Iron Widow - Rache im Herzen - Xiran Jay Zhao - E-Book
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Iron Widow - Rache im Herzen E-Book

Xiran Jay Zhao

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Beschreibung

Diene den Männern, verheirate dich gewinnbringend und dann stirb! Der »New-York-Times«-Platz-1-Bestseller des kanadischen TikTok-Stars.

Die 18-jährige Zetian tritt der Armee bei, um Rache an dem Mörder ihrer Schwester zu nehmen. Sie wird Konkubinen-Pilotin einer Kampfmaschine, die nur von der Qi-Magie eines Mannes und einer Frau gemeinsam aktiviert werden kann. Doch die Macht des männlichen Piloten ist viel größer als die seiner Partnerin, und ist er nicht vorsichtig genug, brennt er die ihm untergeordnete Pilotin aus. Bei Zetian ist es anders, und die junge Frau erlangt ihre Rache auf spektakuläre Weise. Plötzlich ist sie eine Macht, mit der zu rechnen ist. Wird sie das Land im Kampf gegen die Bestien jenseits der Großen Mauer zerstören, wie viele fürchten? Oder ist sie die letzte Hoffnung auf den Sieg?

Die mitreißende Iron-Widow-Serie von Xiran Jay Zhao:
1. Rache im Herzen
2. Seele in Ketten
Band 3 in Vorbereitung

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Seitenzahl: 632

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Buch

Wu Zetians Schwester ist tot. Sie starb im Krieg gegen die Monster, doch ihr Mörder war ein Mensch. Er wurde dafür nicht verurteilt oder gar bestraft, obwohl seine Tat kein Geheimnis ist. Schließlich war Zetians Schwester nur eine Frau, und deren Leben zählt nicht viel in ihrer Welt. Während sich ihre Eltern mehr über die geringe Höhe der Entschädigung aufregen als über den Tod ihrer Tochter, sinnt Zetian auf Rache. Sie wird den Mörder ihrer Schwester umbringen! Dabei ahnt sie nicht, was sie auslösen würde, wenn sie Erfolg hat …

Autor*in

Xiran Jay Zhao ist dier Autor*in des »New York Times«-Platz-1-Bestsellers »Iron Widow«. Xies Bücher waren Finalisten oder Gewinner zahlreicher Preise, darunter die Nebula-, BFSA- und Locus-Awards. Aus einer chinesischen Kleinstadt stammend ist xier nach Vancouver, Kanada, eingewandert. Xier hat Biochemie studiert, wandte sich dann aber dem Schreiben von Büchern zu. Man findet xien auf Twitter für Memes, auf Instagram für Cosplays und ausgefallene Outfits, auf TikTok für lustige Kurzvideos und auf YouTube für lange Videos über chinesische Geschichte und Kultur.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

JAY XIRAN ZHAO

Iron Widow

Rache im Herzen

Roman

Deutsch von Michaela Link

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Iron Widow« bei Penguin Teen Canada, Toronto.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright der Originalausgabe © 2021 by by Xi Ran Zhao

Published by arrangement with Penguin Random House Canada Young Readers, a division of Penguin Random House Canada Limited.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Penguin Teen Canada

Umschlagmotiv: © 2021 Ashley Mackenzie

Art Direction: Terri Nimmo

Umschlagdesign: Talia Abramson

HK · Herstellung: mar

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-28345-2V001

www.penhaligon-verlag.de

Für Rebecca Schaeffer, die für mich da war, während ich mich von einer Zahl in einer Statistik zu einer Überlebenden wandelte, die stark genug war, diese Geschichte zu schreiben.

Hiermit sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses Buch Szenen von Gewalt und Misshandlung enthält, außerdem Gespräche über und die Bezugnahme auf sexuelle Übergriffe (wenn auch keine direkten Schilderungen) sowie Darstellungen von Selbstmordgedanken, Alkoholabhängigkeit und Folter.

Dieses Buch ist kein historischer Roman und auch kein Werk alternativer Weltgeschichte. Stattdessen handelt es sich um eine futuristische Erzählung, die in einer völlig anderen Welt spielt, aber durch kulturelle Elemente aus der gesamten chinesischen Geschichte inspiriert ist und in der historische Figuren auftreten, die unter umfassend veränderten Lebensumständen neu erschaffen wurden. Bei der Neuerfindung jener historischen Gestalten hat sich dier Autor*in beträchtliche kreative Freiheiten erlaubt und etwa die familiären Verhältnisse ihrer Herkunft oder deren Altersunterschiede zueinander verändert, denn es war nicht das Ziel dieses Buches, möglichst genau einer bestimmten Epoche gerecht zu werden. Um sich ein authentisches Geschichtsbild zu verschaffen, mögen sich Leserinnen und Leser bitte an nicht fiktionale Quellen halten.

Prolog

Die Hunduns kamen. Eine ganze Herde, die durch die Wildnis tobte und einen dunklen Staubsturm durch die Nacht wirbeln ließ. Die rundlichen, gesichtslosen Leiber aus Geistmetall glitzerten unter dem silbernen Halbmond und einem Himmel voller funkelnder Sterne.

Einen weniger fähigen Piloten hätte es nervös gemacht, sich ihnen in der Schlacht entgegenzustellen, aber Yang Guang blieb unbeeindruckt. Am Fuß seines Wachturms direkt außerhalb der Großen Mauer zwang er seine Chrysalis, den Neunschwänzigen Fuchs, in Aktion zu treten. Das stachlige grüne Ding war so groß wie ein sieben- oder achtstöckiges Gebäude. Seine Metallklauen ließen die Erde erbeben, wenn sie darüber stampften.

Eine Chrysalis war keine gewöhnliche Kriegsmaschine. Yang Guang steuerte sie nicht mit einem Lenkrad oder mit Hebeln, wie er das bei einem elektrischen Wagen oder einem Schwebeboot getan hätte. Nein, er wurde selbst zu der Chrysalis. Während sein sterblicher Leib schlafend im Cockpit saß, die Arme um die Konkubinenpilotin geschlungen, mit der er heute Nacht in die Schlacht gezogen war, befehligte sein Geist mittels Gedankenkraft jeden Teil des Neunschwänzigen Fuchses, ließ ihn auf die am Horizont herannahende Herde zustürmen. Weit draußen, zu beiden Seiten von ihm, jagten die dunklen Umrisse anderer im aktiven Dienst stehender Chrysaliden ebenfalls dem Feind entgegen.

Durch haarfeine Akupunkturnadeln entlang seines Pilotensitzes, die sich in sein Rückgrat bohrten, kanalisierte Yang Guang sein Qi, um den Fuchs anzutreiben. Qi war die grundlegende Essenz, die alles auf der Welt nährte und erhielt, vom Sprießen der Blätter über das Lodern des Feuers bis hin zu den Bewegungen der Himmelskörper. Yang Guang nutzte nicht nur sein eigenes Qi, sondern konnte über die geistige Verbindung, die ihm die Chrysalis bereitstellte, auch auf die Lebenskraft seiner Konkubinenpilotin zugreifen. Ihr Wesen war nicht stark genug, um ihm dabei Widerstand zu leisten; es hatte sich tief in Yang Guangs eigenem Wesen verloren. Einzelne Bruchstücke ihrer Erinnerungen tauchten in seinem Geist auf, aber er gab sich alle Mühe, ihnen keinerlei Beachtung zu schenken. Es war besser, nicht zu viel über seine Konkubinen zu wissen. Alles, was er brauchte, war das Zusammenwirken ihres Qi mit seinem eigenen; dadurch ließ sich die von ihm freigesetzte Geistenergie vervielfachen. Das erst befähigte ihn dazu, eine so große Chrysalis zu steuern.

Als Erstes erreichten Yang Guang einige versprengte Hunduns der gemeinen Klasse. Sie stürzten sich auf ihn wie übergroße Metallkäfer, ganz darauf versessen, sich in den Fuchs hineinzubohren und ihn umzubringen. Unter dem Licht der Sterne wirkten ihre unterschiedlichen Farben matt und trübe. Doch einige leuchteten auf und ließen ihr zur Waffe geformtes Qi in Form von strahlend hellen Explosionen oder knisternden Blitzen aus ihren Leibern schießen. Hätte sich Yang Guang ihnen als Mensch entgegengestellt, hätten sie so hoch wie Häuser vor ihm aufgeragt und ihn auf der Stelle verdampfen lassen, aber wenn er den Fuchs steuerte, waren sie zu klein, um ihm etwas anhaben zu können. Während er sie mit den Klauen des Fuchses zerdrückte, durchschossen ihn Wellen fremder Empfindungen – Kummer und Entsetzen und Zorn, wild und aufgewühlt, wie elektrische Spannung. Er wusste nicht, auf welche Weise genau die Chrysaliden aus den Körperpanzern der Hunduns gefertigt wurden – das erfuhren nur die höchstrangigen Ingenieure – , doch selbst die jahrhundertelange Verfeinerung ihrer Kunst hatte das Problem nicht zu beheben vermocht, dass die Piloten die Gefühle der Hunduns spürten, wenn sie deren Rümpfe durchbohrten.

Piloten sprachen in der Öffentlichkeit nicht viel darüber, aber die Abwehr dieser ablenkenden Empfindungen beanspruchte einen erstaunlich großen Teil der Kraft, die für den Kampf erforderlich war. Eben weil er sich so gut gegen diese Gefühle abschotten konnte, war Yang Guang einer der leistungsstärksten lebenden Piloten. Während er sich durch den mentalen Ansturm kämpfte, drosch er unentwegt auf die Hunduns ein. Knarrend fegten die neun Schwänze des Fuchses hinter ihm hin und her wie neun neue Gliedmaßen, schlugen die größeren Hunduns mit einem laut widerhallenden Scheppern weg.

Yang Guang hatte kein Mitleid mit ihnen. Die Hunduns waren Eindringlinge aus dem Kosmos, die die menschliche Zivilisation auf dem Höhepunkt vor etwa zweitausend Jahren regelrecht pulverisiert hatten; die Menschheit hatte nur in einigen verstreuten Stämmen überlebt. Wenn der Gelbe Herrscher nicht gewesen wäre, ein legendärer Stammesführer, der mithilfe der Götter die Herstellung der Chrysaliden erfunden hatte, hätte sich die menschliche Zivilisation nie wieder erholen können, und der ganze Planet würde inzwischen den Hunduns gehören.

Kameradrohnen zischten um den Fuchs herum wie rotäugige Fliegen. Einige von ihnen gehörten der Befreiungsarmee der Menschheit, andere privaten Medienunternehmen, die die Schlacht in ganz Huaxia übertrugen. Yang Guang blieb aufs Äußerste wachsam und konzentriert, erlaubte sich keinen Fehler, um seine Fans nicht zu enttäuschen.

»Neunschwänziger Fuchs, in der Herde wurde eine Prinzenklasse gesichtet!«, rief ein Armeestratege durch die Lautsprecher im Cockpit.

Yang Guang horchte auf. Ein Hundun der Prinzenklasse war ein seltener Gegner und gehörte derselben Gewichtsklasse an wie der Fuchs. Wenn es Yang Guang gelang, ihn auszuschalten und ihn dabei zugleich nur minimal zu beschädigen, könnte der Hundun in eine neue Chrysalis der Prinzenklasse umgewandelt werden oder als Gabe für die Götter dienen – als Gegenleistung für irgendwelche bedeutenden Geschenke, wie etwa Anleitungen für bahnbrechende neue Technologien oder medizinische Errungenschaften. Und ein Sieg über die Prinzenklasse würde Yang Guang in der Rangfolge der Piloten weit nach vorne bringen. Vielleicht würde er dann endlich Li Shimin auf einen der hinteren Plätze verweisen, diesen verurteilten Mörder, der es nicht verdiente, die Nummer eins der Piloten von Huaxia zu sein.

Doch um einen sauberen Treffer landen zu können, musste Yang Guang dem Fuchs erst eine komplexere Form verleihen.

»Xing Tian, gib mir Deckung!«, rief er durch den Mund des Fuchses seinem nächsten Kampfgenossen zu, und sein Qi sandte seine Stimme über das Schlachtfeld hinweg. »Ich werde mich gleich verwandeln!«

»Verstanden, Oberst!«, brüllte Xing Tian aus dem Kopflosen Krieger, einer Chrysalis mit einem glühenden Mund auf dem Bauch sowie leuchtend gelben Augen am Rumpf, an der Stelle, wo sich eigentlich die Brustwarzen befänden. Sofort baute sich der Kopflose Krieger vor dem Fuchs auf und drosch mit einer riesigen Axt aus Geistmetall auf das Gewimmel der Hunduns ein. Sie starben als spritzende Lichtkleckse.

Solcherart beschützt und gesichert, jagte Yang Guang sein Qi mit der größtmöglichen Geistenergie, die er aufbringen konnte, durch den Fuchs. Leuchtende Risse zogen sich über dessen stachelige grüne Oberfläche.

Auch wenn Chrysaliden aus den Panzern von Hunduns hergestellt wurden, waren sie diesen doch in jeder Hinsicht überlegen. Den Hunduns mangelte es so sehr an Intelligenz, dass sie das Potenzial des Geistmetalls, aus dem sie selbst bestanden, nicht zu entfesseln vermochten, um mehr zu werden als rundliche Klumpen.

Menschen jedoch konnten das.

Yang Guang führte sich die aufrechte Form des Fuchses vor Augen, und seine Chrysalis verwandelte sich entsprechend. Die Gliedmaßen wurden dünner und länger, die Taille wurde schmaler, und die Schultern des Fuchses wurden beweglicher, was ihn ein klein wenig menschenähnlicher machte. Seine neun Schwänze bildeten scharfe Lanzen und fächerten sich vom Ansatz aus wie Sonnenstrahlen – so wie die echten Neunschwänzigen Füchse ihre Schwänze hoben, um Feinde einzuschüchtern. Er richtete den Fuchs auf; jetzt, da er sein Qi mit mehr Energie aussandte, verfügte er über hinreichend Kontrolle und Geschicklichkeit, um mit ihm auf zwei Beinen das Gleichgewicht zu halten. So waren die Vorderläufe des Fuchses frei, um mit einer Waffe zu kämpfen.

Mit einem Griff über die Schulter schloss Yang Guang eine Klaue um eine der Schwanzlanzen des Fuchses und riss sie sich vom Rücken. Er preschte damit durch die wogende Herde unterschiedlich großer Hunduns, bis er die Prinzenklasse entdeckt hatte. Dann machte er sich flach, um vom Boden aus emporzuhechten. Die Lanze flog in hohem Bogen durch die Nacht, ein schimmernder Strahl Mondlicht. Dann senkte sie sich herab und durchbohrte den runden Körper des Hunduns. Außer ihren sechs winzigen käferartigen Beinen wies die Prinzenklasse keine besonderen Merkmale auf. Geistmetall barst mit einem eindrucksvollen Geräusch; es klang, als flöge ein ganzes Lagerhaus voller Porzellan in die Luft. Yang Guang machte sich auf den Ansturm der Gefühle von Zorn und Grauen gefasst, als das Licht des von Qi erfüllten Lebenszentrums des Hunduns aufzuckte und schwächer wurde.

Die anderen Chrysaliden, die mit ihm gegen das Meer glitzernder Hunduns ankämpften, johlten vor Begeisterung. Kameradrohnen näherten sich der leblosen Hülle der Prinzenklasse, und Yang Guang konnte sich gut ausmalen, wie nun in ganz Huaxia Männer und Frauen aus dem gemeinen Volk an ihren Bildschirmen jubelten. Ein rauschhaftes Hochgefühl überkam ihn; er ließ den Fuchs zurückspringen und dabei die Lanze aus dem Hundun zerren. Doch selbst nachdem er den Kontakt gelöst hatte, blieb da noch immer eine fremde Angst in seinem Bewusstsein zurück.

Das Gefühl kam jetzt von seiner Konkubine und schlug über ihm zusammen wie eine Welle.

Das war immer der Moment, in dem er wusste, dass es die Seele einer Konkubine nicht mehr schaffen würde, in ihren eigenen Körper zurückzugelangen. Er kontrollierte inzwischen unterbewusst alles in ihr, bis hin zu ihrem Herzschlag. Sobald er die Verbindung mit ihr löste, würde da nichts mehr sein, um ihr Herz weiterschlagen zu lassen, und sie würde ins Jenseits übergehen. Das war nicht zu vermeiden.

Das Wichtigste war, dass ihre Familie nun eine anständige Entschädigung bekam. In diesem Wissen würde ihre Seele an den Gelben Quellen leicht ihre Ruhe finden können.

Yang Guang hatte sich ihren Namen nicht gemerkt. Derartiges versuchte er zu vermeiden. Er verschliss so viele Konkubinenpilotinnen, dass es eine lähmende Ablenkung wäre, alle im Gedächtnis zu behalten. Und er konnte es sich nicht leisten, abgelenkt zu werden. Er hatte schließlich eine Welt zu beschützen.

Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ. Sie hatte freiwillig die Entscheidung getroffen, in seine Dienste zu treten.

Yang Guang konzentrierte sich ganz darauf, den Rest der Herde zu zermalmen und aufzuspießen, eine beruhigende Versicherung an die Adresse seiner Bewunderer, dass ihr Heimatland auch in Zukunft gut geschützt sein würde.

Das edelmütige Opfer der Konkubine würde nicht vergeblich sein.

Teil I Der Weg des Fuchses

In den Bergen lebt ein Geschöpf, das aussieht wie ein Fuchs mit neun Schwänzen und Laute von sich gibt, die wie das Weinen eines Säuglings klingen. Es ernährt sich von Menschenfleisch.

Shanhaijing (Klassiker der Berge und Meere, 山海经)

Kapitel 1

Ein Schmetterling, der besser nicht meine tote Schwester sein sollte

Achtzehn Jahre lang haben mich meine zusammengewachsenen Augenbrauen davor bewahrt, in einen schmerzhaften, entsetzlichen Tod verkauft zu werden.

Heute ist der Tag gekommen, an dem ich meine Brauen aus ihren zuvorkommenden Diensten entlasse.

Na ja, ich mache es nicht selbst. Es ist Yizhi, der die Pinzette in den Fingern hält, ein Erbstück meiner Schwester. Er kniet auf der Bambusmatte, die über dem feuchten Waldboden unter uns ausgebreitet ist, hebt mein Kinn an und reißt mir Haar um Haar aus. Meine Haut brennt, als würde sie in hellen Flammen stehen und langsam verschmoren. Die tintenschwarzen Wellen seines halb aufgesteckten Haares wippen über seine langen hellen Seidengewänder, während er an meinen Augenbrauen zupft. Mein eigenes Haar, das viel spröder und verfilzter ist als seins, ist unter einem zerfetzten Lumpen zu einem unordentlichen Knoten gebunden. Auch wenn der Lumpen stark nach Fett riecht, hält er doch die widerspenstigen Strähnen aus meinem Gesicht fern.

Ich habe versucht, mich gelassen und ungerührt zu geben. Aber ich mache den Fehler, zu lange in Yizhis sanftes, konzentriertes Gesicht zu schauen – ich will mir seine Züge einprägen, damit ich etwas habe, woran ich mich in den letzten Tagen meines Lebens festhalten kann. Mein Magen krampft sich zusammen, und heißer Druck schießt mir in die Augen. Der Versuch, gegen die Tränen anzublinzeln, lässt sie nur umso ungehemmter rechts und links von meiner Nase hinunterrollen – mal im Ernst, das funktioniert doch nie.

Natürlich entgehen Yizhi meine Tränen nicht. Er hält in seinem Tun inne, um herauszufinden, was da nicht stimmt, auch wenn er keinen Grund hat anzunehmen, dass es sich um mehr handelt als um eine Reaktion auf den schmerzhaften Angriff auf meine Poren.

Auch wenn er keine Ahnung davon hat, dass wir uns heute zum letzten Mal sehen.

»Alles in Ordnung mit dir, Zetian?«, flüstert er. Die Hand, mit der er meine Brauen zupft, schwebt vor mir in der Luft, von einem hauchzarten Wirbel feuchten Dunstes umgeben, der von dem Wasserfall unweit unseres Verstecks herbeiweht. Das Rauschen des Baches zwischen den halbhohen Bäumen, unter denen wir kauern, übertönt seine Stimme für jeden, der uns womöglich hier entdecken könnte.

»Wenn du weiterhin ständig Pausen machst, ist mit mir jedenfalls gar nichts mehr in Ordnung.« Ich verdrehe die Augen. »Komm schon. Bringen wir’s einfach hinter uns.«

»Alles klar. In Ordnung.« Sein Stirnrunzeln geht in ein Lächeln über, das mir fast das Herz bricht. Mit den Ärmeln seines kostbaren Seidengewands trocknet er meine geschwollenen Augen, dann schiebt er sich den Stoff wieder bis zu den Ellbogen zurück. Es sind Ärmel für reiche Leute, zu lang und zu bauschig, zu weit, um praktisch zu sein. Ich mache mich bei jedem seiner Besuche über sie lustig. Obgleich es zugegebenermaßen nicht seine Schuld ist, dass sein Vater ihm und seinen siebenundzwanzig Geschwistern vorschreibt, das Familienanwesen nur in ausgesprochener Luxuskleidung zu verlassen.

Leuchtende Sonnenstrahlen durchdringen nach dem tagelangen Regen unsere geheime Welt aus schwüler Hitze und sich wiegenden Blättern. Ein fleckiges Muster aus Licht und Schatten färbt seine bleichen Unterarme. Der pralle, saftige Duft von Frühlingsgrün umfängt uns, so satt und voll, dass man ihn auf den Lippen schmecken kann. Seine Knie – sogar wenn er kniet, ist seine Körperhaltung sittsam und makellos – wahren sorgsam die geringfügige, aber unüberwindliche Distanz zu meinen achtlos verschränkten Beinen. Seine vornehmen maßgeschneiderten Seidengewänder stehen in einem geradezu lächerlichen Kontrast zu der wettergegerbten Grobheit meines selbst gewebten Kittels und meiner Hose. Bis ich ihn kennengelernt habe, hatte ich keine Ahnung, dass es so weißen und so weichen Stoff überhaupt gibt.

Er zupft schneller. Es tut tatsächlich sehr weh, so als wäre meine Braue ein lebendes Wesen, das Stück für Stück entzweigerissen wird, daher dürfte es auch nicht verdächtig wirken, sollte ich erneut in Tränen ausbrechen.

Lieber würde ich nicht auf seine Hilfe zurückgreifen müssen, aber ich weiß, dass es für mich irgendwann einfach zu schmerzhaft würde, ständig in mein Bild im Spiegel zu blicken und es selbst zu tun. Denn da würde ich die ganze Zeit über nur meine ältere Schwester Ruyi sehen. Ohne die wuchernden Haare meiner Brauen, die meinen Marktwert bisher gering gehalten haben, ist meine große Ähnlichkeit zu ihr unverkennbar.

Außerdem traue ich mir gar nicht zu, meine zusammengewachsene Braue so zu trimmen, dass daraus zwei gleich aussehende Exemplare werden. Und wie soll ich mich dazu verpflichten, in den Tod zu ziehen, wenn meine Augenbrauen ungleichmäßig sind?

Ich lenke mich von dem durchdringenden Schmerz ab, indem ich über das beleuchtete Tablet auf Yizhis Schoß wische und die Notizen lese, die er sich seit seinem letzten Besuch vor einem Monat in der Schule gemacht hat. Jedes Tippen auf dem Tablet erscheint mir noch skandalöser als die Tatsache, mit Yizhi auf einem Berg an der Grenze allein zu sein, umgeben von grünen Pflanzen und Frühlingshitze, während wir den gleichen wirbelnden Hauch erdig dicker, berauschender Luft einatmen. Die Dorfältesten sagen, Mädchen sollten diese himmlischen Geräte nicht berühren, weil wir sie, keine Ahnung wie, »mit unserer verruchten Weiblichkeit entweihen« würden oder etwas in der Art. Nur dank der Götter im blauen Himmel über uns konnte Technologie – wie diese Tablets – nach dem verlorenen Zeitalter der Menschheit, als sie sich vor den Hunduns hatte verstecken müssen, wiedererschaffen werden. Aber es kümmert mich nicht, wie sehr ich in der Schuld der Ältesten oder der Götter stehe. Wenn sie mich nicht respektieren, nur weil ich zur »falschen« Hälfte der Bevölkerung gehöre, respektiere ich sie eben auch nicht.

Vor dem Hintergrund der von Blättern überschatteten Gewänder Yizhis leuchtet der Bildschirm des Tablets wie der Mond und lockt mich mit einem Wissen, das ich nicht haben darf, Wissen, das von außerhalb meines armseligen Bergdorfs stammt. Kunst. Wissenschaft. Hunduns. Chrysaliden. Es juckt mich in den Fingern, das Tablet näher heranzuziehen, auch wenn weder das Gerät noch ich sich bewegen dürfen – ein Kegel Neonlicht aus einer Einbuchtung auf dem Gerät projiziert die mathematisch idealen Augenbrauen für mich auf mein Gesicht. Yizhi und seine verblüffenden Gerätschaften aus der Stadt enttäuschen mich nie. Nachdem ich ihm vorgelogen habe, meine Familie hätte mir hinsichtlich meiner zusammengewachsenen Augenbrauen eine »letzte Warnung« erteilt, hat er das Ding innerhalb von nur wenigen Minuten hervorgezaubert.

Ich frage mich, wie sehr er mich wohl hassen wird, sobald er herausgefunden haben wird, wobei er mir hier tatsächlich geholfen hat.

Ein Tröpfchen fällt von den Ästen über unseren Köpfen und rollt ihm über die Wange. Er ist so sehr in sein Tun vertieft, dass er es nicht bemerkt. Ich wische ihm die Feuchtigkeit mit dem Fingerknöchel vom Gesicht.

Er reißt die Augen auf. Farbe steigt ihm in die verzärtelte, fast durchscheinende Haut seiner Wangen.

Ich muss unwillkürlich grinsen. Ich drehe die Hand, um ihm stattdessen mit den Fingerkuppen über die Haut zu fahren, und zwinkere ihm zu. »Du liebe Güte. Sind meine neuen Augenbrauen schon jetzt unwiderstehlich?«

Yizhi lacht lauter als gewöhnlich, dann schlägt er sich die Hand vor den Mund und schaut sich um, auch wenn wir uns geziemend versteckt haben.

»Hör auf damit«, sagt er, seine Stimme nun ein wenig leiser, und sein Lachen wird hauchzart wie eine Feder. Er senkt den Kopf und weicht meinem Blick aus. »Lass mich arbeiten.«

Die in seinen Wangen aufsteigende Hitze nicht zu verleugnen, weckt brennende Schuldgefühle in mir.

Sag es ihm, meldet sich eine flehende Stimme in mir.

Aber ich lasse lediglich so beiläufig wie möglich die Hand sinken und blättere zum nächsten Teil seiner schulischen Notizen weiter, ein gemeinschaftskundliches Thema, bei dem es um die statistische Dynamik von Hundunangriffen geht.

Warum sollte ich meine Mission gefährden, indem ich ihn in meine Pläne einweihe? Wie auch immer Yizhi unsere Beziehung sehen mag, für meinen Teil habe ich nie den Fehler begangen, sie allzu ernst zu nehmen. Er ist der Sohn des ungelogen reichsten Mannes in Huaxia, und ich bin ein x-beliebiges Mädchen aus dem Grenzland, das er zufällig kennengelernt hat, als er am entlegensten Ort, den er mit seinem Schweberad erreichen konnte, ein wenig Ruhe und Frieden suchte. Würde uns jemand zusammen erwischen, wäre es nicht er, den man in einen Schweinekäfig zwängen und zur Wahrung der Familienehre ertränken würde. Und das ungeachtet der Tatsache, dass wir niemals irgendwelche Grenzen überschritten haben, die wir nicht überschreiten sollten.

Meine Aufmerksamkeit verlagert sich auf seine Lippen und wandert über ihre zart gewölbten Linien, und ich fühle mich in die Zeit zurückversetzt, als ich ihm gegenüber lautstark darüber gestaunt habe, wie weich sie doch wirken würden. Er hat damals eingeräumt, dass er das einer regelmäßigen Feuchtigkeitspflege mit Vier-Schritte-Peeling verdanke, und ich habe so heftig gelacht, dass mir die Tränen gekommen sind, als ich seine Lippen berührt habe. Und dann habe ich nicht mehr gelacht, sondern nur noch in seine Augen geschaut, im Bewusstsein, ihm viel zu nahe zu sein.

Daraufhin bin ich sofort ein Stück zurückgewichen und habe das Thema gewechselt.

Da ist eine zarte, wunde Stelle in mir, und sie schmerzt bei dem Gedanken an all das, was mir mit ihm versagt bleiben wird. Andererseits habe ich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen – und kann es auch nicht – , dass für ihn die ganze Sache nichts als ein Spiel ist. Dass ich nicht das einzige Bauernmädchen bin, das er an seinen schulfreien Tagen besucht. Dass er, sobald ich der Versuchung doch einmal erliegen sollte, im nächsten Moment die Seidenschärpe seiner makellosen Gewänder zubinden und mir ins Gesicht lachen könnte – ein Lachen darüber, dass etwas für ihn so völlig Bedeutungsloses für mich gleichwohl eine Sache von Leben oder Tod darstellt; ein Hohnlachen darüber, dass es selbst mit diesem Wissen lediglich seines sanften Lächelns und seiner geflüsterten Worte bedürfe, um mich wie hypnotisch dazu zu bewegen, ihm zu Willen zu sein.

Vielleicht ist meine vorsichtige Zurückhaltung genau das, was die Sache für ihn umso verlockender macht, das, was ihn dazu gebracht hat, seit drei Jahren am Ende eines jeden Monats hier aufzutauchen.

Ich werde seine wahren Beweggründe niemals erfahren. Und das ist ganz in Ordnung so. Solange ich mich meinen Gefühlen nicht hingebe, kann ich das Spiel nicht verlieren, das hier womöglich gespielt wird.

Auch wenn, realistisch betrachtet, meine Familie mich jetzt sicherlich nicht mehr ertränken würde, selbst wenn mein ganzes Dorf mich in der nächsten Sekunde entdecken sollte. Schließlich mache ich endlich das, was sie von mir wollen: Ich hübsche mich auf, damit sie mich als Konkubinenpilotin an die Armee verkaufen können. Genau wie sie es zuvor mit meiner Schwester getan haben.

Natürlich wissen sie nichts von meinen größeren, tödlicheren Plänen.

Als Yizhi die Unterseiten meiner Brauen erreicht, verweilt mein Finger über einem Bild von einer Schlacht zwischen Chrysaliden und Hunduns in seinen Unterrichtsnotizen. Die abgebildete Chrysalis, der Weiße Tiger, ist so wohlgeformt und leuchtend bunt, dass man nie auf den Gedanken kommen würde, sie sei einst ein runder Hundunpanzer ohne besondere Merkmale gewesen. Dargestellt in ihrer Heroenform, ihrer höchsten Transformationsstufe, gleicht die Chrysalis einem menschenähnlichen Tigerkrieger aus glattem Milchglas. Ihre Einzelteile, die zusammen eine Art Rüstung bilden, sind umrahmt von leuchtenden Linien in Grün und Schwarz, doch die Farben verschwimmen ineinander, als sie nun mit schneller Bewegung eine Dolchaxt in die Höhe reißt, die größer ist als ein Baum. Der Weiße Tiger ist ein besonderer Liebling der Armee und wird viel für Werbezwecke eingesetzt. Tatsächlich löst es ein Wohlgefühl in mir aus, ihn zu betrachten. Das damit geistig verbundene Paar von Junge und Mädchen bildet eine sogenannte ebenbürtige Partie. Das Risiko, dass das Wesen des Jungen das des Mädchens aufzehrt und er sie so am Ende der Schlacht umbringt, ist in diesem Fall äußerst gering.

Im Gegensatz zu dem Schicksal, das den Pilotinnen in den meisten anderen Fällen droht.

Genau so habe ich befürchtet, dass Große Schwester sterben würde, nachdem unsere Familie sie zwang, in den Dienst eines Piloten der Prinzenklasse zu treten, des Rangs mit der zweithöchsten Kampfkraft. Aber letztlich hat sie es nie aufs Schlachtfeld geschafft. Der Pilot hat sie auf traditionelle Weise mittels körperlicher Gewalt umgebracht. Weshalb, weiß ich nicht. Unsere Familie hat nur ihre Asche zurückbekommen. Und ist jetzt seit einundachtzig Tagen völlig am Boden zerstört … weil sie nicht die große Entschädigung für einen Tod in der Schlacht bekommen hat, auf die sie spekulierte.

Es ist schon komisch. Große Schwester hat ihr ganzes Leben damit zugebracht, allseits umsorgt zu werden.

Wann wird Ruyi heiraten?

Wird Ruyi stattdessen zum Militär einrücken?

Du meine Güte, hat Ruyi etwa zu lange in der Sonne gesessen? Ihre Haut ist ein wenig gebräunt.

Aber von dem Moment an, als die Nachricht von ihrem Tod die Runde machte, hat nie wieder jemand ihren Namen genannt. Niemand hat mich auch nur danach gefragt, was ich mit ihrer Asche gemacht habe. Nur Yizhi und ich wissen, dass der Bach neben uns sie mit sich davongetragen hat. Ein kleines Geheimnis allein zwischen ihm und mir – und ihr.

Mein Blick geht hin zu einer echten Schmetterlingspuppe, die hinter Yizhi an einem Ast baumelt. Die Chrysaliden der Armee sind nach ihnen benannt worden, und deshalb heißt es jetzt, dass tote Piloten und Pilotinnen als Schmetterlinge wiedergeboren würden. Wenn das stimmt, so hoffe ich wirklich, dass diese hier nicht meine Schwester ist. Ich hoffe, dass sie weit, weit von hier fortgegangen ist, irgendwohin, wo herrschsüchtige Dorfälteste und neugierige Schwatzmäuler, habgierige Verwandte und miese, verkommene Piloten sie nicht erreichen können.

Ein im Schlüpfen begriffener Schmetterling hat sich schon seit einer geraumen Weile in der Puppe gewunden. Jetzt endlich hat er die Außenhülle durchbrochen. Sein Kopf taucht verkehrt herum auf. Fühler springen heraus und wackeln hin und her. Als großes Finale befreit er sich zur Gänze aus der Puppe wie eine aufblühende Knospe.

Schmetterlinge sind in diesem Wald häufig, daher ist es eigentlich kein besonders bemerkenswerter Anblick.

Nur dass, als dieser Schmetterling seine Flügel schüttelt und ausbreitet, die Muster nicht zusammenpassen.

»Mannomann!« Ich richte mich kerzengerade auf.

»Was ist los?« Yizhi wirft einen Blick über die Schulter.

»Dieser Schmetterling hat zwei unterschiedliche Flügel!«

Auch Yizhi stößt einen Laut der Überraschung aus, was bedeutet, dass das hier kein typisches Phänomen ist, von dem ich nur deshalb noch nichts gewusst habe, weil ich ein Landmädchen von der Grenze bin. Yizhi teilt mir mit, dass er mit meinen Brauen so ziemlich fertig sei, dann hebt er sein Tablet, um ein vergrößertes Video von dem Schmetterling zu machen.

Unsere Augen haben uns nicht getrogen. Ein Flügel ist schwarz mit einem weißen Punkt, und der andere ist weiß mit einem schwarzen Punkt – wie das Symbol von Yin und Yang. Nach ebendiesem Symbol ist die Schmetterlingsart benannt worden, doch habe ich noch nie einen gesehen, der sowohl einen Yin- als auch einen Yang-Flügel gehabt hätte.

»Wie ist das möglich?« Ich reiße staunend die Augen auf.

Yizhis Lächeln wird noch breiter. »Du weißt, was du tun musst, wenn du Fragen hast.«

»›Es nachschlagen‹. Kapiert.« Ich öffne die Suchmaschine auf Yizhis Tablet, wie er es mir beigebracht hat. Es ist nicht schwer, sie zu bedienen – ich brauche lediglich die Schlagworte meiner Frage einzugeben – , aber es ist irgendwie unwirklich und einschüchternd, mit nur ein paar Fingerbewegungen Zugang zu all dem Wissen der Gelehrten in den Städten zu finden, das sie aus den geheimnisvollen Schriften rekonstruiert haben, welche die Götter herabwerfen, wann immer wir ihnen hinreichend große Tributgaben darbieten.

Mit einem konzentrierten Schielen begutachte ich die akademischen Texte meiner Suchergebnisse. Sie sind viel schwerer zu lesen als Yizhis Unterrichtsnotizen, aber ich bin entschlossen, allein dahinterzukommen. »Anscheinend bedeuten unterschiedliche Flügel bei einem Schmetterling, dass er … sowohl männlich als auch weiblich ist.« Ich ziehe die Stirn verwundert in Falten. Dann starre ich mit offenem Mund auf den Satz. »So etwas kann passieren?«

»Ja klar, das biologische Geschlecht kennt in der Natur alle möglichen Variationen.« Yizhi lässt sich neben mir auf der Bambusmatte nieder und rafft dabei seine Gewänder von der grauen Erde. »Es gibt sogar Wesen, die ihr Geschlecht wechseln können, ganz nach ihren Bedürfnissen.«

»Aber ich dachte …« Ich blinzele schnell. »Ich habe immer gedacht, weibliche Wesen seien weiblich, weil ihr angeborenes Qi auf Yin basiert, und männliche Wesen seien männlich, weil ihr angeborenes Qi auf Yang basiert.«

Yin und Yang repräsentieren die entgegengesetzten Kräfte, die das Universum in Bewegung bringen und zum Leben erwecken. Yin ist alles Kalte, Dunkle, Langsame, Passive und Weibliche. Yang ist alles Heiße, Helle, Schnelle, Aktive und Männliche.

Zumindest hat meine Mutter es mir so beigebracht.

Yizhi zuckt die Achseln. »Nichts ist je ganz so starr, würde ich mal annehmen. Es gibt immer etwas Yin im Yang und etwas Yang im Yin. Das drückt sich ja schon direkt im Symbol aus. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sogar Fälle gibt, in denen Menschen wie dieser Schmetterling geboren werden … Menschen, bei denen man nicht wirklich festmachen kann, welches Geschlecht sie haben.«

Meine Augen werden nur noch größer. »Welchen Platz würden diese Menschen dann einnehmen, wenn sie Piloten würden?«

Jede Chrysalis hat die gleiche Sitzanordnung. Für Frauen ist der niedrigere Yin-Sitz vorgesehen, während Männer den leicht erhöhten Yang-Sitz hinter ihnen einnehmen und die Arme um die Frauen legen.

Yizhi klopft mit den Fingern auf die Bambusmatte. Er zieht nachdenklich die dünnen Brauen zusammen. »Kommt wohl darauf an, welchem Geschlecht sie am nächsten sind, oder?«

»Was soll das denn heißen? Ab welchem Punkt wäre ein Platz denn nicht mehr der Richtige für sie?« Ich fahre unwillig zurück. »Was hat es überhaupt mit dem Geschlecht auf sich, dass es für das System so wichtig ist? Ist die Pilotentätigkeit nicht eine rein mentale Angelegenheit? Warum sind es also immer die Mädchen, die geopfert werden müssen, um Energie aus ihnen zu schöpfen?«

»Ich … ich weiß es nicht.«

Ich versuche, eine seriöse Antwort auf diese Frage mittels der Suchmaschine zu finden, aber ein rotes Warnkästchen poppt auf.

WARNUNG: UNZUREICHENDEZUGANGSERLAUBNIS.

SUCHERGEBNISSEEINGESCHRÄNKT.

»Ach ja, man kann nicht einfach nach irgendetwas suchen, was mit der Anfertigung der Chrysaliden zusammenhängt. Sie können nicht zulassen, dass jemand auf eigene Faust welche herstellt, die ihnen gefährlich werden könnten.« Yizhi greift nach dem Tablet.

Ich lasse es mir aus den Händen ziehen. Dann starre ich eindringlich den Schmetterling an, der sowohl einen Yin- als auch Yang-Flügel hat.

Weiblich. Das Einzige, was mir dieser Stempel je eingetragen hat, war, mir vorzuschreiben, was ich tun darf und was nicht. Als Frau darf ich nirgendwo ohne Erlaubnis hingehen. Darf nicht zu viel Haut zeigen. Darf nicht mit allzu lauter oder unfreundlicher Stimme sprechen, und sobald die Männer reden, darf ich überhaupt nichts sagen. Ich darf mein Leben nicht leben, ohne mir ständig bewusst zu sein, was für einen Augenschmaus mein Anblick bietet. Ich darf keine Zukunft haben, außer, für einen Ehemann Sohn um Sohn zu gebären oder in einer Chrysalis zu sterben, um irgendeinem Kerl Kraft und Vermögen zu geben, sodass er nach Ruhm greifen kann.

Es ist, als steckte ich in einem Kokon, der sich viel zu fest um mein ganzes Wesen zusammengezogen hat. Wenn es nach mir ginge, würde ich wie dieser Schmetterling vor mir leben und Außenstehenden nicht ohne Weiteres eine Möglichkeit geben, mich an ein simples Etikett zu binden.

»Yizhi, glaubst du, Mädchen sind von Natur aus dazu bestimmt, sich selbst zu opfern?«, murmele ich.

»Nun ja, das kann unmöglich stimmen, schließlich bist du ein Mädchen, und du würdest das auf keinen Fall jemals tun.«

»He!« Ein Lachen entschlüpft mir, bricht sich aus meiner Trübsal Bahn.

»Was denn? Was soll daran gelogen sein?« Er stemmt die Hände in die Hüften, und seine Ärmel bauschen sich.

»Na schön, in Ordnung! Keine Lüge.« Ich unterdrücke ein Grinsen.

Doch dann sinken meine Mundwinkel ganz von selbst herab.

Ich würde für niemand anderes leben und leiden, aber ich würde sterben, um meine Schwester zu rächen.

Yizhi lächelt nichts ahnend. »Ganz ehrlich, es gibt nichts daran auszusetzen, dass dir dein Leben lieb und teuer ist. Dass du um das kämpfst, was du willst. Ich finde es bewundernswert.«

»Mannomann.« Ich gebe ein unentschlossenes Schnauben von mir. »Sind meine Augenbrauen jetzt wirklich so betörend geworden?«

Yizhi lacht. »Ich bin nicht mutig genug, um dich anzulügen, also muss ich es zugeben. Du siehst jetzt viel hübscher aus, auf diese ganz normale Weise.« Sein Lächeln wird weicher. Im ungleichmäßigen Schatten leuchten seine Augen wie nächtliche Teiche, in denen sich die Sterne spiegeln. »Und trotzdem bist du immer noch die Zetian, die ich kenne. Ich finde, du bist das atemberaubendste Mädchen auf der Welt, ganz gleich, wie du aussiehst.«

Mein Herz krampft sich zusammen, droht mir zu brechen.

Ich kann es nicht tun. Ich kann nicht fortgehen, ohne ihm die Wahrheit zu sagen.

»Yizhi«, murmele ich mit einer Stimme, die so dunkel ist wie Rauch.

»Entschuldige, habe ich …? Oh nein. Bin ich zu weit gegangen?« Ein Kichern entschlüpft ihm. »Auf einer Skala von ›eins‹ bis ›Mann in den mittleren Jahren bittet dich, für ihn ein Lächeln aufzusetzen‹ – wie unbehaglich hat dich das eben gemacht?«

»Yizhi.« Ich greife nach seinen Händen, als könnte ich ihn damit auf das vorbereiten, was als Nächstes kommen wird.

Er verstummt und richtet den Blick verwirrt auf unsere ineinander verschränkten Hände.

Ich sage es ihm. »Ich melde mich als Konkubinenpilotin.«

Ihm klappt der Unterkiefer herunter. »Für welchen Piloten?«

Ich öffne den Mund, aber ich kann den Namen dieses Schweins nicht mal ausspucken. »Für ihn.«

Er sieht mir forschend in die Augen. »Für Yang Guang?«

Ich nicke, und alle Wärme verschwindet aus meinem Gesicht.

»Zetian, er hat deine Schwester umgebracht!«

»Genau deshalb gehe ich zu ihm.« Ich stoße Yizhis Hände weg und ziehe die lange hölzerne Haarnadel aus meinem lumpenumwickelten Knoten. »Ich werde seine schöne, heißblütige Konkubine sein. Und dann …« Ich ziehe die Haarnadel auseinander und lasse ihn die scharfe Spitze darin sehen. »Dann werde ich ihm im Schlaf die Kehle aufschlitzen.«

Kapitel 2

Wie zur Tür hinausgekipptes Wasser

Ich stolpere mit meinem Bambusstock über die Bergpfade, allein. Ein Gitter aus Waldschatten kriecht über mich hinweg, von den Klingen des scharlachroten Dämmerlichts durchschnitten. Sollte ich nicht zu Hause sein, wenn die Sonne hinter den westlichen Gipfeln untergeht, wird meine Familie denken, ich hätte mal wieder einen Fluchtversuch unternommen. Das ganze Dorf wird mit Taschenlampen und bellenden Hunden die Berge durchkämmen. Sie können nicht zulassen, dass ihre Töchter auf den Gedanken kommen, es sei möglich, von zu Hause wegzulaufen.

Durchweichte Blätter verwandeln sich unter meinen winzig kleinen und sehr ramponierten Schuhen zu Matsch. Yizhi hat mir unzählige Male angeboten, sie durch neue zu ersetzen. Doch ich könnte seine Geschenke niemals annehmen, aus Angst, dass meine Familie die Sache mit ihm herausfindet. Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle, als ich mich an seinen entsetzten Gesichtsausdruck angesichts meiner selbst erwählten Mission erinnere. Wie gebrochen seine Stimme doch klang, als er meinen Namen rief, nachdem ich im Wald verschwunden war, um dem Gespräch ein Ende zu setzen. Ich hätte es ihm nicht verraten sollen. Es war vorauszusehen, dass er alles tun würde, um mich daran zu hindern.

Jetzt ist dieser schreckliche Moment das Letzte, was uns voneinander in Erinnerung bleiben wird.

Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, das Sirren seines Schweberads über den Baumwipfeln gehört zu haben, doch ich hoffe, dass er unsere Berge inzwischen hinter sich gelassen hat. Er kann nicht das Geringste an der Sache ändern. Er besitzt mich nicht. Niemand besitzt mich. Sie alle mögen das glauben, aber ganz gleich, wie sehr sie mich auch beschimpfen oder bedrohen oder verprügeln, sie können nicht kontrollieren, was in meinem Kopf vor sich geht, und ich schätze, das frustriert sie maßlos.

Der Sonnenuntergang hängt als blutiger Dunst am Ende des Waldpfades. Als die Schatten mich freigeben, werden die Reisterrassen sichtbar, auf denen ich aufgewachsen bin, ganze Berghänge, die nur aus Terrassen bestehen wie zum Himmel hinaufführende Treppenstufen. Breite Rinnen, mit dem gesammelten Regenwasser gefüllt, glänzen auf jeder Ebene, nähren Reissetzlinge und spiegeln den glühenden Himmel wider. Fiebrige Wolken ziehen über die lang gestreckten Wassergräben, während ich mir einen Weg zwischen ihnen hindurchbahne. Mein Stock rutscht über flache Bodenerhöhungen aus grauem Schlamm. Von den Herdstellen ringsum, auf denen überall die Abendmahlzeit zubereitet wird, erhebt sich Rauch über die Häuser, die sich gruppenweise an die Terrassen schmiegen. Die Rauchfahnen steigen in den von der Abenddämmerung geröteten Nebel auf, der wogend die höchsten Gipfel umhüllt.

In dem Frostbeulenwinter, als ich fünf Jahre alt war – ein Winter, so gnadenlos kalt, dass die Reisterrassen bis auf den Grund gefroren waren – , hat mich meine Großmutter gezwungen, ohne Schuhe über das Eis zu gehen. Nachdem sich die gefrierende Kälte tief in mein Fleisch gegraben und es violett verfärbt hatte, scheuchte sie alle Männer aus dem Haus, setzte mich auf den eisigen Betonboden und stellte meine Füße in eine Holzschüssel mit gekochtem Schweineblut und betäubenden Arzneien. Dann haben zwei meiner Tanten mich auf den Boden gedrückt, während meine Großmutter jeden Knochen meines Fußgewölbes zerschmettert und so beide Füße in der Mitte durchgebrochen hat.

Die Urgewalt des Schreis, der sich mir damals entrungen hat, durchhallt noch immer meine Erinnerungen, vor allem dann, wenn ich am wenigsten damit rechne, und reißt mich jedes Mal unerwartet aus dem heraus, was ich gerade tue.

Doch der Schmerz vermag das nicht. Der Schmerz kann mich nicht überraschen, weil er nie weggegangen ist. Bei jedem meiner Schritte schießt er wie ein Blitz meine Beine hinauf.

Bei. Jedem. Einzelnen. Schritt.

Man kann das nicht Gehen nennen, was ich mache. Jener Marsch über die gefrorene Reisterrasse war das letzte Mal, dass ich gegangen bin. Seither sind meine Füße zu gewölbten, missgestalteten Hügeln gebunden, die mir nur ein Wanken gestatten. Drei Zehen sind infolge von Infektionen, an denen ich fast gestorben wäre, abgefault, was es mir für den Rest meines Lebens unmöglich macht, das Gleichgewicht zu halten. Die anderen Zehen sind flach um meine Fußsohlen gewickelt, bis nahe an die Fersen, als sollten sie die deformierte Masse aus Knochen und Fleisch meine Beine hinaufdrücken. Meine Fußsohlen sind kleiner als meine Handflächen. Zwei perfekte Lotosfüße.

Das treibt meinen Marktwert beträchtlich in die Höhe.

Meine Familie hat mich unentwegt dafür beschimpft, dass ich die Haare in meinem Gesicht so wild habe wuchern lassen und dass ich zu viel Fett um die Hüften habe, aber die schlimmsten Prügel und die lautesten geschrienen Beleidigungen muss ich einstecken, wenn ich dagegen rebelliere, wie fest meine Füße abgebunden werden. Haarige Augenbrauen können gezupft werden, zu viel Gewicht kann man herunterhungern, aber Lotosfüße hören auf, Lotosfüße zu sein, sobald man ihnen das Wachsen erlaubt. Und kein Mann aus einer angesehenen Familie würde ein Mädchen ohne abgebundene Füße heiraten.

»Ohne das wären wir genau wie die Rongdi!«, hat meine Großmutter einmal geschrien, während ich gekreischt und geschluchzt habe, weil das Ritual so schmerzhaft ist. Sie hat damit die Stämme gemeint, die die ungebändigte Wildnis durchstreifen und dabei den Hunduns einzig mittels der Strategie entgehen, dass sie alles auf ihre Pferde packen und die Flucht ergreifen, sobald sie es mit ihnen zu tun bekommen. Einige dieser Stammesgebiete sind Teil von Huaxia geworden, als wir die Hunduns aus größeren Territorien vertrieben haben; andere Stämme von weiter draußen sind in einem kleinen, aber beharrlichen Rinnsal durch die Große Mauer ins Land gesickert. Als Grenzbewohner haben wir jede Menge von ihnen als Nachbarn. Meine Familie hat mich immer gemahnt, ja nicht so zu werden wie deren Frauen, die »ohne Moral, Scham und Anstand herumlaufen«.

Als ich klein war, habe ich ihnen das abgekauft und davor Angst gehabt, selbst einmal so zu werden wie diese Frauen. Aber je älter ich geworden bin, umso weniger habe ich verstanden, was denn an ihnen eigentlich so schlimm sein soll.

Während ich mehrere Häuser auf einer höheren Terrasse des Hangs passiere, rucken die Köpfe einiger bis an die Knie in die Reisterrassen eingesunkenen Männer in die Höhe. Sie lassen ihre Arbeit Arbeit sein und begaffen mich, während ich vorbeiwatschele. Sie würden es nicht wagen, sich über mich herzumachen – jeder kennt hier jeden – , aber sie versäumen keine Gelegenheit, ihre Begierden unmissverständlich klarzumachen.

Es ist nun mal so: Jedes Mal, wenn sich eine Tochter des Grenzlands, die halbwegs gut aussieht, als Konkubinenpilotin verpflichtet oder an einen der reicheren Männer in den Städten verkauft wird, vergrößern sich die Probleme der Männer nahe der Grenze, Frauen zu finden, die ihnen Söhne gebären. Die Brautpreise sind immer weiter in die Höhe geschossen und betragen inzwischen Zehntausende Yuan, was die Familien von hier unmöglich aufbringen können … Es sei denn, sie verpflichten ihre Töchter zum Militärdienst oder verkaufen sie an reiche Männer aus der Stadt.

Es ist ein katastrophaler Teufelskreis, der auf absehbare Zeit kein Ende nehmen wird. Niemand bleibt an der Grenze wohnen, wenn er es nicht unbedingt muss. Die meisten von uns sind nur deshalb hier, weil unsere angestammte Heimat, die Provinz Zhou, vor zweihunderteinundzwanzig Jahren an die Hunduns gefallen ist.

Ich werfe den Männern meinen finstersten, hasserfülltesten Blick zu. Die Nassfelder der Terrassen glühen im Sonnenuntergang wie geschmolzenes Kupfer, und ich stelle mir vor, wie das Wasser in ihnen immer heißer und heißer wird, um die Männer bei lebendigem Leib zu kochen.

Dann zerbricht mir der Gehstock, ich stolpere und schlage lang hin.

Schwerkraft. Eines der ersten wissenschaftlichen Konzepte, die mir Yizhi vermittelt hat. Sie zieht mich zu dem schlammigen Weg hinunter, sodass ich um ein Haar in ein Reisfeld gestürzt wäre. Mein Handballen rutscht über den Matsch und drückt eine tiefe Delle hinein. Kalt und kompakt klatscht er gegen meine Nase und meine Wange.

Ich stemme mich auf beide Arme hoch. Grauer Schlamm rinnt von meinem erhitzten Gesicht und klebt mir am Kittel. Ich bereite mich innerlich auf laut gellendes Gelächter vor.

Es bleibt aus.

Stattdessen waten die Männer planschend durch die Terrassen, brüllen aufgeregt durcheinander und sammeln sich um jemanden, der ein Tablet in Händen hält.

Ein Beben durchläuft mich in meiner Verwirrung.

Genau genommen ist es ein Beben im Wasser der Reisterrasse.

Mir stockt der Atem. Ein unverkennbares Rumoren durchzieht den Untergrund und kräuselt das Wasser.

Auf der anderen Seite der Grenze entspannt sich ein Kampf zwischen Hunduns und Chrysaliden.

Ich drücke das Ohr auf die Erde, ohne mich darum zu kümmern, dass ich auf diese Weise nur noch schmutziger werde und der Lumpen um mein Haar nass wird. Die Große Mauer ist nur wenige Berge entfernt. An klaren Tagen können wir von hier aus die staubigen, leblosen Gipfel sehen, aus denen die dort stationierten Chrysaliden alles Qi herausgesaugt haben.

Die Männer sehen sich ohne Frage gerade eine Liveübertragung an und wetten auf die Anzahl von Kampfpunkten, die jeder der Piloten holen wird. Aber die physische Macht der Chrysaliden durch den Planeten hindurch zu spüren, ist viel unmittelbarer, tiefgehender und erstaunlicher.

Welch eine Gewalt.

Meine Kehle wird trocken, und doch läuft mir zugleich das Wasser im Mund zusammen. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, selbst das Kommando über so eine hoch über den Gebäuden aufragende Chrysalis zu übernehmen und mit meinen gigantischen Gliedmaßen oder hell leuchtenden Detonationen von Qi alles auf der Erde ringsum zu zertrümmern. Ich könnte jeden vernichten, der je versucht hat, mich zu zerstören. Ich könnte alle Mädchen befreien, die liebend gern davonlaufen würden.

Von den Männern her steigt Freudengeheul auf und setzt meinem Tagtraum ein jähes Ende.

Ich schüttele den Kopf. Dreckklumpen fliegen auf meine Ärmel. Kriechend erhebe ich mich auf die Knie, von Schmutz überzogen, und starre meinen zerbrochenen Gehstock an.

Ich sollte wirklich aufhören, mich diesen trügerischen Illusionen hinzugeben.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mein Vater die Einschätzung teilen wird, dass ich das Haus noch rechtzeitig vor meinem abendlichen Ausgangsverbot erreicht habe. Ein paar letzte Fleckchen Sonnenlicht überziehen unsere Festung aus Bergen mit einem geisterhaft blauen Schimmer vor dem Hintergrund riesenhafter Schatten, die eine unheimliche Ähnlichkeit mit Hunduns haben.

»Wo bist du gewesen?«, flüstert meine Mutter durch das vergitterte Fenster des seitlich an unser Haus angebauten Küchenverschlags. Ihre Stimme ist so zart und dünn wie der Dampf, der mit einem leisen Zischen aus dem großen Wok aufsteigt, in dem sie Reisbrei rührt. Meine Großmutter sitzt auf einem Hocker hinter ihr und schuppt einen luoyu, einen geflügelten Fisch aus dem Wasser der Nassfelder. Das Licht des Herdfeuers flackert über ihre wettergegerbten Gesichter, als wären sie in einem flammenden Kerker gefangen.

»Im Wald.« Ich reiche meiner Mutter einen Beutel mit Kräutern und wildem Wurzelgemüse durchs Fenster. Das Sammeln dieser Kräuter und Wurzeln ist der eigentliche Grund, warum ich so viel Zeit im Wald verbringe, und so habe ich auch Yizhi kennengelernt.

»Was ist passiert?« Meine Mutter legt den Beutel auf ein hölzernes Regal, ohne den Blick von meinem schmutzstarrenden Äußeren abzuwenden. Widerspenstige graue Haare fallen aus dem ausgebleichten Lumpen, den sie sich um den Kopf gebunden hat, und flattern im kräuselnden Dunst der sichtbar aufsteigenden Hitze.

»Bin hingefallen. Mein Stock ist zerbrochen.« Ich schlurfe über den Steinweg, der die Häuserreihe säumt. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und versuche, nicht auf das mit Tonziegeln gedeckte Dach unserer Nachbarn eine Ebene weiter unten zu stürzen.

»Du kannst von Glück sagen, dass gerade eine Schlacht begonnen hat.« Meine Mutter wirft einen schnellen Blick hinüber zum Haupteingang des Hauses. Die knisternden Herdflammen lassen ihre Augen orange leuchten. »Beeil dich. Sieh bloß zu, dass du deinem Vater in diesem Zustand nicht unter die Augen kommst.«

»Klar.«

»Und wasch deine Sachen. So darfst du nicht aussehen, wenn das Militär kommt.«

Dass sie es so beiläufig erwähnt, versetzt mir einen Stich in die Brust. Sie mag keinen blassen Schimmer von meinen wahren Absichten haben, aber ihr muss klar sein, dass meine Einberufung in jedem Fall meinen Tod zur Folge haben wird.

Sie muss nur zu gut wissen, wie die Sache für meine ältere Schwester geendet hat.

Oder erinnert sie sich vielleicht tatsächlich nicht? Manchmal ist meine Mutter derart gut darin, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, dass es in mir den bangen Verdacht weckt, ich selbst könnte diejenige sein, die den Kopf voller falscher Erinnerungen hat.

»Ich bin mir sicher, dass sie mir dort bessere Kleider geben werden.« Ich richte den Blick auf die dünnen Bündel von Lichtstrahlen, die zögerlich durch das Küchenfenster dringen.

»Aber du musst trotzdem vorzeigbar aussehen.«

Ich stelle mein Gewatschel ein und drehe den Oberkörper, sodass ich ihr direkt ins Gesicht schauen kann.

Meine Attentatspläne ziehen eine gewichtige Folge nach sich, die unbeachtet zu lassen ich mir bisher die größte Mühe gegeben habe: Die Ermordung eines Mannes von Eisernem Adel, eines Piloten mit einem maximalen Geistdruck von über zweitausend – während der menschliche Durchschnitt bei vierundachtzig liegt – , würde auf ganze drei Generationen meiner Familie zurückfallen: meine Mutter, meinen Vater, meinen siebzehn Jahre alten Bruder Dalang, meine Großeltern, meine Tanten, meine Onkel. Sie alle würden zusammen mit mir hingerichtet werden. Weil Piloten wie Yang Guang einfach allzu kriegswichtig sind.

Gib mir einen einzigen Grund, dich zu schützen. Ich starre meine Mutter mit weit aufgerissenen Augen an. Halt mich auf.

Ich brauche nicht mehr als ein Zeichen, dass sie meiner Gnade würdig sind. Ein einziges Zeichen, dass sie mein Leben so wertschätzen, wie sie von mir erwarten, das mit ihrem zu tun.

Da es jetzt keinen Grund mehr gibt, mich zurückzuhalten, mache ich dem Gedanken laut Luft, der mich am meisten beschäftigt. »Sorgst du dich denn ehrlich mehr darum, dass ich vorzeigbar aussehe, als darum, dass du mich in den Krieg fortgibst?«

Das Feuer knistert und knackt hinter meiner Mutter. Sie blinzelt mich durch den Holzrauch und den duftenden Dampf hindurch an. Dann erstrahlt ein Lächeln auf ihrem Gesicht wie eine blühende Wildblume in einem brennenden Ödland. »Deine Augenbrauen – du hast auf mich gehört. Du siehst schön aus.«

Ich reiße den Kopf herum und trotte weiter, auch wenn sich für mich jeder Schritt wie ein Stromschlag anfühlt.

Als hätte sie überhaupt nicht gehört, was ich gesagt habe.

Elektrische Lichter blinken überall im Dorf und erhellen Fenster wie die glühenden Augen der Chrysaliden. Ein leiser Wind weht über die Reisterrassen und verwirbelt den leicht moschusartigen Geruch nach Schilfgras mit dem Duft nach Gebratenem, wie er von den schlichten Abendessen ringsum aufsteigt.

Weizenfarbenes Licht quillt durch die offene Vordertür meines Hauses. Die blechernen Rufe eines Schlachtenkommentators donnern in die hereinbrechende Nacht hinaus, dröhnen aus dem Tablet, das die Regierung von Huaxia unserer Familie zugebilligt hat (auch wenn natürlich nur die Männer freien Zugang dazu haben). Mein Großvater, mein Vater und mein Bruder haben das Ding auf unseren von Fett geschwärzten Esstisch gelegt. Ihre Augen sind auf den Bildschirm gerichtet; in ihnen spiegeln sich die blitzenden Farben von im Kampf aufeinanderprallenden Hunduns und Chrysaliden.

Ich nutze die Gelegenheit, über die Türschwelle zu treten. Eilig steuere ich das Zimmer an, das ich mir seit meinem zweiten nächtlichen Fluchtversuch vor etlichen Jahren mit meinen Großeltern teilen muss.

»… und hier kommt der Zinnoberrote Vogel!«

Ich bleibe so plötzlich stehen, dass ich fast gestolpert wäre. Mein Blut gefriert.

Oh, nicht diese Chrysalis.

Selbst meine von den Chrysaliden regelrecht besessene Familie, die für gewöhnlich jedem Exemplar mit einem großen Namen zujubelt, bewahrt nun ein unbehagliches Schweigen. Niemand will zugeben, dass der Zinnoberrote Vogel im Moment die leistungsstärkste Chrysalis in ganz Huaxia ist. Mit einer Höhe von über fünfzig Metern in ihrer Standardform ist sie die einzige Königsklasse, über die wir verfügen. Aber am Steuer sitzt Li Shimin, der Eiserne Dämon, ein zum Tode verurteiltes Rongdi-Halblut. Im Alter von nur sechzehn Jahren hat er seinen eigenen Vater sowie seine beiden Brüder ermordet. Jetzt ist er neunzehn. Nur aufgrund seines unheimlich hohen Geistdrucks – des höchsten seit zwei Jahrhunderten – wurde seine Hinrichtung auf unbegrenzte Zeit aufgeschoben.

Auch wenn Konkubinenpilotinnen immer in der Gefahr schweben, während der Schlacht zu sterben, ist ihnen der Tod einzig in seinem Fall so gut wie sicher.

Noch nie hat eine Pilotin einen Einsatz mit ihm überlebt.

Bald wird ein Mädchen sterben.

»He!«

Die Stimme meines Vaters reißt mich aus meinen Gedanken. Ich zucke zusammen und klammere mich an der Holzwand fest.

Sein Stuhl kratzt über den Betonboden. Er steht auf, und Schatten legen sich über die Falten in seinem Gesicht. »Warum bist du so dreckig?«

Eisige Schweißperlen sammeln sich unter dem Saum meines Haarlumpens. »Ich bin auf den Reisterrassen hingefallen.«

Ausnahmsweise einmal keine Lüge.

Das Klirren von Geistmetall und explodierendem Qi dröhnt von dem auf dem Tablet übertragenen Livestream herüber. Mein Großvater und mein Bruder schauen ungerührt weiter auf den Bildschirm, als wäre nichts passiert. Mein Vater geht um sie herum und kommt auf mich zugestapft. Sein Dutt, der wegen seines immer lichter werdenden Haares bedauernswert locker geworden ist, wippt gegen seinen Kopf.

»Wenn du nur ja nicht mit einem Jungen rumgemacht hast.«

»Natürlich nicht.« Ich weiche zurück und schlage mir die Schulter an der Tür zum Zimmer meiner Großeltern an.

Eine halbe Lüge. Vielmehr habe ich einem Jungen das Herz gebrochen.

Mein Vater stürmt auf mich zu. Seine vor mir aufragende Gestalt erfüllt mein Gesichtsfeld nun doppelt so groß. »Du solltest besser den Jungfräulichkeitstest bestehen, wenn …«

Dieses eine aufschreckende Wort lässt mich all meine Angst vor ihm vergessen.

»Zum letzten Mal, nichts ist je innen in mir drin gewesen!«, schreie ich. »Wieso bist du nur so besessen davon? Lass das!«

Vor Schock verschlägt es ihm die Sprache, aber ich spüre den maßlosen Zorn, der nun über mich kommen wird.

Ich schlüpfe durch die Schlafzimmertür und schlage sie ihm vor der Nase zu.

»Was hast du gerade zu mir gesagt?« Sein Schrei erschüttert das Haus, und seine Fäuste donnern gegen die Tür. Die Messingklinke klappert so heftig, dass es klingt, als wäre etwas darin zerbrochen.

»Ich wickel mir jetzt die Bandagen von den Füßen!« Ich werfe mich mit dem Rücken gegen die Tür, während ich die Drohung wahr mache. Nicht verbundene Füße sind noch unanständiger als nackte Brüste. Ganz zu schweigen von dem Geruch nach fauligem Fleisch, der möglicherweise eine eigene Art von biologischer Waffe darstellt. Mädchen sollen der Fantasie ihres hübschen und zierlichen Äußeren Nahrung geben, indem sie immer parfümierte bestickte Schuhe tragen und nie vor den Augen eines anderen Menschen, nicht einmal ihres Ehemanns, die Bandagen abnehmen.

Mein Vater nimmt die Fäuste von der Tür, aber er brüllt weiter. Respektlos. Undankbar. Hure.

Das Übliche.

Die Stimme meiner Mutter lässt sich vernehmen, zart wie ein Nebelhauch. Sie versucht, ihn zu beruhigen. Mein Bruder lacht. Mein Großvater hat die Liveübertragung auf die maximale Lautstärke gedreht. In einer Chrysalis stirbt ein Mädchen im Namen der Menschheit.

Ich gehe das Risiko nicht ein, das Schlafzimmer zum Abendessen zu verlassen.

Mein Magen knurrt und blubbert wie der Brei, nach dem er lechzt, aber ich bleibe auf dem Korbstuhl sitzen, auf dem meine Großmutter zu stricken pflegt, und bade meine Füße in demselben Holzeimer, in dem sie einst auf ihr Zerschmettertwerden vorbereitet worden sind.

Siehst du, und genau das ist auch der Grund, warum es keine Rolle spielt, dass du sie in die ganze Sache mit hineinziehst, brummt das faulige, eitrige Zentrum meines Wesens tief drinnen in meinem Kopf.

Ich ziehe den Korkverschluss aus einer der hohen Thermoskannen, die meine Großeltern im Schlafzimmer aufbewahren.

Du bist ihnen vollkommen gleichgültig.

Ich gieße neues dampfendes Wasser in den Eimer. Heilkräftige Blätter und Wurzeln tanzen wild im wirbelnden Strom und färben das Wasser kastanienbraun – wie in einem dunklen Winkel vergessenes Blut.

Du brauchst sie alle nicht zu mögen.

Eine Laterne summt über mir. Schatten regen sich in den schmuddeligen Ecken des Raumes und scheinen heranzukriechen. Ich stelle die Thermoskanne beiseite und starre mit leerem Blick auf das Stroh, auf dem ich schlafe, direkt neben dem Bett meiner Großeltern. Es gibt da ein Sprichwort in Huaxia: Eine wegverheiratete Tochter ist wie zur Tür hinausgekipptes Wasser. Anders als mein Bruder Dalang, der den Familiennamen Wu weitergeben und zeit seines Lebens im Haus bleiben wird, um für unsere Eltern zu sorgen, bin ich dazu geboren worden, nur vorübergehend einen Platz im Leben meiner Familie einzunehmen, etwas zu sein, wofür ein Preis festgelegt und das verkauft wird. Sie haben sich nie auch nur die Mühe gemacht, mir ein eigenes Bett zu geben.

Das Klappern von Essstäbchen in Schalen und das Geplapper von Dalang, wie er von der Schlacht schwärmt, dringen gedämpft durch die Wände. Die Chrysaliden haben gewonnen. Natürlich. Wäre es anders gewesen, hätten warnende Sirenensignale aus den Dorflautsprechern geschallt, um einen Einbruch der Hunduns zu verkünden, und wir würden gen Osten davoneilen, so wie damals unsere Ahnen aus der Provinz Zhou geflüchtet sind.

Ansonsten verliert kaum jemand ein Wort. Ich hoffe, sie denken an mich.

Ich hoffe, dass sie bedauern werden, wie sie meine Schwester und mich behandelt haben, wenn sie sterben. Und im Grab liegen.

Mitglieder von Familien, die zu ihrer kompletten Auslöschung verurteilt werden, bekommen keine Gräber.

Ich zucke zusammen und schiebe die Vorstellung von unseren verwesten Leichen, wie sie von der Großen Mauer herabbaumeln, beiseite.

Die Tür geht auf. Ich fahre in meinem Stuhl zurück und weiß nicht, wo ich hinschauen soll, während ich hoffe, dass meine Augen nicht so rot und geschwollen sind, wie sie sich anfühlen.

Meine Mutter tappt auf ihren eigenen abgebundenen Füßen auf mich zu und hält mir eine Schale Reisbrei hin. Ich nehme sie ihr mit einem linkischen Nicken aus der Hand. Meine kalten Finger legen sich um das heiße Porzellan. Eine Bitterkeit, wie Tränen, strömt mir in den Mund. Meine Mutter setzt sich neben mich ans Fußende des Bettes meiner Großeltern. Mein Magen krampft sich vor Anspannung zusammen.

Was will sie?, blafft ein Teil von mir, während ein anderer bettelt: Halt mich auf.

»Tian-Tian.« Sie spricht mich mit meinem Kindernamen an und zupft an einigen alten Brandwunden an ihren Händen herum. »Du hättest nicht auf diese Weise mit deinem Vater reden sollen.«

»Er hat sich zuerst komisch verhalten.« Ich schaue sie grimmig an, auch wenn ein Gefühl von Scham mir die Kehle zuschnürt und meine Wangen heiß werden lässt. Um mein Gesicht zu verbergen, hebe ich die Schale mit dem Brei an den Mund.

Halt mich auf, donnert mein schwerer Herzschlag. Halt mich auf, halt mich auf.

Meine Mutter sieht mich nur mit einem traurigen Stirnrunzeln an. »Musst du alles immer so kompliziert machen?«

Ich umfasse die Schale fester. »Mama, hast du ehrlich das Gefühl, dein Leben sei einfach gewesen, weil du immer nachgibst?«

»Es geht nicht darum, es einfach zu haben. Es geht darum, in der Familie Frieden zu bewahren.«

Ich lache in die Schale hinein, und das Geräusch bekommt etwas Hartes, einen dunklen, schneidenden Unterton. »Sag ihm, er braucht sich keine Sorgen zu machen. Ich bin nur noch für zwei Tage hier. Dann kann er so viel Frieden haben, wie er will.«

Meine Mutter seufzt. »Tian-Tian, dein Vater empfindet alle Gefühlsäußerungen einfach sehr intensiv. Tief in seinem Innern weiß er, dass du schließlich doch noch reifer geworden bist. Dass du verstanden hast, was wirklich zählt. Er ist stolz auf dich.« Sie lächelt. »Und auch ich bin stolz auf dich.«

Ich hebe reserviert den Kopf. »Du bist stolz auf mich, weil ich mich selbst in den Tod schicke?«

»Du kannst nicht wissen, ob es dazu kommen wird.« Sie meidet meinen Blick. »Du hattest schon immer einen starken Willen. Hat die Prüfmannschaft nicht gesagt, dein Geistdruck könnte womöglich über fünfhundert liegen? Das Sechsfache des Durchschnitts! Und das war vor vier Jahren. Jetzt muss er noch höher sein. Du und Prinzoberst Yang könntet euch als ebenbürtige Partie erweisen. Du könntest seine Eiserne Prinzessin werden.«

»Es gibt nur drei Eiserne Prinzessinnen in ganz Huaxia!« Tränen schießen mir aus den Augen und trüben meinen Blick, sodass ich sie nur noch verschwommen wahrnehme. »Und ihr Geistdruck ist in den Tausendern! Das Ganze ist nur eine höchst unwahrscheinliche Fantasie, die Mädchen die Illusion gibt, überleben zu können!«

»Tian-Tian, sei nicht so laut.« Meine Mutter wirft einen panischen Blick Richtung Tür.

»Ist das auch für dich eine tröstliche Fantasie?«, fahre ich fort. »Hilft sie dir, nachts schlafen zu können?«

Ihre Augen glänzen. »Warum kannst du nicht eingestehen, dass es eine gute Sache ist, was du da machst? Du wirst zur Heldin. Und mit dem Geld könnte Dalang den Brautpreis für eine …«

Ich schmettere die Schale auf den Boden. Das Porzellan zerspringt, und der schleimige Brei spritzt dampfend in alle Richtungen.

»Tian-Tian!« Meine Mutter steht schwankend auf. »Deine Großeltern schlafen hier!«

»Ach ja? Und was werden sie tun?«, brülle ich demonstrativ in Richtung Tür. »Mich schlagen, damit meine frischen Wunden Yang Guang abstoßen? Mich dazu zwingen, im Schweinestall zu schlafen, damit es mein Geruch ist, der ihn davontreibt? Wenn ihr alle das Geld so unbedingt wollt, könnt ihr mir überhaupt nichts mehr antun!«

»Tian …«

»Raus!«

Du kannst so nicht mit ihr sprechen, tadelt mich eine Stimme in meinem Kopf, die quälende Ähnlichkeit mit der Stimme meiner Schwester hat. Sie ist deine Mutter. Die Frau, die dir das Leben geschenkt hat.

Aber eine Mutter, die mich so gründlich enttäuscht und im Stich gelassen hat, ist nicht mehr meine Mutter.

Mir bebt die Brust. Ich beuge mich vor und umklammere mit beiden Händen meine Knie. Von einem heftigen Schluchzen geschüttelt, entringen sich die Worte nur mühsam meiner Kehle. »Ich hoffe, dass wir im nächsten Leben nichts mehr miteinander zu tun haben werden.«

Kapitel 3

Das Leben, das du führen willst

Das nächste Mal, dass irgendwer in meiner Familie freiwillig das Wort an mich richtet, ist am Morgen meiner Einberufung, als laut mein Name gekreischt wird.