Irrlicht 53 – Mystikroman - Eve Tarbot - E-Book

Irrlicht 53 – Mystikroman E-Book

Eve Tarbot

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Beschreibung

Der Liebesroman mit Gänsehauteffekt begeistert alle, die ein Herz für Spannung, Spuk und Liebe haben. Mystik der Extraklasse – das ist das Markenzeichen der beliebten Romanreihe Irrlicht: Werwölfe, Geisterladies, Spukschlösser, Hexen und andere unfassbare Gestalten und Erscheinungen erzeugen wohlige Schaudergefühle. Unschlüssig stand die Studentin da, den Blick zur Decke gerichtet. Sie hoffte, daß sich das Knarren nicht wiederholte, aber es kam doch dazu. Glynis schluckte aufgeregt. Hagelkörner schienen auf ihre Wirbelsäule zu rieseln. Langsam setzte sie sich in Bewegung, schritt den düsteren Gang entlang und blieb vor der Treppe stehen, die zum Speicher hinaufführte. Ihre Finger krampften sich um den Handlauf. Tu's nicht! warnte sie eine Stimme. Geh da nicht hinauf! Es ist gefährlich! Doch sie setzte wie in Trance ihren Fuß auf die erste Stufe… zweite Stufe… dritte Stufe… Gespannt sah sie auf die geschlossene Holztür am Ende der Treppe. Was würde sie sehen, wenn sie die Tür öffnete? Welche Gefahr lauerte auf sie? »Tot?« fragte Glynis Windom entsetzt. Der Arzt, ein weißhaariger Mann mit randloser Brillle und trüben Augen, nickte bedauernd. »Aber… aber wieso denn?« stammelte Glynis und fuhr sich mit zitternden Fingern durch das sandfarbene Haar. Ihre dunklen Samtaugen schwammen in Tränen. »Wie ist so etwas möglich, Dr.

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Irrlicht – 53 –

… und er kehrte nicht zurück

Eve Tarbot

Unschlüssig stand die Studentin da, den Blick zur Decke gerichtet. Sie hoffte, daß sich das Knarren nicht wiederholte, aber es kam doch dazu. Glynis schluckte aufgeregt. Hagelkörner schienen auf ihre Wirbelsäule zu rieseln. Langsam setzte sie sich in Bewegung, schritt den düsteren Gang entlang und blieb vor der Treppe stehen, die zum Speicher hinaufführte. Ihre Finger krampften sich um den Handlauf. Tu’s nicht! warnte sie eine Stimme. Geh da nicht hinauf! Es ist gefährlich! Doch sie setzte wie in Trance ihren Fuß auf die erste Stufe… zweite Stufe… dritte Stufe… Gespannt sah sie auf die geschlossene Holztür am Ende der Treppe. Was würde sie sehen, wenn sie die Tür öffnete? Welche Gefahr lauerte auf sie?

»Tot?« fragte Glynis Windom entsetzt.

Der Arzt, ein weißhaariger Mann mit randloser Brillle und trüben Augen, nickte bedauernd.

»Aber… aber wieso denn?« stammelte Glynis und fuhr sich mit zitternden Fingern durch das sandfarbene Haar. Ihre dunklen Samtaugen schwammen in Tränen. »Wie ist so etwas möglich, Dr. Poor?«

Eine Welt stürzte für die junge hübsche Frau ein. Tot! Tom Duggan ist tot! schrie es in ihr. Tom lebt nicht mehr! Ihr Geist revoltierte, lehnte sich gegen diese furchtbare Nachricht auf.

Sie hatte das Gefühl, die Seele würde aus ihrem Körper fließen und zu ihren Füßen im Boden versickern. Eine unendliche Leere breitete sich in ihr aus. Das Leben verlor auf einmal jeglichen Sinn für sie, hatte keinen Inhalt mehr.

Tot! Tom Duggan ist tot!

Das war eine schreckliche Katastrophe. Schlimmer und schmerzhafter hätte das Schicksal sie nicht treffen können.

Tom ist nicht mehr!

Es wollte ihr vor Schmerz das Herz zerreißen. Fassungslos starrte sie den Arzt an und wartete auf eine Erklärung, doch der alte Doktor hob nur die Schultern und sagte: »Es tut mir leid.«

»Mein Gott, das kann doch nicht alles sein, was Sie dazu zu sagen haben, Dr. Poor«, stieß Glynis erschüttert hervor.

Der Arzt seufzte schwer. »Manchmal kriegen wir unsere Grenzen aufgezeigt, Miß Windom. Damit wir niemals zu übermütig werden, gibt es für uns Menschen immer wieder einen Dämpfer, der uns niederdrückt, der uns klarmacht, daß wir nur ein winziges Rädchen in einem riesigen Gefüge sind – eigentlich machtlos, vor allem, wenn erst der Tod die Bühne unseres Lebens betritt.«

»Aber wieso so plötzlich, Dr.

Poor?«

»Wir wissen nicht, wann unsere Uhr abläuft, Miß Windom. Der eine ist früher dran, der andere später. Es ist falsch, zu glauben, daß wir das irgendwie beeinflussen können. Es ist uns auch vorausbestimmt, ob wir auf ein Medikament ansprechen oder nicht. Alles wurde dort oben für uns sorgfältig geplant.« Er wies zur Decke und meinte den Himmel. »Wir können es nur hinnehmen, wie es kommt.«

»Tom war fünfundzwanzig.«

»Da trifft es einen natürlich besonders hart. Bei alten Menschen muß man damit rechnen, daß ihr Lebenslicht eines Tages erlischt. Bei so jungen Menschen aber ist es ein Schock.«

»So jung… stirbt man doch nicht einfach…«

»Es können sogar Säuglinge sterben, Miß Windom.«

»Aber Tom war gesund, ein sportlicher junger Mann, stark, niemals krank. Sind Sie sicher, alles für ihn getan zu haben, Dr. Poor?«

»Ich kann verstehen, daß Sie jetzt irgend jemanden suchen, dem Sie die Schuld an dieser Katastrophe zuschieben können, doch glauben Sie mir, Miß Windom, niemand hat Schuld.«

»Ich… ich möchte zu ihm!« stieß die blonde Frau heiser hervor. Sie biß sich auf die Unterlippe, war blaß und spürte, wie sie wankte.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das gestatten soll.«

»Ich muß zu ihm, ich muß ihn sehen, muß Abschied von ihm nehmen.«

»Ich befürchte, daß Sie den Schmerz nicht aushalten.«

»Besteht Hoffnung, daß ich auch sterbe, Dr. Poor?« fragte Glynis.

»Sagen Sie doch nicht so etwas Furchtbares, Miß Windom.«

»Es würde mir nichts ausmachen… Was habe ich denn noch, wofür es sich zu leben lohnt?«

»Wie können Sie nur so eine Frage stellen? Was ist mit Ihren Eltern? Sie lieben sie doch. Was ist mit Ihrem Bruder? Sind das nicht Menschen, für die es sich zu leben lohnt?«

»Ja, Doktor, ich liebe meine Eltern und meinen Bruder, aber sie können mir Tom nicht ersetzen.«

»Das Leben geht weiter«, versuchte der Arzt sie zu trösten. »Irgendwann werden Sie Tom Duggan wiederbegegnen. Es wird ein anderer Mann sein, aber Sie werden in ihm Ihren Tom erkennen. Die, die von uns gehen, sind nicht für immer für uns verloren. Sie nehmen eine andere Gestalt an und nehmen an unserem Leben wieder Anteil.«

»Das glaube ich nicht.« Glynis schüttelte heftig den Kopf.

»Es ist aber so.«

»Das behaupten Sie, ein Arzt? Hört für Sie ein Mensch mit dem Tod nicht zu existieren auf? Ihr Berufsstand kann mit dem Begriff Seele doch nichts anfangen. Man sieht sie nicht, sie ist kein Organ. Kein Serum kann sie beeinflussen, kein Chirurg kann an ihr herumschneiden.«

»Wir wissen dennoch, daß der Mensch eine Seele hat, Miß Windom.«

»Wo sitzt sie? In unserem Kopf, in der Brust oder im Herzen?«

»Die Seele ist überall. Unter unserer Haut, in unseren Knochen, in jeder einzelnen Haarspitze. Für mich ist die Seele das, was ich zum Beispiel von Ihnen sehe. Was ich anfassen kann, das ist der Mensch.«

Glynis strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und mit dem Handrücken wischte sie die heißen Tränen ab, die über ihre Wangen rannen. Sie verlangte noch einmal, Tom zu sehen, und Dr. Poor trat seufzend zur Seite.

Die Frau griff nach dem Türknauf. Er war kalt, und diese Kälte floß in ihren Arm. War es die Kälte des Todes, die sie spürte? Ein eisiger Schauer durchlief sie.

Beinahe hätte sie die Willenskraft nicht aufgebracht, den Knauf zu drehen. Sie hatte Angst vor dem, was sie sehen würde, wenn die Tür zur Seite schwang.

Aber sie mußte von Tom Abschied nehmen, auch wenn es ihr dabei das Herz abdrückte. Tom… Zum letztenmal würde sie ihn sehen, dann nie mehr wieder. Sie glaubte nicht, was Dr. Poor gesagt hatte. Sie wußte es besser als der Arzt, daß Tom für sie verloren war. Kein anderer Mann konnte jemals seinen Platz einnehmen. Die Lücke, die Toms Hinscheiden gerissen hatte, würde sich niemals schließen. Niemals!

Ich bleibe dir treu, Tom! dachte Glynis. Uber den Tod hinaus halte ich dir die Treue. Du warst ein so wunderbarer Mensch, wie es ihn auf dieser großen Welt kein zweites Mal gibt. Ich möchte mich nicht mit weniger begnügen. Du bist unersetzlich, Tom Duggan.

Sie drehte endlich den Knauf, die Tür bewegte sich langsam zur Seite und gab den Blick auf ein großes Bett frei. Tom lag darin. Er schien friedlich zu schlummern.

Nur blaß war er, so furchtbar blaß.

Glynis trat ein. Toms Eltern knieten zu beiden Seiten des Bettes und beteten. Mrs. Duggan schluchzte ab und zu verzweifelt. Glynis ging zu ihr. Jeder Schritt fiel ihr unsagbar schwer.

Sie konnte den Blick nicht von Toms blassem Gesicht wenden. Dieses traurige Bild würde sich für alle Zeiten in ihr Gedächtnis einprägen, das spürte sie.

Wann immer sie in Zukunft an Tom Duggan denken würde, würde nicht der lebende Tom, sondern der tote vor ihrem geistigen Auge erscheinen. Sie trat neben Mrs. Duggan. Ihre Knie zitterten, und sie befürchtete, ohnmächtig zu werden.

Toms Mutter bemerkte, daß jemand neben ihr stand. Sie ließ die gefalteten Hände sinken und wandte langsam den Kopf. Mit rotgeweinten Augen sah sie Glynis an. Ihr Gesicht wurde hart, Haß loderte in ihrem Blick.

»Du wagst es, dieses Zimmer zu betreten?«

»Aber Mrs. Duggan, Tom und ich waren…«

»Du hast die Unverfrorenheit, nach allem, was geschehen ist, hierher zu kommen?«

»Als ich hörte, daß es schlecht um Tom steht…«

»Geh! Geh, Glynis Windom! Und laß dich in diesem Haus nie wieder blicken!«

»Ich verstehe nicht, warum Sie so häßlich zu mir sind, Mrs. Duggan.«

»Das verstehst du nicht? Du, die schuld ist am Tod meines einzigen Kindes, verstehst nicht, daß ich dich hasse?«

Glynis zuckte zusammen, als habe die Frau sie geschlagen. Was für eine Ungeheuerlichkeit hatte Mrs. Duggan soeben gesagt? War der Geist dieser Frau denn verwirrt?

Ich? Ich, die Tom mit jeder Faser meines Herzens liebte, soll schuld an seinem tragischen Tod sein? dachte Glynis entsetzt. Die Frau ist nicht bei Sinnen. Der Schmerz hat sie durcheinandergebracht.

»Sie wissen nicht, was Sie reden, Mrs. Duggan«, sagte Glynis erschüttert.

»Er hat sich zu Tode gekränkt – wegen eines Mädchens, das es nicht wert war«, behauptete die Frau anklagend. »Du hast seine Liebe nicht ernst genommen!«

»Das können Sie doch gar nicht wissen, Mrs. Duggan.«

,Denkst du, eine Mutter merkt nicht, wenn ihr Kind leidet? Obwohl Tom dich abgöttisch liebte, hast du ihn verlassen.«

»Das stirnmt nicht, Mrs. Duggan! Das ist nicht wahr! Sie wissen, daß es genau umgekehrt war! Tom verließ mich!«

»Es war grausam, was du getan hast, Glynis Windom. Es hat uns gezeigt, daß du kein Herz hast. Tom zerbrach an deiner Gefühlskälte. Gramgeplagt legte er sich in dieses Bett, verlor jede Freude am Leben und hatte nur noch den Wunsch zu sterben.«

Glynis wußte sich nicht zu helfen. Diese Frau tat ihr so schrecklich unrecht, und Glynis konnte nichts weiter tun, als die Hände vors Gesicht zu schlagen, zu weinen und zu sagen: »Es stimmt nicht, was Sie sagen, Mrs. Duggan. Es stimmt ja alles gar nicht.«

So erwachte Glynis. Weinend, verzweifelt, in Tränen aufgelöst.

Verwirrt setzte sie sich in ihrem Bett auf. Ihre Nerven vibrierten noch. Der Traum war so realistisch gewesen, daß sie geglaubt hatte, alles wirklich zu erleben.

Eine unendliche Erleichterung erfaßte sie, als ihr klar wurde, daß sie sich in ihrem Zimmer befand und nicht im Haus der Duggans. Ein riesiger Stein fiel ihr von der Brust, als sie begriff, daß nur ein schlimmer Alptraum sie gequält hatte.

Immer noch schluchzend, wischte sie sich die Tränen ab und flüsterte: »Es ist alles in Ordnung. Sei unbesorgt. Nichts ist geschehen.«

Langsam sank sie auf die Kissen zurück und schlief wieder ein, und sie hatte das Glück, daß sich der Alptraum nicht fortsetzte.

*

»Guten Morgen, allseits«, sagte Glynis und setzte sich an den gedeckten Frühstückstisch. Sie griff nach ihrer bereitliegenden Stoffserviette und zog sie vorsichtig aus der Klammer.

»Du bist wie immer die letzte«, stellte Andrew, ihr Bruder, fest. Er hatte blondes, gewelltes Haar und ein feingeschnittenes, hübsches Gesicht.

»Laß sie doch«, wies ihn Deborah Windom, seine Mutter, zurecht. Ihr ging die Familie über alles. Es gab nichts Wichtigeres für sie. Wenn es Streit gab, schlichtete sie ihn, und jeder konnte mit seinen Sorgen zu ihr kommen, sie versuchte immer zu helfen. Ein guter Engel war sie, der an sich stets zuletzt dachte. Sie opferte sich gern für die Familie auf, das machte sie glücklich. Es gab keinen schöneren Lohn für sie, als wenn alle um sie herum fröhlich und zufrieden waren.

Dabei war sie keine allzu robuste Frau, und was sie manchmal leistete, überstieg fast ihre Kräfte, doch keiner hörte sie jemals klagen, und es war eigentlich selbstverständlich für alle, daß Mutter immer da war, wenn man sie brauchte, und daß man jegliche Art von Unterstützung von ihr erwarten konnte.

»Wir Frauen brauchen eben etwas länger, bis wir schön sind«, sagte Glynis und goß sich Tee ein.

»Hört, hört!« rief Andrew amüsiert aus. »Sie zählt sich schon zu den Frauen!«

»Natürlich.«

»Sie ist noch nicht trocken hinter den Ohren, aber schon eine Frau. Ich lach mich kaputt. Meine Schwester ist eine Frau, eine richtige Frau.«

»Anscheinend hast du heute wieder mal einen von deinen verrückten Tagen«, sagte Glynis ärgerlich.

»Scheint so – Frau.«

»Wirst du wohl aufhören, Glynis zu necken?« warf Deborah Windom barsch ein.

Andrew hob grinsend die Hände. »Schon gut, schon gut. Ma. Ich weiß ja, daß du immer Partei für sie ergreifst.«

»Das stimmt nicht, und das weißt du.«

»Ich möchte nur noch eines anbringen«, sagte der Sohn und lächelte spitzbübisch. »Wir Männer sind die Krone der Schöpfung. Wer schöner ist als wir, der ist geschminkt. Hab ich recht, Daddy?«

Harvey Windom legte die Zeitung weg, in der er kurz geblättert hatte. »Das ist vollkommen richtig, mein Junge«, sagte er und lächelte auch. Er war ein mittelgroßer, entschlossener Mann, der hin und wieder sehr energisch sein konnte. Ein zäher Mann, manchmal vielleicht ein wenig verschlossen. Er konnte nicht immer aus sich herausgehen, wollte seine Familie mit seinen Sorgen nicht belasten, ließ sie eigentlich kaum einmal daran teilnehmen.

Das hieß nun nicht, daß er kein Vertrauen zu seiner Familie hatte. Er stand nur auf dem Standpunkt, daß ein Mann, der von sich überzeugt war, sich selbst helfen mußte. Wer sich helfen ließ, war ein Schwächling, und es gab für Harvey Windom nichts Erniedrigenderes, als in den Augen seiner Familie als Schwächling dazustehen.

Sie mußten zu ihm aufblicken können, mußten auf ihn stolz sein können, er wollte ihnen ein leuchtendes Beispiel sein.

Ein Schwächling ist kein Vorbild.

Während des Frühstücks erzählte Glynis von dem furchtbaren Traum der sie gequält hatte.

»Sei unbesorgt, Schwesterherz«, sagte Andrew über den Frühstückstisch. »Es heißt doch, daß diejenigen, von denen man träumt, daß sie gestorben sind, besonders lang leben.«

»Das hoffe ich«, sagte Glynis leise. »Es tat mir sehr weh, daß Mrs. Duggan so häßlich zu mir war. Sie behauptete, ich wäre schuld an Toms Tod. Weil ich ihn verlassen hätte, wäre er aus Gram gestorben.«

»Ich möchte wissen, wer wen verlassen hat«, meinte ihr Bruder. »Tom ging doch nach Amerika, nicht du.«

»Tja, das ging leider nicht anders«, sagte Glynis und bestrich sich einen Toast mit Butter.

Andrew sah sie prüfend an. »Meinst du das im Ernst?«

»Aber ja.«

»Also, wenn ich an Toms Stelle gewesen wäre, hätte ich mich nicht von meinen Eltern nach New York schicken lassen.«

»Du weißt, daß das vor langem schon beschlossen wurde«, verteidigte Glynis ihren Freund. »Erst später lernte er mich kennen. Als Duggan hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.«

»Mir will es trotzdem nicht in den Kopf. Da behauptet er, dich über alles zu lieben, und dann läßt er dich sitzen.«

»Er hat mich nicht sitzenlassen!« erwiderte Glynis laut. »Tom hat mich gebeten, auf ihn zu warten, und das werde ich auch tun.«

»Du siehst keinen anderen Mann an, vergräbst dich zu Hause, gehst niemals aus.«

»Es ist kein Opfer für mich, aber das verstehst du nicht. Du warst ja noch nie richtig verliebt. Kannst du das überhaupt? Bist du fähig, richtig zu lieben?«

Andrew lachte. »Warum sollte ich dazu nicht fähig sein? Sich zu verlieben ist meines Erachtens keine besondere Glanzleistung. Es passiert einem ganz von selbst. Man braucht sich dazu nicht im geringsten anzustrengen.«

»Für eine wahre, tiefempfundene Liebe bist du viel zu nüchtern«, behauptete Glynis angriffslustig.

»Ich bin stolz auf meinen analytischen Verstand. Ich lasse mich nicht von Emotionen leiten, sondern gebrauche mein Gehirn. Deshalb werde ich eines Tages einer der besten Rechtsanwälte in dieser Stadt sein. Wenn nicht überhaupt der beste.«

»Manchmal ist dein übersteigertes Selbstgefühl direkt lächerlich«, sagte seine Schwester.

»Damit kommt man auf jeden Fall weiter, als wenn man sein Licht ständig, wie du, unter den Scheffel stellt.«

»Na schön, du bist der Größte, und ich darf mich glücklich preisen, deine Schwester zu sein.«

Andrew lachte. »So ist es. Du hast es erfaßt.« Er blickte auf seine Uhr und sagte, er müsse zur Vorlesung.

Als er sich erhob, sagte sein Vater zu ihm: »Du weißt, daß für uns alle heute ein großer Tag ist.«

Andrew schmunzelte. »Wie könnte ich so ein einschneidendes Ereignis vergessen, Daddy?«

»Sechzehn Uhr.«

»Ich werde pünktlich sein».