Denn spätestens am Lebensende brauchen wir ihn, den Zugang zu uns selbst, um uns unseren Ängsten, aber auch unserem Leben zu stellen.

Wer begreift, dass unsere Reise endlich ist, zumindest in ihrer jetzigen Form, der kann sich besser auf das Leben einlassen. Und damit auf jene Momente, die es lebenswert machen – auf Augenblicke in Intimität. Wie erfahren wir uns möglichst intensiv, wie kosten wir das Leben aus? Indem wir uns fragen, was Intimität ausmacht, wann wir sie vermeiden und wie wir sie vertiefen können.

WO INTIMITÄT ANFÄNGT…

Liebe, Sex und Intimität, was bedeuten uns diese Begriffe? Und was verstehen wir darunter? Sehen wir sie vor allem im Zusammenhang mit anderen Menschen, die uns nahestehen? Oder sollten wir zunächst damit beginnen, eine Beziehung zu uns selbst aufzubauen, als Grundlage für alle anderen Verbindungen?

In meiner Arbeit höre ich oft Sätze wie „Ich wäre gern eine bessere Liebhaberin/ein besserer Liebhaber, weiß aber nicht, wie ich das anstellen soll“. Oder „Ich fühle mich in meiner Beziehung oder beim Sex nicht gesehen und nicht wertgeschätzt“. Meist frage ich dann, was sich die Person für sich selbst wünscht, nicht für den Partner. Sprich: welche Bedürfnisse vorhanden sind, die bislang unerfüllt blieben. In der Regel folgt auf diese Frage irritiertes Schweigen. Selbst wenn ich meine Klient*innen bei der Suche nach ihren intimen Wünschen begleite, können sie diese anfangs nur nebulös und vage benennen. Manche setzen sich durch meine Fragen gar zum allerersten Mal damit auseinander, was ihnen Beziehungen bedeuten und wie ihre ureigene Sexualität eigentlich aussieht – oder aussehen könnte.

Wir streben nach liebevollen, sexuellen Begegnungen mit anderen Menschen, die idealerweise beide erfüllen. Doch wie soll das funktionieren, wenn wir nicht wissen, was uns guttut? Und vor allem: was uns nicht guttut? Wir wundern uns, wenn wir unter dieser Voraussetzung Tage und Nächte erleben, die keine bleibende Erinnerung hinterlassen, die wir bereuen oder für die wir uns vielleicht sogar schämen. Sehr viele Menschen kennen ihre körperlichen Bedürfnisse nicht. Oder sie gehen passiv in Begegnungen, die nicht ihrem eigentlichen Wesen entsprechen. Wir tun uns schwer damit, unser Liebesleben zu überdenken, wenn es festgefahren ist. Weil wir Intimität und Sex halt schon immer so gelebt haben, weil es einigermaßen funktioniert oder weil wir kein Risiko eingehen wollen. Notfalls wird es schon reichen, für die nächste Beziehung.

Dieses Verhalten mag pragmatisch und bequem sein, schlau ist es nicht. Und es gerät schnell zur Selbstverleugnung. Es geht nicht darum, im Vorfeld einer Begegnung alle Möglichkeiten und Wünsche durchzudeklinieren. Denn viele spannende und prägende Momente entstehen spontan. Aber eine grundsätzliche Idee davon, wer wir sexuell sind, was wir spüren und „er-leben“ wollen, das ist schon hilfreich. Menschen, die ihre Liebe und ihre Sexualität als erfüllt wahrnehmen, haben eines gemeinsam: Sie wissen, wer sie sind und was sie wollen. Dementsprechend müssen sie auch nicht versuchen, etwas anderes darzustellen.

Was mich immer wieder erstaunt: Wir alle nehmen uns viel zu wenig Zeit für die Erkundung unserer sexuellen Identität, unserer Lust oder unserer intimen Wünsche. Auch dem, was uns in intimen Begegnungen als Individuum ausmacht, schenken wir kaum Aufmerksamkeit. Es braucht Zeit und Auseinandersetzung, damit wir uns selbst wahrnehmen können. Um anschließend so auf unser Gegenüber einzugehen, dass sich beide in der Begegnung wiederfinden. Und miteinander in Resonanz gehen.