Iron Widow - Seele in Ketten - Xiran Jay Zhao - E-Book

Iron Widow - Seele in Ketten E-Book

Xiran Jay Zhao

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Beschreibung

Sie beherrscht das Reich, doch ihre Seele liegt in Ketten …

Zetian hat ihr Ziel erreicht und ist die erste Herrscherin des Reiches. Endlich kann sie die Gesellschaft, die Frauen so sehr verachtet, zum Besseren verändern. Aber gelingt ihr das als gerechte und weise Regentin? Oder muss sie ihren Willen mit Gewalt und Furcht durchsetzen? Doch der Kampf gegen jene Männer, die das Patriarchat um jeden Preis beibehalten wollen, ist nicht Zetians größtes Problem. Die Götter selbst greifen ein und halten ihren geliebten Li Shimin als Geisel. Wird es den himmlischen Tyrannen gelingen, Zetians Seele in Ketten zu legen?

Female Rage trifft auf Love Triangle – die mitreißende Iron-Widow-Serie von TikTok-Star Xiran Jay Zhao:
1. Rache im Herzen
2. Seele in Ketten
Band 3 in Vorbereitung

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Seitenzahl: 955

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Zetian hat ihr Ziel erreicht und ist die erste Herrscherin des Reiches. Endlich kann sie die Gesellschaft, die Frauen so sehr verachtet, zum Besseren verändern. Aber gelingt ihr das als gerechte und weise Regentin? Oder muss sie ihren Willen mit Gewalt und Furcht durchsetzen? Doch der Kampf gegen jene Männer, die das Patriarchat um jeden Preis beibehalten wollen, ist nicht Zetians größtes Problem. Die Götter selbst greifen ein und halten ihren geliebten Li Shimin als Geisel. Wird es den himmlischen Tyrannen gelingen, Zetians Seele in Ketten zu legen?

Autor*in

Xiran Jay Zhao ist dey Autore des »New York Times«-Platz-1-Bestsellers »Iron Widow«. Deys Bücher waren Finalisten oder Gewinner zahlreicher Preise, darunter die Nebula-, BFSA- und Locus-Awards. Aus einer chinesischen Kleinstadt stammend, ist Zhao nach Vancouver, Kanada, eingewandert. Dey hat Biochemie studiert, wandte sich dann aber dem Schreiben von Büchern zu. Man findet Xiran Jay Zhao auf Twitter für Memes, auf Instagram für Cosplays und ausgefallene Outfits, auf TikTok für lustige Kurzvideos und auf YouTube für lange Videos über chinesische Geschichte und Kultur.

Die mitreißende Iron-Widow-Serie von TikTok-Star Xiran Jay Zhao:

1. Rache im Herzen

2. Seele in Ketten

Band 3 in Vorbereitung

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XIRAN JAY ZHAO

Iron Widow

Seele in Ketten

Roman

Deutsch von Michaela Link

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Heavenly Tyrant (2)« bei Tundra Books, an imprint of Tundra Book Group, a division of Penguin Random House of Canada Limited.

Liebe Leser*innen, dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet man eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Xiran Jay Zhao und der Penhaligon Verlag

In diesem Buch werden Neopronomen verwendet. Da es zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens für die deutsche Sprache noch keine einheitliche Regelung gibt, haben wir uns für das Neopronomen dey entschieden.

Das Zitat aus dem Buch der Lieder wurde entnommen aus: Schi-King, übers. v. Victor von Strauß, Heidelberg 1880

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2024 by Xi Ran Zhao

This edition published by arrangement with Tundra Books, an imprint of Tundra Book Group, a division of Penguin Random House of Canada Limited.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Angela Küpper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

nach einer Originalvorlage von Tundra Book Group

Umschlagmotiv: © 2024 by Ashley Mackenzie

Umschlagdesign: Talia Abramson

HK · Herstellung: fe

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-28346-9V002

www.penhaligon.de

Für Qiu Jin, Rosa Luxemburg, Thomas Sankara, Salvador Allende und die anderen, die vorausgegangen sind.

Wie auch für alle, die noch kommen werden.

Prolog

In einer Welt voller Menschen, die seinen Tod wünschten, hätte Qin Zheng nie damit gerechnet, von einer Seuche niedergestreckt zu werden.

Er hatte Hunduns vernichtet, denen gegenüber die größten von Menschenhand geschaffenen Monumente klein und winzig erschienen. Er hatte Legionen von Chrysaliden bezwungen, die von Dummköpfen kommandiert worden waren und sich geweigert hatten, vor ihm zu kapitulieren. Er hatte die Arbeiterschaft von sieben streitenden Reichen dazu gebracht, gegen die Unternehmer, Bankiers und Grundbesitzer zu rebellieren, die sie knechteten. Und er war noch jung. Er hätte noch viele, viele weitere Jahre vor sich haben sollen, um seine Revolution voranzutreiben. Es war absurd, jetzt schutzlos etwas so Winzigem preisgegeben zu sein, dass man es mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. Ein Virus, das durch sämtliche seiner Organe wütete, das ihn von innen heraus zerriss und auf seiner Haut eitrige Pusteln aufblühen ließ wie fluchbeladene Blumen. Er kam sich jetzt noch ohnmächtiger vor wie einst der Gossenjunge, der als der Sohn einer Hure angespuckt und ausgelacht worden war. Nach oben zu schauen und von der Unendlichkeit zu träumen, war ja ganz nett; doch etwas ganz anderes war es, den höchsten Gipfel zu erreichen, nur um dann praktisch ohne Vorwarnung in den Abgrund zu stürzen.

Nachdem er den Gelben Drachen tief genug unter dem Berg Zhurong vergraben hatte, um einen direkten Zugang zur Lebensenergie des Planeten selbst zu bekommen, löste er sich aus dem einenden Pilotenband.

»Shîfu … So wollte ich eigentlich wirklich nicht …«, setzte er an. Seine Worte waren an die Frau gerichtet, die auf dem Yin-Sitz vor ihm nun allmählich das Bewusstsein wiedererlangte. Er hätte nie gedacht, dass er einmal mit ihr zusammen eine Chrysalis steuern würde, denn sie hatte immer in ihrer eigenen Chrysalis an seiner Seite gekämpft. Generalkönigin Mi Xuan, Pilotin der Dreibeinigen Krähe, Oberhaupt der Eisernen Witwen. Seine Mentorin.

»Verschwendet Eure Energie besser nicht mit Reden«, knurrte sie über die Schulter. Ihre Worte wurden von einer schützenden Ledermaske gedämpft, und ihre Brillengläser beschlugen beim Sprechen. Sie war inzwischen im ganzen von ihm neu begründeten Reich von Huaxia der einzige Mensch, der es noch wagte, so mit ihm zu reden. Nun streifte sie auf dem Yin-Sitz die vorübergehend getragene Rüstung des Gelben Drachen ab wie eine goldene Hülle und erhob sich in ihrem schwarzen Leitanzug. Sie hatte ihre übliche Rüstung der Dreibeinigen Krähe ins Cockpit mitgebracht, aber für das, was jetzt kommen würde, würde sie diese nicht brauchen.

Qin Zheng ließ dünne Nadeln aus den Handflächen seines Panzerhandschuhs sprießen, damit sie den Qi-Fluss zwischen ihm und dem Drachen steuern konnte. Sein Rat der Weisen hatte sich mit allem Nachdruck gegen dieses Experiment gestemmt, aber auch die Ratsmitglieder hatten keine andere Lösung zu bieten gehabt. Er wies Symptome der aggressivsten Form von Blumenpocken auf. Ihm blieben nur noch wenige Tage, bis sich seine Organe im Leib zersetzen würden. Innerhalb so kurzer Zeit würde sich kein Heilmittel auftreiben lassen.

Im Stillen verfluchte er die Götter. Auch nachdem er wieder begonnen hatte, ihnen Opfergaben zu entrichten, reagierten sie nicht auf seine Bitten um Zwiesprache. Seine einzige verbliebene Möglichkeit war dieser tollkühne Versuch, sich über die Zeiten hinweg einzufrieren.

»Shîfu«, sagte Qin Zheng, und seine Stimme hatte seit Jahren nicht mehr so kleinlaut geklungen. Es schmerzte ihn, Huaxia in den Händen anderer zurückzulassen, aber jetzt, wo ihm das eigene Leben entglitt, konnte er an die Lenkung seines Reiches erst recht nicht mehr denken. »Niemand darf mich wecken, solange kein Heilmittel gefunden ist. Ganz gleich, wie lange es dauert.«

Generalin Mis stählerne Augen glänzten hinter den Brillengläsern ihrer Maske. »So viel kann ich Euch versprechen.«

Sie presste die nackten Handflächen in die Nadeln auf seinen Panzerhandschuhen und biss die Zähne zusammen. Blut tropfte zwischen ihren vereinten Händen hervor. Die Meridiane, die das Qi durch ihren Leib beförderten, verdunkelten sich an den wenigen Stellen an ihrem Hals und auf ihren Handrücken, wo ihre Haut sichtbar war. Wasser war der Qi-Typ, für den ihre Anlage am schwächsten war, und doch bediente sie sich seiner wie einer tosenden Flut. Die Kälte des Wasser-Qi durchdrang Qin Zhengs Blut wie halb gefrorenes Schneewasser. Reflexhaft wollte er diesen Strom seiner Kontrolle unterwerfen, so wie er es mit allem zu tun pflegte, aber ausnahmsweise einmal ließ er es mit sich geschehen. Wenn es gelang, einen passiven Qi-Strom, dessen Basispartikel so abgestimmt waren, dass nur Qi vom Wassertyp in Qin Zheng hineingefiltert wurde, durch den Drachen fließen zu lassen wie einen bergab strömenden Fluss, konnte diese Kälte theoretisch unendlich fortwähren.

»Xuan-jiìjiì …« Er atmete tief aus, als nun sein Bewusstsein gefror. Eine unangemessene Art und Weise für einen Schüler, das Wort an seine Mentorin zu richten. Genauso unangemessen wie umgekehrt ihre Angewohnheit, ihn niemals mit seinem kaiserlichen Titel anzureden.

Ein leises Beben durchlief sie. Qin Zheng wollte noch etwas sagen, konnte aber nicht mehr die Worte finden, um alles einzufangen, was er fühlte.

»Ruht Euch ein wenig aus, Zheng’er«, raunte sie. »Ich werde zu Euch zurückkehren.«

Bitte, flehte er in der stummen Sicherheit seiner Geisteswelt, denn laut hätte er so etwas niemals von sich gegeben.

Die Kälte schloss sich über ihm wie Eis über einem See.

Er hätte schwören können, dass keine Minute vergangen war, als er mit einem Mal spürte, wie Hitze durch seinen Körper schoss. Seine Lider öffneten sich flatternd. Vor ihm in dem dunklen Cockpit ein verschwommenes Etwas mit Flügeln. Hatte Generalin Mi ihre Rüstung der Dreibeinigen Krähe angelegt? Der Druck ihrer Finger auf seinem Panzerhandschuh pumpte jetzt Feuer-Qi in ihn hinein. Für einen Moment befürchtete er, das Experiment habe nicht funktioniert, doch da war noch jemand bei ihr, mit der Hand auf seinem anderen Panzerhandschuh. Es musste einige Zeit verstrichen sein. Sie war tatsächlich zu ihm zurückgekehrt.

»Wo ist das Heilmittel?«, krächzte Qin Zheng.

Sie und die andere Person standen schweigend da.

»Wo ist das Heilmittel?«, wiederholte er und zwang keuchend abgestandene Luft in seine auftauende Lunge.

Rufe erhoben sich aus den Schatten weiter vorn im Cockpit. Hatten sie noch weitere Leute hergebracht?

Generalin Mi verfiel in hektische Aktivität und nestelte mit etwas, das sie in ihrer freien Hand hielt. »Öffnet Euch!«

Irgendetwas mit ihrer Stimme stimmte nicht, sie war nun höher und weniger rau als zuvor. Auch mit ihrem Qi war etwas nicht in Ordnung. Und ihre Rüstung war rot und derb, nicht schwarz und figurbetont.

Bevor er feststellen konnte, ob dieser Eindruck womöglich eine Täuschung seiner zu neuem Leben erwachenden Sinne war, spürte er eine Taubheit in seiner rechten Seite, und die eine Hälfte seines Gesichts erschlaffte. Er und Generalin Mi schrien beide vor Überraschung auf. Er schüttelte den einen Panzerhandschuh ab, um ihn in eine Maske aus Geistmetall zu verwandeln, die sich über die entsprechende Hälfte seines Gesichts legte. Auch wenn er wusste, dass es ihr über den anfänglichen Schock hinaus nichts ausmachen würde, wollte er doch nicht, dass sie ihn so sah.

Wie erwartet war sie nur einen kurzen Moment lang benommen, dann bohrte sie ihm eine Spritze in den Hals. Eine kalte Flüssigkeit – wie er annahm, das Heilmittel gegen die Blumenpocken – drang in sein Blut. Langsam schärfte sich seine Sicht.

Der Anblick, der sich ihm nun bot, war nicht das, was er erwartet hatte.

Sie war nicht Generalin Mi. Die beiden sahen sich bemerkenswert ähnlich, hatten die gleichen Augen, die Rache und Blutvergießen ankündigten, doch war es unmöglich, dass Generalin Mi inzwischen jünger und kleiner geworden war.

Was war hier los? Wie viel Zeit war vergangen? Wo war die Generalin?

»Könnt Ihr eine Chrysalis steuern?« Die Frage der jungen Frau stach durch seine wirbelnden Gedanken. Sie sprach in einem seltsamen Dialekt, den er nicht genauer bestimmen konnte. Dann zog sie ihm die Spritze aus dem Hals und drückte mit den Fingern auf den blutenden Einstich. »Ich brauche Eure Kampfkraft, Eure Chrysalis. Auf der Stelle.«

Qin Zheng bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Er durfte sich in solch einer unbekannten Situation keine Verwundbarkeit anmerken lassen.

Nachdem er ihren Geistdruck ertastet hatte, gab er ein trockenes Lachen von sich. Für wen hielt sich dieses kleine Mädchen? Hatte ihr denn niemand gesagt, wer er war? Die Chrysalis zusammen mit ihm zu steuern, wäre für sie das sichere Todesurteil. Er bündelte alle fünf Typen Qi mit der ganzen Macht, die er aufbringen konnte, um ihr genau zu zeigen, worauf sie sich da einließ.

Doch nach einigen perplexen Sekunden gab sie immer noch nicht nach. Sie verlangte, dass er auf den Yin-Sitz rückte – den Sitz der Frau – , und drohte ihm damit, ihm weitere Medizin vorzuenthalten, sollte er sich weigern. Es war lächerlich. Und das sagte er ihr auch.

»Wollt Ihr leben oder sterben?«, schrie ihn die junge Frau an. »Das ist eine ganz einfache Frage!«

»Du würdest mich doch sicher nicht …«

»Qin Zheng, ich verfüge Euch gegenüber über zweihunderteinundzwanzig Jahre zusätzliches Wissen in Bezug auf alles, was hier los ist, und ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen!«

Ihre Schimpfkanonade ging noch weiter, aber sein Denken war an der Zahl hängen geblieben, die sie da ausgespuckt hatte. Zweihunderteinundzwanzig Jahre.

Über zwei Jahrhunderte.

Die Welt schien um ihre Achse zu wirbeln und schleuderte Qin Zheng dabei unerbittlich mit sich herum und wieder herum. Zweihunderteinundzwanzig Mal rund um die Sonne. Sternbilder kreisten, Bäume wuchsen in die Höhe und sanken zu Boden, neue Leben begannen und endeten.

Seine Generalin Mi war tot, genauso wie alle, die er kannte.

Erster Teil HIMMLISCHER KAISER

Tiânhuáng

Wer sagt, du hättest kein Gewand?

Mein’ Oberkleider sind auch dein!

Der König setzt das Heer in Stand,

Ich richt uns Spieß’ und Lanzen ein,

Du sollst mein Waffenbruder sein.

Wer sagt, du hättest kein Gewand?

Mein’ Unterkleider teilen wir!

Der König setzt das Heer in Stand,

Ich rüst uns Spieß’ und Speere hier,

Und breche aus vereint mit dir.

Wer sagt, du hättest kein Gewand?

Mit dir teil ich mein Niederkleid.

Der König setzt das Heer in Stand,

Ich mach uns Waff’ und Wehr bereit,

Und zieh mit dir hinaus zum Streit.

Buch der Lieder (Shijing ),Volkslied aus Qin

Kapitel 1

Die Legende, die Wahrheit

Ich bin bereit, die Götter abzuschlachten.

Falls ich sie denn finden kann.

Ich steige im Gelben Drachen in die Höhe und stemme mich gegen die Macht der Schwerkraft, auf der Suche nach dem Funkeln des Himmlischen Hofes, wie er im Meer der Sterne über mir dahinzieht. Die unerwartete Botschaft der Götter schneidet mir sengend durch den Schädel und treibt mich weiter, auch wenn die lastende Erschöpfung mir das Bewusstsein zu rauben droht.

»Wenn Ihr uns gehorcht, so wie die Weisen es getan haben, verfügen wir über Möglichkeiten, Euch zurückzubringen, was Ihr verloren habt. Aber wenn Ihr Euch uns entgegenstellt oder die Wahrheit öffentlich macht, werdet Ihr alles verlieren.«

Schon bald wirken die Sterne weniger wie Sterne, sondern mehr wie die hinter meinen Lidern aufzuckenden Nervenreizungen, wenn mir jemand einen heftigen Schlag auf den Kopf verpasst hat. Ganz ehrlich, ich habe nicht die geringste Ahnung, wohin ich unterwegs bin. Ich bin unmittelbar nach Erhalt der Botschaft der Götter mit dem Gelben Drachen über das Kunlungebirge hinweggeflogen, aber es gibt hier wahrhaftig nichts, was darauf hinwiese, dass ich sie in dieser Richtung finden könnte. Ich bin wohl einfach instinktiv auf das Unbekannte zugeflogen. Der Sand, der vermutlich aus der Xihuang-Wüste stammt, wird tief unter mir vom Wind dahingetrieben. Bis jetzt habe ich diese Wüste nur als einen Schriftzug ganz am westlichen Rand der Landkarten gekannt.

»Dir fehlt immer noch ein klares Verständnis dafür, was die Götter sind«, bemerkt Qin Zheng, und Unglauben spricht aus seiner Stimme. Er sitzt mir in seiner Geistgestalt in der Yin-Yang-Welt gegenüber, dem körperlosen Raum, in dem unser Bewusstsein über das Pilotenband des Gelben Drachen vereint ist.

»Und? Was sind sie denn?«, verlange ich zu erfahren.

»Ihr aus der Zukunft solltet eigentlich mich aufklären.« Er schüttelt den Kopf, und sein Blick ist abwesend und wirkt gequält. »Zweihunderteinundzwanzig Jahre, und doch hat sich nichts geändert. Sie kommandieren euch nach wie vor herum und machen euch glauben, sie seien göttlich. Ihre Macht wurde noch immer nicht gebrochen.«

Der Gelbe Drache verlangsamt seinen Flug, als sich meine Konzentration nun zunehmend auf Qin Zheng richtet. »Warum sagt Ihr das in einem Tonfall, als sollte das inzwischen anders sein?«

Seine Geistgestalt sieht meine an, als wäre ich dabei, ihm eine aberwitzige Geschichte aufzutischen. »Du weißt also wirklich nichts von dem Ultimatum, das ich ihnen zu stellen versucht habe, ja?«

»Nein, keine Ahnung! Wovon sprecht Ihr?«

»Vor drei Monaten … Vor drei Monaten aus meiner Perspektive habe ich sämtliche Tributgaben an die Götter unterbunden und mich geweigert, ihnen weiterhin blinden Gehorsam zu leisten. Ich hatte immer schon bezweifelt, dass sie wirklich so mächtig sind, wie sie behaupten, daher habe ich verlangt, ihre wahren Gesichter zu sehen. Ich habe sie wissen lassen, dass wir eine größere Gegenleistung erhalten müssten, wenn Huaxia ihnen weiterhin Tribute entrichten soll. Die Götter haben nur mit Warnungen reagiert. Vor zwei Wochen habe ich dann diese elendigen Pocken bekommen.« Er streicht sich übers Gesicht. Blumenförmige Pusteln erblühen überall auf seiner Haut, ganz so, wie er auch in Wirklichkeit aussieht.

Mein Vermögen, seine Worte zu verarbeiten, wird aufs Äußerste strapaziert. Vor zwei Wochen aus seiner Perspektive. Vor zweihunderteinundzwanzig Jahren aus meiner eigenen.

»Sie haben Euch absichtlich damit infiziert?«

»Vielleicht. Zumindest haben sie mich zum Sterben zurückgelassen, selbst nachdem ich die Opfergaben wieder aufgenommen hatte.« Eine Welle des Hasses steigt von ihm auf und prasselt durch unsere Geistverbindung wie Eiswasser auf mich ein. »Mich, den fähigsten Piloten, der je gelebt und der einen Plan geschmiedet hat, um den Krieg zu beenden. Das bestätigt meinen Verdacht, dass sie nicht das geringste Interesse daran haben, das passieren zu lassen. Ich vermute, dass die Körperpanzer der Hunduns, die wir ihnen darbieten, für sie viel zu wertvoll sind. Würden wir die Hunduns ausrotten, bekämen sie keine mehr.«

Meine Gedanken überstürzen sich bei der Erinnerung an die Hunduns.

»Das hier ist nicht unser Planet!« Yizhis Worte peitschen durch meine Erinnerungen wie ein geisterhaftes Heulen.

»Wisst Ihr denn die Wahrheit über die Hunduns?«, stoße ich mit erstickter Stimme hervor. »Was sie wirklich für diese Welt sind? Und was wir für diese Welt sind?«

»Ja«, sagt Qin Zheng mit eisiger Gleichgültigkeit in der Stimme. »Die Geschichte, dass sie aggressive Eindringlinge und wir die in die Enge getriebenen Verteidiger seien, ist eine nützliche Erfindung, die die Entschlossenheit der Massen im Kampf gegen die Hunduns bestärkt. Jene von uns, die in die höheren Ränge der Macht aufgestiegen sind, wissen es besser. Das müssen wir auch, um entscheiden zu können, welche Untersuchungen und Entdeckungen wir im Keim ersticken müssen. Für einen aufmerksamen Gelehrten ist es indessen nicht schwierig, Dinge zu finden, die unserer offiziellen Geschichtsschreibung widersprechen.«

Ich reiße den Gelben Drachen mitten in der Luft herum. »Wir müssen es allen mitteilen.«

»Auf keinen Fall!« Qin Zheng bringt den Drachen unter seine Kontrolle und zwingt ihn aus unserer beträchtlichen Höhe hinunter in die Tiefe. »Es ist der einzige Punkt, in dem ich den Göttern widerstrebend zustimme. Die erfundene Geschichte erfüllt ihre Funktion sehr gut. Sie als Erfindung zu entlarven, würde mehr schaden als nutzen.«

»Wie meint Ihr das? Wie könnte das Aufdecken der Wahrheit …«

»Du willst herrschen? Das ist der Preis!« Er schlägt mit der Hand auf den unsichtbaren Boden der Yin-Yang-Welt. »Glaubst du denn ehrlich, wir könnten ganz Huaxia beherrschen und verteidigen, ohne gewisse Illusionen aufrechtzuerhalten? Gute Piloten waren schon immer Mangelware, und ich bezweifle, dass sich daran etwas geändert hat, schließlich scheint der Krieg keinen Fortschritt genommen zu haben. Allen die Wahrheit zu eröffnen, würde nur den Kampfgeist schwächen.«

»Also belügen wir unsere ganze Welt über den Grund, warum wir kämpfen? Das ist doch lächerlich!«

»Ist es das? Schau dir nur an, wie aufgewühlt und bestürzt du bist, doch was kannst du an unseren Umständen ändern? Die Hunduns werden ihre Angriffe nicht einstellen, und wir können nicht damit aufhören, uns gegen sie zu verteidigen. Außer dass es dein Herz in Aufruhr versetzt hat, welchen praktischen Unterschied hat das Wissen der Wahrheit also für dich gemacht?«

Ich presse mir die Knöchel gegen die Stirn und gebe mir alle Mühe, nicht völlig die Fassung zu verlieren. »Die Wahrheit bedeutet, dass die Hunduns keine vernunftlosen Eindringlinge sind. Sie bedeutet, dass es Hoffnung auf einen Frieden gibt.«

»Frieden?« Qin Zheng stößt ein bitteres Lachen aus. »Wie sollen wir Frieden mit Metallkäfern schließen, die uns nicht verstehen können?«

»Wer sagt denn, dass sie es wirklich nicht können? Habt Ihr den Wasserkaiser denn nicht in unseren Köpfen sprechen hören?«

»Verschont uns … Bitte …« Ich erinnere mich an die flehende Stimme, als wir gegen Ende unserer Gegenoffensive zur Rückeroberung der Provinz Zhou mit dem Gelben Drachen das Qi aus ihm herausgesaugt haben.

»Ich habe nichts dergleichen gehört«, wendet Qin Zheng ein, auch wenn da ein Hauch von Unsicherheit seine Worte verlangsamt. Ich glaube, er hat in seiner Zeit nie wirklich etwas Derartiges erlebt. Aber zweihundert Jahre sind eine lange Zeit, und vielleicht sind wir Menschen nicht die Einzigen, die inzwischen gewachsen sind und sich weiterentwickelt haben.

»Euer Gehirn ist da ja noch im Auftauen begriffen gewesen!«, unterstreiche ich. »Bevor ich Euch aufgeweckt habe, hat meine Armee auch gegen einen Kaiser vom Metalltyp gekämpft. Ihr könnt zurückfliegen und jeden Piloten befragen, der dabei war. Sie werden Euch versichern, dass sie den Kaiser in ihrem Kopf haben sprechen hören.«

Unmöglich könnte irgendeiner von ihnen jene schaurige Stimme vergessen haben, die sich durch all unsere Sinne gebohrt hat, begleitet von einer schrillen Melodie, sodass jeder Einzelne von uns in eine unnatürliche Panik versetzt wurde. »Fort mit euch!«, hat die Stimme gesagt. »Lasst uns in Ruhe!«

Ich habe in jenem Moment nicht verstehen können, was da geschah, aber jetzt ergibt es einen Sinn. So vieles in meiner Welt hat nun mehr Sinn.

Qin Zhengs Blick geht hin und her, als würde er etwas lesen. »Selbst wenn diese außerordentlich seltenen Hunduns der Kaiserklasse irgendwie eine solche Fähigkeit zu entwickeln vermocht haben sollten, ist es dir denn gelungen, einen richtigen Dialog mit ihnen zu führen? Haben irgendwelche anderen Hunduns die gleiche Fähigkeit an den Tag gelegt?«

»Wir wussten ja nicht, dass es überhaupt möglich war, derlei zu versuchen! Aber jetzt wissen wir es, und wir können sicherlich einen Weg finden, um mit ihnen zu kommunizieren und …«

»Die Hunduns werden deine trügerischen Illusionen von einem Frieden nicht zu schätzen wissen! Aus ihrer Perspektive sind wir die Eindringlinge. Die einzige Möglichkeit, mit der gleichen Inbrunst gegen sie anzukämpfen, ist, dasselbe von ihnen zu denken. Dieser Krieg tobt bereits seit Jahrhunderten. Es spielt keine Rolle mehr, wie er einst angefangen hat. Viele Stämme der Rongdi kennen Volksmärchen, die davon berichten, dass sie ›als göttliche Strafe vom Himmel herabgeworfen‹ worden seien. Das lässt darauf schließen, dass unsere Vorfahren Kriminelle waren, die einst auf diesen Planeten verbannt wurden. Wo immer sie herkamen, man würde uns dort nicht wieder aufnehmen.«

Übelkeit bemächtigt sich meiner. Vorfahren. Kriminelle. Wie tief geht die Wahrheit, und wie hässlich ist sie?

Ich kann kaum mehr denken. Ich habe diese Lügen aus dem Mund der Mächtigen so satt, Lügen über Lügen über Lügen. Auf keinen Fall will ich zu jemandem werden, der an diesen Lügen festhält.

»Außerdem«, fügt Qin Zheng hinzu, »werden die Götter keinerlei Aussicht auf Frieden zulassen, solange sie über uns herrschen. Doch«, er beugt sich vor und senkt die Stimme, »solltest du versuchen, die Wahrheit ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, werde ich nicht erst warten, bis dir die Götter ein Ende machen. Ich werde es selbst übernehmen. Und dann sicherstellen, dass man sich an deine Worte nur als hysterischen Unfug erinnert.«

Ich zucke vor seinem durchdringenden Blick zurück, obwohl die Drohung nicht weiter schockierend ist, wenn ich mir ins Gedächtnis rufe, mit wem ich es da zu tun habe. Diese Augen haben ihren Blick auf unzählige Feinde gerichtet, um dann zuzusehen, wie diese Leute kapituliert haben oder gestorben sind. Es ist geradezu lächerlich, dass ich in seiner Gegenwart das Wort »Frieden« ins Spiel gebracht habe. Das hier ist Qin Zheng. Der berühmt-berüchtigte verdammte Scheißkerl Qin Zheng. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er leibhaftig vor mir sitzt, wiedererweckt aus Geschichten und Legenden, ein Mann, der Zeit und Tod überwunden hat.

Aber das hier ist nun nicht mehr die Welt, über die er einst geherrscht hat.

»Ich möchte mal sehen, wie Ihr das zuwege bringt, wo Ihr doch keinen Schimmer habt, wie die heutige Welt funktioniert«, erwidere ich und weigere mich, klein beizugeben.

»Ich habe genug von deinen Erinnerungen durchforscht, um mir sicher sein zu können, dass das Volk meinem Wort eher Glauben schenken würde als deinem, Eiserne Witwe.«

Der Gelbe Drache schlägt mit einem heftigen Beben auf dem Boden auf, nachdem Qin Zhengs Wille ihn die ganze Zeit lang im Sturzflug hat herabsinken lassen. Bei dieser Erinnerung daran, dass sich über eine Geistverbindung gespeicherte Bewusstseinsinhalte anzapfen lassen, zuckt mir Entsetzen durchs Mark. Wie viel hat er über mein Leben in Erfahrung gebracht?

»Ihr wollt wirklich darauf setzen?« Ich erwidere in der Yin-Yang-Welt starr seinen Blick, wiewohl eisige Übelkeit in mir aufsteigt.

Nach einem längeren Schweigen legt er den Kopf zur Seite, und sein Blick wird sanfter. »Wünschst du dir deinen Partner denn nicht zurück?«

Ich zucke zusammen, als auf einer tieferen Ebene meines Bewusstseins ein Bild aufblitzt: das eines verstümmelten Leibes, der in einem mit Flüssigkeit gefüllten Glasbecken schwebt. Ich darf nicht zugeben, dass es … dass es …

»Die Götter bluffen nur.« Die Wörter sprudeln aus mir heraus. »Es ist unmöglich, einfach unmöglich, dass jemand so etwas überstehen kann.«

»Die Götter sind zu viel mehr fähig, als wir begreifen können. Die technischen Informationen, die sie uns als Gegenleistung für unsere Tributgaben hinwerfen, sind zweifellos nur ein bloßer Bruchteil ihres Wissens.«

»Wie habt Ihr dann glauben können, dass ein Handel mit ihnen möglich sei?«

»Weil ich lieber im Kampf sterbe, als in Knechtschaft dahinzusiechen. Ist das nicht auch der Grund, warum es dein erster Impuls nach Erhalt ihrer Nachricht war, Jagd auf sie zu machen?«

Durch die Augen des Drachen blicke ich mich in der trostlosen Landschaft um, in der wir gelandet sind, so ganz anders als die Wälder auf der anderen Seite des Kunlungebirges. Der Wind peitscht unter dem Vollmond Sandwirbel auf wie schimmernden Sternennebel. Ein unbekanntes Gelände, in das ich aus dem blanken, kochenden Verlangen heraus eingedrungen bin, mich den Göttern entgegenzustellen, auch wenn ich vom Verstand her weiß, dass ich nicht gewinnen kann.

»Aber ich werde die Götter nicht finden, indem ich auf diese Weise herumirre, nicht?«, bemerke ich, mehr an mich selbst als an Qin Zheng gerichtet. Ich komme mir vor, als sei ich an diesem einen Tag um ein Jahrzehnt gealtert. Wie kann es sein, dass ich erst heute Morgen von der Grenzregion von Sui und Tang her aufgebrochen bin, in der vorsichtigen Hoffnung, die Provinz Zhou zurückzuerobern und sie als Faustpfand gegen die Regierung einzusetzen? Jetzt gibt es weder das Kommandozentrum von Sui und Tang noch die Zentralregierung mehr. Ich habe sie beide in Schutt und Asche gelegt.

Himmel, habe ich das wirklich getan? Wie soll ich diesen Schlamassel wieder in Ordnung bringen?

»Es ist in der Tat reine Torheit.« Qin Zheng fallen die Augen zu. »Klüger wäre es, nach Chang’an zurückzukehren und sich einstweilig den Befehlen der Götter zu fügen. Wenn wir ihnen die Stirn bieten wollen, sollten wir uns einen konkreteren Plan zurechtlegen.«

Wir. Das Wort verhakt sich in meinem Bewusstsein wie ein Dorn.

Es gibt kein »Wir«, will ich beteuern.

Allein … gibt es das denn wirklich nicht?

Ich studiere Qin Zhengs Geistform, wie er so dasitzt, als sei er tief in eine Meditation versunken, verblüffend gefasst für jemanden, der gerade aufgewacht ist, um herausfinden zu müssen, dass er zwei Jahrhunderte verschlafen hat. Er ist unleugbar der mächtigste Co-Pilot, den ich haben könnte. Auch wenn wir uns darin uneins sind, ob wir die Wahrheit über die Hunduns enthüllen wollen, haben wir doch das gemeinsame Ziel, es mit den Göttern aufzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Gelben Drachen ohne Qin Zheng physisch wieder in Gang setzen kann. Er hat außerdem recht damit, dass wir am besten nach Chang’an zurückkehren sollten. Wir werden den Himmlischen Hof nicht finden, indem wir blind durch die Gegend fliegen. Wir müssen seine Bewegungen nachverfolgen, eine vernünftige Flugbahn planen, mehr tun als bisher.

Als nun Qin Zhengs Augen geschlossen bleiben und der Gelbe Drache weiterhin auf dem Boden verharrt, wird mir bewusst, dass er die Entscheidung zum erneuten Start mir überlässt. Warum? Er wird es kaum gewohnt sein, anderen Macht zu überlassen.

Oder vielleicht doch? Möglicherweise ist er auch immer noch zu benommen von dem Auftauprozess, um den Gelben Drachen richtig steuern zu können. Was weiß ich schon wirklich über ihn? Ich kenne seinen Namen. Weiß, wie stark und mächtig er ist. Was er geleistet hat. Aber wer ist er über die Legende vom Sohn einer Prostituierten hinaus, der die sieben Krieg führenden Nationen zu Huaxia geeint hat? Ich habe keinen Schimmer, einmal von dem abgesehen, was ich in seinem Geistreich erlebt habe – unzählige egui, hungrige Geister, die durch ein gefrorenes Meer auf mich zukriechen. Warum ist dem so? Was hat er durchgemacht, wovon die Geschichten nichts zu berichten wissen? Woher hat er die Narben, die seine eine Gesichtsseite überziehen? Wen hat er in seinem Jahrhundert zurückgelassen?

Ich weiß es nicht.

Ich weiß es nicht.

Ich weiß es nicht.

Ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe, ich finde keinen Zugang zu irgendwelchen seiner Erinnerungen.

Aber wie auch immer.

Ich lasse den Drachen wieder in die Lüfte aufsteigen. Es ist besser, als hier herumzulungern und gar nichts zu tun.

Qin Zheng macht keinerlei Anstalten, die Bewegungen des Drachen zu beeinflussen. Während ich über sich endlos dahinziehende Sandflächen hinwegfliege, wünsche ich mir fast schon, er würde helfen. Jetzt, wo ich meinen Schwung verloren habe und mein Adrenalinschub abgeebbt ist, wird es für mich zu einer anstrengenden Unternehmung, den Drachen einfach nur vorwärtszubewegen. Ich bezweifle, dass ich das Ganze noch lange durchhalten kann. Ich kann es kaum erwarten, zu landen und mich auszuruhen.

Als wir uns endlich wieder dem Kunlungebirge nähern, bin ich überrascht, eine Abfolge von Klingeltönen aus dem Cockpit des Drachen dringen zu hören.

Verflixt. Wir müssen außer Reichweite der Funksender geflogen sein, mit denen ich die rund um die Berge aufgestellten Lastfahrzeuge ausgestattet habe. Ich hatte eine ganze Reihe von ihnen zerstört, um die Kommunikation zwischen der Armee und den Strategen abzuschneiden, und sobald ich den Kaihuang-Wachturm und den Palast der Weisen zerstört hatte, habe ich auf meiner Rückreise nur einige wenige ersetzt, um mit Yizhi in Verbindung bleiben zu können. Welche Nachrichten habe ich alle verpasst? Zu einem Zeitpunkt wie diesem kann ich mir verzögerte Reaktionen nicht leisten.

Ich lande den Gelben Drachen auf der anderen Seite eines Berges und löse die Verbindung mit ihm. Sobald ich nach der Rückkehr in meinen menschlichen Körper die Orientierung wiedergefunden habe, überprüfe ich mein Armband.

»Zetian, du musst sofort zurückkommen!«, dröhnt Yizhis Ruf aus den Lautsprechern, als ich die erste Sprachnachricht öffne. »Es gibt Meldungen, dass Liu Che und Wei Zifu im Azurblauen Drachen hierhergeflogen kommen!«

Alles Blut entweicht meinem Gesicht. Die beiden bilden die dritte und letzte ebenbürtige Partie der Prinzenklasse in Huaxia, das einzige Paar, dem ich noch nicht begegnet bin. Ich überprüfe, wann Yizhi mir die Nachricht geschickt hat.

Es ist bereits eine halbe Stunde her.

Kapitel 2

Vergiss diese Lektion nicht

»Begebe mich in die Bunker des Anwesens. Verbindung könnte schlecht sein.«

Das ist die letzte Nachricht von Yizhi. Als ich ihn darum bitte, mich auf den neuesten Stand zu bringen, kommt keine Antwort.

Ich verbinde mich erneut mit dem Gelben Drachen und lasse ihn in die Lüfte schnellen, wobei ich inständig hoffe, es rechtzeitig zurück nach Chang’an zu schaffen.

Zu meinem Erschrecken spüre ich, dass der Gelbe Drache nicht genug Qi für die Reise und eine mögliche Schlacht aufweist, also muss ich zuerst am Berg Zhurong Qi aufladen. Ich steuere den Gelben Drachen, indem ich nach den Geistsignaturen der anderen Piloten suche, die mich bei meinem Feldzug zur Rückeroberung der Provinz Zhou begleitet haben. Bevor ich aufgebrochen bin, um mich auf die Suche nach den Göttern zu machen, habe ich ihnen eingeschärft, in der Nähe des Vulkans zu bleiben.

Die schlimmsten Szenarien wirbeln mir durch den Kopf, während ich den Drachen über die vom Mondlicht in verschwommene Konturen gehüllten Berge und Täler rasen lasse. Yizhi bedient sich des Gao-Anwesens als Stützpunkt. Mein Flug stockt, als ich mir vorstelle, wie der Azurblaue Drache das Anwesen genauso zerstört, wie ich den Palast der Weisen zerstört habe. Yizhi hat angegeben, sich in den Bunkern des Anwesens versteckt zu haben, aber wer weiß, ob nicht jemand die Gelegenheit, ihn zu verraten, bereitwillig am Schopf ergreifen würde? Er hat gerade seinen Vater umgebracht, um Gao Enterprises selbst zu übernehmen. Sie haben ihm nur aus Angst die Treue geschworen – Angst vor mir. Aber ich bin jetzt nicht dort vor Ort. Wie leicht würden sie sich auf Liu Ches Seite ziehen lassen?

Selbst wenn ich es rechtzeitig schaffe, wie kann ich Yizhi weiterhin jede Sekunde beschützen, jede Stunde, jeden Tag?

Yizhi und ich gegen den Rest der Welt. Es schien mir eine ungeheuer aufregende Vorstellung, als ich den Kaihuang-Wachturm und den Palast der Weisen zerstört habe, damit die mächtigen Männer darin mich nicht zuerst ermorden konnten, aber eine kalte neue Realität legt sich nun drückend über mich, lastet von Sekunde zu Sekunde schwerer. Wie können zwei Menschen eine ganze Nation in ihrem Griff halten, wenn diese sie nicht als ihre Herrscher haben will?

In der Yin-Yang-Welt bleibt Qin Zhengs Geistgestalt untätig sitzen, die Augen geschlossen. Ich habe keine Ahnung, wieweit ich mich auf ihn werde verlassen können. Das Grauen hämmert auf mich ein wie ein panischer Herzschlag, lauter und immer lauter. Trotz all der unbezwingbaren Macht des Gelben Drachen bin ich ein Mensch mit Grenzen, und die habe ich bereits bis zum Äußersten belastet. Ich war kurz vorm Kollabieren, und jetzt muss ich auch noch damit fertigwerden.

Aber ich darf nicht klein beigeben. Ich darf keine einzige Sekunde mehr in meiner Wachsamkeit nachlassen.

Schon bald durchschneidet der gezackte Vulkankrater des Zhurong mein Gesichtsfeld. Auf dem aschebedeckten Hang des Berges schimmern die Überreste der zerschmetterten Hunduns. Mitten unter ihnen die Chrysaliden, die die Gegenoffensive überstanden haben, abgeschaltet, in ihren Ruheformen. Die meisten Piloten haben ihre Cockpits geöffnet und sitzen teilweise draußen, aus meiner Höhe kaum sichtbar. Als wir uns nähern, kommt jäh Bewegung in die winzigen Gestalten, und sie verschwinden wieder in ihren Chrysaliden. Lichter strahlen auf, und die Armee geht wieder in Kampfbereitschaft.

Als ich den Schweif des Gelben Drachen in den Vulkan tauche, um Qi aus dem Innern des Planeten zu ziehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als auf den Überresten der Hunduns zu landen. Der Anblick der schimmernden Bruchstücke erfüllt mich mit Übelkeit und erinnert mich an all die Ausbrüche von Kummer und Zorn der Hunduns, als wir sie niedergemetzelt haben.

»He!« Der Weiße Tiger springt in seiner Standardform auf uns zu, und seine Pfoten donnern gegen die Bergwand. Sein Maul glüht in einem dunklen Grün, während er spricht, eine Mischung aus dem holzgrünen Qi Qieluos und Yang Jians wasserschwarzem Qi. »Was ist passiert? Warum bist du plötzlich davongeflogen?«

Stimmt. Ich habe ihnen nicht berichtet, was ich von Yizhi und den Göttern gehört hatte, bevor ich in aller Eile aufgebrochen bin. Die Wahrheit wallt in mir auf wie Galle, darauf brennend, sich Bahn zu brechen, aber die unerschütterliche Gegenwart von Qin Zhengs meditierender Gestalt in der Yin-Yang-Welt lässt mich den Drang hinunterschlucken. Ich bezweifle nicht, dass er mich töten würde, sollte ich es verraten. Ich muss auf einen besseren Zeitpunkt warten.

»Ich habe nach den Göttern Ausschau gehalten«, sage ich durch das Maul des Gelben Drachen, immerhin ein Teil der Wahrheit. »Ich wollte feststellen, ob sie wirklich den Kopf des Zinnoberroten Vogels mitgenommen haben, wie ihr es gesehen habt.«

Die Augen des Tigers blickend forschend zu den Sternen auf. »Hast du sie … gefunden?«

»Nein.«

Laute metallische Echos hallen über dem Berghang wider, als sich nun andere Chrysaliden hinter dem Weißen Tiger versammeln, wie um Befehle entgegenzunehmen. Als ich hier gelandet bin, bevor mir Qieluo und Yang Jian von dem verschwundenen Luftfahrzeug berichtet haben, das den zerschmetterten Kopf des Zinnoberroten Vogels mitgenommen hat, habe ich diese Piloten von meiner Zerstörung des Palasts der Weisen in Kenntnis gesetzt. Es hat ihnen natürlich die Sprache verschlagen, aber keiner von ihnen hat protestiert. Qin Zheng an meiner Seite zu haben, ist zumindest ein wirksames Abschreckungsmittel. Doch auch wenn sie mir nicht die Stirn geboten haben mögen – sich mir von sich aus anzuschließen, um die Welt, so wie wir sie kennen, gründlich über den Haufen zu werfen, ist noch einmal etwas ganz anderes.

»Qieluo, Yang Jian.« Meine Stimme zittert ein wenig, als ich das Wort an den Weißen Tiger richte, die einzige Chrysalis, die den Strategen den Gehorsam verweigert und mir zu Hilfe gekommen ist, bevor ich Qin Zheng an seinem Ruheort aufgestöbert habe. »Warum habt ihr versucht, uns zu helfen, als die Schwarze Schildkröte den Zinnoberroten Vogel angegriffen hat?«

Sie schweigen für einen Moment, bevor sie aus einem Mund antworten: »Weil es ein Beweis dafür war, dass wir früher oder später die Nächsten gewesen wären.«

Die Worte der beiden hallen tief in mir wider. Ich verstehe sofort, was sie meinen. Sie sind nun fast fünfundzwanzig, haben bald jenes mythenumwobene Alter erreicht, in dem es Piloten erlaubt ist, in den Ruhestand zu treten. Nur dass es in der Armee ein offenes Geheimnis ist, dass älteren Piloten die Aussicht droht als »Tribute« geopfert zu werden – man lässt sie mit Bedacht in der Schlacht sterben, damit die Hunduns am eigenen Leib spüren können, wie ihr Geistdruck erlischt, was die Hunduns in der Regel für eine Weile zu besänftigen vermag. Qieluo und Yang Jian mögen geglaubt haben, dass all ihre für ihre Kriegsleistungen erworbenen Auszeichnungen sie vor diesem Schicksal zu retten vermochten, aber der Befehl, Shimin und mich zu eliminieren, hat klar und deutlich gezeigt, dass die Regierung sich eines jeden von uns entledigen wird, sobald wir nicht länger nützlich sind, selbst dann, wenn wir eine ganze Provinz für Huaxia zurückerobern.

Jetzt kann sich das ändern, und Qieluo und Yang Jian könnten meine stärksten Verbündeten werden.

Ich hebe den Kopf des Drachen, um zur ganzen Armee der versammelten Chrysaliden zu sprechen.

»Habt ihr alle gehört, was ich am Ende der Gegenoffensive aufgedeckt habe? Dass das Pilotensystem bewusst so eingerichtet ist, dass es die Pilotinnen benachteiligt?«

Zögerliches Raunen geht durch die Menge.

»Ja«, antwortet der Weiße Tiger mit besonderem Nachdruck, und sein linkes grünes Auge leuchtet heller. »Das hat eine Menge erklärt.«

»Tja, und jetzt ist es an der Zeit, um ein neues System zu errichten! Wir können nicht nur Abhilfe schaffen, was diese eine Ungerechtigkeit in der alten Ordnung angeht, sondern auch noch auf weiteren Ebenen. Vielleicht können wir dafür sorgen, dass man als Pilot nicht länger zum Tod in jungen Jahren verurteilt wird!«

Die Stille dehnt sich unbehaglich in die Länge, bis schließlich von einer Chrysalis her ein Jubelruf ertönt. Die übrigen stimmen schnell mit ein, und ihre Stimmen erheben sich zu einer lärmenden Wand, die zum Himmel hinaufsteigt. Viele der Stimmen klingen jedoch gezwungen und ängstlich. Es wird einige Zeit dauern, bis sie sich damit abgefunden haben, dass sich die Welt von Grund auf verändert hat.

Aber das macht nichts. Ich brauche sie nicht alle.

»Liu Che und Wei Zifu sind auf dem Weg nach Chang’an«, wende ich mich, so leise ich kann, an den Weißen Tiger. »Werdet ihr uns begleiten?«

»Diese zwei Bengel? Wir können mitkommen, aber wir dürften gegen den Azurblauen Drachen keine große Hilfe sein. Wir können nicht fliegen.«

»Es reicht, wenn ihr auf uns aufpasst.« Ich senke die Schnauze des Gelben Drachen in die Richtung der beiden. »Klettert rauf und ruft einige andere Piloten her, denen ihr vertraut.«

Der Weiße Tiger springt auf den Kopf des Gelben Drachen und ruft die Namen von einer Handvoll weiterer Chrysalidengespanne, darunter der Meerfüllende Vogel, der Gefiederte Ochse und das Langzahnschwein. An einige von ihnen erinnere ich mich vage von den Liveübertragungen von den Schlachten her.

Sie lassen sich allesamt auf dem langen Leib des Drachen nieder. Sobald ich spüre, dass der Drache fast zur Gänze mit dem Qi des Zhurong angefüllt ist, erhebe ich uns alle in die Lüfte.

»Ihr Übrigen schlagt hier euer Lager auf!«, rufe ich der Armee zu, die wir hinter uns zurücklassen.

Der ursprüngliche Plan für die Zeit nach der Gegenoffensive hat tatsächlich für die meisten von uns vorgesehen, an der Grenze von Zhou zu bleiben und uns über das Kunlungebirge hinweg auszubreiten. In den Cockpits und auf den Radiowagen haben wir reichlich Essensrationen und alle anderen notwendigen Dinge für unsere Lager eingepackt. Eigentlich sollten dann weitere Mannschaften eintreffen, um an der Grenze von Zhou die Große Mauer wieder aufzubauen. Ich weiß nicht, was davon tatsächlich noch geschehen wird. Es gibt im Moment zu viel, worüber ich nachdenken muss.

Ich treibe den Gelben Drachen voran, so schnell er fliegen kann, und orientiere mich dabei an einer sich über die Provinz Zhou hinziehenden Schneise zertrümmerter Bäume. Wiewohl es unmöglich ist, das in der Nacht zu erkennen, gebe ich mich gerne der Vorstellung hin, dass es genau der Weg ist, den Shimin und ich an diesem Morgen im Zinnoberroten Vogel in den Wald hineingetrampelt haben und der mich nun nach Hause zu führen verspricht.

Tanzende Sternchen tauchen an den Rändern meines Bewusstseins auf, um dann wieder zu verschwinden. Ich empfinde das Bedürfnis, Qin Zheng zu bitten, diese banale Reise für mich zu übernehmen, aber ich unterdrücke den Drang mit Gewalt. Nach allem, was ich durchgemacht habe, um mir diese Macht anzueignen, kann ich auf keinen Fall freiwillig die Kontrolle darüber aus der Hand geben. Nach einer kleinen Ewigkeit des Dahinfliegens passiere ich die Große Mauer, dann gewellte Hügel, durchsetzt mit gelegentlichen Flicken von elektrisch beleuchteten Dörfern und Städten. In der Dunkelheit folge ich den hellsten Durchgangsstraßen, die mich unausweichlich nach Chang’an führen werden. Was wohl die gewöhnlichen Menschen jetzt denken, nachdem sie gehört haben, dass ihre Regierung gestürzt wurde? Ich stelle mir meine alten Nachbarn vor, wie sie aus ihren Haustüren treten, vom Instinkt getrieben, um ihr Leben zu rennen, während sie gleichzeitig keinen blassen Schimmer haben, wohin sie sich wenden könnten. Näher am Herzen von Huaxia, wo nun ich herrsche, können sie keine Rettung finden. Sie können sich aber auch nicht in die Wildnis der Hunduns zurückziehen, die zwar einstweilen von den Hunduns befreit wurde, aber immer noch ein sich weithin erstreckender Landstrich der Ungewissheit ist.

Habe wirklich ich das alles verursacht? Habe ich die Welt unwiederbringlich zerstört? Meine Gedanken schweifen ab, als könnten sie keine Verbindung mit der Wirklichkeit mehr herstellen.

Als ich Chang’an erreiche, kommt es mir so vor, als sei ich tagelang wach gewesen. Hätte der Gelbe Drache Augenlider gehabt, hätte ich Mühe gehabt, sie offen zu halten.

In der Hauptstadt herrscht eine unheimliche Stille, auch wenn sämtliche Fenster der Wohnhäuser hell erleuchtet sind, was die eng gedrängten Gebäude wie schimmernde Säulen aussehen lässt. Millionen gaffender Augen müssen gegenwärtig ängstlich danach Ausschau halten, wie die Welt sich wohl als Nächstes verwandeln wird. Bevor ich nach Zhou aufgebrochen bin, habe ich eine Sperrstunde verhängt, alle zurück in ihre Häuser beordert und ihnen verboten, sie ohne Erlaubnis zu verlassen. Bis auf einige Fahrzeuge auf Patrouille sind die Straßen menschenleer. Durch die Beziehungen seiner Familie hat Yizhi die Soldaten der Hauptstadt mobilisiert, um die Sperrstunde durchzusetzen. Die Tatsache, dass sie ihren Befehlen immer noch Folge leisten, ist eine Erleichterung. Es bedeutet, dass Yizhi in Sicherheit ist.

Vielleicht.

Hoffentlich.

Der Schatten des Gelben Drachen gleitet über die Hauptstraße von Chang’an, die so breit ist, dass sie sechs Verkehrsspuren umfasst. Wir passieren den Platz der Einheit, auf dem, inmitten eines schwindelerregenden Chaos von Neonreklametafeln, eine riesige Statue von Qin Zheng steht, die vor Geistmetall prangt, als sei es Quecksilber. Ich versuche, mich nicht bei dem Gedanken aufzuhalten, wie unwirklich es doch ist, dass ich eine geistige Verbindung mit genau der historischen Persönlichkeit eingegangen bin, auf der diese Statue gründet.

Mithilfe meines Geistsinns suche ich etwaigen machtvollen Geistdruck von außerhalb der Chrysaliden zu ertasten, die wir mit uns tragen. Tatsächlich nähert sich eine solche unverkennbare Spur mit hoher Geschwindigkeit aus der Ferne. Das muss die Geistsignatur des Azurblauen Drachen sein. Wir sind gerade noch vor ihm hier angekommen.

»Wu Zetian.« Eine monoton klingende Stimme ertönt plötzlich aus dem Inneren des Cockpits des Drachen. Sie erschreckt mich so sehr, dass ich ein wenig an Höhe verliere.

»Wu Zetian.« Die Stimme wird lauter und hallt im Cockpit wider. Sie klingt künstlich, wie von einem Programm vorgetragen, das Text zu Sprache umwandelt. Aber woher genau kommt sie? Aus meinem Armband? »Es ist Euch verboten, den Azurblauen Drachen zu zerstören oder seine Piloten zu töten. Sie müssen zur Grenze von Han zurückkehren, um die Unversehrtheit Eurer Großen Mauer sicherzustellen. Eure Han-Provinz hat eine bedeutende Anzahl von Chrysaliden ausgesandt, um die Gegenoffensive an der Grenze von Sui und Tang zu verstärken. Sie darf nicht noch ein Gespann der Prinzenklasse verlieren.«

Was?

»Wagt es nicht einmal, daran zu denken, diesen Befehl zu verweigern. Es wird Konsequenzen haben.«

Ich hätte beinahe verächtlich geschnaubt, aber dann zuckt mir Yizhis lächelndes Gesicht durch den Kopf. Ich weiß nicht, wo er in diesem Moment ist. Ich kann das Risiko wahrhaftig nicht eingehen.

Ich stürze mich in eine reichlich unsanfte, donnernde Landung über den Ruinen des Palasts der Weisen. Es ist der einzige Ort in Chang’an, an dem ich den Gelben Drachen einigermaßen passabel abstellen kann. Schutt und Geröll poltern den Berg Ziwei hinunter, als ich die ganze Länge des Drachen um seinen Gipfel schmiege. Der Weiße Tiger und die anderen Chrysaliden springen hinunter, und jegliche Aufmerksamkeit richtet sich sofort auf die näher kommende Geistsignatur des Azurblauen Drachen.

Ihn besiegen, ohne ihn zu zerstören. Das ist nicht unmöglich. Im Kunlungebirge hat Qin Zheng den Wasserkaiser besiegt, ohne ihm einen einzigen Kratzer zuzufügen, indem er ihm sein Qi ausgesaugt hat. Der Azurblaue Drache sollte sogar noch einfacher zu bezwingen sein. Er besteht aus Geistmetall vom Holztyp, dem Typ, der sein Qi am schlechtesten bei sich behalten kann.

Der ungeheure Lärm des Drachen erreicht uns als Erstes, zerreißt die Nachtluft wie ein monströses Brüllen. Dann schießt sein langer Leib durch den Kosmos heran wie das Skelett eines aus Jade geschnitzten Drachen. Die eine Augenhöhle glüht feuerrot und die andere erdgelb. Gewaltige fledermausartige Flügel schlagen auf seinem Rücken, und sein nacktes Rückgrat läuft in einen peitschenden knochigen Schwanz aus. Seine Brust wirkt wie ein klobiger Rumpf aus Geistmetall, der von einem frei liegenden Rippenkorb umfasst wird. Das Ganze erinnert mich auf verstörende Weise an …

Nein. Denk nicht daran. Denk nicht an ihn.

Mit einem blendenden Lichtstrahl wandelt sich der Azurblaue Drache in seine Heroenform. Seine vorderen Klauen teilen sich und formen sich erzitternd in vier knochige Arme. Seine Flügel werden breiter. Sein Geweih zieht sich in die Länge. Sein skelettartiger Körper zwängt sich zusammen und wird zweibeinig, von gelben und roten Streifen geschmückt. Die sich beißenden Farben verschwimmen vor dem Hintergrund der Nacht, als der Drache nun auf uns zugeschossen kommt, die Flügel vor der Kulisse der Sterne ausgebreitet.

Ich kauere mich auf den zahlreichen Krallen des Gelben Drachen zusammen, dann mache ich einen Satz und stürze mich in den Kampf. Den Liveübertragungen von den Schlachten zufolge, die ständig bei mir zu Hause gelaufen sind, sollte der Azurblaue Drache in seiner Heroenform ungefähr fünfzig Meter hoch sein. Doch aus meiner gegenwärtigen Perspektive erscheint er nicht viel größer als ein Mensch. Seine vier Arme überkreuzen sich vor seiner Brust, um dann vier seiner Rippen herauszureißen, die sich sogleich zu Schwertern schärfen.

Nach meiner kurzen Atempause fällt es mir viel schwerer, den Gelben Drachen zu bewegen. Es ist, wie wenn man ein großes Gewicht wieder aufhebt, nachdem man es aufgrund von muskelzerreißenden Schmerzen fallen gelassen hat.

»Wir müssen nicht kämpfen!«, rufe ich durch das Maul des Gelben Drachen hindurch, während ich Schwerthieben ausweiche. »Die alte Regierung verdient eure Treuepflicht nicht! Wenn ihr euch uns anschließt, können wir das Kriegssystem verändern, damit ihr nicht zu Tributen werdet, sobald ihr Mitte zwanzig seid!«

»Wir werden niemals zu dir überlaufen, Dirne!«, brüllt der Azurblaue Drache zurück, und sein Maul glüht orange in einer Mischung aus Erdgelb und Feuerrot.

Metze? Was stimmt denn mit dem Vokabular dieser Leute nicht?

»Wir könnten euren Familien gewaltige Ländereien in der Provinz Zhou überlassen!«, werfe ich ein Versprechen in die Runde. Wie ich das praktisch umsetzen könnte, darüber werde ich mir später Gedanken machen. »Wir haben nämlich gerade das ganze Land befreit!«

»Wir lassen uns von der Finsternis nicht in Versuchung führen!«

Meine Verwirrung über die übertrieben dramatische Art und Weise, wie sie sich ausdrücken, verfliegt, als ich mir ins Gedächtnis rufe, dass Liu Che erst vierzehn ist und Wei Zifu dreizehn.

Mit ihnen dürfte keine logische Argumentation möglich sein.

Ich stürze auf den Azurblauen Drachen zu, in der Absicht, ihn auszusaugen und die Sache hinter mich zu bringen. Doch erschreckend schnell schwenkt er mit durch die Luft segelnden Flügeln ab, sodass er hinter mich gelangt. Ich fahre herum und versuche ihn zu packen, nur um peinlich weit danebenzugreifen.

Oh nein. Chrysaliden des Holztyps sind die schnellsten, so schnell, dass der Gelbe Drache da nicht mithalten kann. Es ist, als wolle ich eine Fliege mit einer Steinsäule erschlagen, die so schwer ist, dass ich sie kaum anzuheben vermag. Ich reiße den Gelben Drachen mit viel Mühe herum und trete den Rückzug in Richtung Palastruinen an. Vielleicht kann ich den Azurblauen Drachen zu einem Kampf näher am Boden verlocken, was mir dann …

Der Azurblaue Drache hat zu mir aufgeholt, noch ehe ich den Berg erreichen kann, und versetzt dem Kopf des Gelben Drachen zwei Hiebe von rechts und links zugleich. Sengender Schmerz jagt durch mich hindurch. Reflexhaft umklammere ich in der Yin-Yang-Welt den Kopf meiner Geistgestalt.

In einem wilden Ansturm von Farben springt der Azurblaue Drache von der Schnauze des Gelben Drachen – zu schnell, als dass ich irgendwelches Qi anzapfen könnte – und überschlägt sich in der Luft. Liu Ches Feuer-Qi lässt seine vier Schwerter rot aufflammen. Dass es durch Geistmetall vom Holztyp gebündelt wird, macht es ganz besonders zerstörerisch. Zu spät erinnere ich mich daran, dass der Holztyp gegenüber dem Erdtyp im Vorteil ist.

Während er für einen Moment verkehrt herum in der Luft hängt, landet der Azurblaue Drache zwei weitere Hiebe ganz in der Nähe seiner vorherigen Treffer. Es schmerzt, als würde man mir die Kopfhaut vom Schädel reißen, und ich krümme mich in der Yin-Yang-Welt zusammen. Der Gelbe Drache macht eine chaotisch überstürzte Bruchlandung auf dem Gipfel des Ziwei und verfehlt dabei nur knapp den Weißen Tiger und die anderen Chrysaliden, die wir mitgebracht haben. Diejenigen, die zu einem Fernkampf in der Lage sind, beschießen den Azurblauen Drachen mit Salven ihres Qi, er aber weicht mit ruckartig schnellen Bewegungen seines skeletthaften Leibes aus und stürzt sich erneut auf mich.

Die absurd wirkende Möglichkeit, dass ich verlieren könnte, weil ich über eine Chrysalis verfüge, die zu groß ist, lässt mich bis ins Mark zittern.

Nein. Nie und nimmer.

Ich darf nicht verlieren. Wir dürfen nicht verlieren.

»Qin Zheng, befehlt ihnen, den Kampf einzustellen! Sie werden auf Euch hören, wenn sie Eure Stimme vernehmen!«, rufe ich in der Yin-Yang-Welt. Auch wenn ich den Gelben Drachen nur äußerst ungern aus der Hand geben möchte, er entgleitet mir bereits. Ich bin zu erschöpft.

Qin Zhengs Geistgestalt bleibt reglos, die Augen geschlossen. In meinem zunehmend verschwommenen Gesichtsfeld durch die Augen des Gelben Drachen hindurch setzt der Weiße Tiger zum Sprung an und schwingt seine Dolchaxt, verfehlt aber den Azurblauen Drachen.

»Qin Zheng!« Ich schüttle seine Geistgestalt. »Tut etwas! Sie werden Euch ebenfalls umbringen!«

Er bewegt sich nicht. Aber er muss bei Bewusstsein sein, sonst befände er sich nicht zusammen mit mir in der Yin-Yang-Welt.

Zwing mich nicht zu betteln, schreie ich auf einer tieferen Ebene meines Wesens.

Obwohl … Ist es vielleicht genau das, was er will?

Ich erwäge, ihn zum Handeln zu zwingen, indem ich den Gelben Drachen einfach meinem Zugriff entgleiten lasse, aber ich hege die Befürchtung, nicht verhindern zu können, in tiefe Bewusstlosigkeit zu versinken, wenn ich mich derart entspanne. Das darf ich nicht riskieren. Ich muss wach bleiben.

Es gibt keinen Raum mehr für Stolz.

Meine Hände erschlaffen auf seinen Schultern und gleiten über seine Brust. »Qin Zheng, helft mir. Bitte.«

Er reißt prompt die Augen auf, kneift mir ins Kinn und hebt es an.

»Vergiss diese Lektion nicht, kleines Mädchen.«

Das gewaltige Gewicht des Gelben Drachen hebt sich von meinem Bewusstsein. Bevor ich erleichtert zusammenbrechen kann, verändert sich meine Wahrnehmung der wirklichen Welt grundlegend. Zuerst gerate ich in Panik, im Glauben, Qin Zheng hätte mich aus dem Cockpit geworfen – nur dass ich noch immer mit ihm in der Yin-Yang-Welt bin. Trotzdem ist ansonsten nichts mehr wie zuvor. Alles, von den Bäumen über die Trümmer bis hin zu den kämpfenden Chrysaliden, ist von einem Moment auf den nächsten größer geworden. Mein passives Gewahrwerden des Gelben Drachen macht da mit einem Schlag eine völlig veränderte Form aus, nicht mehr lang und schlangenförmig, sondern menschenähnlich.

Da ich keine Kontrolle mehr über den Drachen habe, kann ich mir nur angesichts dessen, was sich vor seinem Gesichtsfeld vollzieht, zusammenreimen, was passiert ist. Goldene Arme schimmern unter dem Vollmond, mit kleinen Quadraten gemustert wie Qin Zhengs Geistrüstung. Ein Schlagen gewaltiger Flügel, die es mit denen des Azurblauen Drachen aufnehmen können.

Der Azurblaue Drache wirkt jetzt genauso groß wie der Gelbe, doch er stößt unzusammenhängende Schreie aus und stürmt von uns weg. Als wir in der Luft herumwirbeln, um ihm zu folgen, erhasche ich einen Blick auf die Szenerie auf dem Berg.

Endlich dringt zu mir durch, was Qin Zheng getan hat. In weniger als einer Sekunde hat er eine kleinere menschenähnliche Untereinheit vom Gelben Drachen abgetrennt. Der Rest des Drachen kauert zusammengesunken wie eine leere Hülle oben auf dem Ziwei, der Kopf ausgehöhlt. Verwirrte Blicke der anderen Chrysaliden gehen zwischen dieser Hülse und uns hin und her.

Die anderen wirbeln aus meiner Sicht, als nun Qin Zheng die Arme der Untereinheit um den in Spiralen durch die Nacht schießenden Azurblauen Drachen schlingt. Die Sterne und die Lichter der Stadt verschwimmen zu einem schwindelerregenden Strudel. In der Ferne erheben sich unzählige Schreie aus der Masse der Menschen.

Mit einem heftigen Ruck zur Seite weicht Qin Zheng den aufragenden Wohnhäusern aus, landet auf dem Platz der Einheit und zerstört seine eigene Statue. Jede Reklametafel und jedes Fenster in den umliegenden Wolkenkratzern zerbirst, was eine neue Welle von Schreien aufsteigen lässt. Der Platz wird in eine Dunkelheit getaucht, wie er sie seit Jahren nicht mehr erlebt hat.

»Ihr wagt es, eure Klinge gegen euren Kaiser zu erheben?«, donnert er durch das Maul der Untereinheit und drückt den Azurblauen Drachen zu Boden. »Öffnet euer Cockpit!«

Die Stirn des Drachen springt auf und lässt Liu Che und Wei Zifu sichtbar werden, ihre Gesichter leichenblass in dem klaren Licht des Mondes. Wenn ich mich nicht täusche, so ist ihnen nicht bewusst, dass uns befohlen wurde, sie weder zu töten noch ihre Chrysalis unreparierbar zu beschädigen.

»Wie habt Ihr das bewerkstelligt?«, frage ich Qin Zheng in der Yin-Yang-Welt. Ich weiß nicht einmal, wie ich diese Untereinheit nennen soll. Meine Gedanken kommen nicht über die Vorstellung hinweg, dass eine höhere Transformation einer Chrysalis auf einmal kleiner sein könnte. Ganz zu schweigen von der Schnelligkeit, mit der er diese Verwandlung förmlich aus dem Ärmel geschüttelt hat.

Qin Zhengs Augen verengen sich. »Mir scheint, es gibt da vieles, was den Piloten inzwischen nicht mehr beigebracht wird.«

»Nein, sie … wir … Ihr könnt diese Untereinheit doch wieder mit dem restlichen Drachen vereinen, nicht wahr?«

»Aber selbstverständlich. Es funktioniert nach demselben Prinzip wie die Geistrüstung.«

Aber Geistrüstung ist vorgefertigt. Diese Untereinheit ist im Gelben Drachen nicht vorhanden gewesen, bis Qin Zheng sie heraufbeschworen hat. Ob ein losgelöster Teil sich wieder mit einer Chrysalis vereinen kann, hängt in starkem Maße davon ab, wie glatt der Bruch ist. Diese Untereinheit hier entspricht in ihrer Größe nicht im Mindesten dem Loch im Kopf des Gelben Drachen.

Ich setze an, noch weitere ungeordnete Fragen zu stellen, als mich eine eiskalte Erkenntnis ereilt: Wenn das Aussenden dieser Untereinheit die ganze Zeit über im Bereich des Möglichen gelegen hat, hätte ich meine Familie nicht zusammen mit dem Palast der Weisen zermalmen müssen. Ich hätte sie aus dem Weg klauben können, bevor ich alles andere auf eine strategisch zielgerichtetere und kontrolliertere Weise zerstört hätte.

»Warum habt Ihr mir nicht gesagt, dass das möglich ist?« Ich packe Qin Zheng in der Yin-Yang-Welt. »Bevor ich den Palast in Schutt und Asche gelegt habe, müsst Ihr doch gespürt haben, wie innerlich zerrissen ich war – warum habt Ihr mich nicht aufgehalten?«

Sein Blick streicht über mich hinweg. »Weil ich sehen wollte, ob du es tun würdest.« Seine Mundwinkel zucken kaum merklich in die Höhe. »Ich wollte sehen, wie weit du in deinem Streben nach Macht gehen würdest.«

Ich weiß, dass ich zu erschöpft bin, um noch klar denken zu können. Ich weiß, dass ich nicht völlig bei Verstand bin. Ich weiß, es ist unfair, ihm irgendeine Verantwortung in die Schuhe schieben zu wollen, wo doch ich die Entscheidung getroffen habe. Dennoch schlage ich seiner Geistform mit einem Aufschrei der Verzweiflung ins Gesicht. Er fällt nach hinten. Ich klettere über ihn und hole zum nächsten Schlag aus und zum nächsten, wieder und wieder.

Bei meinem fünften Hieb fängt er meinen Arm ab und presst meine Geistgestalt an seine.

»Das reicht jetzt.« Seine Finger bohren sich wie Krallen in meinen Rücken.

Und bevor ich einen Laut ausstoßen kann, reißt er mir das Rückgrat heraus.

Kapitel 3

Den Durst mit Gift stillen

Ich falle, falle, falle.

Als ich aufschlage, zerschmettert mich die Wucht des Aufpralls in tausend Stücke. Ich bin ein Trümmerhaufen aus verstümmelten Gliedern, und die Knochen stechen aus meinem Leib hervor. Mein Herz und meine Lunge kämpfen hinter gebrochenen, frei liegenden Rippen.

Mit qualvoller Anstrengung werfe ich mich herum und schleppe meinen übel zugerichteten Körper nach vorn. Da steht jemand vor mir. Ich öffne den Mund, um diesen Jemand um Hilfe anzuflehen, doch die Stimme, die mir rau aus der Kehle dringt, ist nicht meine.

»Zetian …«

Meine Perspektive wechselt. Jetzt bin ich es, die steht und dabei nach unten schaut. Das kriechende Etwas hebt schwach den Kopf. Blutige Hohlräume klaffen dort, wo seine Augen sein sollten.

»Zetian … Wie konntest du mich in diesem Zustand zurücklassen, Zetian?«

Es tut mir leid, versuche ich weinend hervorzubringen, doch es ist, als hätte mir jemand die Lippen zugenäht. Ich taumle zurück. Es tut mir leid es tut mir leid es tut mir leid …

Er kriecht schneller hinter mir her und hinterlässt eine breite Blutspur hinter seinem nur noch in Teilen vorhandenen Leib. »Hilf mir, Zetian …«

Ich stolpere und stürze schmerzhaft zu Boden.

Er zerrt mit verstümmelter Hand an meinem Bein. »Mach … mich … heil …«

All die in meinem Kopf gefangenen Entschuldigungen vereinen sich zu einem spitzen, stummen Aufschrei. Ich reiße mein Bein los und rolle mich weg, nur um nun eine andere blutverschmierte Hand auf dem Boden zu fühlen. Ihre deformierten Finger klammern sich um meine wie eine Falle. Ma Xiuyings Augen, einst so sanft und gütig, als sie mir ihre Ratschläge erteilt hat, starren mich leer und auf dem Kopf stehend an. Der Rest von ihr liegt zu einer unkenntlichen blutigen Masse zermalmt in einem Haufen metallener Scherben.

»Du hast mir das angetan …« Ihre Stimme legt sich um mich, auch wenn sich ihr Kiefer nicht bewegt, ausgerenkt und zur Seite geschmettert. »Du gibst vor, für die Frauen zu kämpfen, und doch hast du mir das hier angetan … Mir, die ich doch nur versucht habe, meine Kinder zu schützen …«

Was hätte ich denn tun sollen? Mich von dir umbringen lassen?, will ich rufen, doch ich kann es nicht. Ich reiße meine Hand aus ihrem Griff und taumle in eine andere Richtung davon.

Diesmal versperren mir die zerschmetterten Leiber meiner Mutter und meiner Großmutter den Weg.

»Du hättest uns retten sollen.« Ihre Worte hallen um mich herum wider, wieder und wieder und wieder. »Du hättest uns retten können.«

Ich wusste nicht, wie!

Meine Rechtfertigungen können sie beide nicht erreichen. Weitere versehrte Leichen kriechen auf mich zu, schlagen ihre Hände wie Krallen in meine Gliedmaßen und zerren daran. Wohin auch immer ich mich wende, es gibt keinen Ausweg. Sie überwältigen mich, fetzen mir das Fleisch von den Knochen. Ich spüre jedes Zerreißen von Haut, jeden zerfleischten Muskel, während ich auch nicht den leisesten Laut von mir geben kann.

Als ich fröstelnd erwache, begreife ich nichts von alldem um mich herum. Ich erkenne meine Umgebung nicht wieder. Es dauert eine Weile, bis ich meiner selbst wieder innewerde, Wirklichkeit von Albtraum trennen kann.

»Nein …« Schwankend setze ich mich in einem unvertrauten Bett auf. Schwindel überkommt mich. Mein Kopf rollt hin und her.

Eine Kette rasselt, begleitet von einem Druck auf mein Handgelenk.