Inventurdifferenz - Britta Mühlbauer - E-Book

Inventurdifferenz E-Book

Britta Mühlbauer

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Beschreibung

Marlies Wolf, wehrhafte Mitarbeiterin einer Security-Firma in Wien, möchte unbedingt im Personenschutz arbeiten, doch zunächst muss sie in einem Baumarkt nach Ladendieben jagen. Allein mit sich und ihrer Wut auf die Welt trifft sie zufällig ihre frühere Freundin Valerie wieder, um die sie und Alex, eine weitere Figur aus ihrer Kindheit, sich nun bemühen. Durch Alex wird Valerie in die Machenschaften von Mädchenhändlern verwickelt und fällt nach einer brutalen Attacke, bei der sie als Zeugin beseitigt werden soll, ins Koma. Außer sich vor Hass greift Marlies zur Selbstjustiz. Dieser Thriller aus Österreich erzählt die Geschichte einer Frau, die an ihre Grenzen geht - und darüber hinaus.

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Deuticke E-Book

Britta Mühlbauer

Inventurdifferenz

Roman

Deuticke

ISBN 978-3-552-06237-5

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2013

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

Schutzumschlaggestaltung: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © plainpicture/Hanka Steidle

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Never imitate the boys.

Christine Lagarde

Es ist nicht so, daß die Welt mit mehr weiblicher

Beteiligung besser dran wäre; es ist so, daß die

Welt ohne eine »Feminisierung« der menschlichen

Geschichte wahrscheinlich nicht überleben wird.

Terry Eagleton*

* Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, S. 137 © 1988 J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschl Verlag GmbH in Stuttgart

1

Hotel ohne Namen

Das Taxi braust durch die Nacht davon. Die Reifen rumpeln durch Schlaglöcher. Unter jeder Straßenlaterne sehe ich die Beule im Dach aufleuchten. Ich strecke den Mittelfinger hoch und schicke dem Fahrer sein Trinkgeld hinterher.

Seit ich am Busbahnhof eingestiegen war, grapschte sein Blick nach mir. Er sprang zwischen meinem Busen und dem Mal in meinem Gesicht hin und her, schwankend zwischen Neugier und Geilheit. Über den Rückspiegel versuchte er mich auszufragen, woher ich käme, ob ich hier Urlaub machte. Seine Rechte lag auf der Schulter des Beifahrersitzes. Immer wieder drehte er sich zu mir um.

»Watch the road«, sagte ich.

Er grinste. »You stressed. I got somethin’ for ya.« Ich solle mit ihm zum Strand fahren. Er habe dope dabei. »What do ya say?«

Ich sagte nichts und konzentrierte mich auf seine Nackenstütze. Sie hatte ein Fenster, durch das ich die Grube seiner Schädelbasis sah. Die Mündung eines Naglers genau dort ansetzen. Abdrücken, bevor er weiß, wie ihm geschieht. Der Nagel durchtrennt das Rückenmark, zerfetzt das Stammhirn, Atemstillstand. Ein bisschen Blut im Nacken, eine Beule auf der Stirn, eine Spitze, die von Ferne aussieht wie ein Pickel. Keine Sauerei im Wagen. Die Leiche am Strand entsorgen. Ich begann, das Alphabet von hinten aufzusagen, wie ich’s im Kampfsporttraining gelernt hatte. Das fokussiert den Geist und beruhigt die Nerven.

Mich hätte eine wie ich im Nacken nervös gemacht. Der Fahrer plapperte weiter und fiel mir mit seinem geflickten Englisch auf die Nerven. Er wusste nicht, wie viel Glück er hatte. Ich bin nicht bewaffnet (der Nagler liegt sicher in seinem Versteck), ich darf nicht auffallen und ich bin müde von vier Wochen Flucht. Der Stinkefinger ist die einzige Eskapade, die ich mir leiste, hier, am Ziel meiner Reise.

Die Bremslichter leuchten auf, der Wagen hat gestoppt. Männer sind empfindliche Wesen, sagt Hanna. Je rücksichtsloser das Auftreten, desto verletzlicher die Seele. In der Mitte der Straße stehend warte ich auf das Aufleuchten des Rückscheinwerfers, das Zurücksetzen des Wagens. Ich stemme die Fäuste in die Taille. High noon. Die Bremslichter verlöschen, der Wagen fährt weiter, blinkt und biegt ab. Feigling. Ich schleudere ihm einen Stein hinterher.

Rechts und links der Straße stehen Häuser auf Pfählen. Dazwischen Sand und Unkraut. Das ist keine Stadt. Das ist ein Kuhkaff. Ich schaue genauer hin, frage mich, ob hinter den Fenstern jemand steht, der weiß, was ich getan habe. Das hört sich verrückt an. Hier kennt mich niemand. Dennoch bin ich wachsam. Seit ich für Gerechtigkeit gesorgt habe, stehe ich unter Beobachtung. Alles bezieht sich auf mich, jeder Blick, jedes Geräusch, sogar das Wasserrauschen der Klospülung in der Nachbarwohnung. Es verrät mich: Ssssiewarssss. Ich rechne ständig damit, dass jemand mich konfrontiert, mich unter Druck setzt, mich festnimmt.

Der Zustand heißt Paranoia. Ich werfe meinen Rucksack über die Schulter. Das Hotel steht auf einem Sandplatz hinter drei gedrungenen Palmen. Ich höre hinter mich, während ich darauf zu gehe. Aber da ist nur das Knirschen meiner Stiefel im Sand. Ein Scheinwerfer zielt auf die Fassade des Gebäudes. Hotel steht auf dem Schild über dem Eingang, zwei Sterne, kein Name. Ich kenne es von dem Foto auf der Website. Das Hotel wird von einer Frauenkooperative geführt. Das ließ Hannas Namen auf meinem Radar aufleuchten. Wenn meine Informationen stimmen und sie in dieser Stadt ist, muss dieses Hotel sie angezogen haben wie Kuhmist eine Fliege.

Ich schwimme auf den Eingang zu. Luftfeuchtigkeit: hundert Prozent. Ein klebriger Film überzieht meinen Körper und verschmiert den Himmel zu einem schmutzigen Orange. In der Empfangshalle raschelt eine Plastikplane unter meinen Füßen. Farbeimer stehen herum, eine Leiter lehnt in der Ecke. Zwei Deckenventilatoren laufen auf mittlerer Geschwindigkeit. An einem Tisch unter einer Neonröhre sitzt eine Frau und blättert in Rechnungen. Ihre Finger spielen mit einem großen flachen Messingohrring. Ihr krauses schwarzes Haar ist kurz geschnitten. Sie hebt den Kopf und sieht mich an. Ihre Überraschung sitzt in der rechten Augenbraue. Sie streift meine Wange mit einem Blick, bevor sie mir einen guten Abend wünscht. Sie heißt Carmen, spricht ein runderes Englisch als der Taxifahrer und lächelt nicht. Da wird mir klar, sie ist vorgewarnt.

Ich bin leicht zu erkennen an dem Mal auf meiner Wange. Es ist angeboren. Mit der heutigen Medizintechnik könnte es ohne Narben entfernt werden. Doch inzwischen gehört es zu mir, es ist mein Markenzeichen. Als ich klein war, sagte meine Mutter, es mache mich zu etwas Besonderem. Ich glaubte ihr. Meine Schulkameraden machten mir klar, dass Mütter lügen, wenn es kompliziert wird. Sie verspotteten mich und ekelten sich vor mir. Ich lernte, mich zu wehren.

Meine Mutter hatte, was das Mal betraf, ein schlechtes Gewissen. Mir hätte sie das nie erzählt. Ich weiß es, weil ich lauschte. Sie erzählte es Tante Isabella, der Schwester meines Stiefvaters Norbert. Ich kann Tante Isabella nicht leiden. Sie behauptet, sie habe Mutter und Norbert zusammengebracht. Meine Mutter hatte Gurkensandwiches und Tee gemacht. Das erinnerte sie an ihre Zeit in London als Empfangschefin eines kleinen Hotels. Sie saß mit Tante Isabella im Wohnzimmer, zwei Damen in eleganten Kleidern, die Tee aus Rosen-Porzellan nippten, umgeben von abgedeckten Möbeln und einer feinen Staubschicht auf allen waagrechten Flächen. An der Terrassentür karrte Norbert Schutt vorbei. Er balancierte ihn über eine schmale Holzlatte hoch zum Container. Er vergrößerte das Haus. Genauer gesagt vergrößerte er den Anbau, den er vor Jahren an die Westseite des Hauses geklebt hatte. Normalerweise half ihm meine Mutter nach Feierabend und an Wochenenden. Manchmal allerdings nahm sie sich frei. Sie zog die dreckigen Jeans und verschwitzten T-Shirts aus, legte sich in die Wanne, machte sich eine Gesichtsmaske und gönnte ihren Haaren eine Kurpackung. Das waren genau ihre Worte: ich gönne meinen Haaren eine Kurpackung. Anschließend lackierte sie sich die Nägel und schminkte sich, als ginge sie zur Arbeit ins Hotel. Ich war vierzehn und zum Teekränzchen nicht eingeladen. Ich saß auf dem Treppenabsatz im ersten Stock. Das war der Platz, an dem ich allen aus dem Weg war und gleichzeitig den Überblick hatte, was im Haus vorging.

»Als ich feststellte, dass ich schwanger war«, hörte ich meine Mutter sagen, während sie Tante Isabella Tee einschenkte, »war das ein Schock. Ich war fünfundzwanzig, hatte keine Rücklagen und keine Zeit für ein Kind.«

»Wer war der Vater?«, fragte Tante Isabella.

Ich rutschte ein paar Stufen tiefer. Wie oft hatte ich meiner Mutter dieselbe Frage gestellt.

»Darüber möchte ich nicht sprechen«, sagte meine Mutter. »Für eine Abtreibung war es zu spät. Ich setzte mich in eine Wanne heißes Wasser, so heiß, wie ich es aushalten konnte. In der Nacht bekam ich Blutungen. Ich hoffte, das Baby würde abgehen. Aber sie war hartnäckig. Von dieser Nacht hat sie den Fleck im Gesicht. Glaub mir, das ist ihre Art, mich daran zu erinnern, dass ich sie nicht haben wollte.«

»Unsinn«, sagte Tante Isabella. »Medizinisch unmöglich.« Sie musste es wissen. Sie war Zahnarzthelferin.

Das Mal in meinem Gesicht heißt Naevus flammeus. Es breitet sich von der Schläfe über die linke Wange aus, weinrot mit violetten Einsprengseln, und löst sich am Mundwinkel und am Nasenflügel in lila Flecken auf. Die Verfärbung ist eine Folge erweiterter Blutgefäße unter der Haut. Ursache unbekannt. Negative Ereignisse während der Schwangerschaft sind nicht dafür verantwortlich.

Meine Freundin Valerie, die klüger war als alle anderen Menschen auf der Welt, wusste, dass ein russischer Politiker das gleiche Mal auf der Stirn gehabt hatte. »Es ist ein Feuermal«, sagte sie. Mit Lidschatten und Lippenstiften aus dem Schminkkoffer ihrer Mutter malte sie sich einen identisch geformten Fleck auf ihre rechte Wange. Vor dem Spiegel sahen wir aus wie zwei Hälften eines Ornaments.

Carmen schiebt ein Anmeldeformular über den Tisch. Ich trage den Namen ein, der in meinem neuen Pass steht. Mein Herz klopft, als ich das gefälschte Dokument dazulege. Carmen gibt mir den Pass zurück ohne hineinzusehen.

»Friends call me Marlies«, sage ich. Ich weiß nicht, warum ich das Risiko eingehe. Wenn ich Hanna eine Botschaft hinterlassen will, geht das einfacher. Ich bin plötzlich nicht mehr sicher, ob sie in diesem Hotel gewohnt hat. Und ich habe keine Ahnung, wie sie mich und das, was ich ihr erzählen muss, aufnehmen wird. Es ist möglich, dass sie mich auf der Stelle zur Polizei bringt.

»Marlies«, sagt Carmen. »Welcome.« Sie weiß es! Sie weiß, was ich getan habe! Sie ist nicht damit einverstanden, trotzdem duldet sie mich in ihrem Hotel. Sie erklärt mir, dass der Umbau noch nicht abgeschlossen ist. Die Malerarbeiten, meint sie, werden noch ein paar Tage dauern. Sollte ich mich dadurch gestört fühlen, muss ich mich nur an sie oder eine ihrer Kolleginnen wenden. Ich nicke und schüttle die dummen Gedanken ab. Außerdem, sagt sie, und hier schleicht sich ein ironisches Lächeln ein, sucht sie einen Namen für das Hotel. Wenn ich eine Idee hätte …

»Hotel Carmen?« Noch während ich es ausspreche, möchte ich mir auf die Zunge beißen. Hanna sagt, es gebe nichts Einfallsloseres als Lokale und Friseurläden mit weiblichen Vornamen.

Carmens Lächeln kühlt auf den absoluten Nullpunkt ab. Sie schiebt einen Schlüssel über den Tisch. Ich fühle mich unendlich müde. Seit vier Wochen bewege ich mich kreuz und quer über den Globus, um meine Spuren zu verwischen. Ich schlief in Zügen, auf Busbahnhöfen, in Flughäfen und in billigen Hotels. Jeden Tag durchsuchte ich das Internet. Doch es gab nichts Neues. Ich musste damit rechnen, dass sie mir auf den Fersen waren. Nun bin ich am Ziel meiner Reise, ob ich in Sicherheit bin, weiß ich nicht. Noch fühlt es sich nicht so an.

Wie wäre es mit The Anonymous Hotel, sage ich.

Carmen neigt den Kopf zur Seite, bis ein Ohrring ihre Schulter streift. »Interesting choice.« Der Satz bleibt zwischen uns hängen. Jetzt, genau jetzt, wäre der Zeitpunkt, nach Hanna zu fragen. Ich lasse ihn verstreichen. Ich weiß nicht, warum ich zögere. Das sieht mir nicht ähnlich. Es muss an der Hitze liegen, an der Luftfeuchtigkeit, an der Zeitverschiebung, an der Unsicherheit, die mich begleitet. Carmen gibt mir ein Zimmer im ersten Stock. Dort kann ich ein Stück Meer sehen, sagt sie. Frühstück von acht bis elf im Hof, sie zeigt in die Dunkelheit hinter der Eingangshalle. Ich sehe Mauerpfeiler und Pflanzenumrisse. Sie wendet sich wieder ihren Rechnungen zu. Der richtige Augenblick ist vorbei.

Auf der Treppe sehe ich mich noch einmal um. Sie hält ein Mobiltelefon in der Hand. Unsere Blicke kreuzen sich. Sie legt das Telefon weg. Sie wartet, bis ich außer Hörweite bin. Dann ruft sie Hanna an. Soll mir recht sein. Das erspart mir die Fragerei. Hanna wird mich kontaktieren, ich werde warten. Ich schleppe mich die Treppe hoch. Was ist los mit mir? Noch ist nicht sicher, dass Hanna mir helfen wird. Ich muss in der Offensive bleiben. Das Überraschungsmoment ist dahin. Warum gebe ich nun auch den Rest der Kontrolle aus der Hand? Wer den ersten Schritt macht, stellt die Bedingungen.

Das Zimmer ist eine Legebatterie. Ein Bett, ein Tisch, ein Plastikstuhl, eine Kleiderstange, brütende Hitze. Ich schalte den Deckenventilator ein. Er rüttelt in der Halterung. Wenn das Ding sich losreißt, werde ich geköpft. Ich schalte ihn wieder ab und stoße die Fensterläden auf. Draußen ist es ein halbes Grad kühler. Das Nachbarhaus versteckt sich hinter Bäumen. Rechts höre ich das Meer. Links liegt die Straße, von der ich gekommen bin. Soweit so gut. Ich rolle mich auf dem Bett zusammen. Das Schlafen in Kleidern ist mir zur Gewohnheit geworden.

Träume sind notwendig, heißt es. Wer nicht träumt, wird verrückt. Meine Träume sind wie Kinotrailer, sprunghaft und episodisch. Zwischendrin schrecke ich hoch und habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Jeder Mann, jede Frau in meiner Umgebung kann ein Denunziant oder eine Polizistin sein. Auf Bahnhöfen und Flughäfen gibt es viele Verdächtige. Ich schlafe in homöopathischen Dosen.

Es gibt eine wiederkehrende Traumepisode. Ich bin daran beteiligt und stehe gleichzeitig als Beobachterin neben mir. Ich muss einen leblosen männlichen Körper an einen Bretterzaun hängen. Im Traum denke ich nicht darüber nach, wie das gehen und wozu es gut sein soll. Ich konzentriere mich auf den Zaun. Er überragt meinen Kopf. Ich kann nicht sehen, was auf der anderen Seite ist. Der Leichnam ist schwer, ich weiß nicht, wie ich ihn bis zur Zaunkante hochstemmen soll, dennoch bin ich sicher, dass es mir gelingen wird. Ich schiebe ihn hoch, Holzspäne bohren sich unter die Haut. Plötzlich stellt der Mann seine Füße auf meine Schultern, drückt sich ab und fliegt davon. Ich höre ihn jauchzen und kann noch immer nicht sehen, was auf der anderen Seite des Zaunes ist. An dieser Stelle wache ich auf. Ich schwitze, meine Muskeln schmerzen, als hätte ich schwer gearbeitet. Ich reiße die Augen auf. Es ist stockdunkel, ich ertrinke in schwüler Luft. Einen Moment lang weiß ich nicht, wo ich bin. Ich richte mich auf, sehe mich um, sehe das Fenster. Da stehen Sterne, Unmengen.

Ich rolle aus dem Bett, der Steinboden ist körperwarm. Das fühlt sich an, als würde ich auf etwas Weiches, Lebendiges treten. Ich gehe ans Fenster, beuge mich hinaus und hoffe auf eine Brise. Doch die Luft ist Gelee. In der Ferne flimmern Lichter. Das Mobiltelefon, das ich bei einem Straßenhändler gekauft habe, zeigt mir, dass es kurz vor halb drei ist. Ich bin hellwach und todmüde. Dabei könnte ich ruhig sein. Ich habe mein Ziel erreicht, bin nirgendwo aufgefallen. In dieser Nacht bin ich in Sicherheit. Bald werde ich Hanna finden oder sie mich. Sie muss mir helfen, das ist ihre Pflicht. Ohne sie wäre ich heute nicht hier. Sie hat sich eingemischt und mich mit hineingezogen. Diesmal muss sie zu Ende bringen, was sie begonnen hat. Sie hat sich davongemacht. Ich habe gehandelt. Ich weiß, dass meine Tat in ihrem Sinn war. Ich erinnere mich an ihren Gesichtsausdruck, als sie mir erzählte, was sie Valerie angetan hatten.

Ich will nicht weiter darüber nachdenken. Die Tabletten, die mir helfen können, sind im Badezimmer. Auf dem Weg stoße ich an eine Wand, einen Stuhl, meinen Rucksack. Meine Augenlider wehren sich gegen das Licht im Badezimmer. Halb blind durchwühle ich den Toilettbeutel. Ich bin keine Medikamentenschluckerin. Ich weigere mich, krank zu werden. Ich hatte zu viel mit Ärzten zu tun. Sie vermaßen mein Feuermal und wollten es mir aus dem Gesicht brennen. Andere meinten, wir sollten es in Ruhe lassen. Die Behandlung führe zu nichts als Narben und am Ende könne das Mal wiederkommen. Ich war froh, als meine Mutter sich geschlagen gab. Ich behielt das Mal und geriet erst Jahre später wieder in die Mühlen der Medizin. Da ging es um die Wutanfälle. Mit fünfzehn hatte ich einem Mitschüler drei Zähne ausgeschlagen und ihm den Arm gebrochen. Meine Mutter sorgte dafür, dass die Sache unter den Teppich gekehrt wurde. Sie wollte nicht, dass ich vorbestraft wäre. Dafür musste ich zum Psychiater. Es gelang mir, die Behandlung abzukürzen. Was blieb, sind die Wutpillen. Sie helfen gegen innere Unruhe und emotionale Erregungszustände. Ich nehme sie nicht gerne. Sie machen mich müde und benommen. Heute sind diese Nebenwirkungen willkommen. Ich schüttle eine Tablette in die hohle Hand und schlucke sie trocken. Angeblich ist das Leitungswasser hierzulande mit Viren verseucht. Meine Augen haben sich an das Licht gewöhnt. Aus dem Spiegel starrt mich eine Fremde an. Ich erkenne mich nur an meinem Feuermal.

In dem Bus, der mich in diese Stadt brachte, war ich die einzige Weiße. Der Motor knatterte wie ein Maschinengewehr. Es stank nach Auspuffgasen. Ich hielt mein Gesicht in den Fahrtwind. Wir rollten durch Orangenhaine. Fettes Laub in langen Zeilen. Am Straßenrand türmten sich Obstkisten. Köpfe mit Strohhüten tauchten dazwischen auf. Mir wurde übel vom Geruch der Orangenblüten. In Norberts Blumenfenster hatte es ein Orangenbäumchen mit kleinen, ungenießbaren Früchten gegeben. Es stand da wegen des Duftes. Ich fand ihn aufdringlich. Ich war froh, als die Läuse sich über das Bäumchen hermachten. Ich nahm die Nase aus dem Wind und bemerkte, dass ich angestarrt wurde. Das war nichts Neues. Das tat nicht weh. Drei Frauen im Mittelgang sahen zu mir her und wieder weg. Sie hingen an Halteschlaufen und wurden von Schlaglöchern hin- und hergestoßen. Das kleine Mädchen zwischen ihnen fixierte mich unverhohlen, während es an seinen Fingern lutschte. Die Frauen diskutierten. Schließlich streckte die Älteste die Hand nach meinem Gesicht aus, eine trockene rotbraune Klaue mit schrundigen Nägeln. »May I?« Ich zuckte die Schultern. Ihre Finger streiften meine Wange, danach berührte sie ihr eigenes Gesicht und bekreuzigte sich. Weitere Hände stürzten sich auf mich. Ich wich nicht aus. Ich war Schlimmeres gewöhnt. Die Frauen lachten. Sie hatten schlechte Zähne. Aus den Taschen zu ihren Füßen förderten sie Essen zutage. Sie fütterten mich mit Maisfladen und Zucker. Ich fragte sie, warum sie mein Gesicht berühren wollten. Die Alte antwortete mit einem unverständlichen Wortschwall. Die anderen erklärten mir, ich sei von Gott berührt. Ich habe viele Legenden über Feuermale gehört, diese war mir neu. Die Frauen stiegen irgendwo im Niemandsland aus. Sie lachten und winkten dem Bus hinterher, der sie in eine Wolke aus Staub und Abgasen hüllte. Ich winkte zurück und wusste, hier wollte ich bleiben.

Ich berühre meine Wange im Badezimmerspiegel. Sie fühlt sie sich kalt und schweißig an, gar nicht göttlich.

Als ich wieder aufwache, knallt die Sonne in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel auf den Fußboden. Ich höre Autos, irgendwo rufen Kinder, ein paar Straßen weiter hat ein Motor eine Fehlzündung. Das Mobiltelefon zeigt kurz nach neun. Ich sollte längst unterwegs sein. Es gibt einen Ort, den Hanna sicher aufgesucht hat. Dort werde ich mit meinen Nachforschungen beginnen.

Ich starre auf den Deckenventilator, als könne ich die Flügel durch reine Willenskraft in Bewegung versetzen. Sicher weiß Hanna inzwischen von meiner Ankunft. Ich könnte hier liegen bleiben und auf sie warten. Wie die Fliege im Spinnennetz. Der Gedanke behagt mir nicht. Ich stehe auf, muss mich an der Wand abstützen. Ich bin schwindlig, verspüre einen Brechreiz. Mein Herz hämmert. Hitze, Schlafmangel, unregelmäßige Ernährung. Das hinterlässt Spuren. Seit einer Woche ist meine Regel überfällig. Ich mache mir deswegen keine Sorgen. Ich hatte seit der letzten Blutung keinen Sex mehr. Das Phänomen heißt Amenorrhö und ist die Folge körperlicher Anstrengung und seelischer Anspannung. Ich dusche und ziehe ein frisches T-Shirt an.

Um halb zehn verlasse ich das Zimmer. Unter mir im Innenhof klirrt Porzellan. Kann es sein, dass Hanna schon auf mich wartet? Mein Herz schlägt einen Purzelbaum. Ich habe das Wiedersehen unzählige Male im Geist durchgespielt. Hanna war nie erfreut über mein Auftauchen. Ich war eine Last. Dabei weiß sie das Schlimmste noch nicht. Es könnte sein, dass sie überreagiert, wenn ich es ihr erzähle. Aber ich bin vorbereitet. Ich werde ihr keine Chance geben, sich aus der Affäre zu ziehen. Sie wird mir helfen oder mit mir untergehen.

Ich trete ans Geländer, spähe hinunter in den Hof. Die Pflanzen bilden ein grünes Dach. Zwischen Palmwedeln und Blättern sehe ich ein paar Tische. Sie sind leer. Auf einem steht benutztes Geschirr. Eine Orangenschale ringelt sich auf dem Teller. Das Geschirrklappern kommt aus einem von hier oben nicht einsehbaren Bereich. Ich laufe die Steinstufen hinunter, trete geräuschlos auf. Am Rand des Hofes suche ich Deckung hinter einem Mauerpfeiler. Auch von hier ist kein Mensch zu sehen. Das Geschirrklappern verbirgt sich hinter einer Stellwand. Dort taucht eine Frau mit Gummihandschuhen und einer Papiermütze auf. Sie steuert den benutzten Tisch an. Auf halbem Weg hebt sie den Blick, lacht und winkt zum ersten Stock hoch. Einen Moment lang ist mir, als würde ich noch da oben stehen und sie meinte mich. Ich bewege mich unwillkürlich. Die Frau bemerkt mich und grüßt. Ich verlasse meine Deckung und wünsche ihr einen guten Morgen. Es wäre lächerlich, mich weiter zu verstecken. Sie nimmt das benutzte Geschirr auf und verschwindet hinter der Stellwand. Ich laufe in den Hof und sehe hoch zum ersten Stock. Der Gang ist leer, doch ich habe das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Frau kehrt mit einem Putzlappen zurück. Ich sehe ihr zu, wie sie den Tisch abwischt. Sie fragt mich, was ich zum Frühstück möchte. Ich will nichts. Ich habe keinen Appetit.

An der Rezeption sitzt heute eine sehr junge Frau. Ihre Haut ist hellbraun, ihre Haare sind vom Ansatz weg zu schmalen Zöpfen geflochten, Meridiane, die den Kopf umspannen. Sie begrüßt mich, als würden wir uns kennen. Ihr Blick kartographiert mein Feuermal.

Ich frage sie, ob sie so etwas schon einmal gesehen hat.

Sie schüttelt den Kopf.

»But you knew it would be there.«

Sie zögert, nickt wieder, ohne die Augen von mir abzuwenden.

»You wanna touch it?«

Ihr Kopfschütteln kommt schnell. »Does it hurt?«, fragt sie.

»No.« Ich frage sie nach ihrem Namen. Sie heißt Emily. Und weil das heute meine Aufgabe ist, hole ich Hannas Foto aus meinem Rucksack. »Do you know this woman?«

Das Foto entstand auf dem Gartenfest, als die Welt noch nicht aus den Fugen geraten war. Hanna blickt in die Kamera, als habe sie gewusst, was auf uns zukam. Ihr rechter Mundwinkel ist nach unten gebogen, ihre Brauen sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen, ihre nach vor gewölbten Augen starren. So sieht sie immer aus, wenn sie fröhlich ist. Über der rechten Schulter liegt ihr Zopf, ein räudiges Ding. Valerie nannte ihn Schlamassel. Sie malte sich aus, was er fraß und sagte, sie könne ihn knurren hören.

Emily behauptet, Hanna nicht zu kennen. Ich glaube ihr. Trotzdem gebe ich nicht auf. Hanna ist eine Freundin, sage ich, die seit einem Monat in dieser Stadt lebt. Vielleicht hat sie sogar hier im Hotel gewohnt. Ich gehe nicht darauf ein, warum ich über den Aufenthaltsort einer Freundin nicht genauer Bescheid weiß. Dafür müsste ich lügen. Und eine Lüge zieht die nächste nach sich und am Ende ertrinke ich in Lügen. Also lüge ich nicht. Ich spare nur die Wahrheit aus.

Emily nickt verständnisvoll. Sie arbeitet erst seit einer Woche hier, sagt sie, ich soll Carmen fragen.

Ist Carmen die Besitzerin des Hotels?

Aber nein! Emily lacht über meine Naivität. Niemand hat so viel Geld, ein ganzes Hotel zu kaufen. Es gehört mehreren Frauen.

Gehört Emily auch dazu?

Darüber muss sie noch mehr lachen. Wenn sie Geld hätte, würde sie es ausgeben, sagt sie, auf der Stelle.

Das verstehe ich. Kennt sie alle Hoteleigentümerinnen?

Ja. – Nein. Sie kennt Carmen und die anderen Frauen aus der Umgebung. Doch es gibt eine, die erst vor kurzem dazukam. Und die ist nicht von hier. Von ihr kommt das Geld für die Renovierung. Emily hat sie noch nicht kennengelernt. Sie arbeitet erst seit einer Woche …

Ich winke ab und frage sie über Carmen aus. Carmen hat drei Kinder, erfahre ich. Ihren Ehemann hat sie zum Teufel gejagt, weil sie sich nicht auf ihn verlassen konnte.

Hat Emily auch Kinder? Die Frage ist nicht ernstgemeint. Emily ist zu jung dafür.

»Twins«, sagt sie. Das Telefon klingelt. Sie verabschiedet mich mit einem Lächeln: »Have a nice day«, sagt sie, bevor sie abhebt. Ich stelle mir vor, wie ich ihr genau in diesem Moment gestehe, was ich getan habe. Irgendwo habe ich gelesen, dass dunkelhäutige Menschen, wenn sie erbleichen, grau im Gesicht werden. Ich werde nicht versuchen, es herauszufinden.

Ich verlasse das Hotel. Draußen ist es heiß und feucht, aber die Luft hat den Siedepunkt noch nicht erreicht. Ich nehme an, hierzulande gehen fünfunddreißig Grad als angenehme Morgentemperatur durch. Ich marschiere los. Jammern hilft nicht, wenn sich etwas ändern soll, sagt Hanna. Das sehe ich genauso. Ich weiß, was ich will: ein Dach überm Kopf, Arbeit, Freunde, ein Leben.

Die Straßen rastern die Stadt in rechten Winkeln. Es ist einfach, sich zurechtzufinden. Ich orientiere mich an der Sonne und am Fluss. Hannas Geldinstitut liegt an der östlichen der beiden Brücken, fünfzehn Blocks entfernt. Ich gehe an Holzhäusern vorbei, deren pastellfarbener Anstrich in der Hitze Blasen wirft. Hütten, die von kreuz und quer genagelten Latten zusammengehalten werden. Kinder spielen mit Plastikmüll, zanken sich um kaputte Räder, hängen in Trauben an absturzgefährdeten Schaukeln. Als ich eine vierspurige Straße überquere, ändert sich die Umgebung schlagartig. Die Häuser werden größer, verstecken sich hinter Mauern, an denen Bougainvilleas wuchern, die Gärten sind gepflegt, die Veranden aufgeräumt. Nur an den Straßenrändern hängt der gleiche Plastikmüll. Zwei Blocks weiter, entlang einer Palmenallee tauchen erste Lokale und Geschäfte auf, eine Wäscherei, ein Internet-Café, eine Karaoke-Bar, Schnellimbisse, Supermärkte, eine Travel Agency, ein Übersetzungsbüro. Autos knattern an mir vorbei, die Luft riecht nach Stadt. In einer Baulücke ein Graffito: WindsChief – tauchen, surfen, wohnen. Der Pfeil zeigt zum Strand.

Mir scheint es plötzlich möglich, dass Hanna sich in einer ganz anderen Weltgegend aufhält. Was, wenn meine Nachforschungen zu oberflächlich, meine Schlüsse zu voreilig waren? Unsinn! Ich stampfe den Zweifel in den aufgeweichten Asphalt. Ich habe meine Augen und Ohren offen gehalten, ein paar Fragen gestellt und eins und eins zusammengezählt. Das Ergebnis war eindeutig.

2

Inventurdifferenz

Es begann im Februar. Was seitdem geschehen ist, hat in keinem Lichtjahr Platz.

Anfang Februar rief Siggi, mein Chef bei Alpha-Security, mich in sein Büro. Ich war eben von einem Personenschutz-Training zurückgekehrt. Dort hatte ich mir vier Rippen geprellt und fand, dass ich eine Belohnung verdient hatte. Ich wollte in Marschners Team. Er war der beste Personenschützer bei Alpha-Security. Ich wusste, es würde nicht einfach werden. Er mochte mich nicht. Als ich mich für den Lehrgang an der Sicherheitsakademie angemeldet hatte, hatte er mich beiseite genommen und gefragt, warum ich glaubte, dass der Personenschutz »mein Ding« sei. Ich stotterte herum, warf alles durcheinander: meine Fitness, meine Geistesgegenwart, die hervorragenden Bewertungen durch meine Ausbildner. Wie sollte ich erklären, was nicht zu erklären war? Ich wusste einfach, dass ich beim Personenschutz am richtigen Platz war. Punkt.

Marschner grinste abfällig.

»Ist es deshalb?«, fragte ich und legte den Zeigefinger auf das Mal an meiner Wange.

Er schnaubte. »Es liegt nicht an Ihrem Gesicht. Und um es vorweg zu nehmen, auch nicht daran, dass Sie eine Frau sind. Ich habe nichts gegen Frauen, wenn sie gut sind. Aber Sie haben sich nicht im Griff. Sie fühlen sich zu leicht persönlich angegriffen. Ich habe Sie beobachtet. Im Personenschutz brauche ich Leute, die sich nicht provozieren lassen.«

Ich schwieg, um ihm zu beweisen, dass er Unrecht hatte.

Doch Marschner war noch nicht fertig. »Sie müssen den Kopf frei haben, um die Lage zu erfassen. Gleichzeitig müssen Sie vorausahnen, was der Gegner tun wird, noch bevor er es weiß.«

»Das kann ich!«

»Sie müssen in seinen Kopf kriechen, Sie müssen seinen Hass nachempfinden können.« Marschner beobachtete mich.

»Ja, genau, das kann ich!«

»Das dachte ich mir.« Er wandte sich ab und ließ es so aussehen, als sei ich ihm in eine Falle getappt. An diesem Tag schaffte ich mir einen Sandsack an.

Als Siggi, unser Boss, mich in sein Büro zitierte, hoffte ich, Marschner habe es sich anders überlegt. Sein lauerndes Lächeln hätte mich warnen müssen.

Siggi Kammerer, Leiter der Wiener Niederlassung von Alpha-Security, sieht aus wie ein Vertrauenslehrer. Er trägt Jeans, T-Shirt und Sakko. Er ist mittelgroß und mittelkräftig, ein Durchschnittstyp, dem niemand zutrauen würde, dass er einen Haufen selbsternannter Rambos auf Kurs hält. Er muss dafür weder laut noch grob werden. Er hat seine eigene Methode. Er hat einen Haufen langweilige, schlecht bezahlte Scheiß-Jobs zu vergeben. Wer ihn ärgert, steht vor einem Juweliergeschäft Wache. Die Kollegen gingen vorsichtig mit ihm um. Frauen konnten sich mehr herausnehmen. Sobald eine Frau im Spiel war, kam Siggi sein Realitätssinn abhanden. Er hielt uns für weniger belastbar, dafür dachte er, wir müssten dahinschmelzen wie Butter in der Sonne, sobald er auftauchte. Ich erinnere mich an mein Bewerbungsgespräch. Es fand in seinem Büro statt, wo die Leute aus der Alarmzentrale uns durch eine Glasscheibe beobachten konnten. Es kam zu keiner sichtbaren Annäherung. Er hielt nicht einmal meine Hand länger als notwendig. Er wusste, was sexuelle Belästigung ist, er kannte die Grenzen. Dennoch kam ich mir am Ende des Gesprächs genötigt und betatscht vor. Es lag daran, wie er mich ansah und wie er mit mir sprach. Sein Blick zog mich aus, seine Stimme leckte mich ab. Die Kollegen draußen in der Alarmzentrale sahen nur einen aufmerksamen Zuhörer, der sich bemühte, sich eine positive Meinung von mir zu bilden. Als ich sein Büro verließ, fragte ich mich, ob ich mir alles nur eingebildet hatte.

Bernadette und Jasmin verschafften mir Gewissheit. Nach meiner ersten Woche bei Alpha-Security nahmen sie mich mit zu einem unterirdischen Schießstand irgendwo im zwanzigsten Bezirk. »Wie kommst du mit dem Boss zurecht?«, fragte Jasmin, nachdem wir die Ohrenschützer abgenommen und am Getränkeautomaten ein Cola gezogen hatten. Der Keller roch nach Schwarzpulver und Waffenöl.

»Kann mich nicht beklagen«, antwortete ich.

Bernadette und Jasmin wechselten einen Blick. »Sie ist entweder unterbelichtet oder sie traut uns nicht«, sagte Bernadette.

»Oder sie schläft mit ihm«, ergänzte Jasmin.

Bernadette verzog angewidert das Gesicht.

Ich blieb vorsichtig. »Ist doch normal in der Branche«, sagte ich, »dass du als Frau angemacht wirst, oder?«

»Ja schon«, meinte Jasmin, »aber was der Boss abzieht, ist nicht normal.«

Ich zuckte die Schultern.

»Nimm’s bloß nicht persönlich, wenn er dich anbaggert«, sagte Bernadette. »Das versucht er bei jeder. Wenn du ihm eindeutig zu verstehen gibst, dass du nicht interessiert bist, hört er damit auf.«

»Ich hab ihm gesagt, dass ich einen sehr eifersüchtigen Freund habe«, sagte Jasmin.

»Und ich, dass ich auf Frauen stehe«, ergänzte Bernadette. Sie lachten wie die Hyänen.

»Hat er keine Frau?«, fragte ich.

»Doch, er ist verheiratet«, sagte Bernadette. »Kaum zu glauben, dass dieses Arschloch eine abgekriegt hat.«

»Seine Alte soll ein harter Knochen sein«, sagte Jasmin. »Zu Hause hat er nichts zu melden. Da ist sie der Boss.«

»Geschieht ihm recht.«

»Hat er jemals eine Kollegin – herumgekriegt?«, fragte ich.

Bernadette schnaubte. »Niemals!«

»Doch«, widersprach Jasmin. »Erinnerst du dich an Luzie?«

»Die Rothaarige? Die hatte was mit ihm? Deshalb ist sie so schnell wieder verschwunden.«

Wieder lachten sie sich schief. Ich lachte mit. Wenn ich auf dem Security-Planeten unter lauter Alpha-Männern überleben wollte, brauchte ich Kolleginnen auf meiner Seite. Siggi gegenüber verhielt ich mich unentschieden. Der Mann hatte etwas, das mich interessierte: Er besaß Selbstkontrolle. Er blieb ruhig, wenn ihn jemand reizte, und schlug erst zu, wenn der andere dachte, damit durchgekommen zu sein: Dienstplanumstellung. Ich wollte wissen, wie er seinen Ärger im Zaum hielt. Dafür musste ich unter seinen Panzer kriechen.

Anfang Februar dieses Jahres also saß ich in seinem Büro, einen Arm hinter der Stuhllehne, damit meine Brüste besser zur Geltung kamen. Dabei stand Siggi gar nicht auf Brüste, doch das erfuhr ich erst später. Ich gönnte ihm eine halbe Minute, dann nahm ich Haltung an und zog die Uniformjacke straff. Er knallte eine Dossier-Mappe auf den Tisch. »Inventurdifferenz bei bauKönig. Dein Auftrag.«

Ich war seit anderthalb Jahren bei Alpha-Security, stand quasi noch in Ausbildung und bekam schon einen eigenen Auftrag. Was war das? Ein Vertrauensbeweis? Eine Anerkennung? Oder doch Erpressung? Musste ich mit ihm schlafen, damit er mich Marschner zuteilte?

»Ich will zum Personenschutz«, sagte ich.

»Ich weiß. Erste Lektion im Security-Business: vergiss deine persönlichen Wünsche. Es kommt, wie es kommt. Mach das Beste daraus. Ich bin sicher, du kannst das.«

»Wieso ich?«

Er trommelte mit einem Kugelschreiber gegen die Tischkante und starrte mir in die Augen. »Sie wollen nur Frauen.«

Das also war es. Siggi wusste, dass es im Security-Geschäft nicht mehr ohne Frauen ging. Doch er hielt die Frauenquote bei Alpha-Security niedrig. Wir waren nur eine Handvoll. »Wir können es uns nicht leisten, dass Frauen im Dienst verletzt oder getötet werden«, sagte er. »Das macht ein schlechtes Bild.« Er setzte uns nur bei Konzert- und Sportveranstaltungen und zur Patrouille in Einkaufszentren ein. Wenn ein Auftraggeber von sich aus und ohne einleuchtenden Grund weibliches Personal verlangte, ärgerte ihn das. Er war Profi genug, um dem Kunden nicht zu widersprechen. Er ließ seinen Ärger an uns aus. Dieses Mal war ich sein Ziel. Er hatte mir ein Dilemma gebaut. Ich bekam meinen ersten Auftrag, die erste Chance zu zeigen, was ich konnte, allerdings in einem Bereich mit miserablem Image. Kaufhausdetektive hatten Triefaugen und Hämorrhoiden vom Starren auf Monitore, Magengeschwüre von zu viel Kaffee und kaum mehr Befugnisse als eine Überwachungskamera.

Ich blätterte das Dossier durch und sagte: »Ich will Bernadette, Franzi und Jasmin.«

Siggi lachte. »Träum weiter!«

»Ich kann das nicht alleine durchziehen.«

»Du kriegst Bernadette. Franzi nur, wenn Marschner sie nicht braucht.«

Das schmerzte. »Wenn ich diese Sache hinkriege, komme ich zum Personenschutz, okay?«

Siggi zuckte die Schultern. »Wir werden sehen.«

So geriet ich an Hanna.

Für Inventurdifferenzen gibt es drei mögliche Ursachen: Erstens, jemand hat sich verzählt, zweitens, jemand hat sich verrechnet oder drittens, jemand klaut. Wenn verzählen und verrechnen ausgeschlossen werden können, kommen wir Profis ins Spiel und kümmern uns um das – wie es im Fachjargon heißt – »Warenschwund-Management«. Ohne konkrete Hinweise, ob der Diebstahl von Kunden, Mitarbeitern oder Lieferanten begangen wurde, fahren wir das volle Programm: wir rüsten die Überwachungssysteme auf, setzen Ladendetektive ein, schulen das Verkaufspersonal und – wenn nötig – schleusen wir Mitarbeiter ein. Letzteres ist eine umstrittene Maßnahme, deshalb setzen wir sie nur im Notfall ein. – Das war in etwa der Inhalt der Ansprache, die ich mir für die Marktleiterin der bauKönig-Filiale Wien 16 zurechtgelegt hatte.

Bevor ich mich mit ihr traf, ging ich eine Runde durch den Verkaufsraum. Wie in allen älteren Baumarktfilialen reichten die Regale bis zum Plafond. Licht kam durch verschrammte Plexiglashauben in der Decke und von Sparlampen in verzinkten Metallschirmen. Ich schritt die Gänge ab, um mir die Regalaufstellung einzuprägen. Selbstbedienungsmärkte sind im Urzustand leere Hallen. Es gibt keine Wände; nur ein paar Betonpfeiler. Für die Regalaufstellung existieren keine architektonischen Zwänge. Es ist reine Verkaufspsychologie. Es geht darum, die Kunden durch möglichst viele Gänge zu schleusen und sie an Waren vorbeilaufen zu lassen, die nicht auf ihrer Einkaufsliste stehen.

Ich benötigte nur einen Rundgang, um das Regalsystem zu überblicken. Danach hätte ich blind sagen können, wo die Spreizdübel, Holzschutz-Grundierungen, Korkkleber, Klapptrittleitern, Quetschverschraubungen, Ventileinsätze, Folienkanten, Dämmplatten, Fugenmörtel und Silikonentferner zu finden waren. Es war wie ein Nachhausekommen. Ein Baumarkt ist wie der andere. Diese Einsicht verdanke ich meinem Stiefvater Norbert. Wenn er mich vom Hort abholte, fuhren wir einkaufen. Auch wenn die Bauarbeiten ruhten, gab es Dinge, die er unbedingt brauchte. Er kaufte Spachtelmasse, Dübel, Spiralschläuche, Rohrschellen. Er überraschte meine Mutter mit einer neuen Fußmatte, einem Duschvorhang oder praktischen Haushaltsdosen. Ich bekam eine Blitze schleudernde Plasmakugel, einen Wecker, der krähte, einen Mini-Kühlschrank für Getränkedosen. Im Baumarkt erklärte Norbert mir den Unterschied zwischen Nägeln, Schrauben und Stahlstiften. Mit elf Jahren wusste ich, wie man Steckdosen montiert und Abflüsse frei macht, mit dreizehn hätte ich auf einer Baustelle anfangen können. Norbert bemühte sich, eine Beziehung zu mir aufzubauen. Ich hielt ihn für einen Schleimer. Er war nicht mein Vater. Er war nicht mal ein guter Heimwerker. Das sagte ich ihm so lange, bis er aufgab. Die bauKönig-Filiale im Sechzehnten hätte ihm gefallen. Sie war übersichtlich, aufgeräumt, selbst das Kleinzeug lag ordentlich in den Körben. Siggi hatte nicht ahnen können, dass ich die ideale Besetzung für eine Baumarkt-Überwachung war. Und ich hatte mich gehütet, es ihm zu verraten. Ich wollte nicht bei der Ladenüberwachung hängenbleiben.

In einem zweiten Rundgang durch den Markt konzentrierte ich mich auf das Überwachungssystem. Über dem Hauptgang hing ein Kamerakarussell, dessen Objektive auf die Einkaufswagen und den MisterMinit-Schlüsseldienst am Eingang starrten. Die anderen Kameras waren so angebracht, dass ich mich von einem toten Winkel zum nächsten bewegte. Warum fiel das niemandem auf? War die Überwachungskabine nicht besetzt? Ich sah mich nach Verkaufspersonal um. Ein sehbehinderter Mann sortierte Schraubenzieher ein. Er hielt jeden einzeln vor seine dicken Brillengläser und bettete ihn behutsam ins Regal. Seine Konzentration gefiel mir, doch für Ladendiebe war er eine Einladung. In der Baustoffabteilung stürmte ein Verkäufer in gelbem bauKönig-T-Shirt an mir vorbei. Sein Rausschmeißerblick war abschreckend – für Kunden, nicht für Ladendiebe. Wo Waren übernommen wurden, konzentrierten sich die Angestellten auf Lieferscheine und Verpackungen. Es waren vor allem Frauen. Ungewöhnlich viele für einen Baumarkt. Die Kundin, die eine Packung Batterien einsteckte, beachteten sie nicht. Und weil nichts passierte, steckte die Frau noch ein Ladegerät in die andere Jackentasche. Ich verfolgte sie bis zur Kasse. Sie drückte sich an der Warteschlange vorbei, der Kassierer, ein junger Mann mit zu viel Gel im Haar, sah sie nicht einmal an. Die Alarmanlage am Ausgang machte keinen Piep. Sie war entweder nicht eingeschaltet oder defekt.

Ich hatte genug gesehen und steuerte die Tür neben dem Spiegel an, hinter dem ich die Überwachungskabine vermutete. Sie führte in einen Gang, der an einer Tür mit der Aufschrift Büro endete. Da musste ich hin. Doch zunächst klopfte ich an die Ü-Kabine. Keine Antwort. Die Tür war nicht abgeschlossen, die Kabine wie vermutet nicht besetzt. Die Monitore schimmerten blind. Durch den Einwegspiegel sah ich in den Verkaufsraum. Ein Kunde kam auf mich zu und starrte mich an. Er hob das Kinn, drehte den Kopf, zeigte mir seine Zähne. Offensichtlich zufrieden mit seinem Spiegelbild drehte er ab. Ich verließ die Kabine und ging ins Büro.

Natürlich hatten die Kollegen bei Alpha-Security Wind von meinem Auftrag bekommen und ihn nach Männerart kommentiert. Ich solle achtgeben, die Auftraggeberin sei wahrscheinlich eine Lesbe und wolle mir an die Wäsche. Ich grinste, als ich an die Bürotür klopfte. Eine barsche Stimme forderte mich auf einzutreten.

Es war düster im Raum und eine altmodische Black & Decker Uhr zeigte 19,5 Grad. Die einzigen Licht- und Wärmequellen – eine Lampe, Computer und Bildschirm – befanden sich auf dem Schreibtisch, hinter dem unsere Auftraggeberin thronte. Sie stand auf, groß, schmale Hüften, mächtige Brüste, verborgen unter einem ausgeleierten Pullover, und kam mit finsterem Gesicht auf mich zu. Ihre Füße steckten in Wollsocken und Gesundheitslatschen. Auf der linken Schulter lag der damals noch namenlose Zopf. Sie musterte mich aus leicht vorquellenden Augen. »Hanna Amberg. Freut mich, dass Sie so gut gelaunt sind.«

Mir war entgangen, dass ich immer noch grinste. Ich brachte mein Gesicht in Ordnung und folgte ihr zu einer Sitzgarnitur, die von zahllosen Jeans- und Blaumann-Hintern aufgeraut war. Hanna studierte mein Feuermal. Die meisten Menschen geben vor, es nicht zu bemerken und können doch die Augen nicht davon lassen. Hanna sah es sich genau an. Ich zückte einen Drehbleistift, blätterte in der Einsatzmappe und ließ ihr Zeit. Danach hielt ich meine Ansprache. Ich schloss mit meinen Beobachtungen im Verkaufsraum: »Ihre Videoüberwachung ist eine Attrappe, die Alarmanlage am Ausgang ist defekt und das Verkaufspersonal zu wenig präsent. Ich schlage vor, wir nehmen die Überwachungskabine in Betrieb, warten Ihre Sicherheitssysteme und schulen Ihre Mitarbeiter nach.«

»MitarbeiterInnen.« Sie trommelte mit den Fingern einen Marsch auf die Armlehne. Ich überging die Korrektur. »Sprache beeinflusst das Denken«, erklärte sie mir später. »Ändere die Sprache und es ändert sich etwas in den Köpfen.«

»Es könnte sein«, sagte sie, zögerte, schüttelte den Kopf, schnaufte, »dass die Ursache für die Inventurdifferenz bei einem bestimmten Mitarbeiter zu suchen ist. Er hat ein Problem mit weiblicher Autorität.« Ich rutschte auf der abgewetzten Polstergarnitur herum. In welches Biotop war ich hier geraten? Männer nehmen Frauen nicht ernst, das ist eine Tatsache, aber es ausgesprochen zu hören, war peinlich.

»Angeblich«, präzisierte Hanna, »prahlt er vor Kollegen, dass er Waren mitgehen lässt. Er stiftet sie zum Stehlen an, weil das in einer Filiale, die von einer Frau geführt wird, ja ganz einfach sei.«

»Wenn das kein Kündigungsgrund ist«, sagte ich.

Sie lachte. »Er ist der Patensohn von Viktor König, unserem Oberboss. Damit ich René Müller entlassen kann, brauche ich handfeste Beweise. Was Sie mit der Überwachungsanlage und dem Sicherheitssystem anstellen, soll mir recht sein. Und auch alles andere. Aber wie gesagt, ich fürchte, das eigentliche Problem heißt René Müller.«

Ich schlug eine Mitarbeitereinschleusung vor.

Sie sah mich an, als hätte ich einen Korb Schlangen auf den Tisch gestellt. »Ich kann doch nicht meine MitarbeiterInnen bespitzeln lassen.«

Ich gab ihr Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.

»Und das ist der einzige Weg?«, fragte sie.

Ich nickte.

»Also gut, wenn Sie meinen.«

»Das macht dann meine Kollegin, Bernadette Winkler.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Sie machen das.«

»Aber …« Es gab mindestens zwei Gründe, die dagegen sprachen. Erstens war ich heute in Alpha-Security-Montur durch den Markt spaziert. Zweitens war ich die Kommandoführerin. Ich musste den Überblick bewahren.

»Sind Sie damit zur Welt gekommen?« Hanna zeigte auf mein Gesicht.

Ich erklärte ihr, dass das Mal eine angeborene Gefäßmissbildung war.

»Wie kommen Sie damit zurecht?«

»Ich hatte bisher keine Probleme.«

»Sie meinen, das geht mich nichts an.«

»Warum haben Sie nur Frauen angefordert?«

Wieder studierte sie mein Gesicht, diesmal war es nicht das Feuermal, das sie interessierte. »Wenn ich als Frau nicht dafür sorge, dass wir unseren Platz in der Gesellschaft bekommen, wer soll es dann tun? Wie stehen Sie zu Männern?«

Die Lesben-Sprüche der Kollegen fielen mir ein. Ich zuckte die Schultern.

»Lassen Sie sich leicht einschüchtern?«

»Kommt auf die Gewichtsklasse an.«

Ein kleines Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Sie killte es, bevor es zu offensichtlich wurde. »Wann fangen Sie an?«

Wir einigten uns, dass sie mich als Aushilfe einstellen würde. Ich warnte sie, dass mich der eine oder die andere wiedererkennen und meine Tarnung gleich am ersten Tag auffliegen könnte.

Ihr Blick wanderte mehrmals zwischen meinem Gesicht und dem kleinen roten Alpha-Security-Logo auf dem dunkelblauen Pullover hin und her. »Wahrnehmungspsychologisch ist es wahrscheinlicher, dass die Leute sich an ihr Gesicht erinnern. Aber das riskieren wir.« Sie stand auf. Ihr Händedruck war kurz und trocken.

3

Undercover im Baumarkt

Am Sonntag, bevor ich bei bauKönig anfing, richtete ich mit Bernadette das Überwachungssystem ein.

»Hast du mir das eingebrockt?«, fragte sie, als ich ihr die Überwachungskabine, ihren künftigen Arbeitsplatz, zeigte. »Sonntagsdienst ist okay. Ich kann die Zulage brauchen. Aber Kaufhausüberwachung! Hast du sie noch alle?«

»Beschwer dich bei der Marktleiterin. Sie wollte nur Frauen. Ich hab ihr Siggi vorgeschlagen, aber der gefiel ihr nicht.«

Bernadette zog eine Grimasse. »Und wieso muss ich in die Kabine und du vergnügst dich draußen?«

»Als Aushilfe schleppst du Waren und lässt dich herumkommandieren. Verstehst du das unter Vergnügen?«

Bernadette knurrte.

Um sie zu versöhnen, trug ich die Leiter von Kamera zu Kamera, während sie es sich in der Überwachungskabine bequem machte und mir Anweisungen ins Headset bellte. Nachdem wir die letzte Kamera eingerichtet hatten, blieb ich einen Augenblick auf der Leiter stehen, um auf die Bezirke des bauKönig-Landes zu blicken. Im Vorbeigehen berührte ich die Maserung der Parkettbodenbretter und strich über die staubigen Rücken der Zementsäcke. Meine Arbeit als Aushilfe mochte nur Tarnung sein, doch sie berechtigte mich, diese Gänge als mein Territorium zu betrachten. Ein wohliger Schauder überlief mich. Bernadette störte meine Vorfreude, indem sie übers Headset fragte: »Und du bist sicher, dass dich niemand erkennt?«

Am Montagmorgen begleitete mich Hanna in den Pausenraum. Er war überheizt, es roch nach Essiggurken, Mandarinenschalen und Automatenkaffee. Es wurde laut geredet und viel gelacht. Die Unterhaltungen verebbten, als wir kamen. Eine erwartungsvolle Stille trat ein. Wieder fiel mir auf, wie viele Frauen hier arbeiteten. Sie waren in der Überzahl. Lediglich links hinten gab es eine Männer-Ecke.

Bei Alpha-Security hatte ich gelernt, breitbeinig zu stehen, das Gewicht gleichmäßig auf beide Füße verteilt, die Hände auf dem Rücken. Das beugt Kreuzschmerzen vor und hält einem die Leute vom Leib. Die Haltung wirkt wie ein unsichtbarer Schild. Ein gutes Gefühl. Doch mit dieser Haltung wäre ich bei bauKönig aus der Rolle gefallen. Ich war nur eine Aushilfe, ein schüchternes Mädchen vom Land, naiv, gutmütig, hilfsbereit. Das war die Rolle, die ich mir für den Einsatz zurechtgelegt hatte. Ich lächelte dümmlich und wusste nicht, wohin mit den Händen. Und weil mir die Aufmerksamkeit so vieler Unbekannter unangenehm war, fixierte ich die Korkpinnwand, von der mir Hochzeitspaare, Säuglinge, Schulanfänger, Firmlinge und Maturanten entgegenlächelten. Dazwischen Fotos von Betriebsfeiern. Die Belegschaft in bauKönig-Blau-Gelb, in unterschiedlichen Stadien der Alkoholisierung.

Hanna hielt sich kurz. Ich sei die neue Aushilfe, sagte sie, wer etwas für mich zu tun habe, solle mich einsetzen. Ich senkte den Blick. Kurz nachdem wir zu Norbert gezogen waren, war ich so vor meiner neuen Klasse gestanden. Die Lehrerin hatte meinen Mitschülern eine Strafpredigt gehalten, weil sie mich gehänselt hatten. Vor mir saß der Bub, den ich ins Ohr gebissen hatte. Er hatte mich Monster genannt. In der Pause teilte er mir mit, er sei bei der Schulärztin gewesen und habe sie gebeten, ihn gegen Tollwut zu impfen. Die anderen Kinder lachten.

Hanna teilte der Belegschaft mit, dass das Überwachungssystem nun wieder in Betrieb sei und eine Ladendetektivin den Verkaufsraum beobachte.

»Und wozu soll das gut sein?«, kam es aus der Männer-Ecke. Der Fragesteller war der unaufmerksame Kassierer mit der Gel-Frisur. Sein Haar war zu einem kleinen Hahnenkamm geformt. War das René Müller?

»Es wird zu viel gestohlen«, sagte Hanna.

»In allen Filialen oder nur bei uns?«

Hanna ließ sich auf keine Diskussion ein. »Andere Filialen sind andere Filialen, Herr Hempfel. Sie arbeiten hier. Wenn Sie sich versetzen lassen wollen, sagen Sie es mir.«

Der Hahnenkammträger zog einen Flunsch und schwieg.

»Demnächst wird es eine MitarbeiterInnenschulung geben«, fuhr Hanna fort, »bei der Sie lernen werden, wie Sie Ladendiebstähle verhindern, beziehungsweise sich im Fall des Falles verhalten. Fragen?«

Es gab keine Fragen. Hanna wünschte uns einen guten Arbeitstag und verließ den Pausenraum. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, krähte Hempfel: »Diebstahl? Die kann mich mal, die Alte. Die will doch nur uns Männer loswerden, diese Emanze.«

»Es ist wegen Inventurdifferenz«, sagte eine Frau mit langem schwarzem Haar und starkem Akzent.

»Vielleicht geht es ja der Alten an den Kragen«, sinnierte Hempfel. »Sie war nicht gerade begeistert von dem Überwachungs-Ding, oder?«

Im Pausenraum wurden die unterbrochenen Unterhaltungen fortgesetzt. Hier und dort wurde über die Inventurdifferenz geredet. Auch ich war Gesprächsstoff. Blicke streiften mein Gesicht. Diese Unterhaltungen wurden leise geführt. Ich stand immer noch am selben Platz, wie bestellt und nicht abgeholt, bis ein Mädchen mit Pferdeschwanz und Sommersprossen auf mich zutrat. Sie schüttelte mir die Hand, wie man eine Dose Farbe mischt. »Ich bin die Nicole. Ich hab gerade die Lehrabschlussprüfung gemacht. Es wird dir bei uns gefallen. In der ersten Woche fällst du abends wie ein Stein ins Bett, danach wird’s besser.« Sie lachte mit einem Schnarchgeräusch. Die ganze Zeit konnte sie die Augen nicht von meinem Feuermal losreißen. Schließlich wandte sie den Blick ab. »Komm mit, ich stelle dir die anderen vor.«

Ich gab mir keine Mühe, mir die Namen zu merken. Mich interessierte nur einer: René Müller. Doch außer dem Sehbehinderten, der mir bei meinem ersten Rundgang aufgefallen war, sprach Nicole keinen Mann an. Der Sehbehinderte hieß Herbert und gab einen bellenden Laut von sich, als Nicole ihn mir vorstellte. Ich fragte sie, warum er nicht bei den anderen Männern säße.

»Ach die«, sagte sie. »Die können nur angeben und schimpfen. Das interessiert den Herbert nicht.«

Sie führte mich zu der Schwarzhaarigen mit dem Akzent. Die Frau saß auf einem Tisch und hatte den Dienstplan auf den Knien. Sie trug einen kurzen Rock unter ihrem bauKönig-Arbeitsmantel und grün-schwarz karierte Strümpfe. Ihr Styling war zwanzig Jahre jünger als ihr Gesicht. Sie diskutierte mit einer Frau mit dunkler Warze am Nasenflügel. Die beiden sprachen Serbisch. »Das ist Frau Vladinkovic«, sagte Nicole, »unsere Hauptkassiererin.« Sie schwang sich neben der Schwarzhaarigen auf den Tisch, legte die Hände unter die Kniekehlen und ließ die Füße baumeln. Frau Vladinkovic beendete ihre Unterhaltung mit der Warzenfrau, indem sie mit der Hand wedelte, was bedeuten konnte: mach dir keine Sorgen, aber ebenso gut: lass mich in Ruhe. Die Warzenfrau zog sich zurück. Frau Vladinkovic legte den Dienstplan beiseite und begann, mich auszufragen. Ich hielt mich, soweit es ging, an die Wahrheit, wie ich es im Lehrgang Verdeckte Ermittlung gelernt hatte. So wirkte man überzeugend und verringerte die Gefahr, sich zu verplappern.

»Ich bin in Teesdorf aufgewachsen«, sagte ich.

»Wo?«, fragte Frau Vladinkovic.

»Ich hab die Schule abgebrochen.«

»Warst du jung und dumm.«

»Hab mich mit Aushilfsjobs durchgebracht.«

»Oijoijoi!«

»Vielleicht kann ich hier eine Lehre machen. Ich bin so froh, dass ich die Stelle gekriegt habe. Ich tu alles, damit ich sie nicht verliere.«

Frau Vladinkovic schnalzte mit der Zunge. »Immer langsam mit die junge Pferde! Chefin ist kluge Frau. Machst du deine Arbeit gut, sie wird dir behalten.«

Nicole nickte. Sie wollte etwas sagen, doch Frau Vladinkovic war schon beim nächsten Thema. »Was ist das?« Sie zeigte auf mein Feuermal. »Hast du dir verbrannt?«

Ich erklärte ihr, was ein Feuermal war. »Wie Michail Gorbatschow«, sagte ich. Frau Vladinkovic nickte. Sie wusste, wer Michail Gorbatschow war. Nicole machte ein Schafsgesicht.

»Kannst du nicht wegmachen lassen?« Die Hauptkassiererin radierte durch die Luft. »Bist du hübsches Mädchen.«

Ich zuckte die Schultern und schwieg. Ich fragte mich, ob Michail Gorbatschow je diese Frage gestellt worden war. Das Feuermal gehörte zu meinem Gesicht, ich konnte es mir ohne die violette Hälfte nicht mehr vorstellen. Es wäre das Gesicht einer beliebigen jungen Frau gewesen. Frau Vladinkovic betrachtete mich, als könne sie in mich hineinsehen. Ich versteckte mich hinter einem dümmlichen Lächeln, das ich vor dem Spiegel geübt hatte, bis ich mir selbst die Harmlosigkeit abgenommen hatte.

Es heißt, der Zufall ist ein Freund der Tüchtigen. Ich musste an diesem Tag sehr tüchtig gewesen sein. Der Zufall arbeitete mir geradewegs in die Hände. Ich konnte mich nicht direkt nach René Müller erkundigen. Das hätte Verdacht erregt. Also versuchte ich es auf einem Umweg. Ich wies mit einer Kopfbewegung auf die Männer-Ecke und fragte Nicole und Frau Vladinkovic: »Redet ihr nicht mit denen?«

Auf Frau Vladinkovics rotem Mund erschien ein mitleidiges Lächeln. »Männer fürchten sich, weil wir sind so viele Frauen. Haben Angst, alles verlieren: Arbeit, Geld, kleine Mann.« Sie zeigte auf ihren Schritt.

Nicole lachte schnarchend. »Hast du gesehen«, sagte sie, »der René ist schon wieder im Krankenstand.«

Die Hauptkassiererin rollte die Augen.

»Was fehlt ihm denn?«, fragte ich unschuldig.

»Er hat Tachinitis«, sagte Nicole.

»Oh!«

Nicole zuckte die Schultern und sagte laut in Richtung Männer-Ecke: »René ist der Patensohn vom Oberboss. Der kann sich alles erlauben.«

Das kam an, aber nicht gut. »Die Alte meckert ständig an René rum«, rief der Kassierer mit dem Hahnenkamm. Er schleuderte einen bösen Blick in unsere Richtung.

»Herr Heeempfel!« Frau Vladinkovic rutschte vom Tisch. »Wieso Sie sind noch nicht an Kasse?«

Hempfel wurde rot. »Scheiß Weiberwirtschaft. Die Nicole kennt nicht mal den Unterschied zwischen einer Schraube und einem Nagel. Die gehört an die Kasse.«

Bevor Nicole antworten konnte, sagte Frau Vladinkovic: »Nicole hat Lehre abgeschlossen. Sie nicht.«

Darauf wusste Hempfel keine Antwort. Er stampfte aus dem Raum. In der Männer-Ecke wurden Blicke gewechselt.

An diesem Tag musste ich die Sonderangebotskörbe auffüllen. Es war eine verdammte Schlepperei. Hin und wieder blickte ich zu einer Kamera hoch und ließ die Zunge heraushängen, damit Bernadette wusste, dass sie auf der Butterseite gelandet war. Nach Arbeitsschluss ging ich in Hannas Büro. Es war wie bei meinem ersten Besuch dunkel und kalt. Hanna saß an ihrem Schreibtisch und sah mich überrascht an.

»Ich brauche Müllers Personalakte«, sagte ich.

»Wozu?«

»Er ist im Krankenstand. Ich will wissen, was ihm fehlt.«

»Das werden Sie nicht in seiner Personalakte finden.«

»Sozialversicherungsnummer plus Name des Hausarztes ergibt Krankendaten.«

»Es gibt etwas, das nennt sich Arztgeheimnis.«

»Wer sagt, dass ich frage?«

Sie runzelte die Stirn. »Da muss man ja Angst bekommen.«

Ich zuckte die Schultern.

Sie schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir nicht.«

»Dann fragen Sie nicht nach. Kann ich Müllers Daten haben?«

Sie sog die Lippen ein. Der Zopf in ihrer Halsbeuge sträubte das Fell. Ich suchte unwillkürlich nach Augen in dem Ding. Schließlich hackte Hanna in die Tastatur. Jeder Anschlag ein Protest. Unwillig drehte sie mir den Bildschirm zu. Ich notierte Müllers Adresse und nahm mir Zeit, sein Foto zu studieren: die weißblonden Haare, das aufgequollene rote Gesicht, die kleinen Augen.

Hanna beobachtete mich. »Finden Sie keine bessere Arbeit?«

»Inwiefern besser?«

»Sie spionieren Leute aus!«

»Wenn’s die richtigen sind, finde ich das okay.«

»Okay? Nur okay? Sie sind jung. Verlangen Sie mehr!«

»Ich mag meine Arbeit. Und ich bin gut darin.« Letzteres war noch zu beweisen, doch ich war fest entschlossen, den bauKönig-Auftrag dafür zu nutzen.

»Fragen Sie sich nie, ob Sie nicht für die falsche Seite arbeiten?«, fragte sie.

»Jedes Kind weiß, was gut und was böse ist«, sagte ich.

»Ein sehr männlicher Blick auf die Welt.« Ich bemerkte ein spöttisches Flackern in ihren Augen. »Hier gut, dort böse und nichts dazwischen. Praktisch und eindimensional.«

Ich verabschiedete mich, ohne weiter darauf einzugehen. Ich hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen. Als ich in die Garderobe kam, wartete Nicole auf mich. »Alles in Ordnung? Was wollte sie von dir?«

Ich machte mir am Schloss meines Spindes zu schaffen, um Zeit zu gewinnen. »Sie hat mich gefragt, wie mein Tag war. Ist das normal?« Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

Nicole strahlte. »Ja, so ist sie! Sie kümmert sich um uns.«

»Mir scheint sie ziemlich … streng«, wandte ich ein.

»Sie verlangt schon, dass wir uns anstrengen. Wenn du willst, lobe ich dich ein bisschen.«

Ich zuckte die Schultern. In Nicoles Spind klebte ein Foto. Unverkennbar ein Popstar. »Ist das dein Freund?«, fragte ich.

Sie lachte sich halb tot. »Das ist Bryan Adams! Hörst du keine Musik?«

»Doch. Ich weiß, wer Bryan Adams ist, aber ich weiß nicht, wie die Typen aussehen, die sie im Radio spielen.«

Nicole sah mich an, als käme ich vom Mars. »Ja, schon, aber Bryan Adams!«

»Ich interessiere mich nur für Männer, die greifbar sind.«

Sie lachte. »So eine bist du.«

In meinem Leben als Baumarkt-Aushilfe würden Nicole und ich Freundinnen werden. Es würde nicht schwer sein, herauszufinden, wofür sie sich interessierte, und bald würden wir einander unsere geheimsten Wünsche anvertrauen. Undercover-Einsätze sind wie Reality-Shows, du bekommst Einblicke, um die du nicht gebeten hast und die dich nicht gescheiter machen. Alle wünschen sich Liebe, Anerkennung, Geld und ein glückliches Leben. Im Unterschied zur Reality-Show kannst du allerdings nicht einfach wegzappen. Ich dankte Nicole, dass sie auf mich gewartet hatte, schlüpfte in meine Jacke und machte mich aus dem Staub.

René Müller wohnte in einem Gemeindebau in Simmering. Kleine Fenster, großer Hof, ein fettes Gittertor – die Anlage war eine Festung. Ich eroberte sie mit einem Kindertrick. Einmal Klingelputzen und ich war drin. An diesem Abend musste ich mir keine Sorgen machen, dass Müller mich später an meinem Feuermal wiedererkennen würde. Ich hatte es überschminkt. Das mache ich nur selten, weil das Make-up juckt und bei Tageslicht ein dunkler Schatten sichtbar bleibt. Nachts, bei schummriger Beleuchtung, fällt das nicht auf. Da bin ich eine Frau mit einem Allerweltsgesicht, an das niemand sich erinnert.

Die Aufklärungsmission auf Müllers Stiege ergab, dass seine Wohnung straßenseitig lag. Hinter seiner Wohnungstür hörte ich gedämpfte Stimmen, Stille, Musik. Müller sah fern. Als ich wieder unten auf der Straße vorm Eingangstor stand, läutete ich an. Eine Stimme sagt so viel mehr über eine Person als ein Foto. Müllers »Ja?« in der Gegensprechanlage hätte selbst einen Schuldeintreiber verjagt. Ich antwortete nicht. Er schickte einen Fluch nach unten und hängte ein. Das klang wie ein Peitschenknall.

Ich wechselte die Straßenseite. Nach dem Lokalaugenschein konnte ich Müllers Wohnung ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock zuordnen. Der Zufall schenkte mir eine Überwachungskabine. Dem Wohnhaus gegenüber lag ein Wett-Café mit dunklen spiegelverglasten Fenstern. Ich bezog in eine Zweier-Koje Stellung. Der Automat am Fenster war frei. Vor dem anderen hockte ein Klappergestell von einem Mann und starrte auf rotierende Walzen. Plötzlich warf er sich mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf eine orange leuchtende Taste. Die Walzen stoppten. Ich sah ein Kleeblatt, noch eines und einen Blitz. Lampen blinkten, der Automat schnarrte schadenfroh. Der Mann warf eine neue Münze ein, ohne den Blick zu heben. Er ignorierte meinen Gruß.

Ich bemühte mich nicht, zu verstehen, welche Art Aufmerksamkeit mein Automat von mir erwartete. Ich steckte ein Zehn-Cent-Stück in den Münzeinwurf und überließ alle weiteren Entscheidungen der Maschine. Vor dem Fenster klatschten große Schneeflocken auf den Gehsteig, wo sie auf der Stelle zerrannen. Von Müllers Wohnung sah ich ein Segment einer Deckenleuchte, sonst nichts. Plötzlich erlosch das Licht. Ich schlüpfte in meine Jacke und warf mir den Tragriemen der Fototasche über, die ich auf dem Weg in der Firma geholt hatte. Kurze Zeit später verließ ein Mann in Halbschuhen und Jeansjacke, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern hochgezogen, das Haus. Ich erkannte Müller an dem weißblonden Haar, das unter der Torlaterne aufl