Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt - Mhairi McFarlane - E-Book
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Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt E-Book

Mhairi McFarlane

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Beschreibung

Ein moderner Liebesroman der Nummer-1-Bestseller-Autorin Mhairi McFarlane. Nach "Wir in drei Worten", "Vielleicht mag ich dich morgen" und "Es muss wohl an dir liegen" begeistert die Britin ihre Leserinnen mit einem weiteren romantischen, witzigen und authentischen Liebes-Roman. Edie findet nichts schlimmer als Hochzeiten. Wenn der Bräutigam dann auch noch ihr Kollege Jack ist, der bis vor wenigen Wochen heftig mit ihr geflirtet hat, will Edie vor allem eins: flüchten. Den ersten Teil der Hochzeits-Feier von Charlotte und Jack steht Edie allerdings tapfer durch. Als sie später in den Park geht, um wenigstens einmal kurz durchzuatmen, steht Jack plötzlich vor ihr und küsst sie. Dummerweise sind sie nicht allein. Charlotte beobachtet die beiden und schon bald droht dieser kleine Moment der Schwäche, Edies ganzes Leben zu zerstören. Der darauf folgende Online-Shitstorm zwingt Edie, ihr Londoner Leben hinter sich zu lassen und Zuflucht bei ihrer Familie in Nottingham zu suchen. Dort läuft es aber auch nicht rund. Denn die Auszeit gewährt Edies Chef ihr nur, wenn sie den derzeit in Nottingham lebenden Schauspieler Elliot Owen trifft - um als Ghostwriterin seine bestseller-verdächtige Biographie zu verfassen. Dummerweise entpuppt sich Elliot nicht als charmanter Star - ganz im Gegenteil. Zurück in die Provinz, Opfer von Online-Mobbing und einem neurotischen Schauspieler ausgesetzt - so hatte Edie sich ihr Leben wirklich nicht vorgestellt! Herz, Humor und authentische Figuren – das Erfolgsrezept von Mhairi McFarlane.

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Seitenzahl: 679

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Mhairi McFarlane

Irgendwie hatte ich mir das anders vorgestellt

Roman

Aus dem Englischen von Maria Hochsieder

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Nach »Wir in drei Worten«, »Vielleicht mag ich dich morgen« und »Es muss wohl an dir liegen« begeistert Mhairi McFarlane ihre Leserinnen mit einem neuen romantischen, witzigen und authentischen Liebes-Roman.

 

Edie findet nichts schlimmer als Hochzeiten. Wenn der Bräutigam dann auch noch der Kollege ist, der bis vor wenigen Wochen heftig mit ihr geflirtet hat, will Edie vor allem eins: flüchten. Den ersten Teil der Hochzeitsfeier von Charlotte und Jack steht Edie allerdings tapfer durch. Als sie später in den Park geht, um wenigstens einmal kurz durchzuatmen, steht Jack plötzlich vor ihr und küsst sie. Dummerweise sind sie nicht allein. Charlotte beobachtet die beiden, und schon bald droht dieser kleine Moment der Schwäche Edies ganzes Leben zu zerstören. Der darauf folgende Online-Shitstorm zwingt Edie, ihr Londoner Leben hinter sich zu lassen und Zuflucht bei ihrer Familie in Nottingham zu suchen. Dort läuft aber auch nicht alles rund. So hatte Edie sich ihr Leben wirklich nicht vorgestellt.

 

Herz, Humor und authentische Figuren – das Erfolgsrezept von Mhairi McFarlane.

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

Danksagung

Leseprobe »Du hast mir gerade noch gefehlt«

 

 

 

 

Für Natalie, Paula und Serena – mein Lieblings-Mixtape

1

Durch das Display eines Smartphones betrachtet ist das Leben eine große Lüge. Edie stellte sich den Übertragungsprozess wie ein Schaubild im Physikunterricht vor, wie das LP-Cover von Pink Floyd – ein weißer Lichtstrahl, der in einem Prisma gebrochen wird, zersplittert und sich in einen Regenbogen auffächert.

Ich meine, wie viel Täuschung, fragte sie sich, steckt schon in diesem einen gefälligen Foto? Sie betrachtete das verführerische Trugbild auf dem etwas verschmierten Bildschirm in ihrer Handfläche, während sie sich an der Hotelbar anstellte.

Um sie herum war quirliges Leben, die chaotische, struppige verschwitzte Wirklichkeit, unterlegt mit dem Soundtrack der Supremes – Where Did Our Love Go? In diesem Stillleben hingegen war alles für immer bildbearbeitet und makellos.

Unwahrheit Nummer eins: Sie und Louis sahen aus, als seien sie total vernarrt ineinander. Um ins Bild zu passen, hatte Edie ihren Kopf auf seine Schulter gelegt. Sie wirkte kokett mit ihrem rätselhaften Lächeln. Er posierte mit einem selbstzufriedenen James-Bond-Grinsen, das sagen sollte: Hey, alles cool, nur keine Aufregung. Es war tatsächlich keine große Sache.

Sie hatten fünf Stunden in platonischer Zweisamkeit verbracht – die Hochzeitsplanerin hatte Paare angeordnet, wie auf der Arche Noah –, und jetzt gingen sie sich auf die Nerven in der Hitze und im Alkoholdunst und in Kleidern, deren Taillenbünde enger und enger wurden wie eine aufgeblasene Blutdruckmanschette.

Edies High Heels, jedenfalls hoch genug, um der besonderen Gelegenheit Rechnung zu tragen, die von Anfang an wacklig waren, aber gerade noch erträglich drückten, quälten sie mittlerweile auf bösartige, geradezu mythische Weise; sie hätte ihre Meerjungfrauenflosse hergegeben für ein Paar Aschenbrödelschuhe und die Liebe eines Prinzen.

Lüge Nummer zwei: das Arrangement. Das funkelnd-fröhliche Partygirl Edie, das durch straßenkehrerbesengroße falsche Wimpern nach oben schaut. Man konnte die obere Hälfte ihres roten Kleids erkennen, mit dem hübsch hinaufgestemmten blassen Busen und dem diszipliniert eingezogenen Bauch. Louis’ markante Wangenknochen und das gesenkte Kinn sahen noch mehr nach einem Killer mit Bret-Easton-Ellis-Methoden aus als sonst.

Das lag daran, dass sie die Kamera in Armeslänge über ihren Köpfen hielten und außerdem fünf weniger schmeichelhafte Bilder verworfen hatten, nachdem sie ausgehandelt hatten, welches das beste war. Edie hatte Tränensäcke, Louis klagte, dass er ausgemergelt wirkte, mal war ihr Blick zu aufgesetzt, mal legte sich ein Schatten unvorteilhaft über ihre Gesichter. Okay, noch eins, noch eins. Posieren, Klick, Blitz. Ein halbes Dutzend Versuche hatte schließlich den gewünschten Erfolg gebracht: Sie sahen beide gut aus, aber nicht allzu sehr so, als hätten sie sich darum bemüht, gut auszusehen.

(»Warum machen heutzutage alle immer ein Gesicht, als würden sie an einer sauren Zwetschge saugen?«, hatte sich Edies Vater gefragt, als sie das letzte Mal zu Hause gewesen war. »Wahrscheinlich, damit sie dünn aussehen und einen Schmollmund haben. Aber in Wirklichkeit sehen sie gar nicht so aus wie auf dem Bild. Schon seltsam.«)

Louis, Instagram-Profi und besonders saure Zwetschge, spielte mit dem Licht und den Kontrasten. »Jetzt retuschieren wir uns zu Tode.«

Er wählte den Filter Amaro und tauchte sie in einen märchenhaften Limonadennebel. Ihr Teint war vollkommen, die Stimmung auf Hollywood-Art verträumt. Man konnte glauben, es sei ein perfekter Moment. Du hättest (nicht) dabei sein sollen.

Und dann war da noch die Bildunterschrift, die größte Täuschung von allen. Louis tippte sie ein und ging auf Senden. »Glückwunsch Jack & Charlotte! Was für ein unglaublicher Tag! Wir freuen uns so für euch! <3 #dasperfektepaar führt sein #bestesleben.«

Das galt vor allem den übrigen Leuten bei der Agentur Ad Hoc, die sich elegant aus der Affäre gezogen hatten, weil sie den Weg von London nach Harrogate gescheut hatten. Nichts stellte Popularität derart auf den Prüfstand wie Hunderte von Meilen auf der Autobahn.

Ein Like nach dem anderen trudelte ein. »Seufz. Ihr zwei seid auch #dasperfektepaar!« Louis antwortete: »Bloß Pech, dass ich schwul bin!« Das wäre unser geringstes Problem, dachte Edie. Allen war klar, dass Louis, wenn er dir gegenüber alle anderen schlechtmachte, das Gleiche umgekehrt auch mit dir tat.

Im Übrigen hatte Louis pausenlos über die »unglaubliche« Hochzeit hergezogen. Edie fand, dass es ungefähr das Gleiche war, die Hochzeit anderer Leute zu kritisieren, wie sich über ihre Art zu essen oder ihre dicken Fußknöchel lustig zu machen. Ein guter Mensch spürte instinktiv, dass so etwas nicht anständig war.

Ich hätte erwartet, dass Charlotte sich für etwas Schlichteres entscheidet, wie Carolyn Bessette auf der Hochzeit mit JFK junior. Diese Glasperlen auf dem Kleid sind schon ein bisschen Pronuptia-mäßig. Selbst Frauen mit Geschmack scheinen durchzudrehen, wenn es ans Heiraten geht, und in Disney-Kitsch abzudriften. Ich kann diese Rosenbouquets mit dem Perlenschnickschnack und den weißen Bändern um die Stiele, die aussehen wie ein Beinstumpf mit Mullverband, nicht mehr sehen! Wenn es einmal die Frau von einem Promi gemacht hat, dann tun es alle. Und es tut mir leid, aber ich finde eine braungebrannte Braut vulgär. Argh, zwei Schlucke von diesem Gesöff, und ab damit in den Blumentopf. Ich kann es nicht ertragen, wenn Orangensaft den Billigsekt übertünchen soll. Schau dir mal den DJ an, der ist ungefähr fünfzig und trägt ein Lederblouson! Wo hat er das denn her? Ist das noch von 1983? Er sieht aus, als gehört er in eine Folge Top Gear. Wir dürfen wahrscheinlich zu Sex on Fire von den Kings of Leon abrocken, und für die Erektion sorgt Toni Braxton. Warum können Hochzeiten nie modern sein?

Das Old Swan in Harrogate war tatsächlich nicht modern, wie schon der Name nahelegte. Spannenderweise war es der Ort, an dem Agatha Christie abstieg, als sie in den zwanziger Jahren elf Tage lang verschwand, wobei vermutlich nichts Spannendes daran ist, unter geistiger Umnachtung zu leiden.

Edie liebte diesen Ort. Sie hätte nichts dagegen gehabt, sich aus ihrem Leben in eines der Zimmer mit Himmelbett zu stehlen. Jedes Detail des Old Swan war tröstlich. Die efeubewachsene Front, der robuste Eingang mit dem Säulenvorbau, die Art, wie es nach warmem Frühstück und plüschiger Geborgenheit roch.

Es war ein heißer, hochsommerlicher Tag gewesen – Haben sie nicht ein Glück mit dem Wetter, lautete die verlässliche, banale Eröffnung eines jeden Gesprächs –, und die Glastüren in der Bar öffneten sich zu dem in weiches Licht getauchten hügeligen Garten. Kinder in weiß blitzenden Westen sausten herum und spielten Flugzeug, aufgeputscht von zu viel Cola und dem Reiz, so lange aufzubleiben.

Nichtsdestoweniger war dies die schlimmste Hochzeit, auf der Edie jemals gewesen war – wenngleich aus keinem der Gründe, die Louis angeführt hatte.

Als sie an der Bar ihr Getränk orderte, stand neben ihr eine Gruppe siebzig- bis achtzigjähriger Frauen im Zwanziger-Jahre-Look. Edie vermutete, dass sie Teilnehmerinnen eines Krimiwochenendes waren – sie hatte einen Reisebus aus Scarborough gesehen.

Eine der »Verdächtigen« hatte keine Beine und saß im Rollstuhl. Sie trug Federschmuck im Haar, eine lange, geknüpfte Perlenkette und eine weiße Federboa um den Hals. Mit einem Strohhalm nuckelte sie an einem Pikkolofläschchen Prosecco. Edie hätte sie gern in den Arm genommen.

»Ach, Sie sehen aber hübsch aus«, sagte eine der Frauen zu Edie, und Edie lächelte und erwiderte: »Danke! Sie aber auch.«

»Sie erinnern mich an jemanden. Norma! Wem sieht diese wunderschöne junge Frau ähnlich?«

Edie setzte das peinlich berührte Lächeln auf, das unvermeidlich war, wenn einen eine Schar beschwipster älterer Senioren genauestens in Augenschein nahm.

»Clara Bow!«, rief eine.

»Genau!«, stimmten die anderen ein. »Ahh. Clara Bow.«

Es war nicht das erste Mal, dass Edie ein solches Kompliment erhielt. Ihr Vater sagte, sie habe ein altmodisches Gesicht. »Du siehst aus, als solltest du in einem Film in Glockenhut und Handschuhen an der Bahnstation stehen. In einem Tonfilm, versteht sich.«

(Edie fand nicht, dass sie so viel redete; ihr Vater und ihre Schwester waren einfach schweigsamer als sie.)

Sie hatte schulterlanges tiefschwarzes Haar und dicke dunkle Augenbrauen, die offensiv per Fadenzupfung in Form gebracht werden mussten, damit sie nicht allzu buschig ausfielen. Sie saßen über großen ausdrucksstarken Augen in einem herzförmigen Gesicht mit kleinem Mund.

Ein grausamer, wenn auch wortgewandter Kerl hatte ihr auf einer Party erklärt, dass sie aussah wie eine viktorianische Puppe, die von Anhängern der schwarzen Magie zum Leben erweckt worden war. Sie versuchte sich einzureden, dass es an ihrer damaligen Gruftiephase gelegen hatte, aber eigentlich war ihr bewusst, dass es immer noch zutraf, wenn sie nicht genug geschlafen hatte und einen finsteren Blick aufsetzte.

Louis hatte mal gesagt – und dabei so getan, als spreche er nicht über sie, auch wenn es beide besser wussten: »Babygesichter altern auf unvorteilhafte Weise. Deswegen ist es auch so eine Tragödie, dass Lennon anstelle von McCartney erschossen wurde.«

»Sind Sie mit Ihrem Mann hier?«, fragte eine der Frauen, als Edie den Weißwein und den Wodka Tonic entgegennahm.

»Nein, ich hab keinen Mann. Bin Single«, erwiderte Edie, und einmal mehr wurde sie interessiert angestarrt und mit entzückten Oohs bedacht.

»Das hat jede Menge Zeit. Haben Sie erst mal Ihren Spaß, nicht wahr?«, meinte eine der Damen im Zwanziger-Jahre-Kostüm, und Edie lächelte und hätte beinahe gesagt: »Ich bin fünfunddreißig und habe sehr wenig Spaß.« Doch sie überlegte es sich anders und sagte stattdessen: »Ja, ja, haha!«

»Sind Sie aus Yorkshire?«, fragte eine andere.

»Nein, ich wohne in London. Die Familie der Braut kommt aus …«

In diesem Moment kam Louis aus dem Festsaal und wedelte sie nachdrücklich mit der Hand herbei. »Edie!«, zischte er.

»Edie! Was für ein wunderschöner Name!«, riefen die Frauen im Chor und betrachteten sie mit neuer Bewunderung. Edie war gerührt und etwas überrascht über ihren plötzlichen Promistatus. Das kam davon, wenn man Prosecco mit dem Strohhalm trank.

»Sind Sie der Begleiter dieser jungen Dame?«, fragten sie Louis, als er sich zu ihnen gesellte.

»Nein, meine Lieben, ich steh mehr auf Schwänze.« Er nahm Edie, die sich innerlich krümmte, sein Glas ab.

»Er steht wo?«, fragte eine der Frauen nach.

»Ich steh auf Schwänze.« Louis deutete auf seinen Bizeps, was es nach Edies Ansicht nicht unbedingt deutlicher machte.

»Oh, er mag Männer, Norma. Er ist ein warmer Bruder«, sagte eine der Frauen beiläufig.

Die Aufmerksamkeit wandte sich dem warmen Bruder zu.

»Heutzutage ist mir ein warmes Bad und eine Runde Scrabble lieber«, schaltete sich eine andere ein. »Aber Barbara mag hie und da noch einen Schwanz.«

»Wer von Ihnen war’s?«, sagte Louis mit Blick auf ihre Kostüme. »Wer ist die Hauptverdächtige?«

»Bislang gab es noch kein Verbrechen«, erklärte eine der Frauen. »Aber das Gerücht, dass im dritten Stock eine Leiche gefunden werden wird.«

»Nun, dann können Sie wohl die hier ausschließen.« Louis tippte sich an die Nase und deutete auf die Frau im Rollstuhl.

»Louis!«, keuchte Edie.

Glücklicherweise brachen die Frauen in gackerndes Gelächter aus.

»Sheila hat ihre Hühneraugen immer mit Sicherheitsnadeln rausgepult. Mit der sollte man sich nicht anlegen.«

»Sieht aus, als sei sie dabei übers Ziel hinausgeschossen.«

Wieder hielt Edie den Atem an, doch die alten Damen brüllten vor Lachen. Edie konnte es nicht fassen: Louis hatte ein Publikum gefunden.

»Großartig, euch kennenzulernen, Mädels«, verabschiedete er sich, und sie waren nah dran, ihm zu applaudieren. Edie war vergessen.

»Komm zurück an den Tisch. Jetzt geht’s richtig los«, sagte Louis zu ihr. »Jetzt kommen die Reden.«

Mit schwerem Herzen entschuldigte sich Edie. Der Moment, den sie gefürchtet hatte.

Das Publikum vor dem Hashtag Perfektes Paar, das sein Hashtag Bestes Leben führte.

2

War der kostenlos?«, bellte der Mann in den Sechzigern, Hörgerät im Ohr und im Gutsbesitzerstil gekleidet, und fixierte das Glas in Edies Hand. Edie und Louis hatte man an den Tisch mit den Überbleibseln gesetzt, die schwierigen Fälle ohne Gemeinsamkeiten. Die anderen Tischnachbarn hatten sich sofort abgesetzt und in der langen Pause zwischen Essen und Tanz irgendwo im Saal zerstreut. Dieser alte Knacker hier mit seiner scheuen, nicht weniger landadeligen Ehefrau war dageblieben.

»Oh, nein. Ich kann Ihnen was holen, wenn Sie möchten?«

»Nein, nein. Da ist man auf diesen endlosen Veranstaltungen, und dann nehmen sie einen auch noch aus wie einen Truthahn. Als wäre die Hochzeitsliste nicht schon dreist genug gewesen. Vierhundert Pfund für einen scheußlichen blauen Schneebesen, diese Dummköpfe. Sei still, Deirdre, ist doch wahr.«

Edie ließ sich auf den Lehnstuhl fallen und bemühte sich, nicht zu lachen, weil auch sie die Küchenmaschine für vollkommen überkandidelt gehalten hatte.

Sie trank einen großen Schluck säuerlichen Weißwein und dankte dem Herrn für die Gabe Alkohol, um das hier zu überstehen. Am Tisch vorne wurde das Mikrofon an Jack, den Bräutigam, weitergereicht. Er tippte mit einer Gabel an sein Glas und hüstelte in die Faust. Seine frischgebackene Schwiegermutter zog ihn am Ärmel. Also hob er entschuldigend die Hand, um eine kurze Verzögerung anzuzeigen.

»Was ist das heutzutage für eine Schnapsidee, braune Schuhe zu einem blauen Anzug und einer rosa Krawatte zu tragen?«, hörte Edie den Mann mit dem Hörgerät im Hinblick auf den Bräutigam sagen. »Jedermann muss annehmen, dass das eine Lavendelehe ist.«

Edie fand zwar, dass Jacks schmaler hochgewachsener Körper in dem Paul-Smith-Anzug ziemlich toll aussah, aber sie würde den Teufel tun und ihn verteidigen.

»Was ist eine Lavendelehe?«, fragte Louis.

»Eine Scheinehe, um die wahren Neigungen zu verbergen. Wenn man eigentlich anders orientiert ist.«

»Oh, ich verstehe. Wir führen auch so eine.« Grinsend drückte er Edie an sich.

»Vergeben Sie mir, wenn ich nicht schockiert nach meinem Inhalator greife«, erwiderte der Mann und betrachtete Louis’ Haartolle. »Ich hatte schon gemutmaßt, dass Sie ganz gern an Blümchen schnuppern.«

Edie hatte heute weit mehr Euphemismen für »homosexuell« gehört, als sie an einem solchen Tag erwartet hätte.

»Was meinst du, wirst du dir je eine Ehe antun?«, fragte Louis leise.

»Ich denke, die Frage lautet eher, ob sich die Ehe mich antut«, antwortete Edie.

»Liebes, ein Haufen Leute würde dich heiraten. Du bist so unglaublich ehefraulich. Man schaut dich an und denkt: Mach mich zur Ehefrau.«

Edie lachte freudlos. »Komisch nur, dass sie mir das nicht zu verstehen geben.«

»Du bist ein Rätsel, weißt du das?« Louis stieß mit dem Plastikstäbchen auf dem Boden seines Glases herum. Edies Magen zog sich zusammen, denn wann immer Louis seinen Gedanken freien Lauf ließ, landeten sie bei Ich kann nicht fassen, dass du das gesagt hast.

»Ha, nein.«

»Ich mein, du hast eine Menge Fans. Du bist eine Stimmungskanone. Aber du bist immer allein.«

»Ich denke, das liegt daran, dass ein Fan sein nicht gleichbedeutend ist mit eine Beziehung wollen«, sagte Edie in neutralem Ton und ließ den Blick über den Tumult im Saal schweifen. Sie hoffte, dass sie auf ein anderes Thema zu sprechen kämen.

»Bist du diejenige, die bindungsunfähig ist, oder die anderen?« Louis drückte das Stäbchen an den Rand, während er einen Schluck nahm.

»Oh, ich halt sie mir mit einer Art Zentrifugalkraft vom Leibe. Oder ist es die Zentripetalkraft?«

»Ernsthaft?«, fragte Louis. »Ich meine es ernst.«

Edie seufzte. »Ich habe schon mal Leute gemocht, und mich haben auch schon mal Leute gemocht. Ich habe nur nie jemanden gemocht, der mich zur gleichen Zeit so sehr gemocht hat wie ich ihn. So einfach ist das.«

»Vielleicht wissen die gar nicht, dass du an ihnen interessiert bist? Man durchschaut dich nur schwer.«

»Vielleicht.« Edie hoffte, dass das Thema schneller vom Tisch wäre, wenn sie ihm zustimmte.

»Also hat dir niemand jemals ein glückliches gemeinsames Leben versprochen? Du hast noch nie ein Herz gebrochen?«

»Hach. Nein.«

»Dann bist du ein Paradoxon, du großartige Edie Thompson. Das Mädchen, das alle haben wollen … und keiner nimmt.«

Edie prustete los, und Louis hatte die Reaktion, die er wollte.

»Niemand nimmt mich! Verdammt, Louis, besten Dank!«

»Nein, Liebes! Ich bin doch auch nicht anders. Für den armen einsamen Louis wird es in absehbarer Zeit keine Hochzeit geben. Ich bin vierunddreißig, in Schwulenjahren ist das so gut wie tot.«

Natürlich war das Blödsinn. Louis wünschte sich eine Hochzeit ungefähr so sehr wie ein aggressives Karzinom. Er verbrachte seine Zeit damit, nach bedeutungslosen Techtelmechteln auf Grindr zu suchen; das jüngste war ein reicher, haariger Mann, den er den Chewbacca der »Prinzessin Louis« nannte. Es ging nur darum, die Freiheit für sich zu beanspruchen, Edie auf den Arm zu nehmen.

»Ich habe gesagt, dass du umwerfend bist, du Diva.« Louis schmollte, als sei Edie der Aggressor gewesen. Man musste die perfekt choreographierten Grausamkeiten von Louis durchaus bewundern – sorgsam ausgearbeitete, wendige Winkelzüge, die fehlerlos ausgeführt wurden.

»Liebe Anwesende, entschuldigt die Verzögerung«, sagte der Bräutigam endlich ins Mikrofon.

Jacks recht blutleere Rede hakte all die Dinge ab, die laut Internet-Ratgeberseite hineingehörten. Er erwähnte, wie hübsch die Brautjungfern waren, und dankte allen für ihr Kommen. Er las Grußkarten von ferngebliebenen Verwandten vor. Er dankte dem Hotel für die Gastfreundschaft und beiden Elternpaaren für die Unterstützung.

Es endete mit dem Gelöbnis: »Ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe, Charlotte. Ich werde mich den Rest meines Lebens darum bemühen, dass du deine heutige Entscheidung nicht bereust«, und Edie hätte die Sektflöte, mit der sie anstießen, beinahe auf ex gekippt.

Der Trauzeuge Craig hielt eine Rede, die weniger amüsant als fehlgeleitet war, in der sich ein Witz an den anderen reihte über die mehr oder weniger erfolgreichen Sexabenteuer in Jacks Studienjahren. Er schien zu glauben, dass diese Erzählungen angemessen waren, denn »wir waren ja alle so drauf« und »verdammt tolle Kumpel«. (Jack war an der Uni Durham.) Als er ein Rugbyspiel erwähnte, das sie »Schweinelotterie« genannt hatten, fuhr Jack ihn an: »Vielleicht lässt du das besser weg«, und Craig ging geradewegs über zu: »Auf Jack und Charlotte!«

Die Braut grinste starr und nervös, und ihre Mutter sah aus, als unterzöge sie sich gerade einer Hintern-OP.

Charlottes erste Brautjungfer Lucie bekam das Mikrofon.

Edie hatte schon viel über die legendäre Lucie Maguire gehört, wenn Charlotte im Büro ehrfürchtig Anekdoten erzählte. Sie war eine skrupellos erfolgreiche Immobilienmaklerin (»Sie würde es fertigbringen, dir ein Außenklo anzudrehen!«), Mutter von anstrengenden Zwillingen, die man aus dem Kindergarten ausgewiesen hatte (»Sie sind sehr aufgeweckt«), und spielte prima Muggel-Quidditch. (»Ein Spiel aus einem Kinderbuch«, hatte Jack zu Edie gesagt. »Was kommt als Nächstes? Wird sie Meisterin im Stöckchenspiel mit Pu der Bär?«)

Sie »redete freiheraus« (übers.: sie war grob), »ließ sich nicht zum Narren halten« (übers.: war anderen gegenüber grob) und »ließ nicht mit sich spaßen« (übers.: war anderen gegenüber sehr grob).

Edie hatte den Eindruck, dass man Lucie allenfalls dann zur besten Freundin erklären würde, wenn es eine weltweite Epidemie gegeben hatte und kein anderer mehr übrig war, vermutlich aber nicht einmal dann.

»Hallo, allerseits«, sagte sie mit selbstbewusster, scharfer Stimme, eine Hand in die lachsfarbene Seide an der Hüfte gestützt. »Ich bin Lucie. Ich bin erste Brautjungfer und Charlottes beste Freundin seit unserer gemeinsamen Zeit in St Andrews.«

Beinahe erwartete Edie, dass sie den Satz beenden würde mit: »Bachelor of Science mit Auszeichnung, offizielles Mitglied des Immobilienverbands«.

»Nun, ich hab hier eine etwas ungewöhnliche kleine Überraschung für unser glückliches Paar.«

Edie setzte sich auf und dachte: Wow, tatsächlich? Eine Hochzeitsüberraschung ohne Vetorecht? Oje …

»Ich wollte etwas wirklich Besonderes für meine beste Freundin machen. Glückwunsch, Jack und Charlotte. Das hier ist für euch. Ach, und damit es in meinem Lied mit dem Rhythmus hinhaut, heißt ihr in guter alter Brangelina-Manier ›Charlack‹. Hoffe, das geht in Ordnung.«

Lied? Jeder Hintern im Saal spannte sich an.

»Also, und eins, und zwei, und drei …«

Die anderen beiden Brautjungfern, denen die Schamesröte ins Gesicht gestiegen war, zogen Schellen heraus und begannen sie synchron zu schwenken. Ihren Gesichtern sah man an, dass sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatten, auch wenn der Augenblick dadurch nicht weniger schrecklich war.

Lucie begann zu singen. Ihre Stimme war zwar a-cappella-tauglich, aber es war immer noch a cappella, und der ganze Raum hielt in Schockstarre mit durchgedrücktem Rücken und eingefrorenem Lächeln peinlich berührt inne. Zur Melodie von Julie Andrews’ My Favourite Things schmetterte sie los.

 

Dachshund, Narzissen und Gummistiefel in Grüün,

Clarins und Clooney auf großem Flatscreen,

Land Rover ganz und gar schlammverspritzt,

Darauf sind die Charlacks total spitz.

 

Edie hatte Schwierigkeiten, sich jemanden vorzustellen, dem dies als eine gute Idee erscheinen mochte. Und dem während des Entstehungsprozesses keine Zweifel gekommen waren. »Charlack« klang wie ein Schurke aus Doctor Who. Einer mit schmutziger Fantasie.

 

Die Cotswolds, Cream-Tea und leckere Dinner,

Skifahrn in Méribel, sie sind die Gewinner,

Darauf sind die Charlacks total spitz.

Kajal und Mascara, frische Farbe, Dim Sum,

Rugby und Cricket und auch mal Wimbledon,

Darauf sind die Charlacks total spitz.

 

Edie wagte nicht, Louis anzusehen, der zweifellos kurz davor war, vor Entzücken zu platzen. Die Ehrengäste am vorderen Tisch starrten reglos vor sich hin.

 

Wenn die Arbeit ätzt,

Wenn das Handy nervt,

Wenn’s im Hals krätzt,

Denken die Charlacks an all das,

Gleich ist alles nicht so krass.

 

Edie bemühte sich um einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck, während Lucie mit gereckten Armen die letzten Worte hinauskrähte, und hoffte inbrünstig, dass damit der Schrecken vorüber war. Doch nein, Lucie schlug den Takt für die nächste Strophe an.

In die kurze Stille hinein meldete sich der Mann mit dem Hörgerät zu Wort.

»Was ist das nur für eine scheußliche Dummheit? Wer hat dieser Frau gesagt, dass sie singen kann? Grundgütiger, was für ein entsetzlicher Krawall«, wandte er sich an seine Frau.

Lucie hob mit der nächsten Strophe an, jetzt aber horchte der ganze Saal starr vor Schrecken auf den deutlich hörbaren Kommentar von Edies Tischnachbarn. Offenbar bemerkte er nicht, wie laut er brüllte. Die verzweifelten und erfolglosen Bemühungen seiner Frau, ihn zum Schweigen zu bringen, konnte man ebenfalls hören.

»Du liebe Güte, was kommt als Nächstes. Ich war auf eine Hochzeit eingeladen, nicht zu einer Nummernrevue von Amateuren. Ich fühl mich wie Prinz Philip, wenn er gezwungen ist, sich die nackten Hinterteile irgendwelcher Eingeborenen anzusehen. Ach, Unsinn, Deirdre, das hier ist einfach nur schlechter Geschmack.«

Das spuckeversetzte Pschscht seiner Frau erreichte mittlerweile hysterische Ausmaße, während sich im Saal nervöses Lachen ausbreitete.

Edie spürte, dass Louis neben ihr zusammengebrochen war, sein ganzer Körper zuckte und bebte.

 

Im Land der Werbung immer ein Treffer,

Jetsetting und Wan Tan mit Chilipfeffer,

Tiffany-Päckchen, die Nacht im Hotel Ritz,

Darauf sind die Charlacks total spitz.

 

»Wird dieses Martyrium jemals enden? Kein Wunder, dass unser Land in so desolatem Zustand ist, wenn die Leute derartig vulgäre Darbietungen der eigenen Unzulänglichkeiten für angemessenes Amüsement halten. Was? Ich bezweifle, dass irgendwer mich bei diesem unbeirrbaren Gejodel von Kiri Te Kanarienvogel hören kann. Das hier ist eine von den Geschichten, die typischerweise mit den Worten enden: Und dann richtete er den Lauf seiner Pistole gegen sich selbst.«

Edie wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Dadurch dass der Störenfried an ihrem Tisch saß, fühlte sie sich wie ein Teil der Verschwörung, so als leihe er ihr seine Stimme oder als spiele sie ihm Argumente zu.

Unvermeidlich suchten ihre Augen Jack, der ihren Blick, die Hand auf den Mund gepresst, direkt erwiderte. In seinen Augen spiegelte sich der Satz: Was geht hier vor sich, das ist völlig verrückt!

Sie hätte es sich denken können. Nicht nur, dass er es lustig fand, er wählte sie zur heimlichen Verbündeten. Beinahe hätte Edie gelächelt, doch dann bremste sie sich und sah schnell weg. O nein, das wirst du nicht tun. Nicht an diesem Tag.

»Ich geh kurz aufs Klo«, flüsterte Edie und floh.

3

Während sie ihre Hände wusch, dachte Edie mit wachsender Überzeugung, dass sie die Einladung nicht hätte annehmen sollen. Sie hatte jedes Für und Wider durchgespielt und dabei den wichtigsten Grund übersehen: Es war eine totale Zumutung.

Als die »Save the Date«-Mail in ihrem Postfach gelandet war, hatte der innere Kampf begonnen. Das Einfachste war, einen Urlaub vorzuschützen, doch in dem Fall musste sie schnell sein. Eine Buchung kurz nach der Einladung käme verdächtig rüber.

Wobei ihr – wie immer, wenn man tief in einem Sumpf steckte, in dem man nichts verloren hatte – nicht klar war, wie sehr man ihr das alles überhaupt anmerkte. Womöglich würde ihr Fehlen kaum auffallen, aber genauso gut war denkbar, dass ein blinkender Neonpfeil über ihrem Kopf aufploppte, der besagte: Hmm, Edie kommt nicht? Was mag nur der Grund sein?

Ihre Unentschlossenheit dauerte an, bis Charlotte sagte: »Edie, du kommst doch, oder? Zur Hochzeit? Ich hab noch keine Antwort von dir.« Sie standen vor dem Wasserspender, aus dem lauwarm die Brühe in knisternde Plastikbecher lief. Im Hintergrund schoss Jacks Kopf in die Höhe.

Edie lächelte verkniffen und sagte: »OnatürlichichfreumichsehrvielenDank.«

Sobald ihr Schicksal beschlossen war, ihrer eigenen Dummheit sei Dank, begann sie sich einzureden, dass ihre Anwesenheit auf der Hochzeit nicht nur strategisch klug wäre, sondern ihr auch guttun würde. Als ob es je eine gute Idee gewesen war, gesellige Zusammenkünfte anzugehen, als seien sie ein vom Personalchef initiierter Schlammgruben-Crosslauf zum Teambuilding.

Edie sagte sich, dass sie nichts, aber auch gar nichts fühlen würde, wenn das glückliche Paar die Ringe tauschte und ewige Treue gelobte. Ihre Gefühle würden einfach davonschweben wie ein Ballon, und endlich wäre unter diese ganze traurige Verwirrung ein Schlussstrich gezogen. Ha, na klar. Und wenn ihre Tante einen Schniedel hätte, dann wäre sie ihr Onkel.

Stattdessen fühlte sie sich wie benommen, angespannt und vollkommen fehl am Platz. Als der Alkohol zu fließen begann, drückte der Kummer bleischwer auf ihrer Brust.

Edie zog die Hände unter der Turbine des Handtrockners hervor. Eine ihrer falschen Wimpern hatte sich gelöst, und sie presste sie mit Daumen und Zeigefinger wieder fest.

Wenn sie ehrlich war, war es eine Frage des Stolzes gewesen. Sich dem hier zu entziehen wäre wie eine große rote Fahne gewesen, auf der stand: Ich pack das nicht. Ihr selbst gegenüber und auch den anderen.

Als sie sich im Toilettenspiegel betrachtete – ohne die Wunder wirkende Amaro-Wolke, mit zerlaufenem Make-up und alkoholinduzierten roten Striemen in den Augäpfeln –, verachtete sie sich. Was war nur los mit ihr? Wie in aller Welt war sie hierhergeraten? Niemand mit einem Fünkchen Verstand würde sich so in die Scheiße reiten.

Sie atmete tief ein, riss die Toilettentür auf und sagte sich: Ein paar Stunden noch, dann kann ich ins Bett gehen. Wenn sie Glück hatte, war Lucie mittlerweile fertig mit ihrem Lied.

Sie durchquerte die Bar, doch statt sich unerschrocken ins Restaurant zu begeben, zog es sie zu den Geräuschen, die aus dem Garten kamen, an die noch immer milde Abendluft.

Edie konnte ein wenig Einsamkeit ertragen, doch ihr war auch klar, dass sie nicht den Eindruck erwecken sollte, melancholisch durch den Garten zu streifen.

Ja, das Smartphone eignete sich für das Täuschungsmanöver; sie konnte vorgeben, ein Foto des Hotels zu machen. Niemandem fiel auf, dass man allein war, wenn man am Telefon herumfummelte.

Vorsichtig quälte sie sich in ihrem aggressiven Schuhwerk über den Rasen. Lucies Kampfeinsatz als Dschihadist schien beendet zu sein, By Your Side von Sade klang nun aus den offenen Türen des Restaurants.

Ein paar der kriminalistischen Rentnerinnen erlaubten sich eine heimliche Zigarette auf der Gartenbank. Es war ein schöner Anblick, und sie wünschte sich, dass sie ihn genießen könnte. Sie wünschte sich, dass die Glücksgefühle anderer Menschen nicht wie ein Scheuerschwamm auf ihrer Seele wirkten. Ab sofort würde es besser werden, sagte sie sich.

Sie war weit genug vom Hotel entfernt, um sich vom Geschehen zu distanzieren, wie eine Außenstehende betrachtete sie die Hochzeit aus der Ferne. Es machte sie ruhiger. Sie drehte das Smartphone und hielt es mit beiden Händen hoch, um das Hotel im Dämmerlicht einzufangen. Während sie mit dem Blitz hantierte, die Ergebnisse betrachtete und sich über ihre zittrigen Hände ärgerte, sah sie jemanden zielstrebig über den Rasen näher kommen. Sie senkte das Telefon.

Es war Jack. Sie hätte ihn früher erkennen sollen. War es wirklich die Aufgabe des Bräutigams, alle Gäste hineinzutreiben, damit sie dem ersten Tanz beiwohnten? Edie hatte es darauf angelegt, huch, rein zufällig und versehentlich dieses Vergnügen zu versäumen.

Als Jack sie erreichte, steckte er die Hände in seine Anzugtaschen. »Hallo, Edie.«

»… Hallo?«

»Was machst du denn hier draußen? Drinnen gibt es auch Toiletten, wenn du mal musst.«

Fast hätte Edie gelacht, doch sie verkniff es sich.

»Ich mach nur ein Foto vom Hotel. Es sieht erleuchtet so hübsch aus.«

Jack blickte über die Schulter, als wolle er ihre Aussage überprüfen. »Ich wollte hallo sagen und hab dich nirgends finden können. Ich hab mich schon gefragt, ob du dich mit jemandem verdrückt hast.«

»Mit wem?«

»Keine Ahnung. Stattdessen schleichst du allein herum und benimmst dich merkwürdig.«

Er lächelte auf seine liebe Art. Bis Edie Jack begegnet war, hatte sie immer geglaubt, dass es nur eine Redewendung war, wenn man davon sprach, dass jemand einem das Gefühl gab, die einzige Person im Raum zu sein.

»Ich benehme mich nicht merkwürdig!«, sagte Edie spitz. Sie merkte, wie ihr Blut in Wallung geriet.

»Wir müssen uns über den Elefanten unterhalten«, sagte Jack, und Edies Kehle zog sich zu.

»Was?«

»Diese Greueltat mit Pearl-Harbor-Ausmaßen, die dort drinnen verübt wurde.«

Der Schock ließ nach, und widerstrebend lachte Edie erleichtert auf. Wieder einmal hatte er sie rumgekriegt.

»Du bist fort, bevor die Brautjungfern ihr Badubadu einlegen mussten. O mein Gott, es war das Grauenhafteste, was mir je passiert ist. Und man bedenke, ich habe meinen Vater mal mit einem Playboy-Heft erwischt.«

Edie gluckste. »Was hat Charlotte dazu gesagt?«

»Erstaunlicherweise macht sie sich mehr Sorgen darüber, dass Onkel Morris Lucie mit seinen Kommentaren verärgert haben könnte. Offenbar leidet er unter einer ›niedrigen Hemmschwelle‹ aufgrund eines Frühstadiums von Demenz. Wobei das genau genommen sein Urteil nicht weniger treffend gemacht hat. Vielleicht ist es gar nicht er, der unter Demenz leidet.«

»O nein. Der arme Onkel Morris. Und arme Charlotte.«

»Verschwende dein Mitgefühl nicht an sie. Onkel Morris wird nur toleriert, weil er unverschämt reich ist und alle auf ein Stück vom Kuchen hoffen, wenn er rübermacht.«

»Ah«, sagte Edie und spürte nicht zum ersten Mal, dass sie sich nicht unter ihresgleichen befand. Sie hatte angenommen, dass wenigstens einer von ihresgleichen da sein würde, aber auch er erwies sich als einer »von denen«. Von jetzt an für immer.

»Ist schon verrückt, das Ganze«, sagte Jack und machte eine Handbewegung zum erleuchteten Hotel, aus dem Stimmengewirr herüberwehte. »Verheiratet. Ich.«

Edie irritierte es, dass er ihr nahelegte, in seine wehmütigen Betrachtungen dieser Sache einzustimmen. Jack hatte vor langer Zeit aufgehört, sie in seine Entscheidungsfindung mit einzubeziehen. Genau genommen war sie nie dabei gewesen.

»Deswegen bist du heute hier, Jack. Was hast du erwartet? Einen Grillabend? Den Geburtstag einer Katze? Eine Beschneidungszeremonie?«

»Haha. Du wirst nie aufhören zu schockieren, E.T.«

Auch das ärgerte Edie. Der unverheiratete Jack hatte sie nie schockierend gefunden, sondern interessant und lustig. Jetzt war sie plötzlich die nicht heiratsfähige, unmögliche Schrulle mit einer Neigung zu unanständigen Kommentaren. Die niemand nahm.

»Wie auch immer«, sagte Edie freundlich, aber entschlossen. »Es wird Zeit, dass wir wieder reingehen. Du darfst die teuerste Party, die du jemals schmeißen wirst, nicht verpassen.«

»Ach, Edie. Komm schon.«

»Was?«

Wieder wurde Edie nervös und fragte sich, warum sie hier gemeinsam in der Abenddämmerung standen, was das alles sollte. Sie verschränkte die Arme.

»Ich freu mich, dass du hier bist. Du glaubst gar nicht, wie sehr. Es gibt so gut wie niemanden, über den ich mich hier mehr freue.«

Von deiner Braut abgesehen?, dachte Edie, aber sie sprach es nicht aus.

»… Danke.«

Was sollte sie auch sonst sagen?

»Bitte, tu nicht so, als ob wir von nun an keine Freunde mehr sein können. Es hat sich nichts geändert.«

Edie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Wenn sie immer nur gute Freunde gewesen waren, dann hatte die Hochzeit selbstverständlich nichts daran geändert. Ihr wurde bewusst, dass sie Jack nie verstanden hatte, und das war ein Problem.

Während sie überlegte, was sie darauf erwidern sollte, sagte Jack: »Jetzt versteh ich. Du hältst mich für einen Feigling.«

»Wie bitte?«

»Ich mach Dinge, die nicht wirklich zu mir passen.«

»… Was meinst du?«

Edie war klar, dass das die falsche Frage war. Dieses Gespräch gehörte sich nicht. Es war abstoßend. Jack hatte eine andere geheiratet. Er sollte nicht im Dunkeln im Gebüsch stehen und zweideutige Sache zu einer Kollegin sagen. Hier war nichts und niemand mehr zu retten. Sie wusste seit einer Weile, dass er ein schlechter oder zumindest ein schwacher Mensch war, und sein jetziges Verhalten war ein weiterer Beleg dafür.

Doch es war verlockend, mit Jack über die Dinge zu sprechen, über die sie schon so lange hatte sprechen wollen.

»Manchmal weiß man einfach nicht, was man tun soll. Verstehst du?« Jack schüttelte den Kopf, atmete schwer aus und scharrte mit der Spitze seines Paul-Smith-Schuhs im Gras.

»Nicht ganz. Beim Heiraten geht es ziemlich klar um ja oder nein. Dafür gibt es das Ehegelübde.«

»Das meinte ich nicht. Charlie ist großartig, klar. Ich meine, das alles. Der Rummel. Ach, ich weiß nicht …«

Edie merkte, dass er wesentlich betrunkener war, als sie anfangs gedacht hatte.

»Was erwartest du von mir?«, fragte Edie mit möglichst emotionsloser Stimme.

»Edie! Hör auf, so zu sein. Ich versuche dir zu sagen, dass du mir nicht egal bist. Ich habe das Gefühl, das ist dir nicht klar.«

Darauf hatte Edie keine Antwort parat, und in der Pause, in der ihre Antwort hätte erfolgen sollen, murmelte Jack »O Gott«, trat auf sie zu, beugte sich herab und küsste sie.

4

Sie schwankte beinahe vor Überraschung, als sie die sanfte Berührung seines frisch rasierten Kinns spürte und den Druck seiner warmen, bierfeuchten Lippen auf den ihren. Die Nachricht, dass Jack sie küsste, war so ungeheuerlich, dass sie nicht auf einen Rutsch in ihr Großhirn vordrang. Schritt für Schritt stellte sich die ganze Bedeutung ein.

 

Jack küsst dich. Auf seiner eigenen Hochzeit. Das ist unmöglich! Erste Meldungen aber verlauten, dass es tatsächlich passiert.

Wird das hier mehr als nur ein oberflächliches Küsschen? Ist es ein Missverständnis? Wollte er eigentlich deine Wange treffen und hat danebengezielt?

Okay, das hier ist ohne Zweifel ein richtiger Kuss. Aber was zum Teufel tut er da?

Und was zum Teufel tust du da? Es scheint fast so, als würdest du den Kuss erwidern. Willst du das wirklich? Handlungsempfehlung wird erbeten.

Handlungsempfehlung. Bitte kommen.

 

Die Sekunden zogen sich eine Ewigkeit hin. Sie hatten sich geküsst. Endlich erkannte Edie die Ungeheuerlichkeit ihrer Lage und ihrer eigenen Rolle darin und wich zurück.

Rechts von sich nahm sie eine Bewegung wahr, und sie bemerkte Charlotte, deren weißes Kleid in der zunehmenden Dunkelheit leuchtete wie ein bloßgelegter Knochen. Jack wandte sich um und entdeckte sie ebenfalls. Für den winzigen Augenblick, in dem sie sich einfach nur ansahen, gaben sie ein groteskes Bild ab. Es war wie der Anblick des Blitzes, auf den der Donner erst Sekunden später folgt.

»Charlotte …« Jack wurde von einem Schrei unterbrochen, genauer gesagt war es ein tiefes Heulen, das der frisch vermählten Miss Marshall entwich. »Oh, Charlotte, nein, das ist nicht …«

»Du verdammtes Arschloch! Du verfickt-verdammter Arsch! Wie kannst du mir so was antun? Wie zum Teufel konntest du das tun? Ich hasse dich! Du mieser …« Charlotte stürzte sich auf ihn und begann auf ihn einzuschlagen und zu prügeln, während Jack versuchte, ihre Handgelenke zu fassen.

Ausdruckslos beobachtete Edie die Szene und hatte plötzlich den dringenden Wunsch sich zu übergeben.

Louis hatte zu einem früheren Zeitpunkt des Tages seiner Abscheu darüber Ausdruck verliehen, wenn Bräute sich mit organisatorischen Aufgaben beschäftigten. Wie auf Sternenstaub sollten sie durch diesen Tag schweben, jegliche Arbeit war profan und schäbig. »Man will die Primaballerina auch nicht schwitzen sehen.« Edie fand, es klang, als habe Louis eine Frauenzeitschrift verschluckt.

Dennoch hatte es etwas beinahe Anstößiges, jemanden in einem so femininen, glamourösen Gewand im Volldampf beim Ausrasten zu beobachten. Da stand sie mit ihrer Hochsteckfrisur, zart schillerte das Schlüsselbein, das Prinzessinnenkleid raschelte, und attackierte ihren frischgebackenen Ehemann mit manikürten Händen – an einer glänzten der Verlobungsklunker und der neue weißgoldene Ehering.

»Es war nicht, wonach es aussah!«, hörte Edie sich sagen, als wäre sie ein Fremder. Es sah aus wie das, was es war.

Kurz hielt Charlotte in ihrem Gerangel mit Jack inne und fauchte, das sorgfältig geschminkte Gesicht wütend verzerrt: »Fahr zur Hölle miese Hure.« Diese Feststellung besaß kein Komma und kein Ausrufezeichen, es war reine Gewissheit.

Edie glaubte nicht, dass sie Charlotte jemals zuvor hatte fluchen hören. Ihr wurde bewusst, dass sie an Ort und Stelle geblieben war, weil sie irrtümlich davon ausgegangen war, sie würde sonst schuldig wirken, und dass sie bleiben und die Sache aufklären sollte.

Als ihr die Idiotie dieser Idee klarwurde, setzte sie sich endlich in Bewegung. Sie stürmte zum Hotel, wo die ersten Gäste neugierig und irritiert zu den Stimmen starrten, die über den Rasen herüberklangen.

Okay, eins nach dem anderen. Edie musste sich dringend übergeben. Nicht in den öffentlichen Toiletten, das war zu auffällig. Sie musste hinauf in ihr Zimmer.

Zitternd kramte sie den Zimmerschlüssel mit der Metallkugel aus der Handtasche und machte rasch einen Bogen zum Haupteingang. Auf diese Weise würde sie weniger Menschen begegnen.

In diesem Moment war ihre einzige Sorge, wie sie das Hühnchen, das sich gerade zur Wiederkehr ankündigte, in ein passendes Behältnis befördern könnte. Sie wusste, dass danach eine schreckliche, furchtbare, düstere Zukunft auf sie lauern würde. Immer der Reihe nach.

Als sie die Treppen hinaufstürmte, über den ruhigen Korridor, schien es Edie undenkbar, dass die Zeit immer noch stur geradlinig verging und dieses andere Universum unerbittliche Wirklichkeit war. Dass es unmöglich war, eine magische Uhr zu knacken, die Zeiger zurückzudrehen und diese ganze entsetzliche Geschichte aufzuhalten. Dass Edie ihren Entschluss, im Garten spazieren zu gehen, nicht rückgängig machen konnte. Sie konnte es nicht wie einen alten Videofilm zurückspulen und Jack eine andere Antwort geben, davonstapfen, sobald er anfing, rätselhafte, bedeutungsschwangere Sätze von sich zu geben. Oder einfach nur an einer Stelle stehen, von der aus sie Charlotte hätte kommen sehen, die mit dem Hochzeitskleid in der Hand auf der Suche nach Jack war und sich fragte, wo er blieb, weil es Zeit war, die Torte anzuschneiden.

Nein. Edie war die Frau, die den Bräutigam am Tag seiner Hochzeit geküsst hatte, und es gab keine Möglichkeit, die Geschichte zurückzudrehen. Wenn sie jetzt eine Zeitmaschine hätte, würde noch nicht einmal das Hitler-Attentat an erster Stelle der dringend zu erledigenden Aufgaben stehen.

Sie stürzte in das leere Hotelzimmer, und die Unordnung dort erinnerte sie daran, dass es erst vor kurzer Zeit Schauplatz unschuldigen Haarerichtens und Ganzkörperspiegelprüfungen und Tee-mit-H-Milch-Machens gewesen war. Sie verschloss die Tür und rüttelte am Griff, um sicherzugehen, dass sie in Sicherheit war. Dann schüttelte sie die Schuhe ab.

Sie schaffte es bis zum Klo, hielt sich das Haar aus dem Gesicht und würgte, ein Mal, zwei Mal, drei Mal, dann richtete sie sich auf und wischte sich den Mund ab. Auge in Auge mit ihrem Spiegelbild, die Arme auf das Waschbecken gestützt, konnte sie ihren Anblick kaum ertragen. Nun begann das Feilschen.

Charlotte musste klar sein, dass Jack ihr in den Garten gefolgt war, oder? Dass er sie geküsst hatte? Doch dieses Argument konnte sie nicht anführen. Es war Jacks Sache, das zu erklären.

Edie dachte darüber nach, was die Leute sagen würden. Sie musste weg. Jetzt. Sie versuchte sich zu sammeln und sah auf die Uhr. 21 Uhr 14. War es zu spät, um noch einen Zug zu erwischen? Könnte sie ein Taxi nehmen? Bis nach London? Ohne Vorankündigung? Das wäre irrsinnig teuer. Trotzdem, sie wäre bereit, das zu bezahlen. Aber sie müsste mit ihrem Gepäck an der Rezeption vorbei, ein Spießrutenlauf sondergleichen.

Es gab nur einen Ausweg: abtauchen. Sich verbarrikadieren.

Das ganze Ausmaß dessen, was geschehen war, toste in Wogen immer wieder aufs Neue heran. Die Musik hallte von unten herauf, die blechernen Synthesizergluckser in Madonnas Hung Up schienen Edies Zwangslage zu verhöhnen. Time goes by, so slowly.

Das hier war ein Horrorfilm, in dem das spritzende Blut und die Schreie ironisch von den Lachern aus der Sitcom untermalt wurden, die das ahnungslose Opfer gerade angesehen hatte.

Edie rang die Hände und knirschte mit den Zähnen und lief im Zimmer auf und ab. Sie spielte mit dem Gedanken, hinunterzugehen, den Leuten entgegenzutreten und zu rufen: »Er war’s!« Doch sie wusste, dass nichts das Schandmal, mit dem sie jetzt gezeichnet war, auslöschen konnte.

Als sie aus dem Fenster zu sehen wagte, war der Garten gespenstisch leer.

Es war unmöglich, nicht online zu gehen, so sehnlichst sie dem Drang auch widerstehen wollte. Sie saß auf dem Himmelbett und starrte grimmig auf den erleuchteten Bildschirm. Jedes Mal wenn sie irgendwohin klickte, fürchtete sie, sich gleich wieder zu übergeben. Bislang war da nichts.

Die Ruhe vor dem Sturm. Es gab getaggte Fotos davon, wie sie vor den Altar traten, lächelten, wie sie unterschrieben, Charlotte, wie sie sagte: »Champagner für meine Nerven!« mit haufenweise Likes. Was würden die Leute sagen? Was ging dort unten vor sich?

»Edie? Edie!« Als jemand plötzlich mit der Faust an die Tür hämmerte, sprang ihr das Herz geradewegs aus der Brust, genau wie bei Bugs Bunny.

»Edie, ich bin’s, Louis. Lass mich rein.«

Erst da fiel Edie auf, dass die Musik nicht mehr spielte.

5

Louis’ ungewöhnlich nervöses Auftreten tat nichts, um Edies Panik zu lindern. Wider besseres Wissen hoffte sie, dass er ins Zimmer tänzeln und sagen würde: »Der Sturm hat sich längst gelegt, was machst du hier oben?«

Auf schwachen Pfeifenputzerbeinen ließ sie ihn herein und sperrte die Tür hinter ihm wieder ab, als treibe tatsächlich ein Mörder sein Unwesen im The Swan. Louis betrachtete Edie, neuerdings zur berühmt-berüchtigten Person avanciert. Er stützte die Arme unter der Anzugjacke in die Hüften.

»Hm. Also. Was verdammt ist passiert?«

»O Gott. Was sagen die Leute? Was soll passiert sein?«, jammerte Edie.

»Jack und Charlotte …«, Louis konnte sich die theatralische Pause nicht verkneifen – als verkünde er den Gewinner einer Talentshow, »haben sich getrennt.«

Edie rang um Luft und setzte sich auf die Bettkante, um das Gleichgewicht zu halten. Sie zitterte am ganzen Leib. Ihr war bewusst gewesen, dass sie den beiden die Hochzeit verdorben hatte. Aber der Grund für eine Trennung noch am selben Tag? Das schien unmöglich. So etwas durfte einfach nicht passieren.

»Das kann nicht sein«, flüsterte sie.

»Charlotte ist zu ihren Eltern gefahren.« Mittlerweile genoss Louis die ganze Angelegenheit. »Und Jack hat sich irgendwo hier, glaube ich, mit einer Flasche Whisky und seinen Kumpels verdrückt. Es gab furchtbares Geschrei, alle waren völlig hysterisch. Das absolute Chaos. Charlotte hat den Ehering nach ihm geworfen.«

Edie hatte die Augen geschlossen und hielt sich mit klammen Fingern an einem Bettpfosten fest, während das Zimmer um sie herum schwankte. »Was sagen sie über mich?«

»Dass Charlotte euch beide zusammen erwischt hat. Dass ihr eine Affäre habt.«

»Wir haben keine Affäre!«

»Was war es denn dann?«, fragte Louis.

Edie musste es zum ersten Mal laut aussprechen und zögerte.

»Ich bin in den Garten gegangen und … er hat mich geküsst. Nur ganz kurz.«

»Halt. Willst du damit sagen, dass ihr nicht gevögelt habt?«

Edie fiel die Kinnlade herunter. »Gevögelt? Nein! Natürlich nicht! Wie hätten wir … Willst du mich verarschen?«

»Es gibt Leute, die sagen, dass ihr … na, du weißt schon, miteinander zugange wart. Oder zumindest kurz davor.«

Edie war klar, dass Louis zu Übertreibung und Dramatisierung neigte, aber sie konnte nicht wissen, ob er es jetzt auch tat. Es war nicht schwer vorzustellen, dass die Gerüchteküche heiß lief. Als wäre die Wahrheit nicht schon schlimm genug.

»Wir waren nur ein paar Schritte vom Hotel entfernt!«

»Ja, ich denke, dass ist eher die Art Zusammenkunft, die auf einer Motorhaube nach Mitternacht stattfindet. Und üblicherweise, na ja, nicht mit dem Bräutigam. Er hat dich also geküsst?«

Edie nickte.

»Aber ihr habt eine Affäre, oder?«

»Nein!«

O Gott, das war unerträglich. Alle glaubten nun von ihr genau das, was sie immer hatte vermeiden wollen. Wenn sie die Wahl hätte, würde sie lieber nackt über die Straße laufen als das hier!

»Okay, Liebes. Jack hat also aus heiterem Himmel gesagt: Gefällt dir meine Hochzeit – ach ja, und meine Zunge?«

»Er fing an, darüber zu reden, wie wichtig ihm unsere Freundschaft ist, ich glaube, er war sehr betrunken. Und im nächsten Augenblick hat er mich geküsst.«

»Und du hast den Kuss nicht erwidert?«

»Nein! Na ja, so gut wie nicht. Ich war total geschockt.«

»Hmm. Schon ein bisschen komisch, dass du allein da draußen herumgehangen hast. Wie hat er dich denn gefunden? Und du hast ihm sicher keine Nachricht geschickt?«

»Ich war draußen, weil ich ein Foto machen wollte. Ich kann’s dir sogar zeigen!« Edie wedelte mit dem Smartphone vor seiner Nase herum. »Da sind auch keine Nachrichten, siehst du?« Als wäre es ein Gerichtsverfahren und sie könnte das Telefon in eine Asservatentasche stecken. Sie stand tatsächlich vor Gericht – dem der öffentlichen Meinung. Vor einem normalen Gericht stünde sie sicher besser da.

»Louis, denk doch mal nach«, bat Edie. »Warum sollte ich ausgerechnet heute versuchen, mich mit ihm davonzumachen?«

»Warum sollte er völlig unvermutet so etwas versuchen? Edie, irgendwas verschweigst du mir. Anders ist das nicht möglich.«

»Wir haben uns in der Arbeit Nachrichten geschickt. Gechattet. Mehr nicht. Wir waren einfach nur Freunde.«

»Ihr habt geflirtet?«

»Ein bisschen wahrscheinlich.«

Sie konnte Louis nicht im Trüben fischen lassen und trotzdem auf seine Hilfe hoffen. Er kaute auf seiner Unterlippe und wog die Angelegenheit ab.

»… Ich glaube dir. Trotzdem vermute ich, dass du Probleme haben wirst, auch die anderen zu überzeugen. Die Gerüchte haben sich schon durch halb Harrogate verbreitet, sie sind immer schneller als die Wahrheit. Außerdem …«

Louis legte eine Pause ein, und Edie riss erschrocken die Augen auf. »Was?!«

Er senkte die Stimme.

»Es gibt nur zwei Leute, die man für diese Sache verantwortlich machen wird: dich und Jack. Er aber ist der Typ, der in eine Jauchegrube fällt und mit einer goldenen Armbanduhr wieder auftaucht. Ich will nicht herzlos klingen, aber du brauchst eine PR-Strategie. Du musst den Leuten klarmachen, dass er es war und nicht du.«

»Wie soll ich das anstellen?«

»Ich werd sehen, was ich tun kann«, verkündete Louis großmütig. »Du solltest dir aber auch Gedanken darüber machen. Wir arbeiten in der Werbung. Überleg dir ein Krisenmanagement für deine Marke.«

Edie nickte. Sie musste alles, was sie über Louis wusste, beiseiteschieben und ihm vertrauen. Sie konnte es sich nicht leisten, an dem Freund in der Not zu zweifeln.

»Glaubst du wirklich, dass es zwischen Jack und Charlotte endgültig aus ist?« Edies Stimme bebte.

Louis hob die Schultern und ließ sie wieder sinken.

»Bin mir nicht sicher, ob ich so was verzeihen würde. Die Blamage. Würdest du es tun?«

Edie schüttelte traurig den Kopf. Bis dahin hatte sie gar nicht daran gedacht. Sie hatte ihr eigenes Überleben im Sinn gehabt. Was aber stand Charlotte bevor? Nun, da alle von diesem Gemetzel wussten.

Sie hörten ein Stampfen auf dem Flur und dann ein Trommeln an der Zimmertür, so heftig, als habe sich ein geiferndes wildes Tier dagegengeworfen. Edie und Louis schreckten heftig zusammen.

»EVIE THOMPSON! Hier ist Lucie Maguire! Ich bin die erste Brautjungfer. Mach SOFORT die Tür auf!«

Edie und Louis sahen sich erschrocken an.

»EVIE! ICH WEISS, DASS DU DA DRIN BIST, DU JÄMMERLICHES MISTSTÜCK. STELL DICH!«

»Sag ihr, dass es dein Zimmer ist!«, zischte Edie Louis zu.

»Was? Und wenn sie dann in mein Zimmer stapft?«

»Aber da bist du ja gar nicht.«

»Später werd ich da sein.«

»Dann sag ihr später, dass es ebenfalls dein Zimmer ist.«

»Dann weiß sie aber, dass ich bei diesem hier gelogen habe.«

»Louis!« Edie drehte vor Verzweiflung fast durch. »Sag’s ihr!«

Er zog eine Grimasse und sagte laut: »Hallo, Lucie, hier ist Louis. Nicht Edie.«

»Wo ist Evie? Das ist ihr Zimmer! Der Mann an der Rezeption hat es mir gesagt. Keine Spielchen, ich bin EXTREM WÜTEND.«

Louis reckte den Mittelfinger zur Zimmertür und säuselte: »Nein, das ist mein Zimmer. Hier ist der kleine Louis.«

»… Lass mich rein. Du kennst diese Frau. Sag mir, wo ich sie finden kann.«

»Lieber nicht. Ich bin nackt.«

»Dann zieh dir was an.«

»Ich bin nackt, und hier ist noch jemand, der auch nackt ist. Klar?«

»Ist sie es?«

»Nein, ein Mann, männlich. Wenn du also nichts dagegen hast, würden wir jetzt gerne weitermachen.«

Pause.

»Weißt du, wo die Schlampe ist?«

»Nein. Ich dachte, ich hätte gerade klargemacht, dass ich anderweitig beschäftigt bin.«

»Nun, wenn du sie siehst, dann sag ihr, dass ich mir ihre Titten als Ohrenwärmer aufsetzen werde.«

»Wird gemacht.«

Edie zuckte zusammen.

Pause. »Ich möchte auch sagen, dass ich es ziemlich geschmacklos finde, Sex zu haben, während das Leben einer Frau in die Brüche geht. Wir versuchen, ihr zu helfen. Und gleichzeitig hängst du hier oben nackt rum.«

»So bin ich. Immer nackt in einer Krise. Das sind meine besten Augenblicke.«

Lucie schnalzte missbilligend mit der Zunge, dann entfernte sich ihr beängstigendes Stampfen. Selbst in dieser Stunde der Verzweiflung entwich Louis und Edie ein kleines unterdrücktes Lachen.

»Wie komm ich hier jemals unversehrt raus?«

»Hmm. Ja, das könnte zu unangenehmen Szenen mit diesem Drachen führen. Ich würde früh auschecken.«

Das hatte sich Edie bereits vorgenommen. Die Rezeption war vierundzwanzig Stunden lang besetzt, sie konnte im Morgengrauen verschwinden. Selbst die aufgebrachtesten Gäste würden sich nicht um halb fünf am Morgen herumtreiben. Wobei man bei Lucie nie wissen konnte.

»Sieh es von der positiven Seite. Nichts, was Lucie zu bieten hat, kann so schlimm werden wie das Gejodel, das sie uns bereits angetan hat.«

Edie lachte schwach und dachte daran, wie lang es zurückzuliegen schien, dass jemand aus dem falschen Anlass im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden hatte.

»Ich glaube, ich kann mich jetzt aus dem Zimmer wagen«, sagte Louis.

Die Aussicht, allein zu sein, entmutigte Edie.

»Louis«, sagte sie mit leiser, brüchiger Stimme. »Ich weiß, ich hab einen Fehler gemacht. Aber ich hab das alles nicht gewollt. Ich fühl mich elend. Alle werden mich hassen.«

»Sie werden dich nicht hassen«, sagte Louis, doch er klang nicht überzeugt. »Du musst ihnen nur sagen, dass es Jack war, der dich angemacht hat, nicht umgekehrt.«

Sie beide wussten, dass es a) unmöglich sein würde, allen zu sagen, wie es wirklich gewesen war, und b) keiner Lust haben würde, Edie freizusprechen und damit eine Schlüsselfigur in dieser unwiderstehlichen Klatschgeschichte zu verlieren. Zu der Erzählung gehörte eine böse Hexe.

»Wir sind noch Freunde, oder? Ich habe das Gefühl, dass ich niemanden mehr haben werde.«

»Liebes«, Louis umarmte sie schnell und brüsk, »natürlich sind wir das.«

Nachdem sie hinter ihm die Tür abgesperrt hatte, ließ sie sich wieder auf das Bett sinken. Bei jedem Rumpeln oder Schlurfen im Hotel fuhr sie zusammen. Sie malte sich aus, dass sich die Leute in einer Schlange aufstellten, an dessen Ende sich Lucie Maguire eingereiht hatte, und nur darauf warteten, sie anzuschreien und zu beschimpfen und ihren Brüsten schreckliche Dinge anzutun.

Sie rang sich durch und ging online. Immer noch herrschte dort frostige Stille. Sie entdeckte keine Kommentare zu dem, was vorgefallen war, niemand hatte ihr auf Facebook die Freundschaft aufgekündigt (obwohl das mit Sicherheit nicht ausbleiben würde).

Und doch … während die Zeit verstrich, wurde Edie plötzlich von einer schrecklichen, beängstigenden Ahnung gepackt. Sie versuchte, der Panik zu widerstehen. Das war nichts als Paranoia. Sie musste das nicht nachprüfen. Sie irrte sich sicherlich.

Okay, Edie musste doch nachschauen. Nur um sicherzugehen. Mit verschwitzten Fingern wischte sie auf ihrem Touchscreen herum. O Gott. Nein. Sie unterdrückte die Tränen und tippte wieder und wieder auf Aktualisieren, versuchte sich einzureden, dass sie sich täuschte. Aber sie täuschte sich nicht.

Louis hatte das Foto von ihnen beiden gelöscht.

6

Edie wollte nie eine solche Frau sein. Die andere Frau. Wer will das schon? Welcher vernünftige Mensch wünscht sich den Herzschmerz, das abstoßende Elend dieser Rolle? Niemand ist je der Bösewicht in seiner eigenen Geschichte, war das nicht ein ungeschriebenes Drehbuchgesetz?

Seit einiger Zeit schon hatte Edie das Gefühl, dass ihr Leben böse vom Kurs abgewichen war, und nun musste sie sich den Tatsachen stellen: Vielleicht käme es nie mehr zurück auf Kurs.

Es war nicht immer so gewesen. Nach einer in Liebesdingen chaotischen Jugend und dem Herumtreiben in den Jahren nach der Uni hatte sie sich mit Mitte zwanzig mit ihrem Bilderbuchmann und Seelenverwandten eingenistet: ein komplizierter, schwermütiger, anstrengender junger Dichter aus Nordengland, der aussah wie Alain Delon und Matt hieß.

Mit ihm kulminierte ihre ruhmreiche Idee, sich neu zu erfinden; aus der chaotischen Edith wurde die hübsche, fröhliche, schreibende Edie, die das Leben beherzt anging und London beim Schopf packte.

Sie hatte versucht, die Beziehung nach innen genauso perfekt zu gestalten, wie sie nach außen hin den Anschein gab. Sie passten zusammen. Ihre Freunde beneideten sie. Sie malte sich eine Hochzeit aus, sogar Kinder, aber je länger sie mit Matts Stimmungen konfrontiert war, desto deutlicher wurde, dass diese Ideen besser im Bereich der Fantasie bleiben sollten.

Nach drei Jahren des Ringens mit kompliziert, schwermütig und anstrengend war Edie vollkommen erledigt von den Bemühungen, ihn zu verstehen und ihn aufzumuntern.

Sie trennten sich. Edie war zwar sehr traurig, aber sie war erst neunundzwanzig. Es mangelte nicht an Männern, die ihre Chance witterten und gewillt waren, Edie aufzufangen. Sie ging davon aus, dass Mr. Right nur ein paar Flirts entfernt war, auf der anderen Seite der dreißig, mit einem Strauß Blumen in der Hand.

Doch irgendwie kam er nie. Das Singledasein wurde von einem zeitweiligen Störimpuls zum dauerhaften Zustand. Es gab einfach niemanden, in den sie sich verliebte. Bis Jack kam. Der ganz und gar der Falsche zum Verlieben war.

Suchen wir uns jemals aus, in wen wir uns verlieben? Edie hatte jede Menge Zeit an den langen Abenden, in denen ihr nur Netflix Gesellschaft leistete, um darüber nachzudenken.

Sie rief sich oft die erste Begegnung mit Jack ins Gedächtnis, im Büro der Werbeagentur, in der sie als Texterin arbeitete. Charlotte war eine ehrgeizige Kundenbetreuerin und hatte ihren Boss Richard überredet, Jack anzustellen, entgegen dem eigentlich geltenden »Keine Lebensgefährten«-Grundsatz.

Als Jack Marshall bei ihnen anfing, hatte sie dem keine große Bedeutung beigemessen; sie war davon ausgegangen, dass er ein ähnlich erfolgreicher, Ich-geh-morgens-vor-der-Arbeit-ins-Fitnessstudio-Überflieger war wie Charlotte.

»Edie, darf ich dir meinen Freund vorstellen?«, hatte sie Ende des letzten Sommers über den Tisch gerufen, als sie sich freitagabends wie immer in die italienische Bar gequetscht hatten. »Edie wird dir gefallen, sie ist unser Büroclown.« Ein zweifelhaftes Kompliment, aber Edie nahm es als Kompliment und lächelte.

Sie stand auf und schüttelte Jacks Fingerspitzen statt seiner Hand über dem Tisch, der ein bisschen schief, halb auf dem Gehsteig, halb im Restaurant, stand. Im Rückblick wunderte sie ihre vollkommene Gleichgültigkeit zu jenem Zeitpunkt. Jack sah auf den ersten Blick ganz und gar nach Charlotte aus, mit seinem schicken Anzug, dem sandfarbenen Haar und der schlanken Figur, und Edie hatte sich wieder ihrem Gespräch zugewandt.

In den darauffolgenden Wochen hatte Edie Jack hin und wieder dabei erwischt, wie er zu ihr herübersah; sie hatte angenommen, dass er sich einfach nur am neuen Arbeitsplatz umsehen wollte. Charlotte war eine gertenschlanke Göttin aus den südlichen Grafschaften, und es schien unwahrscheinlich, dass er sich für ein Mädchen aus den Midlands interessieren könnte, die ihre grauen Strähnen mit L’Oréal Glossy Black übertünchte und sich kleidete wie die Zeichentrick-Velma aus Scooby-Doo.

Eines Tages saß sie in der Mittagspause mit einem Buch von Jon Ronson und einem Apfel an ihrem Schreibtisch, als sie Jack wieder einmal dabei ertappte, wie er sie anstarrte. Sie wäre rot geworden, wenn Jack nicht schnell gesagt hätte: »Du runzelst total die Stirn beim Lesen, wusstest du das?«

»Elvis Presley hat Priscilla eine runtergehauen, wenn sie die Stirn gerunzelt hat«, gab Edie zurück.

»Was? Im Ernst?«

»Hmm. Er wollte nicht, dass sie Falten kriegt.«

»Wow. Was für ein Arschloch. Ich werde mein Live in Vegas-Album verschenken. Aber du musst dir keine Sorgen machen.«

»Du wirst mir keine runterhauen?«, sagte Edie grinsend.

»Haha. Nein, ich meinte: keine Falten.«

Edie nickte, murmelte ein Dankeschön und wendete sich wieder ihrem Buch zu. Hatte er mit ihr geflirtet? Wohl kaum. Nur wenig später aber hatte ein Kunde, Olly der Weinhändler, bei einem kurzen Besuch Edie besondere Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wieder hatte sie Jacks Blick auf sich gespürt.

»Meine kleine Edie! Wie geht es Ihnen?«, fragte Olly, von seinem mittäglichen Alkoholkonsum deutlich angeschickert. »Was für eine süße Bluse. Sie erinnern mich so an meine Tochter, wissen Sie. Nicht wahr, Richard? Sie ist das Ebenbild von Vanessa.«

Richard, ihr Boss, druckste ein wenig herum, so wie man es tat, wenn man aus monetären Gründen einer Meinung sein sollte.

Edie bedankte sich und hoffte, dass allen im Büro klar war, dass sie nichts tat, um diese Aufmerksamkeiten inklusive Whiskyausdünstung zu provozieren.

Als Richard ihn von Edies Schreibtisch weggeleitete, poppte ihr Google-Chat-Fenster auf. Jack.

 

»Junge Dame, darf ich Ihnen ganz platonisch sagen, wie liebend gern ich Sex mit Ihnen hätte?«

 

Edie erschrak und bemerkte dann die Anführungszeichen. Sie hätte beinahe laut losgeprustet. Fröhlich tippte sie ihre Antwort.

 

Äh, Olly ist ein geschätzter Kunde. Er ist sozusagen Teil der Familie … *so wie die Wests auch eine große Familie waren* *kotzendes Smiley*

 

Sie ahnte es nicht, aber sie war verloren. Sie hatte Jacks Herausforderung angenommen. Der Weg in den Ruin beginnt mit einem einzigen Schritt.

 

Jack

Das Einzige, was schlimmer ist als seine Anmache, ist sein Wein. Hast du den Pinot grigio probiert? Würg.

 

Edie

In meinem Text beschreibe ich sein leicht säuerliches Prickeln mit einer Note grüne Pflaume und einem Nachgang von Melone, wie gemacht für einen langen Nachmittag im Garten, der in den Abend übergeht.

 

Jack

Übersetzt heißt das: eine Pennerbombe für die Parkbank mit dem Geschmack von Odol-med3 und Spargelpipi.

 

Edie

Das Bouquet könnte man auch als »aufdringlich« beschreiben.

 

Jack

Ich habe spaßeshalber nachgelesen. »Eine fruchtige Verbindung reifer, vollmundiger Geschmacksnoten. Versetzt Sie auf italienische Weingüter.« Versetzt Sie wohl eher in die Notaufnahme, würde ich mal sagen.

 

Wäre diese unmittelbare Vertraulichkeit von einem alleinstehenden männlichen Kollegen gekommen, hätte Edie es als Flirt behandelt. Eindeutig. Jack aber war Charlottes Freund, die direkt neben ihnen saß, es konnte also kein Flirt sein. Es war nur Netzgeplauder, nichts weiter.