Iqbal Farooq und der böse Pantomime - Manu Sareen - E-Book

Iqbal Farooq und der böse Pantomime E-Book

Manu Sareen

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Beschreibung

"Äh, was ist denn das? Das sind doch die Terroristen aus dem Fernsehen!" – ruft Sjoko aus der 9. Klasse, als er Iqbal und seinen kleinen Bruder Tariq im Schulhof sieht. Es ist der Tag nach dem großen Knall, der die Erde im nördlichen Teil der Stadt zum Beben brachte. Iqbal war noch nie gut in Physik, aber mithilfe von Tariq und Radiergummifusseln, Kleber und einer Handvoll Tannennadeln kommt trotzdem mehr Schwung in den Physikversuch als geplant.Über die Explosion wird auch noch in den Nachrichten im Fernsehen berichtet. Während das Leben zu Hause bei Familie Farooq in der Blaustraße wie gewohnt weitergeht, sind dunkle Kräfte außerordentlich interessiert an der angeblich heimlichen Explosionsformel.Als Iqbal und seine Familie in ihrem alten Mazda und mit einem kleinen Zelt vom Zirkus Krone kurz darauf in Jütland Campen gehen, sind sie in viel größerer Gefahr, als sie ahnen.-

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Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Iqbal Farooq und der böse Pantomime

Übersetzt von Sigrid Andersen

Titel der Originalausgabe: Iqbal Farooq og den sorte pjerrot

Originalsprache: Dänisch

Coverimage/Illustration: Original

Copyright ©2022, 2023 Manu Sareen und SAGA Egmont

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9788728273111

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Manu Sareen

Iqbal Farooqund der böse Pantomime

Übersetzung: Sigrid Andersen

So werden die Namen der Familie Farooq ausgesprochen:

Iqbal Farooq: ik’bal fa’ruk

Tariq: ta’rik

Rafig: ra’fik

Nazem: na’sim

Fatima: ’fatima

Nasrin: nas’rin

Dindua: ’dindua

5

„Komm herein, Iqbal!“

Ich atmete tief ein und betrachtete noch einmal das Schild. In einer Ecke hing ein kleines Herz schief, in der Mitte stand in Großbuchstaben:

Jeanette Ölholm – Schulpsychologin.

Ich öffnete die Tür. Das Büro war groß und hell. Hinter einem braunen Schreibtisch saß eine Dame mit rotem Haar und bastelte Weihnachtsdeko.

„Hallo, Iqbal. Ich heiße Jeanette und bin die Psychologin hier an der Schule. Wir zwei können heute miteinander reden, ist das nicht toll?“

Sie lächelte.

„Jetzt ist ja bald Weihnachten, und ich muss alles schön schmücken“, erklärte sie und zeigte auf eine riesige Schachtel mit Weihnachtsschmuck. Sie sah mich ernst an.

„Also, Iqbal, das war ja wirklich schrecklich für dich. Leg dich mal hier auf die Liege und erzähl mir, was im Vergnügungspark passiert ist. Es ist wichtig, mit einem Erwachsenen darüber zu sprechen.“

Ich dachte, dass es schwer werden würde, ein Wort einzuwerfen, wenn sie weiterhin so viel redete. Ich wusste auch

gar nicht, wo ich anfangen sollte, denn eigentlich war mir das alles zu viel.

„Was fällt dir zuerst ein, Iqbal?“

Jeanette Ölholm nickte aufmunternd, lächelte und bastelte weiter an ihrer Weihnachtsdeko.

Ich schloss die Augen und dachte lange nach.

Ich sah den Weihnachtsbaum vor mir. Alles begann, glaube ich, damit, dass mein Vater einen Weihnachtsbaum haben wollte ...

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Kapitel 1

Der Weihnachtsbaum

„Iqbal! Fatima! Los, kommt! Tariq wartet bereits unten auf euch!“

Papa hüpfte in seiner grünen Unterhose im Wohnzimmer herum, während er die Zähne so heftig schrubbte, dass die Zahnpasta nur so aus seinem Mund spritzte. „Wir holen uns den schönsten und größten Weihnachtsbaum im ganzen Wohnblock. Im ganzen Viertel!“

„Aber Papa, du kannst doch alleine zum Blauhofplatz gehen und einen Weihnachtsbaum kaufen“, meinte Fatima und kroch noch weiter unter die warme Decke.

„Wir kaufen den Baum nicht dort auf dem Platz“, antwortete Papa. „Das ist zu teuer. Ich habe mit Rafig gesprochen. Er kann uns günstige Weihnachtsbäume besorgen. Einer seiner Kollegen wohnt auf dem Land. Dort kann man einen für 10 Euro kaufen. Man muss nur eine Säge mitbringen.“

Fatima erwachte ruckartig.

„Das machst du nicht, Papa!“, rief sie und lief ins Wohnzimmer.

„Nicht mit Onkel Rafig. Immer passiert etwas, wenn man ihn nur erwähnt!“

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„Komm schon, Fatima. Komm, mein Mädchen“, lachte Papa und tanzte einen indischen Tanz um sie herum, während er ein Lied aus seinem Heimatland sang. „Wir holen uns den schönsten Weihnachtsbaum in ganz Deutschland!“

Fatima ist die coolste große Schwester, die man sich wünschen kann. Sie kann Dinge zu Mama und Papa sagen, die andere nicht im Traum sagen würden. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sie Polizistin werden will, wenn sie groß ist. Und sie geht zum Karateunterricht und hat schon den schwarzen Gürtel. Papa ist der Meinung, dass sich das nicht schickt. Aber sie ist trotzdem stolz darauf. Fatima geht in die 1. Klasse des Metropolitan-Gymnasiums. Alle finden, dass sie wunderschön ist. All unsere Freunde sind verschossen in sie.

Papa war glückselig bei der Vorstellung, dass er am Weihnachtsabend den schönsten Weihnachtsbaum vorzeigen könnte. Kurz darauf waren wir auch schon auf dem Weg zu dem Ort, den Onkel Rafig uns genannt hatte. Fatima saß vorne bei Papa. Tariq und ich saßen hinten. Tariq ist wahrscheinlich der Klügste in unserer Familie. Er geht erst in die 5. Klasse, aber er macht Fatimas Hausaufgaben und ist wirklich intelligent. Er löste auch die Mensa-Aufgaben in Rekordzeit. Papa meint immer stolz, dass Tariq seine Intelligenz von seiner Seite der Familie geerbt hat. Mama denkt, sie kommt von ihrer Seite. Aber sie sind sich darüber einig, dass nur eine Sache wichtiger im Leben ist als das Leben selbst. Nämlich, dass Tariq Arzt wird. Da ist nur das kleine Problem, dass Tariq in Ohnmacht fällt, sobald er Blut sieht, und dass er davon träumt, Physiker zu werden.

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„Dieser Idiot von Rafig! Warum bloß zeichnet er die Karte auf so eine zerknüllte Serviette“, fluchte Papa, als wir zum 120. Mal falsch gefahren waren.

Aber die Musik von seiner Bollywood-Kassette dröhnte aus den Lautsprechern und machte es ihm unmöglich, schlechte Laune zu haben. Schließlich fanden wir den Ort, mitten in einem Wald, weit weg von der Autobahn. Wir fuhren auf einen Hof. Papa schaute sich nervös um, während er die Musik abstellte.

„Glaubt ihr, dass es hier Hunde gibt?“

Er fürchtet sich unheimlich vor Hunden. Er selbst erzählt, dass er keine Angst hat, aber lieber vorsichtig ist, denn in Indien sind Hunde genauso groß und gefährlich wie Löwen. Das letzte Mal, als wir in Indien waren, haben wir nach den großen Hunden Ausschau gehalten, sie aber nie gesehen, obwohl Papa uns versichert hatte, dass sie irgendwo da draußen wären.

„Iqbal, steig rasch aus und schau, ob es hier Hunde gibt.“

Ich stieg aus und sah nach, ob die Luft rein war.

„Komm nur, Papa.“

Aber während er ausstieg, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen:

„Oh nein, ein Hund! Lauft um euer Leben!“

„Du meine Güte! Ich wusste es!“, schrie Papa und sprang wieder ins Auto. In der Hektik schlug er mit dem Kopf gegen die Hupe. Diese tutete so laut, dass jeder Hund vor Schreck weggelaufen wäre. Als Papa sich traute, die Situation selbst unter die Lupe zu nehmen, sah er Tariq, den kleinen Bengel, der am Boden lag und sich vor Lachen wälzte, sodass Tränen über seine Wangen liefen:

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„Da war ein Löwe, Papa, ein Löwe!“

„Sehr lustig, Iqbal, wirklich lustig“, sagte Papa und versuchte so aus dem Auto auszusteigen, als ob nichts passiert wäre. „Und du, Tariq? Wie findest du die Idee, dass wir bald ein Internat für dich in Kalkutta suchen?“

Wir sahen uns um. Ein großes, rotes Haus mit Gras auf dem Dach lag vor uns. So eines, wie man sie auf Postkarten aus Schweden oder Bornholm sieht. Dahinter stand ein WC-Häuschen, daneben ein alter Schuppen.

Papa klopfte an, aber niemand öffnete. Er kniete sich hin und blinzelte durch den Briefeinwurf, bevor er den Mund daranlegte und rief.

„HAAALLOOO...!“

Niemand antwortete. Also blieb uns nichts übrig, als einen Baum zu finden und schnell wieder nach Hause zu fahren. Aber jetzt entdeckte er eine Axt und eine große, orange Straßenarbeitsjacke, die neben der Türe hing.

„Oh!“, rief er. „Rafigs Kollege hat die Jacke für mich da hingehängt, damit ich nicht schmutzig werde, wenn ich wie ein Mann schufte.“

Er zog die Jacke an. Er sah merkwürdig darin aus! Die Jacke war mindestens zehn Nummern zu groß. Sie ging ihm bis zu den Knien. Seine Arme sah man überhaupt nicht mehr. In Wirklichkeit sah er aus wie ein Orang-Utan, aber Papa war stolz wie ein Feldwebel. Bewaffnet mit der Axt und der orangefarbenen Jacke stapfte er mit schnellen Schritten in die Natur hinaus. Fatima, Tariq und ich folgten ihm, so gut es ging.

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Papa verirrte sich rasch im Dickicht. Kurz darauf hörten wir einen Schrei: „Da ist er!“

Wir folgten dem Schrei und fanden ihn. Er kniete vor dem Baum, als ob es Tanweer Starfield , sein Lieblings-Bollywood-Schauspieler, wäre. Papa hatte nicht irgendeinen Baum gefunden. Es war garantiert der größte Baum in einem Umkreis von mehreren Kilometern. Ja, es war sogar ein Baum, der auf den Rathausplatz gepasst hätte. Aber Papa hieß ja nicht umsonst Nazem Farooq, Sohn von Jaspal Farooq.

„Es ging um die Ehre“, erklärte er. „Ich bin aus Indien und kann mich auf keinen Fall mit einem kleinen, einfachen Baum zufriedengeben.“

„Papa ist verrückt geworden“, flüsterte Tariq. „Wir können auch jetzt gleich die Polizei anrufen, damit sie ihn holen kommen. Das ist doch nicht normal, dass Papa sich wie ein Affe aufführt, der gerade einen indischen Bollywood-Schauspieler auf einem Feld gesehen hat.“

„Aber Papa“, sagte ich. „Der passt doch gar nicht in die Wohnung ...“

„... der ist doch mindestens sechs Meter hoch“, mischte sich auch Fatima ein.

„Ja, mindestens sechs Meter“, wiederholte ich.

„Nein, nein“, meinte Papa. „Wir schneiden nur unten ein wenig ab, dann hat er Platz.“

Mit Müh und Not konnten wir den Weihnachtsbaum zu unserem Mazda 626 aus dem Jahr 1986 schleifen und aufs Autodach bugsieren. Aber als wir gerade einsteigen wollten,

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kam eine Stimme aus dem roten Postkarten-WC:

„Was zum Teufel macht ihr da?“

Wir drehten uns um und sahen einen riesigen Kerl in einem karierten Hemd, die Ärmel bis zu den Schultern hochgekrempelt, der auf uns zukam. Seine Arme waren voller Tätowierungen von Schiffen, aber das Einzige, woran ich denken konnte, war, wie dieser Riese eigentlich ins WC und wieder heraus gekommen war.

„Seid ihr taub oder muss ich es buchstabieren? Seid ihr aus dem Flüchtlingslager abgehauen?“, rief er.

„Äh …“, stammelte Tariq, wurde aber von Papa unterbrochen:

„Hallo, mein guter Männling!“

„Papa, das heißt doch nicht ‚mein guter Männling‘“, flüsterte Fatima.

„Ja, wir feiern Weihnachten und haben von meinem Bruder einen deutschen Weihnachtsbaum gekauft. Er ist mit Ihnen zur Schule gegangen. Jetzt wollen wir nach Hause und ...“

„Jetzt halt mal die Luft an, Mustafa! Ich bin weder mit dir noch mit deinem Bruder je zur Schule gegangen“, unterbrach ihn der Waldarbeiter.

„Ich heiße nicht Mustafa, sondern Nazem“, merkte Papa freundlich an. Aber jetzt hatte der Waldarbeiter das Auto mit dem riesigen Weihnachtsbaum gesehen.

„Halt den Mund, zum Teufel! Das ist das achte Mal in dieser Woche, dass jemand kommt und meine Weihnachtsbäume klaut. Und du hast tatsächlich auch noch meine Jacke gestohlen! Wer glaubst du eigentlich, wer du bist, Mustafa?“

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Papa hatte gar nichts kapiert.

„Ich heiße nicht Mustafa. Mein Bruder, Ihr Schulkollege, hat gesagt ...“

„Scheiß auf deinen Bruder!“

Der Kopf des Waldarbeiters war hochrot.

„Ihr habt meinen besten Baum gefällt, den ich dem Rathaus für nächstes Jahr versprochen hatte! Und obendrein klaut ihr meine Arbeitsjacke, während ich auf dem Klo sitze. Das wird euch teuer zu stehen kommen!“

Der Waldarbeiter machte eine lange Pause, während er nach Luft rang. Ich hatte wirklich Angst, dass er völlig explodieren würde. Das hätte wohl nicht so gut ausgesehen auf der Titelseite der Zeitung – ein Bild von einem Waldarbeiter, der vor Zorn einfach explodiert ist, und mein Vater daneben, voller Waldarbeiterblut und Eingeweiden, mit seiner orangefarbenen Jacke und der Säge in der Hand. Nein, eine kleine Pause wäre jetzt ganz vernünftig. Aber nicht für Papa, denn der bekam einen ordentlichen Schreck.

„Der Baum da, der kostet siebenhundert, Mustafa, und zwar nicht Datteln, sondern Euro!“

„Sie… sieben… siebenhundert Euro?“, stammelte Papa Auf dem Weg nach Hause war es im Auto mucksmäuschenstill. Das Einzige, was wir hörten, war Papas Puls. Der raste mit 180 dahin, während er etwas über Onkel Rafig und seinen idiotischen, erfundenen Schulfreund stammelte, der am besten mit einigen Eseln in die türkischen Bergketten geschickt werden sollte. Die Stimmung wurde auch

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dadurch nicht besser, dass Tariq seinen Kopf aus dem Fenster gesteckt und beim Wegfahren gerufen hatte:

„Good Bayrut, du Bayern-Fan!“

Mitten auf der Autobahn bemerkte Papa, dass er noch immer die orangefarbene Jacke des Waldarbeiters trug. Er trat so hart aufs Bremspedal des Mazdas, dass es quietschte und das Auto ins Schleudern kam. Dann fuhr er zur Seite, riss sich die Jacke vom Leib, warf sie auf die Autobahn und trampelte darauf herum, während er laut auf Punjabi fluchte. So laut, dass er die Sirene des Motorradpolizisten gar nicht hörte, der in der Zwischenzeit neben seinem Auto angehalten hatte. Er bemerkte auch den Stau nicht, der sich nach und nach hinter uns gebildet hatte.

„Haben Sie eigentlich einen Führerschein? Und was machen Sie da?“, fragte ihn der Polizist und blickte prüfend auf das Auto mit dem Weihnachtsbaum.

„Ich ... Mein verrückter Bruder Rafig hatte mir einen Baum für zehn Euro versprochen, aber geendet hat die Geschichte damit, dass ich siebenhundert Euro zahlen musste. Und der Waldarbeiter war gemein. Schließlich ist es unser erstes Weihnachtsfest in Deutschland. Und vielleicht auch das letzte“, fügte Papa kleinlaut hinzu und fischte seinen Führerschein hervor.

„Weißt du was, Nazem?“, meinte der Polizist, der Mikkel hieß.

„Ich eskortiere dich nach Hause. Bleib einfach hinter mir, dann sorge ich schon dafür, dass der Weihnachtsbaum zu euch nach Hause an einen guten Platz kommt.“

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Jetzt hatte Papa sogar einen Bodyguard. Und die Leute in unserer Straße glotzten nicht schlecht, als der Motorradpolizist mit Blaulicht einbog, Papa im Schlepptau, mit einem riesigen Weihnachtsbaum auf dem Dach des Autos. Alle kamen und schauten: der Gemüsehändler, der Kioskmann und die Nachbarn. Und alle Kunden vom Supermarkt drückten sich die Nase an der Scheibe platt.

Bevor wir uns vom Polizisten verabschiedeten, fragte mein Vater ihn, ob er nicht mit nach oben kommen wolle. Auf eine Tasse indischen Tee und ein wenig Burfi. Aber der Polizist antwortete, dass er noch Verbrecher jagen müsse.

„Können Sie dann nicht meinen Bruder Rafig ins Gefängnis werfen? Nur für ein paar Wochen?“, fragte mein Vater ihn. „Ja, er hat mich doch wegen des Weihnachtsbaums betrogen. Damit er mal nachdenkt!“

Es gelang uns, den Weihnachtsbaum in die Wohnung hinaufzuschleifen. Sogar Dindua half. Er hatte gerade Lelix besucht, der direkt unter uns wohnt. Dindua heißt eigentlich Ali, möchte aber Dindua genannt werden. Eines Tages hatten er und Lelix nämlich eine der Numerologentabellen von Lelixes Mutter geliehen und ausgerechnet, dass er einfach Dindua heißen musste. Ansonsten würde ihm etwas Furchtbares zustoßen. Leider war gleichzeitig in Asien auch ein Tsunami, und diese Affen dachten, dass das ein Zeichen Gottes sein müsse. Und weil er ein verwöhntes, kleines Balg war, haben wir alle seine kranke Idee mitgemacht. Ich habe versucht, ihn dazu

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zu bringen, den Namen wieder zu ändern. Ich hoffe, dass er nächstes Mal einen noch lächerlicheren Namen ausrechnet, z. B. Idiot oder Blödmann, aber das passiert wohl vorläufig nicht. Und jetzt läuft er herum und erzählt allen, dass das Leben und das Schicksal von den Zahlen bestimmt wird, mit denen wir uns umgeben, und dass wir unsere Lebensnummer finden und unser Leben liebevoll aufbauen müssen. Der hat doch keine Ahnung, wovon er redet. Das kann doch einfach nicht wahr sein.

„Wir müssen fertig mit dem Baum sein, bevor eure Mutter von der Arbeit nach Hause kommt“, schnaufte Papa. „Komm mit der Säge, Dindua.“

Papa lag neben dem Weihnachtsbaum, der durchs ganze Wohnzimmer und einen Teil des Vorzimmers ging, auf dem Boden.

„Aber Papa, man kann unten nichts mehr wegschneiden“, meinte ich. Papa schaute zuerst uns und dann den Weihnachtsbaum an.

„Immer mit der Ruhe, Kinder. Ich mache das. Wir sägen einfach oben auch etwas ab“, erklärte er.

Kurz darauf hatte der Baum keinen Wipfel mehr. Und als Papa den Stamm abgesägt hatte, war darunter kein Platz mehr für irgendwas. Es sah aus, als ob der Baum durch den Boden gewachsen wäre und sich jetzt den Weg durch die Decke bahnen würde. Was ist denn bloß mit meiner Familie los? Wir sind noch nicht mal Deutsche und haben Weihnachten noch nie gefeiert. Aber jetzt steht da ein grünes Weihnachtsmonster mitten in unserem Wohnzimmer.

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Papa hatte natürlich nicht daran gedacht, auch Weihnachtsschmuck und Kerzen für den Baum zu kaufen. Jetzt suchte er daher in der gesamten Wohnung nach Dingen, die sich als Schmuck eignen würden.

„Schaut, Kinder. Man kann Gabeln nehmen“, meinte er und befestigte die Gabeln mit Gummibändern.

Fatima, Tariq und ich sahen sprachlos vom Sofa aus zu, während Papa und Dindua durch die Wohnung schossen und ein Stück Ramsch nach dem anderen fanden. Das Schlimmste war, dass Dindua, der Verrückte, Socken in den Weihnachtsbaum hängen wollte.

„In allen Zeichentrickfilmen gibt es Socken“, sagte er. „Und man befüllt sie mit Geschenken.“

„Ja, Dindua, das müssen wir haben. Das habe ich auch gesehen. Was für eine tolle Idee!“

Papa tätschelte ihm den Kopf, und zwei Minuten später stand er mit seinen weißen Tennissocken mit zwei roten Streifen, von denen er 50 Paar im Ausverkauf des Supermarktes gekauft hatte, im Wohnzimmer.

„Jetzt sieht er aus wie ein richtiger Weihnachtsbaum“, meinte er stolz und zog Dindua weg, während er einige Schritte rückwärts machte und den Baum mit großen, nassen Hundeaugen betrachtete.

Da stand er also. Unser allererster Weihnachtsbaum. Scheiße, war der hässlich! Fatima stand auf:

„Solange dieses grüne Monster hier steht, kann ich niemanden zu uns nach Hause einladen“, sagte sie, ging auf ihr Zimmer und schloss die Tür.

Als Mama von der Arbeit nach Hause und ins Wohnzimmer kam, schrie sie laut auf.

„Was ist denn das, Nazem? Wir haben einen Baum im Wohnzimmer, mit Socken und Besteck. Warum in aller Welt?“

Da, wo meine Eltern geboren wurden, hat man drinnen keine Bäume. Nur draußen.

„Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen. Ich muss sagen, dass ich mich schon darauf freue, meiner Familie in Indien zu erzählen, dass bei uns ein Baum mitten im Wohnzimmer gestanden hat – mit Socken!“

Mama konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen, atmete schließlich tief durch und versuchte, ernst zu bleiben.

„Was für ein schöner Baum, Nazem“, versuchte sie noch zu sagen.

Aber es war zu spät. Papa fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Und wenn er sich in seiner Ehre gekränkt fühlt, wird er kindisch und störrisch und macht die merkwürdigsten Dinge.

„Ja, ja. Das glaubst du vielleicht“, sagte er zu Mama. „Aber es gibt da etwas, was du nicht weißt. Das ist der seltenste Weihnachtsbaum Deutschlands. Speziell gezüchtet, mit besonders feinen, edlen Nadeln. Er wurde in speziellen Laboratorien gentechnisch verändert, von Hand gedüngt und durfte in einer besonders hochwertigen, extra hergestellten Erde wachsen. Daraus wurde dieser besondere Baum. Darum hat er auch siebenhundert Euro gekostet ...“

Mama sagte nichts. Und so kam es, dass Papa das Gesprächsthema Nummer eins am ersten Weihnachtsfest ihres Lebens im Wohnblock wurde. Alle wollten den Baum sehen. Die Einwanderer kamen, um den speziell gezüchteten, gentechnisch veränderten Luxusbaum zu sehen und waren äußerst beeindruckt. Jetzt verstanden sie auch, warum er mit Polizeieskorte angekommen war. In ihren Augen war Papa ein wichtiger und sehr bedeutungsvoller Mann. Die Deutschen kamen, um den teuersten und am schlimmsten zugerichteten Weihnachtsbaum der Stadt zu sehen. Sie waren überhaupt nicht beeindruckt, fanden es aber lustig. Und niemand hatte je einen Baum mit Besteck und Tennissocken gesehen.

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Kapitel 2

Unser Haus

„Iqbal! Wirf den Weihnachtsbaum raus. Wir haben Mai! Ich habe es schon hundertmal gesagt. Ich möchte keine Tannenspitzen mehr aufsammeln müssen.“

„Es heißt Tannennadeln, Papa“, meinte Fatima genervt und las weiter ihre Zeitung. Sie konnte den Baum schon nicht mehr sehen.

Papa hatte recht. Sechs Monate waren vergangen, seit wir den Baum mit Müh und Not die Treppe hochgeschliffen hatten. Jetzt sah er aus wie ein fleischloses Skelett. Jener Weihnachtsbaum, der hier im Viertel berühmt und in aller Munde gewesen war.

Wir mussten alle helfen, um ihn gemeinsam wieder aus der Wohnung zu schleifen. Mama, Papa, Fatima, Tariq, Dindua und ich. Im Aufgang war nicht viel Platz. Fast mussten wir zum Nachbarn rein, um den Baum umdrehen und nach unten bringen zu können.

Unsere Nachbarn sind Ägypter. An ihrer Tür steht Ali Nour. Ali ist auch der Hausmeister des Gebäudes. Ali lebt hier mit seinen beiden Söhnen, dem 21-jährigen Hassan und dem 16-jährigen Kaseem. Er ist höchstens 1 Meter und 60 Zentimeter groß, aber ein ordentlicher Schwimmreifen ziert seinen Körper

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genau in der Körpermitte. Fatima nennt ihn einfach nur „der Bauch“, wenn er uns in seiner grünen Arbeitskluft, die er immer trägt, entgegenkommt. Er zieht sie nur aus, wenn er sich schlafen legt. Das heißt, nicht einmal das wissen wir mit Sicherheit. Ali und seine Söhne sind wirklich nett zu uns, fast schon wie eine Familie hier in Deutschland.

„Wenn man so viele Tausende Kilometer weit von seiner Familie lebt, muss man Leute finden, denen es genauso geht“, meint Papa oft.

Bei Ali und seinen Söhnen passieren immer merkwürdige Dinge. Letztes Jahr kamen sie vom Sommerurlaub in Ägypten nach Hause. Sie hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als jede Menge Geschrei und Gekreische aus ihrer Wohnung kam. Wir rannten in ihre Wohnung.

„Ali, warum schreist du denn deinen Sohn so an?“, fragte Papa und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die exotischen Früchte und Lebensmittel, die sie von Ägypten mit nach Hause geschleppt hatte.

„Äh, Nazem, mein Freund. Wir sind gerade nach Hause gekommen. Kaseem hat Tier von Ägypten mit nach Deutschland gebracht. Ich kenne dies Tier nicht. Er verarscht mich.“

Ali sah Papa Hilfe suchend an.

„Immer mit der Ruhe, mein Freund. So ein Tierchen mehr oder weniger macht doch nichts. Lass den Jungen jetzt in Ruhe“, meinte Papa. „Es ist gesund, wenn die Jungs mit Tieren spielen.“

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„Aber ich kann dieses eklige Tier nicht ausstehen! In meinem Land hat keiner Tiere zu Hause. Tiere in Natur oder auf Grill. Und Kaseem füttert Tier im Külleschrank. Das ist ekelhaft.“

„Külleschrank?“, fragte Papa.

„Ja, Külleschrank.“

Ali zeigte auf den Kühlschrank.

„Ah, im Kühlschrank“, sagte Papa.

„Aber Papa“, unterbrach ihn Kaseem. „Der wäre gestorben, wenn ich ihn nicht mitgenommen hätte. Und er ist doch ganz brav und noch ganz klein. Der kleine Uwe wird nicht größter als fünfzehn Zentimeter.“

„Siehst du, Ali, Gott hat dir einen klugen Sohn geschenkt. Er hat ein kleines Tier gerettet und es Uwe getauft. Es wird auch nicht größer als fünfzehn Zentimeter. Das ist doch sicher kein Problem. Lass den Jungen jetzt!“, meinte Papa.

Ali dachte lange nach.

„Okee, Nazem, du mein Freund, für dich, okee. Mein Sohn ist dein Sohn und wenn du sag okee, dann ich sage okee. Mein Tier, dein Tier ...“

Kaseem freute sich!

„Willst du Uwe nicht sehen? Er liegt in einem Eimer auf der Toilette“, fragte er Papa, als wir gerade wieder gehen wollten.

Als Papa wieder in unsere Wohnung kam, war er völlig bleich im Gesicht.