Irrflug - Manfred Bomm - E-Book

Irrflug E-Book

Manfred Bomm

4,3

Beschreibung

Ein Sommermorgen auf dem Sportflugplatz Hahnweide bei Kirchheim/Teck. Als die Sekretärin der Motorflugschule zu ihrem Büro fährt, packt sie das Entsetzen: Vor einer Flugzeughalle liegt eine tote Frau, eine zweisitzige Cessna ist im Laufe der Nacht spurlos verschwunden. Die Ermittlungen der Kriminalpolizei führen in die Umgebung des nahen Göppingen, wo einige der Hobby-Piloten wohnen. Dort übernimmt der in kniffligen Fällen erfahrene Kriminalist August Häberle den Fall - ein Praktiker, kein Schwätzer, einer, der Land und Leute und deren Mentalität kennt. Stück für Stück puzzelt er aus einer Vielzahl von Merkwürdigkeiten die wahren Hintergründe des Falls zusammen. Die Spur führt nach Ulm ...

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Titel

Manfred Bomm

Irrflug

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2004 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

6. Auflage 2008

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von Dietmar Stezaly

Gesetzt aus der 9,5/13 Punkt StempelGaramond

ISBN 978-3-8392-3154-8

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Zitat

Nur wer Flügel hat, der wird erkennen, dass es hinterm

Horizont stets weiter geht.

Flieg zu den Wolken und es entschwindet alles in Zeit und Raum, was dir gerade noch wichtig erschien.

Denn diese Welt ist viel faszinierender, als deine Zahlen

und Bilanzen.

Gewidmet deshalb allen, die mit beiden Beinen auf der

Erde stehen und trotzdem in der Lage sind, dem Himmel nahe zu sein.

Danksagung

Wir danken dem Baden-Württembergischen Luftfahrtverband,

dessen Redaktion „Adler“ uns die Vorlage für das Titelbild zur Verfügung gestellt hat.

1

Es roch nach frisch gemähtem Gras. Sie mochte diesen Duft, wenn sie an einem sonnigen Sommermorgen zum Flugplatz fuhr – das Schiebedach offen, das Radio auf SWR 4 gestellt, auf ihren Lieblingssender, der sie mit seinen Oldies an ihre eigene Disco-Zeit erinnerte. Aber das war schon eine Zeit lang her. Angelika Druschkowsky, knapp über 40, bog von der Bundesstraße ab, um jetzt über einen schmalen Asphaltweg, vorbei an ausgedehnten Erdbeerplantagen einerseits und einer Streuobstwiese andererseits, zu den Flugzeug-hallen zu fahren, die sich in eine sanfte Senke geduckt hatten. Der gläserne Tower schien sich beim Näher hinkommen aus der Landschaft zu recken, dann der Windsack, der an diesem Morgen lasch am Masten hing, und zuletzt erst die leicht angeschrägten Dächer der Hangars.

Die Sonne hatte sich bereits weit über die Höhenzüge der Schwäbischen Alb erhoben, die hier wie eine dezent bläuliche Mauer den Weg in Richtung Süden versperrte. Angelika Druschkowsky hatte sich in solchen Momenten schon tausend Mal gewünscht, auch die Pilotenlizenz zu besitzen und einfach über diese Berge hinwegschweben zu können, südwärts zur Donau und über die oberschwäbische Ebene hinweg zum Bodensee. Doch so sehr sie auch von der Fliegerei fasziniert war, hatte ihr letztlich dann doch immer die innere Einstellung gefehlt, wochenlang Theorie zu büffeln und sich der Schulung zu unterziehen. Ganz abgesehen davon, dass die Ausbildung wohl auch ihr Budget stark belastet hätte. Sie betreute seit 10 Jahren die Kunden der Motorflugschule des Baden-Württembergischen Luftfahrtverbandes. Ein abwechslungsreicher Job, der sie mit den unterschiedlichsten Menschen zusammenbrachte. Vormittags war sie die Erste, die auf das Fluggelände kam, das weit außerhalb von Kirchheim lag. Kurz nach ihr trafen auch ihr Chef und der Leiter des flugtechnischen Betriebs ein. Aber erst wenn die junge Fluglehrerin da war, wurde das elektrische Tor des großen Hangars nach oben geschwenkt, in dem elf Sportmaschinen eng beieinander standen. Die Mitglieder der Segelflugvereine hingegen, denen die anderen Hallen gehörten, tauchten erst viel später auf, wenn sich erdnahe Luftschichten genügend erwärmt hatten, um die begehrte Thermik auszubilden.

Angelika Druschkowsky, betont leger gekleidet, weiße Bluse und Jeans, gab sich dem Gedanken hin, über diese traumhafte Landschaft zu schweben und das Gefühl der Schwerelosigkeit zu spüren.

Wenn am Ende der Startbahn der Begrenzungszaun überwunden war, schrumpften die großen und kleinen Nöte. Jeder Höhenmeter brachte sie dem Himmel näher, diesem Universum, diesem unergründlichen Geheimnis, dieser großen Macht und Energie, die nur zu ergründen vermag, wer sich aus der beengten Perspektive befreit. Hinterm Horizont gehts immer weiter, wie es so schön heißt.

Angelika Druschkowsky dachte an all dies, als sie im Gegenlicht der Sonne zur Teck hinüber blickte – zu jener Burg, die nur zwei Kilometer vom Flugplatz entfernt majestätisch auf einem Bergvorsprung thronte. Ein markanter Geländepunkt, an dem sich die Flieger orientierten.

Träume, Wünsche. Für einen kurzen Augenblick, das wurde ihr plötzlich bewusst, spürte sie die Sehnsucht, mitfliegen zu dürfen. Das waren jene Momente, in denen sie es bedauerte, einen so wunderschönen Morgen im Büro verbringen zu müssen. Ihr schien es, als spielten tausend Gedanken in ihrem Kopf verrückt. Schöne Träume, die nur Minuten währten. Gerade so lang halt, wie die Fahrt über den schmalen Asphaltweg, hinüber zum Fluggelände, dauerte.

Von Weitem sah sie die sanften Morgennebel über der Graspiste schweben, im Gegenlicht der Sonne silbern und durchsichtig schimmern. Die Straße führte jetzt in weiten Bögen zu den Gebäuden hinüber. Im linken Augenwinkel nahm die auffallend blonde Frau den Campingplatz wahr, der von dichten Sträuchern begrenzt wurde. Hier, abseits des Flugplatzes, verbrachten in diesen Sommerwochen auswärtige Hobby-Flieger ihre Wochenenden oder den Urlaub. Die Hahnweide, so hieß der Flugplatz, galt seit Jahrzehnten als Eldorado für Segelflieger.

Zwischen dem Tower-Gebäude und der Gaststätte, von deren Terrasse aus man den Flugbetrieb beobachten konnte, ließ Angelika Druschkowsky ihren blauen Golf bis zu einer Schranke rollen, ab der das Betreten des Fluggeländes für Außenstehende verboten war. Hier bog sie nach rechts ab – südwestwärts. Oder, wie die Flieger sagen würden, in Richtung ›drei-eins‹, womit der Kompasskurs 310 Grad gemeint ist. In all den Jahren, seit sie auf dem Fluggelände arbeitete, hatte sie sich den Jargon der Piloten angewöhnt.

Sie hatte jetzt die Vorderseite des Hallengebäudes erreicht, das der Tower mit seinen unterschiedlichen Antennen überragte. Entlang der Start- und Landebahn fuhr sie bis zum nächsten Hallenkomplex weiter. Vor ihr lag die große Asphaltfläche, auf der tagsüber die Sportflugzeuge standen. Jetzt war der Platz menschenleer.

Die Flugplatz-Anlage schien noch in tiefen Schlummer versunken zu sein: Eine verträumte Senke, einerseits von einem weiten Waldgebiet begrenzt, andererseits von den Erdbeerplantagen und Obstbaumwiesen. In der Luft das frühsommerliche Konzert der Vögel. Im Radio spielte ein alter Titel der Bee Gees, als der blaue Golf langsam auf den Hangar der Motorflugschule zurollte.

Doch die Träume nahmen ein jähes Ende, denn als ihr Blick auf den Hangar fiel, der vor ihr im hellen Sonnenlicht lag, traf es sie wie ein Donnerschlag. Ihr Herz begann wie wild zu rasen, sie spürte, wie sich der Schreck in all ihren Gliedern breit machte. Was sie da sah, ließ ihr den Atem stocken. Sie schluckte und kniff die Augen zusammen, um den Blick zu schärfen. Instinktiv nahm sie den rechten Fuß vom Gaspedal, als ob sich etwas dagegen sträubte, näher an die Halle heranzufahren. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen war. Aber heute Morgen, das war nicht zu übersehen, war alles anders.

Während der Golf im Schritttempo ausrollte und ruckelnd zum Stehen kam, versuchte sie, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Hatte sie etwas vergessen? Hatte man ihr am Vorabend etwas gesagt, woran sie sich nicht mehr erinnerte? Wer, so überlegte sie krampfhaft, wer hatte zu dieser ungewohnten Zeit zum Flugplatz kommen wollen? Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Das silberne Schwenktor der Halle, erst vor einem Jahr installiert, stand offen. Drinnen im Hangar parkten die kleinen Sportflugzeuge dicht aneinander. Von Weitem ein Gewirr aus Tragflächen, Höhenrudern und Propellern. Angelika Druschkowsky erkannte, dass eines der Flugzeuge fehlte. Jenes, das ganz vorne gestanden war. Als ob der Flugbetrieb bereits begonnen hätte.

Und dann sah sie auch das Kleiderbündel, das direkt vor der Halle auf dem Asphaltboden lag. Angelika Druschkowsky griff wie in Trance zum Zündschlüssel und startete den Motor wieder, um näher heranzufahren. Sie schaltete das Radio aus und ließ die Seitenscheibe herabgleiten. Vielleicht gab es Geräusche, verdächtige Stimmen. Nein, nichts davon.

Am angebauten Büro-Trakt waren die Rollos noch unten, kein Auto parkte vor dem Gebäude. Da war wirklich niemand. Für einen Augenblick überfiel sie der Gedanke, das Hallentor könnte am Vorabend versehentlich nicht geschlossen worden sein. Doch verwarf sie diese Möglichkeit sofort wieder, denn heute musste schon jemand da gewesen sein. Irgendjemand hatte eine Maschine aus der Halle genommen. Die Blau-Weiße fehlte. Es war die Cessna, die ›Echo-Bravo‹ genannt wurde. Flugzeuge tragen stets den Namen, wie er sich nach dem internationalen Alphabet aus dem Zulassungs-Kennzeichen ableitet. In Deutschland beginnt es mit einem D, dem nach einem Querstrich vier weitere Buchstaben folgen. Die letzten Beiden davon geben dem Flieger den Namen. ›EB‹ steht für ›Echo-Bravo‹.

Und diese ›Echo-Bravo‹ fehlte, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Aber was hatte es mit diesem Kleiderbündel da vorne auf sich? Angelika Druschkowsky ließ, mit weichen Knien und feucht-kalten Händen, ihren Golf näher heranrollen, ohne die Halle und das Gelände daneben aus den Augen zu lassen.

Das Bündel entpuppte sich als Jeans, als eine blaue Jacke, und als Damenschuhe, keine eleganten, sondern eher Turnschuhe. Angelika Druschkowsky trat entsetzt auf die Bremse, der Motor starb wieder ab. Sie sah die dunkelbraunen Haare, den Kopf, das Gesicht. Und das viele Blut, das sich dunkelrot auf der Asphaltfläche abzeichnete.

Sie umklammerte wie gelähmt das Lenkrad. Und blickte auf das, was sie für ein Kleiderbündel gehalten hatte. Es war ein Mensch, eine junge Frau, die eine hässliche Wunde am Hals aufwies, aus der das viele Blut geflossen war.

Die Sekretärin starrte durch die Windschutzscheibe, als habe sie diese Frau, die da vorne lag, soeben mit dem Auto überfahren. Langsam, wie in Trance, versuchte sie auszusteigen. Die Knie zitterten, sie hielt sich mühsam an der offenen Wagentür fest.

„Hallo”, sagte sie zaghaft, „hallo”, ein zweites Mal. Doch die junge Frau, die seitlich zusammengekauert auf dem Asphalt lag, reagierte nicht.

Diese Frau war eindeutig tot.

Angelika Druschkowsky richtete sich wieder auf, blickte in die dunkle Halle. Sie hatte plötzlich Angst, panische Angst. War da jemand? Hatte sich zwischen den Flugzeugen etwas bewegt? Sie blieb wie erstarrt stehen.

Was waren das für Geräusche? Ihre Gedanken spielten verrückt. Ruhig bleiben, redete sie sich ein, ruhig bleiben. Was sie gehört hatte, war zweifellos nur ein Automotor in der Ferne gewesen. Dazwischen zwitschernde Vögel, ein krähender Rabe.

Oder doch nicht. Wurde sie beobachtet? Plötzlich erkannte sie, dass die Metalltür, die sich links des Hallentors befand, halb geöffnet war, irgendwie verbogen. Der Rahmen wies im Bereich des Schlosses einen deutlichen Wulst auf. Hier hatte jemand mit Brachialgewalt die Tür aufgehebelt.

Die Frau schluckte und glaubte plötzlich, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Langsam, wie in Zeitlupe, ging sie die paar Schritte zu ihrem Golf zurück und ließ sich seitlich auf den Fahrersitz sinken, die Beine nach außen gestellt. Sie griff zu ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz lag, um das Handy herauszukramen. Sie holte tief Luft, als sie auf der Tastatur ›110‹ drückte. Der Notruf ging nach Esslingen, zur Polizeidirektion in der Kreisstadt.

Das Chefbüro war ungewöhnlich groß und strahlte die ganze Würde und Eleganz aus, mit der sich Frederik Steinke zu umgeben pflegte: ein Schreibtisch aus massiver Eiche, einige hoch gewachsene Grünpflanzen und ein mächtiger Schrank, in dessen Regalen unzählige Fachbücher standen. Viele Schritte vom Schreibtisch entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite, war eine Sitzgruppe angeordnet. Ebenfalls Eiche massiv, jedoch mit feinstem Leder überzogen. An der Wand hing ein abstraktes Gemälde, das dem Raum den einzigen Farbtupfer bescherte.

Frederik Steinke, knapp über 50, jedoch überaus athletisch und sportlich, braungebrannt und auf den ersten Blick der Prototyp des erfolgreichen Geschäftsmannes, saß hinter seinem Schreibtisch und lauschte ins Telefon, das er mit der linken Hand hielt, während er mit der rechten in einem Aktenordner blätterte.

„Okay”, sagte er knapp, „dieser blöde Sesselfurzer geht mir langsam gewaltig auf den Wecker.”

Steinke unterstrich mit seinem Kugelschreiber einige Zahlenreihen, die er auf einem Blatt gefunden hatte. „Man muss sich mal vorstellen, der schnüffelt jetzt schon die zehnte Woche bei uns rum”, zeigte er sich empört. Er bemühte sich sichtlich, Hochdeutsch zu reden. „Verdammte Abzocker, nie im Leben wirklich ernsthaft gearbeitet und wissen nicht, was es heißt, einen Betrieb zu führen.”

Steinke strich sich jetzt mit der rechten Hand über sein Jackett aus hellem und sündhaft teurem Leder. Es fühlte sich gut an, dachte er, während er der Antwort seines Gesprächspartners lauschte.

„Wann fliegst du?”, fragte er schließlich, um sogleich zufrieden zu nicken und eine weitere Frage nachzuschieben: „Alles klar? Das Wetter scheint ja absolut spitze zu sein.”

Er stand auf und schaute durch die feinen Vorhänge in die parkähnliche Landschaft hinaus, die sein Verwaltungsgebäude umgab. Es war ein altes amerikanisches Militärgelände, aus dem nach der politischen Wende ein Gewerbegebiet entstanden ist – insbesondere für Betriebe der Computer-Branche. Steinke hatte die Chance ergriffen und sein damals bereits gut florierendes Unternehmen aus der drangvollen Enge eines Esslinger Industriegebiets teilweise hierher nach Göppingen verlagert.

„Okay, dann bist du am Spätnachmittag wieder hier”, stellte er fest und wünschte seinem Gesprächspartner noch einen guten Flug. Dann legte er auf und schlug den Aktenordner zu. In diesem Augenblick meldete sich die Stimme seiner Sekretärin über die Sprechanlage. Er drückte einen Knopf und sagte nur knapp: „Ja.”

„Herr Altmann wünscht Sie zu sprechen”, sagte die Frauenstimme.

Der Sesselfurzer. Schon wieder. Er brummte etwas Unverständliches, verbunden mit einem Schwäbischen Fluch, und ließ den Knopf der Sprechanlage wieder los. Tausendmal hatte er sich schon im Stillen gewünscht, diesen Altmann, diesen Beamten der Oberfinanzdirektion Stuttgart, am Kragen zu packen und an die frische Luft zu setzen. Die Betriebsprüfung dauerte jetzt fast ein Vierteljahr und alle paar Tage forderte der Schnüffler neue Unterlagen an. Anfangs hatte ” noch darauf bestanden, dass dies schriftlich zu geschehen hatte. Das aber verzögerte die Prüfung lediglich und führte zu nichts. Nur wenn die Fragen diffizil waren, bat er nun um schriftliche Begründung, um vorsichtshalber seinen Finanzchef und den Steuerberater verständigen zu können.

Der Geschäftsmann knurrte etwas vor sich hin, durchschritt das Sekretariat und ging über den Flur zum Konferenzraum hinüber, das er ohne anzuklopfen betrat.

Erich Altmann, ein korrekt gekleideter Beamter mit schwarzem Schnurrbart und dünn gewordenem Haar, saß an dem sechseckigen Tisch. Auf ihm hatte er mehrere Aktenordner aneinander gereiht. Er erhob sich, als der Firmen-Chef auf ihn zueilte und ihm die Hand schüttelte. Steinke lächelte, wie er das immer tat, wenn er seinen Gesprächspartner von etwas überzeugen wollte. „Behalten Sie doch Platz”, sagte er im verbindlichen Ton. Altmann, das wurde Steinke wieder bewusst, war ebenfalls ein Erfolgstyp. Aber leider auf der Gegenseite. Das konnte jedem, der sich nicht an Recht und Gesetz hielt, gefährlich werden. Und dieser Finanzbeamte hatte in den vergangenen Monaten bewiesen, dass er etwas von seiner Arbeit verstand. Er mochte auch um die 50 sein und konnte demzufolge eine lange Berufserfahrung aufweisen. Nie hatte sich dieser Mann während seiner Tätigkeit bei ›Steinke-Network GmbH & Co. KG‹ bisher provozieren lassen. Er war korrekt und freundlich.

„Tut mir leid, dass ich Sie schon wieder belästigen muss”, sagte Altmann und lächelte ebenfalls, „aber mir sind da ein paar Ungereimtheiten aufgefallen.”

Der Angesprochene verengte die Augenbrauen und verschränkte die Arme. „Sicher nichts, was nicht zu klären wäre”, sagte er und strahlte dabei Gelassenheit aus.

„Na ja”, fuhr Altmann vorsichtig fort, „im Geschäftsleben ist es, soweit ich weiß, ziemlich unüblich, größere Beträge bar zu bezahlen. Sie aber haben in den vergangenen Jahren doch einige Male stattliche Summen abgehoben und laut Buchungsbelegen in diverse ausländische Beteiligungen gesteckt.”

Steinke zögerte. „Das ist kein Geheimnis”, sagte er betont.

„Diese Beteiligungen, wenn ich das richtig sehe”, fuhr der Finanzbeamte fort, „diese Beteiligungen betreffen allesamt Gesellschaften außerhalb der Europäischen Gemeinschaft.”

„Richtig”, bestätigte sein Gesprächspartner und lehnte sich zurück. Altmann besah sich die handschriftlichen Notizen, die er sich auf einem Schreibblock gemacht hatte: „Indien seh’ ich hier, Chile, Nigeria, Namibia und so weiter.”

„Alles Länder mit großem Potenzial für die Computerbranche”, erklärte Steinke, „man muss investieren, die Zeichen der Zeit erkennen – und notfalls auch bereit sein, Geld zu verlieren.”

„Genau das ist der Punkt, Sie scheinen viel Geld verloren zu haben.”

„Um mir des zu sage, hättet Se net monatelang meine Bücher wälze müsse, verehrter Herr Altmann”, erwiderte der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, in den schwäbischen Dialekt verfallend, „des hätt i Ihne gleich sage könne.”

Auf dem Fluggelände Hahnweide waren inzwischen die Rettungsfahrzeuge eingetroffen. Blaulichter zuckten im strahlenden Sonnenschein. Notarzt und Polizei hatten mit ihren Sirenen weithin für Aufsehen gesorgt. Die Fahrzeuge waren um das Tower-Gebäude zum Hallenvorplatz gerast. Dort, vor dem Gebäude des Baden-Württembergischen Luftfahrtverbandes, hatten sich mehrere Dutzend Schaulustige eingefunden. Sie blickten entsetzt auf die braune Decke, die auf dem Asphalt lag und mit der die Leiche einer Frau zugedeckt worden war. Ein Notarzt aus Kirchheim hatte als Todesursache ›Verbluten durch eine große Halswunde‹ diagnostiziert.

Polizeibeamte zogen unterdessen ein rot-weißes Sperrband weiträumig um den Vorplatz und drängten die Neugierigen zurück. Dies waren meist Flugschüler, die ab neun Uhr ihre Praxisstunden absolvieren sollten, aber auch ausgebildete Piloten, die einen Flieger gechartert hatten, oder Camper vom nahen Campingplatz.

Vorläufig jedenfalls durfte kein Flugzeug starten und auch in der Halle nichts verändert werden. Das hatte der ranghöchste uniformierte Polizeibeamte angeordnet, noch bevor die Kollegen der Kriminalpolizei verständigt worden waren.

Er nahm den Leiter der Motorflugschule, Horst Hauf, einen kreidebleichen Mittfünfziger im kurzärmeligen blauen Hemd, zur Seite. „Kennen Sie die Tote?”, fragte der gut beleibte Beamte.

Der Angesprochene schluckte und holte tief Luft. „Nicht namentlich, nein, aber gesehen hab’ ich sie schon mal, glaub’ ich jedenfalls”, sagte er mit leicht bayrischem Akzent.

„Hier auf dem Platz?” Der Beamte machte sich auf einem Blatt Papier, das auf ein Brettchen gespannt war, kurze Notizen.

„Ich denke, ja. Wahrscheinlich war sie Passagier. Wissen Sie, unsere Piloten laden oft jemanden zu einem Rundflug ein.”

Der Polizist nickte verständnisvoll und wischte sich Schweiß von der Stirn. In diesem Moment fuhr ein weißer VW-Kombi mit Esslinger Behördenkennzeichen vor. „Die Kollegen von der Kripo”, sagte der Uniformierte und deutete auf die vier Männer, die aus dem Wagen stiegen. Einer davon, der durch seine Größe alle anderen überragte, kam sogleich auf den Streifenpolizisten zu: „Hallo Schorsch”, sagte er und schüttelte ihm die Hand, „mal ein ganz neuer Tatort.” Der Kriminalist, der ein Praktiker zu sein schien, trug ein kariertes Hemd und eine helle Hose, wirkte jugendlich und sportlich, war braungebrannt. Er kniff in der Helle des Morgens die Augen zusammen und blickte zu der Menschenansammlung hinüber, die sich um das Absperrband drängte. Die drei anderen Kriminalisten, alles junge, schlanke Männer, waren bereits damit beschäftigt, ihre Geräte zur Spurensicherung aus dem Kombi zu laden.

Der Uniformierte wies auf Horst Hauff: „Das ist der Chef hier auf dem Platz.”

„Guten Morgen, ich bin Markus Deutschländer, Kripo Kirchheim”, stellte sich der Kriminalist vor. Er stand wie ein Kleiderschrank in der Landschaft und schaute auf den wesentlich kleineren, jedoch wieselflinken Chef der Motorflugschule hinab. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. „Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung”, ordnete er an, ging die paar Schritte zum Absperrband und stieg drüber. Dort kniete der Notarzt abseits der toten Frau und sortierte seine Utensilien wieder in den Alu-Einsatzkoffer. Deutschländer kannte den Mediziner und nickte ihm zu. „Und?”, fragte er knapp.

„Starke Wunde am Hals”, antwortete der Arzt und klappte seinen Metallkoffer zu.

„Todeszeitpunkt?”

„Noch nicht lange her”, erwiderte der Arzt und stand auf, „drei bis vier Stunden.”

„Welche Art von Tatwaffe vermuten Sie?”

„Schwer zu sagen. Muss die Obduktion ergeben, ein kräftiger Schlag mit einem Werkzeug, mit einer Eisenstange vielleicht.”

Deutschländer verzog die Mundwinkel. „Danke”, sagte er und ging zu dem Uniformierten zurück, der noch immer mit dem Chef der Motorflugschule zusammen stand. „Haben wir eine Tatwaffe gefunden?”, fragte der Kriminalist.

Der Uniformierte zuckte mit den Schultern. „Bisher nicht, aber ich denke, wir müssen weiträumig suchen.”

Horst Hauff schien erst jetzt zu begreifen, welche Dimension der Fall annehmen würde. „Sie sagen Tatwaffe?”, fragte er mit trockener Stimme, „Sie meinen, diese Frau wurde umgebracht?”

„Nach nichts anderem sieht das aus”, erwiderte Deutschländer überzeugt, „das scheint mir ein glasklarer Mord zu sein.”

Frederik Steinke versuchte, gelassen zu bleiben. Eigentlich hätte er an diesem Morgen Wichtigeres zu tun gehabt, als sich mit einem Betriebsprüfer auseinanderzusetzen, der mit einer Geduld und Genauigkeit, wie sie nur ein Finanzbeamter aufbringen konnte, seit Monaten in Akten und Dateien schnüffelte.

Sein Gegenüber, Erich Altmann, hatte sich handschriftliche Notizen gemacht, die mehrere DIN-A-4-Seiten füllten. „Ich sollte noch einige Unterlagen zu den ausländischen Gesellschaften haben”, erklärte der Finanzbeamte und verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln.

„Kein Problem”, entgegnete ihm Steinke, um nach kurzer Pause hinzuzufügen: „Allerdings ist mein Finanz-Experte heute auf Geschäftsreise. Sie werden verstehen, dass ich mich nicht in allen Details auskenne.” Er lächelte verbindlich und fragte nach: „Kaffee?”

Altmann lehnte dankend ab.

„Ich kann Ihnen die Fragen auch schriftlich zukommen lassen”, schlug der Betriebsprüfer vor.

„Da wäre ich Ihnen dankbar”, stimmte der Vorstandsvorsitzende des Computer-Unternehmens zu, um sogleich bewundernd hinzuzufügen: „Wie Sie das schaffen, sich in diesem Wust von Buchungen, Belegen und Reisekostenabrechnungen zurecht zu finden, ist mir schleierhaft.”

Wieder huschte ein Lächeln über das Gesicht des Beamten, der sich nun mit verschränkten Armen auf dem ledergepolsterten Stuhl zurücklehnte: „Wissen Sie, ich muss bei Unternehmen Ihrer Größenordnung naturgemäß Prioritäten setzen. Ob Sie oder Ihre Mitarbeiter mal irgendwo einen falschen Bewirtungsbeleg für zehn Euro fuffzig reingeschmuggelt haben, stört mich nicht sonderlich. Das sind Peanuts im Vergleich zu dem, was heutzutage die Großunternehmen durch Finanztransaktionen dem Zugriff des Staates entziehen. Das sind Milliarden, glauben Sie mir.”

Steinke kniff die Lippen zusammen und nickte zustimmend: „Gar keine Frage. Umso ärgerlicher, wenn die Ehrlichen immer stärker zur Kasse gebeten werden. Sie können sich sicher am besten vorstellen, wie wir seit Jahren unter den Lohnnebenkosten leiden.”

„Ich stimme Ihnen vollkommen zu”, sagte Altmann und faltete seine Notizzettel zusammen, „die Steuergesetzgebung müsste längst rigoros reformiert werden. Doch stattdessen erlässt die Regierung, egal welcher Couleur, Jahr für Jahr neue Bestimmungen, Änderungen, Ausnahmen. Es ist, das kann ich ohne Umschweife sagen, schlichtweg unmöglich, dass ein Finanzbeamter alle diese Gesetze kennt.”

„Demnach also reiner Zufall, wenn der Steuerbescheid korrekt ist”, stellte Steinke mit einem Quäntchen Wut fest.

„Na ja”, Altmann begann, seine innere Verärgerung über den Gesetzgeber zu bremsen, „so pauschal kann man das nicht sagen. Aber ich geb’ Ihnen Recht: Wenn die Angaben auf den Formularen nicht korrekt sind, weil der Bürger sie nicht versteht, dann mag es durchaus vorkommen, dass er letztlich zu hoch besteuert wird.”

Das brachte Steinke in Rage und deshalb steckte der Finanzbeamte seinen Kugelschreiber in die Jackett-Innentasche, um zu zeigen, dass er jetzt eigentlich keine Grundsatzdebatte über Wirtschafts- und Finanzpolitik führen wollte. „So wie Sie, denken sicher Millionen von Bürgern”, versuchte er dann die Wogen zu glätten, „und ich weiß aus meiner jahrzehntelangen Praxis, dass tatsächlich eine riesige Kluft besteht zwischen dem, was draußen in den Betrieben notwendig wäre, und dem, was die Politiker beschließen. Milliarden und Abermilliarden gehen dem Staat verloren, weil es eine Unmenge Steuer-Schlupflöcher gibt. Legale oder halblegale Tricks. Ich kann niemandem verübeln, wenn er sich solcher Methoden bedient. Auch Ihnen nicht.” Altmann hielt kurz inne, lächelte vielsagend, um dann weiterzufahren: „Es gibt Konzerne, die beschäftigen ganze Heerscharen von Wirtschaftsjuristen, die nichts anderes tun, als nach neuen Schlupflöchern zu trachten. Da werden neue Tochtergesellschaften gegründet, Verluste auf dem Papier gemacht, da wird ins Ausland verlagert, wieder zurückverlagert, da werden ruck-zuck, wenn’s plötzlich günstig erscheint, neue GmbHs angemeldet, Geld von einer Tochtergesellschaft zur anderen transferiert oder diese mit Verlust veräußert. Aber wem sag’ ich das …” Altmann brach ab. Steinke schwieg und schien plötzlich in Gedanken versunken zu sein.

Der Finanzbeamte sah die Zeit für ein abschließendes Wort für gekommen: „Und anstatt diesem einen Riegel vorzuschieben, um die Staatsfinanzen wirklich und nachhaltig zu verbessern, werden Steuern erhöht und die kleinen Bürger geschröpft. So ist das. Auch wenn Sie das vielleicht nicht so gerne hören.” Er blickte sein nachdenklich gewordenes Gegenüber an, „aber gäbe es mehr Betriebsprüfer wie mich, die sich nicht auf Peanuts beschränken müssen, sondern wirklich die Zeit haben, den dicken Brocken nachzuspüren, hätte der Staat viele Millionen Einnahmen mehr.”

Altmann stand auf, um die Diskussion nun zu beenden: „Aber vielleicht ist das politisch ja auch gar nicht gewollt”, stellte er mit ein bisschen Resignation in der Stimme fest.

2

Auf der Hahnweide nahm der Menschenauflauf immer größere Ausmaße an. Inzwischen war vom nahen Campingplatz eine Vielzahl von Schaulustigen herübergeströmt. Weil sich das Gelände um den Flugplatz herum auch zum Gassi führen der Hunde anbot, tauchten zunehmend Menschen mit ihren Vierbeinern auf. Die Streifenwagen schienen die Schaulustigen geradezu magisch anzuziehen. Außerdem trafen nun nach und nach weitere Flugschüler ein. Hinzu kamen auch Piloten, die eine Maschine gechartert hatten – entweder zu einem Sightseeing-Rundflug oder aber nur, um Platzrunden zu drehen, deren Anzahl für die regelmäßige Verlängerung der Lizenz gesetzlich vorgeschrieben war.

Zwei junge Polizeibeamte sorgten dafür, dass das rot-weiße Absperrband nicht überschritten wurde. Es war inzwischen in noch weiterem Bogen gezogen worden. Zur Befestigung hatte man jene Metallständer auf die Asphaltfläche gestellt, an denen normalerweise die Bremsklötze für die Flugzeuge baumelten.

Die Frauenleiche, um die herum die Kriminalisten der Spurensicherung den Boden nach möglicherweise verdächtigen Objekten absuchten, war mit einer Decke verhüllt. Horst Hauff, der Chef der Motorflugschule, hatte sich inzwischen von dem ersten Schock erholt. In sein Gesicht war wieder Farbe zurückgekehrt. Als erfahrener Jet-Pilot, der er bei der Bundeswehr einst war, hatte er gelernt, mit allen Situationen fertig zu werden. Dazu gehörte zwar nicht unbedingt ein Mord, doch entsann er sich jener Verhaltensweise, die er auch seinen Flugschülern stets weitergab: Ruhe bewahren.

Er ging auf die vier Flugschüler zu, drei Männer und eine Frau, und gab ihnen zu verstehen, sie sollten ihm in den Schatten folgen, den die Halle zwischen Werkstatt und Bürotrakt warf. „Tut mir leid”, sagte er, „aber vorläufig kann nicht geflogen werden.”

Die vier jungen Leute blickten ihn fragend an. „Ist da heut’ schon ein Unfall passiert?”, wollte die einzige Frau unter ihnen wissen.

„Wir befürchten, es sieht wohl eher nach einem Verbrechen aus.”

Die vier drehten sich instinktiv zu den Schaulustigen um, die sich an der Arbeit der Spurensicherung offenbar nicht sattsehen konnten.

Hauff schlug den Flugschülern vor, sich in den nächsten Tagen telefonisch einen neuen Termin geben zu lassen. Dann ging er dem hochgewachsenen Kriminalkommissar entgegen, der über das Absperrband gestiegen war und sich einen Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte.

Markus Deutschländer kam mit langen Schritten auf ihn zu. „Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?”

Hauff deutete auf den Bürotrakt, vor dem ein verbogener Propeller in den Boden betoniert war, und ging voraus. Dabei sah er im Augenwinkel den Leichenwagen vorfahren.

In seinem kleinen Büro stieß Hauff die Tür zum Zimmer seiner Sekretärin zu, die sich nur mühsam auf ihre Arbeit zu konzentrieren begann, und setzte sich hinter den Schreibtisch. Dem Kriminalisten bot er den Platz davor an.

Hauff stützte sich mit den Unterarmen auf der Schreibtischplatte ab und musterte den Kommissar, der auch im Sitzen wie ein Hüne wirkte.

„Ich steh’ Ihnen selbstverständlich für alles Notwendige zur Verfügung”.

„Ihre Sekretärin hat gesagt, es fehlt ein Flugzeug”, stellte der Hauptkommissar fest und zog ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus dem Brusttäschchen seines karierten Hemdes.

„Ja, die ›Echo-Bravo‹”, bestätigte der Chef der Motorflugschule, „eine Cessna hundertzweiundfünfzig, die Typenbezeichnung. Sie stand wohl ganz vorne in der Halle.”

„Ich geh’ mal davon aus, dass nicht jeder Laie so ein Ding in die Luft bringt.”

Hauff überlegte kurz. „In die Luft vielleicht schon, vorausgesetzt, er kennt sich ein bisschen mit der Technik aus und weiß, wie man den Motor startet und wie die Maschine zu bedienen ist. Man braucht nur genügend Geschwindigkeit, dann wird sie von Druck und Sog fast von allein hochgezogen. Aber zum Landen, würd’ ich sagen, bedarf es eines gewissen Know-hows.”

Der Kriminalist hörte aufmerksam zu. Für die Fliegerei hatte er sich bis jetzt nicht sonderlich interessiert, obwohl seit seiner Tätigkeit in Kirchheim immerhin einer der bekanntesten Segelflugplätze weit und breit zu seinem Zuständigkeitsbereich zählte.

„Nur mal eine Verständnisfrage”, warf er deshalb ein, „die ›Hahnweide‹ ist doch ein Segelfluggelände …”

„Richtig, ja”, Hauff lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen, „es dürfen hier nur Motorflugzeuge starten und landen, die hier am Platz zugelassen sind, keine Fremden also. Erlaubt sind deshalb nur die Schleppflugzeuge für die Segelflieger und die unsrigen, die Schulungs- und Chartermaschinen des Baden-Württembergischen Luftfahrtverbands.” Er machte eine kurze Pause und versuchte zu lächeln: „Wir sind hier, na ja, sagen wir’s mal so, geduldet.”

„Geduldet? Von wem?”

„Von den Segelfliegern”, Hauff versuchte ein Lächeln, „mit denen wir aber im Großen und Ganzen ein freundschaftliches Verhältnis haben, gar keine Frage. Und mit den Gemeinden ringsum haben wir uns auch arrangiert, das heißt, wir halten uns so gut es geht von ihnen fern, um die Lärmbelästigung in Grenzen zu halten.”

„Da gibt’s hin und wieder Ärger?”, hakte Deutschländer nach, zumal er darüber schon mal im ›Teckboten‹ gelesen hatte.

„Was heißt Ärger”, wiederholte Hauff, „die drüben in Reudern rufen manchmal an, wenn einer zu tief übers Wohngebiet geflogen ist.”

Der Kriminalist nickte verständnisvoll und kam wieder auf den Kernpunkt des Gesprächs zurück: „Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, dann kann eigentlich nur ein ausgebildeter Pilot oder ein Flugschüler die Maschine fliegen und landen?”

„Davon gehe ich mal aus.”

Hauff spielte jetzt nervös mit einem Kugelschreiber. „Sie meinen, dass womöglich einer von uns …?”

Deutschländer zuckte mit den Schultern. „Was ich meine und denke, hat gar nichts zu bedeuten. Ich brauch’ Fakten, verstehen Sie? Wie lässt sich eigentlich das schwere Metalltor der Halle öffnen?”

„Ziemlich einfach, elektrisch. Der Schalter befindet sich in der Halle, rechts neben dem Tor.”

„Und einen Hauptschalter gibt es nicht? Ich meine eine generelle Strom-Unterbrechung für den gesamten Komplex?”

Hauff schüttelte den Kopf.

„Das heißt mit anderen Worten”, fuhr der Kriminalist fort, „jeder Kunde von Ihnen weiß, wie man das Tor öffnet?”

„Jeder wahrscheinlich nicht. Aber die meisten. Zumindest jene, die schon mal frühmorgens oder am Abend gekommen sind, wenn ein- oder ausgeräumt wird.”

Der Kommisar machte sich Notizen und überlegte. „Da wuchtet also einer die Eingangstür auf, lässt das Hallentor auffahren und schnappt sich die nächstbeste Maschine, natürlich die vorderste, denn arg viel Zeit, die eng geparkten Flugzeuge zu entwirren, kann er sich wohl nicht nehmen, kann er denn davon ausgehen, dass noch genügend Sprit im Tank ist?”

„Natürlich nicht, nein. Die Piloten, die zurückkommen, tanken nicht auf. Dafür sind die nächsten Piloten verantwortlich.”

Beide Männer erkannten, dass sie auf einen Punkt gestoßen waren, der ihnen rätselhaft erschien.

„Und die Tankstelle?”, fuhr Deutschländer fort, „wo kann man tanken?”

„Ohne Schlüssel überhaupt nicht. Unsere Zapfstelle ist da drüben”, er deutete aus dem Fenster und auf einen verschlossenen Blechkasten, der sich schräg vor der Halle befand, „und den hat der Täter nicht aufgebrochen. Er ist unversehrt.”

Deutschländer war kurz aufgestanden, um den beschriebenen Kasten auch sehen zu können „Wie viel Sprit in der Maschine war, lässt sich natürlich nicht feststellen?”, fragte er.

„Doch, ich denke schon”, erwiderte Hauff zur Verwunderung des Kriminalisten, „jede Maschine hat für die Tankstelle einen eigenen Schlüssel, so dass automatisch registriert wird, wann und wie viel betankt wurde. Und weil jeder Pilot seine Flugzeit minutengenau in eine Liste eintragen muss, aber auch in sein persönliches Flugbuch, was er natürlich exakt tut, weil dies der Stundennachweis für die Lizenzverlängerung ist, deshalb lässt sich relativ einfach ausrechnen, wie viel Sprit gestern Abend noch im Tank der ›Echo-Bravo‹ gewesen sein muss.”

Deutschländer hatte aufmerksam zugehört und atmete auf. Immerhin etwas, dachte er sich. „Wie schnell können Sie das ermitteln?”

„Ziemlich schnell”, sagte Hauff und drückte an seinem Telefon einen Knopf. Seine Sekretärin meldete sich.

„Frau Druschkowsky, können Sie auf die Schnelle ausrechnen, wie viel Sprit die ›Echo-Bravo‹ in den letzten Tagen, sagen wir mal, in den letzten fünf Tagen, getankt hat und welche Zeit mit ihr geflogen wurde?”

Die Sekretärin antwortete prompt: „Ich werd’s versuchen. Wenn alle Zettel da sind, schaff’ ich’s vielleicht bis zum Mittag.”

„Danke”, sagte Hauff und ließ den Knopf los, um sich dann wieder dem Kommissar zuzuwenden: „Wenn wir die letzten fünf Tage nehmen, kriegen wir’s vermutlich einigermaßen genau hin. Es ist nämlich denkbar, dass nicht jeder Pilot ständig ganz voll tankt, aus Gewichtsgründen.”

„Noch eine Frage, nachts kann man von hier nicht fliegen, sehe ich das richtig?”

„Theoretisch natürlich schon, insbesondere, wenn’s mondhell ist, wie jetzt. Nur werden sie ziemlich schnell Orientierungsschwierigkeiten haben, wenn sie keine Nachtflug-Ausbildung haben, und das haben dann doch die wenigsten Privatflieger, zumindest bei uns. Der normale VFR-Flieger, wie der reine Sichtflieger genannt wird, der sich nur an Geländepunkten und hilfsweise an Funknavigationsanlagen orientiert, darf lediglich tagsüber fliegen. Gesetzlich heißt es, von einer halben Stunde vor Sonnenaufgang bis eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang.”

„Und was ist mit Satellitennavigation?”

„Wird natürlich genutzt, als komfortable Navigation, ganz klar. Das ändert aber an den gesetzlichen Vorgaben nichts, wonach ein Sichtflieger bestimmte Sichtverhältnisse haben muss.”

„Wenn ich Sie nun richtig verstehe”, so versuchte Deutschländer zusammenzufassen, „dann ist unser Unbekannter in aller Herrgottsfrühe gestartet, im ersten Morgengrauen – und das dürfte heute kurz nach vier gewesen sein.”

„Davon können wir ausgehen, ja.”

„Und hier draußen wohnt niemand …?”

„Nein. Auch die Wirtsleute von der Kneipe da drüben nicht. Wenn jemand etwas gehört haben kann, dann die Camper, drüben auf dem Campingplatz.”

Deutschländer machte wieder Notizen.

Hauff stützte sich mit dem linken Ellbogen an der Lehne seines Bürosessels ab und fasste sich ans Kinn. „Und die Tote? Ich meine, wie reimt sich das alles zusammen? Glauben Sie, der Pilot hat sie getötet und ist dann davongeflogen?”

Der Kriminalist presste die Lippen zusammen, überlegte und sagte dann: „Man könnte es so sehen. Aber glauben Sie mir, Herr Hauff, ich hab’ schon die merkwürdigsten Dinge erlebt. Mancher Fall entwickelt sich ganz anders, als man es für möglich gehalten hätte.”

„Darf ich Sie fragen, wie’s nun weitergeht? Ich meine, wann können wir den Betrieb hier wieder aufnehmen?” Hauff schaute auf die Uhr. Es war jetzt kurz vor elf und der Tag traumhaft schön, beste Bedingungen zum Fliegen.

„Ich hätte von Ihnen gern die Liste aller Flugschüler und Charterpiloten – mit den Anschriften. Ist dies möglich?”.

„Ja, selbstverständlich.”

„Die Fahndung nach dem Flugzeug ist eingeleitet”, stellte Deutschländer fest, um lächelnd hinzuzufügen: „Mal was ganz Neues. Nicht ein Auto wird gesucht, sondern ein Flugzeug. Alle Flughäfen sind verständigt und auch die kleinen Verkehrslandeplätze.”

Hauff überlegte. „Sie sollten aber wissen, dass man mit einer solchen Cessna auf jeder Wiese runterkommt. Und wenn der Tank einigermaßen voll war, kann das durchaus 300 bis 400 Kilometer von hier entfernt sein.”

„Wir haben eine bundesweite Fahndung eingeleitet und werden auch die Behörden in Österreich, der Schweiz und in Frankreich verständigen. Wir werden sie finden, darauf können Sie sich verlassen.”

„Vergessen sie Tschechien nicht”, ergänzte Hauff.

Draußen auf dem Hallen-Vorplatz knallte die höher gestiegene Sonne inzwischen gnadenlos auf den Asphalt. Die Morgennebel hatten sich längst aufgelöst und einem bläulichen Sommerdunst Platz gemacht, der auf einen hitzigen Tag schließen ließ. Die Burg Teck, die in der Ferne aus der Silhouette der Albkante herausragte, war jedoch deutlich zu erkennen.

Inzwischen hatten die meisten Schaulustigen das Fluggelände wieder verlassen. Nur noch wenige standen dicht am Absperrband und verfolgten die Arbeit der Spurensicherung. Die Beamten waren trotz ihrer kurzärmeligen Hemden schweißgebadet. Nichts hatten die Kriminalisten gefunden, was mit dem Tod der jungen Frau in Verbindung zu bringen gewesen wäre. Keine Gegenstände, keine verdächtigen Fuß- oder Reifenspuren. Der örtliche Leichenbestatter hatte mittlerweile den leblosen Körper in einen Metallsarg gelegt und ihn mit drei seiner Helfer in die Ladefläche des dezent grau-schwarzen Mercedes-Kombis geschoben. Die Leiche musste zur Gerichtsmedizin nach Stuttgart gebracht werden. Der baumlange Kripo-Chef verließ das Gebäude der Motorflugschule und kam auf die Kollegen der Spurensicherung zu. „Erkenntnisse?”, fragte er knapp und kniff im blendenden Sonnenlicht die Augen zusammen.

„Absolut nichts”, sagte einer der Beamten, „wir haben auch im weiteren Umkreis gesucht. Nichts, was eine Tatwaffe sein könnte. Auch kein Hinweis auf einen Kampf.”

Kommissar Deutschländer blickte dem wegfahrenden Leichenwagen nach, der im Sonnenschein glänzte.

„Und dort?” Er deutete auf die aufgebrochene Tür, die im Bereich des Schlosses aus dem Rahmen gehebelt worden war.

„Vermutlich ein Stemmeisen”, erklärte ein anderer Beamter, „aber auch nicht zu finden.”

„Fingerabdrücke?”

„Jede Menge natürlich. Aber da wird sich kaum feststellen lassen, ob auch der Täter welche hinterlassen hat.”

„Das sieht verdammt mies aus”, stellte Deutschländer fest, „aber irgendjemand, verdammt noch mal, müsste doch an so einem Sommermorgen etwas gesehen oder gehört haben. So eine Propellermaschine startet doch nicht lautlos.”

„Sie gehen also davon aus, dass das Verschwinden der Cessna mit dem Tod der Frau zu tun hat?”, fragte ein anderer Beamter nach und verstaute ein Maßband in einem Alukoffer.

„Liegt doch nahe, Kollege. Oder glauben Sie, da kommt eine Frau zu Tode, wie auch und warum auch immer, und ein ganz anderer klaut unabhängig davon ein Flugzeug? Ne, ne, mein Lieber, das eine hat mit dem anderen was zu tun. Und abgespielt hat sich das Ganze im Morgengrauen.” Deutschländer überlegte. „Zumindest Ohrenzeugen müsste es geben. Und wenn jemand etwas gehört hat, dann die Camper da drüben”, er deutete mit dem Kopf in Richtung des jenseits der Hangars gelegenen Campingplatzes.

„Eine Befragung?”, hakte einer der Beamten nach.

„Am besten mit Lautsprecher-Wagen, ich werd’ das veranlassen”, sagte der Kirchheimer Kripo-Chef, während er den bärenstarken Pressesprecher der Esslinger Direktion, einen 1.90-Meter-Mann vom Typ Kleiderschrank, herankommen sah, leger und lässig. Verwaschene Jeans, die Hemdsärmel hinaufgekrempelt. Bald, so befürchtete Deutschländer insgeheim, würden sich Horden von Medienvertretern über den Flugplatz hermachen. Kirchheim war schließlich über die Autobahn A 8 von den Journalisten der Landeshauptstadt Stuttgart in 20 Minuten zu erreichen. Pressesprecher Wilfried Mehldorn konnte davon bereits ein Klagelied anstimmen. Seit zwei Stunden, so berichtete er dem Kripo-Chef, riefen pausenlos Journalisten an. Offenbar habe ihnen irgendjemand einen Tipp auf das Geschehen auf der Hahnweide gegeben. „Halten Sie mir die Jungs vom Leib”, knurrte Deutschländer, „es gibt bei Gott nichts zu sagen, als dass wir die Leiche einer jungen Frau gefunden haben, der vermutlich einer eins über den Schädel gezogen hat.” Deutschländer forderte den Pressesprecher auf, die Journalisten auf eine Pressekonferenz zu vertrösten, die am Nachmittag mit der Staatsanwaltschaft Stuttgart stattfinden würde. Bis dahin, so hoffte der Kriminalist, würde ja wohl auch dieses verdammte Flugzeug gefunden sein.

Deutschländer, der auch den kräftigen Mehldorn weit überragte, ließ den Pressesprecher wortlos stehen, um über die inzwischen glühend heiße Asphaltfläche zum Parkplatz hinter der Halle zu gehen. Dort kam ihm ein Mann mittleren Alters entgegen, einen schwarzen Pilotenkoffer in der Hand, Sonnenbrille, braungebrannt, volles schwarzes Haar, Jeans und weißes kurzärmliges Hemd. Ein Erfolgstyp, dachte sich der Kriminalist. So hatte er sich diese Privatflieger immer vorgestellt. „Was is’n hier los?”, fragte der Ankömmling, ohne den Kriminalisten zu grüßen.

„Heute gesperrt, kein Flugbetrieb”, entgegnete der ebenso wortkarg. Der Mann, dessen forsches Auftreten dem Kriminalisten sichtlich gegen den Strich ging, stutzte und blieb stehen. „Wieso das denn?”

„Polizeiliche Ermittlungen”, sagte Deutschländer und fügte im Weitergehen hinzu: „Fragen Sie Herrn Hauff, der wird sagen, wie’s weitergeht.”

Der Privatpilot schien irritiert zu sein und ging jetzt deutlich langsamer weiter.

Der baumlange Kommissar hatte sich noch ein paar Minuten mit seinen Kollegen der Spurensicherung unterhalten und sich vergewissert, dass die Fahndung nach dem Sportflugzeug tatsächlich bundesweit lief und die Flugsicherungen verständigt worden waren. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass der Unbekannte den Flugverkehr gefährdete, Kontrollzonen missachtete oder durch Sperrgebiete flog. Die Radarlotsen wurden zu erhöhter Aufmerksamkeit angewiesen. Das würde bundesweit, aber auch in den angrenzenden Gebieten, zu Verspätungen im Flugverkehr führen. Allerdings, das war den Experten klar, lange Zeit würde diese Alarmbereitschaft nicht aufrechterhalten werden müssen. Ging man davon aus, dass der Unbekannte im Morgengrauen gestartet und der Kraftstofftank tatsächlich ziemlich voll war, dann müsste ihm spätestens jetzt allmählich der Sprit ausgehen. Doch egal, wo er landete, um aufzutanken – er würde heute auffallen.

Die Gefahr für die Luftfahrt wurde also mit jeder Minute, die verging, geringer. Deshalb machte es auch jetzt keinen Sinn mehr, militärische Abfangjäger aufsteigen zu lassen. Ganz abgesehen davon, dass es auch völlig unklar gewesen wäre, wo sie hätten suchen sollen. Kleinflugzeuge waren an einem solchen Sommertag mit diesen idealen Wetterbedingungen zuhauf unterwegs. Diese Maschinen waren auf den Radarschirmen nichts weiter als kleine Punkte, die sich aber nicht identifizieren ließen.

Die Ermittler beschränkten sich deshalb auf die Kleinarbeit am Tatort und auf die Lautsprecher-Durchsage auf dem Campingplatz. Danach war Deutschländer mit seinem Dienst-VW-Golf über einen schmalen Asphaltweg direkt von der Hahnweide nach Kirchheim zurück gefahren, unter der Autobahn hindurch, vorbei an Kleingärten und den Gebäuden der Wasserversorgungsgruppe. Als er hinter der Bahnbrücke das Stadtzentrum erreichte, blickte er auf die Uhr. Zwölf. Kein Wunder, dass sich der Verkehr staute.

Es dauerte noch eine geschlagene Viertelstunde, bis er die Kriminalaußenstelle in der Max-Eyth-Straße erreichte, ein unscheinbares Gebäude, das sich hinter dem mächtigen Arkaden-Bau der Kreissparkasse in die Front der Stadthäuser einreihte.

Deutschländer öffnete die Gittertür, mit der innerhalb des Gebäudes der Treppenaufgang ins erste Obergeschoss gesichert war. Er ging über den schmalen Flur und sah durch eine geöffnete Tür seinen Kollegen Stefan Knödler am Schreibtisch sitzen. Dieser altgediente Beamte, der nicht nur ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hatte als sein Chef, sondern auch wesentlich kleiner war, strich sich gerade mit der flachen Hand über den Glatzkopf, den nur noch ein schmaler Kranz weißer Haare umgab. Knödler war auf den seitlich stehenden Computerbildschirm konzentriert, drehte sich dann aber auf seinem Bürostuhl um, als Deutschländer am Schreibtisch gegenüber Platz nahm. Die beiden Männer begrüßten sich kurz, worauf Knödler sofort zur Sache kam: „Die Kollegen haben mir am Funk gesagt, dass sie ziemlich ratlos seien. Keine Spur.”

„Nix, aber auch gar nix”, bestätigte der Chef.

„Und auch keine Hinweise auf die Identität der Frau?”, hakte Knödler nach.

Deutschländer lehnte sich einigermaßen erschöpft auf seinem Bürosessel zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, keine Handtasche, nichts in den Hosentaschen, was uns weiterhelfen könnte. Nur der Chef dieser Motorflugschule glaubt sich zu entsinnen, sie schon einmal auf dem Flugplatz gesehen zu haben.”

„Das ist doch schon was”, meinte Knödler und spielte mit einem Kugelschreiber.

„Na ja, da wär’ ich mir nicht so sicher, was glaubst du, wie viele Piloten und Passagiere sich da draußen tummeln …”

„Um ehrlich zu sein, ich hab’ zu diesen Fliegern keinen Draht, spiel’ lieber Tennis.”

„Und was gedenkst du jetzt zu tun?”, wollte Knödler wissen.

„Die Sekretärin vom Flugplatz will mir bis zum frühen Nachmittag eine Liste aller Piloten und Flugschüler ausdrucken, die mit der Motorflugschule zu tun haben. Einer von denen wird ja wohl unsere Tote kennen.”

„Und wie stellst du dir das vor? Wir haben doch kein Foto. Nicht mal als Leiche kannst du sie ablichten – bei den Verletzungen.”

Deutschländer biss sich auf die Unterlippe und blickte auf den Ventilator, der die stickige Büroluft in Bewegung brachte, ohne sie abzukühlen. „Ich weiß, das ist nicht einfach, wir werden die Piloten eben entsprechend befragen. Nach einer Passagierin, dunkelbraune Haare, groß, na ja, irgendeine Beschreibung werden uns die Jungs von der Gerichtsmedizin doch abgeben können.” Er zuckte mit den Schultern, um dann fortzufahren: „Gehst du mit auf eine Pizza?”

Knödler, für seine schwäbische Sparsamkeit bekannt, lehnte wie erwartet ab. Während Deutschländer zur Bürotür ging, rief ihm sein Kollege nach: „Wart’ mal, habt ihr eigentlich überlegt, wie der Täter zum Flugplatz gekommen ist? Ich meine, wenn er’s bei Nacht und Nebel getan hat und dann davongeflogen ist, müsste er entweder hergebracht worden sein oder irgendwo ein Fahrzeug stehen haben.”

Deutschländer drehte sich um. „Mensch, Stefan, du hast Recht.”

„Ich werd’ veranlassen, dass die Kollegen den Parkplatz und das Gelände um die Hahnweide nach abgestellten Autos absuchen.”

Deutschländer runzelte nachdenklich die Stirn. „Du weißt aber hoffentlich schon, was da draußen an so einem Tag wie heute los ist? Spaziergänger mit und ohne Hunde, Segelflieger, Camper – da stehen jetzt Dutzende Fahrzeuge rum. Vielleicht sogar Hunderte.”

„Wir lassen einfach mal alle Kennzeichen notieren”, blieb Knödler hartnäckig und drehte sich mit seinem Bürosessel hin und her.

„He”, entfuhr es dem Kripo-Chef, der wieder ein Stück näher an die Schreibtische herantrat, „du bringst mich auf was. Unser Täter könnte ein Camper sein – ja, einer, der seinen Wohnwagen auf dem Campingplatz stehen hat. Der geht nächtens zur Halle, klaut sich ein Flugzeug, fliegt weg und kommt, wie auch immer, später wieder mit dem Taxi von irgendwoher zurück. Auf einem Campingplatz fällt es überhaupt nicht auf, wenn einer mal ein paar Tage fehlt.”

„Genial”, stimmte ihm sein Kollege zu, „nur übersiehst du eines: Wo liegt der Sinn einer solchen Aktion?”

Deutschländer presste die Lippen zusammen und ging wortlos hinaus. Ihm war heiß.

3

Der schwarze BMW der Siebenerreihe fuhr im Schatten der alten Bäume die ehemalige Militärstraße hinauf. Links und rechts standen die Gebäude, die einst von den in Göppingen stationierten Amerikanern genutzt wurden. Nach der politischen Wende waren die Häuser saniert, umgebaut und erweitert worden. Das ganze Areal wurde inzwischen gewerblich genutzt. Der BMW bog von der Hauptzufahrt ab und rollte auf einen großen Gebäudekomplex zu, der auf dem Platz einer ehemaligen Panzerwaschanlage entstanden war. Mit seinen vier Geschossen überragte er die anderen Gewerbe-Immobilien. Die Architektur der 90er-Jahre, viel Glas und Stahl, war unverkennbar. Das Auto parkte gleich neben dem großzügig gestalteten Portal, das die Bedeutung des Unternehmens symbolisierte.

Der Mann hinterm Steuer, um die 45 Jahre alt, war braungebrannt, trug eine Sonnenbrille und hatte volles schwarzes Haar. Er stieg aus, öffnete die hintere Tür und nahm vom Rücksitz einen schwarzen Pilotenkoffer. Dann verriegelte er den Wagen lässig mit der Schlüssel-Fernsteuerung und ging durch das Portal. Er grüßte die attraktive Empfangsdame, die hinter einer Glasscheibe saß, und ging eiligen Schritts eine Marmortreppe nach oben, die von einem schlichten, jedoch goldenen Geländer umgeben war.

Der Flur im ersten Obergeschoss war lichtdurchflutet. Die linke Seite bestand aus einer Glaswand, die den Blick auf das parkähnliche Gewerbegebiet mit den Kastanien- und Lindenbäumen freigab. Der Mann, der sportlich gekleidet war, eilte an mehreren, unterschiedlich farbigen Türen vorbei, bis er jene am Ende des langen Flurs öffnete und eintrat. Seine Sekretärin, ein junges Mädchen mit kurzen blonden Haaren, saß am Schreibtisch und blätterte in einem Aktenordner. „Hallo Herr Rottler”, lächelte sie, um kurz zu stutzen und dann hinzuzufügen: „Ich dachte, Sie sind heut’ gar nicht da.”

Rottler durchquerte das großzügig gestaltete Büro, vorbei an üppigen Philodendron-Pflanzen und über einen dicken Teppich, um zu einer weit offen stehenden Tür zu gelangen. „Hat sich zerschlagen”, antwortete er knapp, verschwand im nächsten Büro und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Der Raum bestand an zwei Seiten fast nur aus Glaswänden, an die die Äste der Laubbäume nahe heranreichten. Den Schreibtisch hatte Rottler so aufstellen lassen, dass er von seinem Platz aus in diese Parklandschaft hinausblicken konnte. Hinter ihm stand eine lederne Sitzgruppe, die in einer Ecke von einem mächtigen Bücher- und Aktenregal umgeben war. Rottler ging zu einem Schrank und öffnete ein Türchen, hinter dem ein Tresor zum Vorschein kam. Auch dessen Tür entriegelte er und schob seinen Koffer hinein. Dann verschloss er beides wieder. Er ließ sich, schwer atmend, in seinen Chefsessel sinken und drückte an seinem multifunktionalen Telefon einen Knopf.

Es dauerte keine zwei Sekunden, da hörte er die Stimme eines Mannes, die ihm vertraut war. „Ja?”

„Ich bin’s, es ist schief gelaufen.”

„Was?” Die Stimme verriet Nervosität.

„Flugverbot auf der Hahnweide. Polizei und Kripo. Vergangene Nacht ist irgendein Verbrechen geschehen”, beschied Rottler ihm kurz.

„Was heißt Verbrechen? Und was hat das mit dir zu tun?”

„Gar nichts. Nur so viel, dass man heut’ auf der Hahnweide nicht fliegen darf. Die Spurensicherung hat alles abgeriegelt.”

Durch die Leitung war das schwere Atmen des Gesprächspartners zu vernehmen.

„Und jetzt?”, fragte er schließlich.

„Neuer Termin, lässt sich nicht vermeiden.”

„Dann sag’ aber Bescheid”, knurrte der andere, „aber denk’ dran: Auf dem üblichen Weg, verstanden?”

„Hab’ ich doch schon erledigt, auf der Herfahrt.”

Rottler wollte gerade die Aus-Taste drücken, als sich sein Gesprächspartner noch mal meldete: „Ach ja, dieser Sesselfurzer will was von uns.”

„Altmann?”, hakte Rottler nach, als wüsste er nicht längst, wie der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens den Finanzschnüffler seit Monaten verächtlich betitelte.

„Hat heute schon irgendwas von Bargeschäften geredet, die ihm aufgefallen sind“.

Rottler kniff die Augen zusammen und blickte auf den Lautsprecher des Telefonapparats. „Und jetzt?”

„Ich habe ihn angewiesen, die Fragen schriftlich zu fixieren. Er weiß, dass du heute nicht da bist.”

„Okay. Dann werden wir sie auch schriftlich beantworten. Das verzögert die Sache erst mal. Lassen wir ihn schmoren.”

Rottler stand auf und ging zu einer der großen Fensterwände hinüber. Er holte tief Luft und schaute durch das grüne Blätterkleid der Bäume zum sommerblauen Himmel hinauf. Das wäre heute ein traumhafter Tag zum Fliegen gewesen, dachte er bei sich.

In den Mittagsnachrichten der Rundfunkstationen waren Kurzmeldungen über das Verbrechen auf der Hahnweide nun landesweit verbreitet worden – verbunden mit der Fahndungsmeldung nach dem Flugzeug. Das Landeskriminalamt hatte außerdem bundesweit die Medien verständigt. Offenbar wurde das Ereignis von den Journalisten dankbar aufgenommen, zumal es nicht alltäglich war, dass ein Flugzeug gesucht wurde. Außerdem passte das Ereignis zu der negativen Grundeinstellung, die die Medien zur Privatfliegerei hatten – aus reiner Unkenntnis, wie die Hobby- und Geschäftspiloten seit Langem verärgert feststellten. Denn was da meist geschrieben und verbreitet wurde, ließ nur erkennen, dass die Autoren keinerlei Ahnung von der Materie hatten, sich aber erdreisteten, die öffentliche Meinung gegen die Fliegerei aufzuhetzen.

Schon deshalb war sich Kripo-Chef Markus Deutschländer ziemlich sicher, dass der Fall in den Medien entsprechend aufgebauscht werden würde. Ein Umstand, der ihm bei den Ermittlungen zugute kam. Wenn dieses Flugzeug irgendwo gelandet war, dann gewiss nicht unbemerkt. An einem solchen Sommertag hielten sich genügend Menschen in freier Natur auf. Und irgendwo musste die Maschine inzwischen stehen. Wenn sie nicht gar abgestürzt war. Aber dies wäre erst recht aufgefallen.

Deutschländer hatte wieder eine Pizza mit Knoblauch gegessen. Sein Kollege Knödler, der sich nur schnell bei einem Metzger einen Leberkäswecken besorgt hatte, stellte dies sofort naserümpfend fest, als der Kripo-Chef nach der kurzen Mittagspause das Büro betrat.

„Esslingen will, dass wir eine Sonderkommission gründen”, teilte Knödler seinem sichtlich verwunderten Chef mit, der sich in seinen Bürosessel sinken ließ.

„Hm”, machte er nachdenklich.

„Wegen der landesweiten Bedeutung, Luftfahrt und so”.

„Da will doch nicht etwa irgendein Schwachkopf einen terroristischen Hintergrund konstruieren?”

„Doch, doch”, entgegnete Knödler, „es soll in Medienberichten bereits davon die Rede gewesen sein. Du weißt ja, 11. September und so. Oder der Verrückte, der im Januar um die Hochhäuser von Frankfurt rumgeschwirrt ist.”

„Wenn unser Täter so was hätte tun wollen, hätt’ er’s getan, bevor auch nur ein Mensch den Diebstahl des Flugzeugs bemerkt hätte. Denn spätestens jetzt”, Deutschländer schaute auf die Armbanduhr, „ach, was, schon vor zwei, drei Stunden, ist dem Kerl der Sprit ausgegangen.”

Deutschländer wusste, dass es keinen Sinn machte, dem Chef in der Esslinger Direktion zu widersprechen. Er rief ihn deshalb an und ließ sich Instruktionen geben und erfuhr, dass ihm der Kriminalrat die Leitung der Kommission übertrug, die aus einem Dutzend Beamten bestehen sollte. Die meisten davon würden von Esslingen nach Kirchheim kommen. Und zwar sofort.

Weil in den beengten Räumlichkeiten der Kriminal-Außenstelle natürlich kein Platz für eine Sonderkommission war, hatte man bereits vor geraumer Zeit Abhilfe geschaffen: Rund zwei Kilometer entfernt beim Polizeirevier in der Dettinger Straße. An die dortige Jugendstil-Villa, die sich inmitten einer parkähnlichen Anlage befand, war ein großer Konferenzraum angebaut worden, der alle logistischen Voraussetzungen für die Arbeit einer Sonderkommission bot. Deutschländer rief bei den uniformierten Kollegen an und bat sie um Unterstützung bei der Vernetzung diverser Computer. Unterdessen schob ihm Knödler drei gefaxte Blätter über den Tisch. „Die Piloten-Liste von der Hahnweide.“

Deutschländer beendete das Telefongespräch und überflog die Papiere. Er schätzte, dass annähernd 200 Namen samt Adressen und Telefonnummern aufgelistet waren. Nicht nur lizenzierte Piloten, sondern auch zahlreiche Flugschüler, denen man auf der Hahnweide bereits zutraute, eine Maschine allein fliegen zu können.

„Oh Gott”, entfuhr es ihm resignierend, „da sitzen wir ja nächstes Jahr noch dran.”

„Ich hab’ aber auch was Erfreulicheres”, sagte Knödler und lehnte sich lächelnd zurück, „die Lautsprecher-Durchsage auf dem Campingplatz hat tatsächlich etwas erbracht. Zwei Männer und eine Frau haben den Flieger starten hören. Sie sind sich ganz sicher. Allerdings gehen die Ansichten über die Uhrzeit auseinander. Während die Männer behaupten, es sei um halb fünf gewesen, meint die Frau, es sei kurz vor vier gewesen.”

Deutschländers Gesicht erhellte sich. „Ist doch schon was. Aber gesehen hat den Flieger keiner?”

„Nein. Allerdings hat sich einer der Männer, er ist Segelflieger und kennt sich in der Fliegerei aus, noch darüber gewundert, dass schon so lange vor Sunrise, wie er sich ausdrückte, also vor Sonnenaufgang, ein Flugzeug starten darf. Aber gefährlich sei dies ja nicht, es habe ja schon der Morgen gegraut. Sei halt ein Verstoß gegen die Luftverkehrsordnung.”

Deutschländer überlegte einen kurzen Moment. „Und wie war das jetzt mit dem Erreichen des Flugplatzes? Das mit den Autos hat zu nichts geführt?”

„Die Kollegen haben über 50 Kennzeichen notiert, werden derzeit abgecheckt”, berichtete Knödler.

„Wir müssen unsere öffentlichen Suchmeldungen präzisieren und ergänzen”, stellte Deutschländer fest, „wir müssen fragen, ob jemand in der Nacht verdächtige Personen gesehen hat, die sich im Bereich der Hahnweide aufgehalten haben.”

Knödler machte sich Notizen. „Ich werd’ den Ö drauf anspitzen”, erklärte er und meinte damit den Beamten, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig war, Wilfried Mehldorn.

„Und jetzt will ich von diesem Chef der Motorflugschule wissen, wer ihm von diesen Personen auf seiner Liste ein bisschen merkwürdig erscheint. Und ob er sich, verdammt noch mal, nicht doch entsinnen kann, wem er die Tote am ehesten zuordnen würde.” Er machte eine Pause und fügte hinzu: „Von der Gerichtsmedizin noch keine Nachricht?”

Knödler schüttelte den Kopf.

„Die sollen uns so bald wie möglich eine detaillierte Personenbeschreibung geben. Ruf dort mal an. Ich fahr’ noch mal zur Hahnweide raus.” Deutschländer faltete die drei Fax-Zettel zusammen und verließ den drückend heißen Raum.

4

Altmann, der Finanzbeamte, der sich auf die Prüfung von Konzern- und Firmengeflechten spezialisiert hatte, war mit dem Fortschritt seiner Arbeiten bei ›Steinke Network GmbH & Co. KG‹ zufrieden. Ein Unternehmen dieser Größenordnung stellte ihm ein eigenes Büro zur Verfügung, in dem er sich monatelang in Buchungen und Daten vertiefen konnte. Manchmal schien es ihm dann so, als gehöre er schon zum Personal. Er benutzte die Kantine und holte sich Kaffee am Automaten. Alles natürlich gegen Bezahlung. Darauf legten er und seine Dienststelle allergrößten Wert. Bloß keine Abhängigkeiten, auch nicht andeutungsweise, aufkommen lassen. Nicht den geringsten Verdacht der Bestechung. Altmann, der gleich nach der Realschule die Laufbahn des Finanzbeamten eingeschlagen hatte, war überaus korrekt. Sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn ließ ihn, wenn es sein musste, auch mal gnadenlos durchgreifen. Steuern sollten nicht nur die kleinen Bürger zahlen, sondern auch die Großen, pflegte er oft zu sagen. Er war deshalb froh, sich nicht auf die Kleinbetriebe, auf die Handwerker oder Mini-Selbstständigen, stürzen zu müssen. Er wusste nur zu gut, dass denen nur wenig Spielraum und vor allem Zeit blieb, sich der vielen legalen und meist illegalen Tricks zum Steuersparen zu bedienen. Das waren rechtschaffene Menschen. Doch in den großen Konzernen, in den unübersichtlichen Firmengeflechten, da wurde jede Möglichkeit, und sei sie scharf am Rande der Legalität oder schon ein bisschen in den Grauzonen darüber, hemmungslos ausgeschöpft, um dem Staat nichts überweisen zu müssen.

Altmann kannte sich in den Gesetzen ebenso aus, wie in den Machenschaften der Wirtschaft. Er las eifrig die Nachrichten- und Wirtschaftsmagazine, verfolgte die entsprechenden Fernsehsendungen und legte sich Akten an. Manchmal, das wusste er aus Erfahrung, reichte auch schon ein aufmerksamer Blick aus dem Fenster seines ihm zugewiesenen Büros, um Ungereimtheiten aufzudecken. Einmal hatte er verwundert feststellen müssen, wer regelmäßig hinterm Steuer angeblicher Firmenwagen auf das Areal gefahren kam. Auf diese simple Weise waren gleich mehrere Großlimousinen und ein Porsche ins private Eigentum von Familienangehörigen der Manager zurückgestuft worden. Altmann hatte im Laufe der Jahre geradezu detektivische Fähigkeiten entwickelt. Er trat auch nie als der sture Beamte auf, sondern zeigte sich in den Gesprächen mit den Führungskräften der Betriebe zuvorkommend und freundlich. Im Grunde seines Herzens war er ein Finanzexperte, dem keiner ein X für ein U vormachen konnte. Das hatte auch dieser Steinke schon zu spüren bekommen. Auch für Altmann war es ungewöhnlich, wie atemberaubend schnell dieses Unternehmen expandierte. Das erinnerte ihn zwangsläufig an die dramatischen Pleiten, die in jüngster Zeit gerade in der Computerbranche zu beklagen waren. Steinke, das war den Büchern zu entnehmen, hatte schon frühzeitig damit begonnen, kleinere Betriebe aufzukaufen, um sich selbst an die Spitze der Branche zu bringen. Es schien so, als spiele er im gnadenlosen Verdrängungswettbewerb tatsächlich eine entscheidende Rolle.

Während er sich darüber Gedanken machte, blickte er auf das weitläufige Firmen-Areal hinaus, das sich am Rande dieses ehemaligen Militärgeländes befand. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen aufgeschlagene Aktenordner. Das Unternehmen hatte ihm zwar einen Computer zur Verfügung gestellt, ohne ihm jedoch den Zugriff auf die Firmendaten zu ermöglichen. Der Rechner diente nur dazu, die ihm übergebenen Datenträger öffnen zu können. Ihm waren, darüber ärgerte sich Altmann seit Langem, gesetzlich enge Grenzen gesetzt. Die ›Gegenseite‹, das hatte er oft schon seinen Vorgesetzten beklagt, bediene sich modernster Technologien, während er als staatlicher Prüfer noch auf dem Stand der letzten zwanzig Jahre verharren musste. Der Gesetzgeber hatte einfach nicht mit der Entwicklung Schritt gehalten. Aber dieses Los teilte Altmann auch mit seinen Kollegen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Das Klopfen an der Tür brachte ihn wieder in die Realität zurück.

Vor ihm stand der Vorstandsvorsitzende persönlich. Lächelnd, der Optimist in Person, dachte sich der Beamte und stand höflichkeitshalber auf.

„Behalten Sie Platz”, sagte Frederik Steinke, schloss die Tür hinter sich und setzte sich an den seitlich zu einer Arbeitsplatte abgerundeten Schreibtisch.

„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so störe”, begann Steinke, als sei er nicht der erfolgreiche Boss, sondern ein Mitarbeiter, der um eine Gehaltserhöhung bat.