Isfahan Lectures - Joachim Schroeder - E-Book

Isfahan Lectures E-Book

Joachim Schroeder

0,0

Beschreibung

In Isfahan und Hamburg arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seit einem Jahrzehnt in einer Hochschul­kooperation zusammen. Sie hinterfragen den hegemonialen Diskurs der Gegenüberstellung von »Okzident« und »Orient«, konfrontieren im interkulturellen Dialog die fest eingeschriebenen Machtverhältnisse dieses globalen Narrativs. Konkret forschen beide Gruppen zu »Behinderung« als einem universalen Phänomen mit regional unterschiedlichen Ursachen, Ausprägungen und Stigmatisierungsformen. Wie ordnen die Sonder- und Rehabilitationspädagogik, die Medizin und Psychiatrie die »Eine Welt« in ihren Länderkunden, Kulturvergleichen und Entwicklungsmodellen? Wie wird die »islamische Welt« positioniert? Mit Blick auf Inklusionsverhältnisse sondiert Joachim Schroeder die urbanen Räume Isfahan und Hamburg – geopolitisch, sozial und kulturell. Wie steht es um ihre Entwicklung zu ›inklusiven‹ Städten, seit Iran und Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert haben? Welche Wege stehen Menschen mit Behinderung offen? Wie ist es um Geflüchtete mit Behinderung bestellt? Um die gesundheitliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße leben? Oder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie? Wie zugänglich sind die Universitäten? Wie barrierefrei sind die beiden Städte? Wie wird »Behinderung« im öffentlichen Raum symbolpolitisch repräsentiert?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 401

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Joachim Schroeder

Isfahan Lectures

Behinderung, Inklusion, transnationale Gerechtigkeit

Geopolitische Widersprüche in der Internationalen Behinderungsforschung – am Beispiel Deutschland und Iran

ARGUMENT

 

 

 

 

© Argument Verlag 2022

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040 / 4018000 – Fax 040 / 40180020

www.argument.de

 

Fotos und Umschlagabbildung: © Joachim Schroeder

Umschlag und Gestaltung: Martin Grundmann

 

ISBN 978-3-86754-825-0 (E-Book)

ISBN 978-3-86754-522-8 (Buch)

Inhaltsverzeichnis
Transnationale Dialoge über Behinderung, Inklusion und Gerechtigkeit
Dialoge
Dialoge mit der islamischen Welt
Geopolitik des Dialogs
Dialogfelder und Dialogformen
Dialogpräsentation
Verortungen
Die Ordnung der sonderpädagogischen Welt
Sonderpädagogische Länderkunde
Entwicklungsmodelle sonderpädagogischer Praxis
Kulturvergleichende Sonderpädagogik
Konsequenzen des Vergleichs für die Hochschulkooperation
Internationale Sonderpädagogik und die Migration von Personen, Ideen und Erfindungen
Beschreibungen
Blicke auf Behinderung in deutschsprachigen Reiseberichten zu Persien bzw. Iran
Der Arzt: Jacob Eduard Polak (1818–1891)
Der Fotograf: Ernst Höltzer (1835–1911)
Der Missionar: Ernst Jakob Christoffel (1876–1955)
Der Migrant: Keyvan Dahesch (1941–2018)
Die Professionellen: Ein freier Träger der Behindertenhilfe (2017)
Sonderpädagogische Dialoge mit der islamischen Welt finden nur sporadisch statt
Übersetzungen
Von Sprache zu Sprache
Behinderung in Bildern und Symbolisierungen
Stadtlandschaften
Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung im urbanen Raum
Inklusion, Lokalpolitik und die »Eigenlogik« von Städten
Verkehr und Wohnungsbau
Arbeitsmarkt
Freizeit und Tourismus
Kulturelles Feld
Sport
Religiöses Feld
Inklusive Stadtentwicklungen?
Fluchtorte
Hamburg und Isfahan als Fluchtorte
Asylgesetzgebungen im Vergleich
Geflüchtete mit Behinderung in Hamburg
Geflüchtete mit Behinderung in Isfahan (Stadt und Provinz)
Behinderung und transnationale Migration
Zeltschulen
Dominante, belächelte und ignorierte Lebensformen
Nomaden im Iran
Besuch in Chelgerd
Zeltschulen im Iran
Übergangenes Wissen – vernachlässigte Probleme
Kindheitsmuster
Wunde Punkte der Gesellschaft
Sollen Kinder ein Recht auf Arbeit haben?
Darf man über HIV/Aids öffentlich sprechen?
Was kann man Kindern über ihre Krankheit sagen?
Wie viel Kritik hält die Kinder- und Jugendpsychiatrie aus?
Internationalisierung der Curricula und »Heimlicher Lehrplan«
Universitäten
Skizzen zur deutsch-iranischen Forschungskooperation
Die Internationalisierungsstrategien der beiden Universitäten
Geschichtliche Herausforderungen der Universitäten in Isfahan und Hamburg
Universitäten, Behinderung und transnationale Durchmachtung
Ergebnisse
Vergewisserungen – in der Theoriebildung
Verbesserungen – im Projektdesign
Literaturverzeichnis
Anhang I: Beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
Anhang II: Wirkungslogik
Anhang III: Abkürzungen
Anmerkungen

Transnationale Dialoge über Behinderung, Inklusion und Gerechtigkeit

 

Behinderung ist ein globales Phänomen, das jedoch regionale Ausprägungen und Stigmatisierungsformen aufweist. Nicht sehen oder hören zu können ist vermutlich in allen historischen Epochen als Normabweichung wahrgenommen worden, aber der soziale Umgang damit kann sehr unterschiedlich sein. Internationale Klassifizierungen katalogisieren weltweit auftretende seelische Behinderungen wie Depressionen, Angstzustände und Burnout, die dennoch in vielfältige gesellschaftliche Kontexte eingebettet sind, z.B. wie sehr Stress, Hektik und tagtägliche Überforderungen die jeweiligen Lebenswelten prägen. Lernbeeinträchtigungen wiederum sind geschichtlich ›junge‹ Etikettierungen, denn erst mit der Einführung zertifizierender Bildungssysteme entsteht ein gesellschaftliches Interesse, das Tempo und die Niveaus individueller Lernprozesse zu messen und zu typologisieren.

»Die Unterscheidung Behinderung/Nichtbehinderung ist eine universale Differenz. […] Die Differenz stellt sich weltweit, aber nicht überall gleich. In diesem Sinne gibt es nationale oder regionale Prioritäten, beispielsweise ist Lernbehinderung in den Ländern der Europäischen Union ein dringlicheres Problem als in Westafrika, wo ein entsprechender Ausbau des Erziehungssystems fehlt, Behinderungen durch Kriegsfolgen sind im Nahen Osten relevanter als solche durch Sportverletzungen« (Weisser 2005, 39).

Deshalb ist es in der internationalen Fachdiskussion seit Jahrzehnten ein relativer Konsens, dass soziale Unterstützungs- und Bildungskonzepte behutsam in die einzelnen regionalen sprachlichen, sozioökonomischen und kulturellen Kontexte eingefügt sowie an die jeweiligen Lebenswelten und Herausforderungen des Alltags der Menschen vor Ort angepasst werden müssen. Kulturelle und soziale Differenzen werden sich indes durch fortschreitende Globalisierungsprozesse immer mehr verwischen – oder sich trotz alledem behaupten.

Der politische Diskurs zu Behinderung ist aktuell und weltweit mit dem Begriff »Inklusion« verknüpft, ein Konzept, das sich aus der spezifischen Geschichte der gesellschaftlichen Reaktionen auf Behinderung in den Ländern des Globalen Nordens – ausgehend von den USA und Kanada – entwickelt hat (vgl. Köpfer 2012). Es gibt Hinweise, dass einige entscheidende Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Vorschriften der Verfassung von Kanada widerspiegeln, was auf einen gewissen Einfluss der kanadischen Delegation bei der Erstellung des Entwurfs zum Übereinkommen zurückzuführen sei (Malhotra 2012, 202). Bei der Ausarbeitung von internationalen Vereinbarungen jedenfalls hat der Globale Süden wenig zu sagen.

So tragen Ansätze wie Inklusion zwar zu einer Universalisierung der Menschenrechte bei, sie treiben jedoch aufgrund machtpolitischer Abhängigkeiten und Asymmetrien die diskursiven und strukturellen Dominanzen in der Weltgesellschaft gleichzeitig voran. Im Anschluss an die »Kritische Theorie transnationaler Gerechtigkeit« von Rainer Forst (2002) beschreibt Franziska Dübgen (2014) die »lange Geschichte der Ungerechtigkeit« in der internationalen Kooperation und rekonstruiert eine »normative Ordnung«, die eine Rhetorik der Partnerschaftlichkeit pflege, aber eine Struktur hegemonialer »Durchmachtung« aufweise (Dübgen 2014, 13).

Auch die internationale Wissenschaftszusammenarbeit und Hochschulkooperation entkommt dieser geopolitischen Durchmachtung nicht. Dem stellt Dübgen eine normative Ordnung entgegen, die auf den Topos der »transnationalen Gerechtigkeit« setzt (ebd., 142ff.). Bemerkenswerterweise schließt die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in ihren jüngst veröffentlichten »Leitlinien und Standards in der internationalen Hochschulkooperation« (HRK 2020) mit dem übergreifenden Leitbild »Die Hochschule der Zukunft ist eine transnationale Hochschule« (ebd., 2) an diese Perspektive an und gibt konkrete Hinweise, wie mittels »interkultureller Dialoge« (ebd., 6) »Hochschulen als transnationale Räume« (ebd.) gestaltet werden können. Was also wäre eine transnational gerechte Forschungskooperation zu Behinderung und Inklusion?

Mit solchen Problemstellungen befasst sich die International Vergleichende Behinderungswissenschaft, ein interdisziplinäres Projekt aus Soziologie und Psychologie, Religionswissenschaft und Kulturtheorie, Ethik und Ökologie, Architektur und Technik, Geschichte und Geografie. Und mit diesen Themen setzen sich seit 2011 zwei wissenschaftliche Gruppen in Hamburg und Isfahan auseinander: Im Team der Isfahan University of Medical Science (IUMS) sind hauptsächlich die Medizin, Rehabilitation und Medical Education vertreten. Die Gruppe der Universität Hamburg (UHH) gehört zur Fakultät für Erziehungswissenschaft, an der Studierende für pädagogische Tätigkeiten bei Beeinträchtigungen des Sehens, Hörens, Lernens, der Sprache, Kognition und Emotionalität ausgebildet werden.

Seit einigen Jahren weitet sich das Netzwerk aus: Mit der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) ist die Sozialarbeit vertreten, und im Iran sind die Universität Isfahan (UI) mit dem 2015 gegründeten Institute for Special Needs Education sowie die Fakultät für Beratungswissenschaft der Universität von Shar-e Kord dazugekommen; im Irak das Institut für Sonderpädagogik der Universität Dohuk, die im autonomen kurdischen Teil liegt, sowie der Fachbereich Psychologie an der Universität Kufa, die zur Stadt Nadjaf und somit zum arabischen Teil des Landes gehört. Gefördert werden diese Kooperationen vor allem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die iranischen Ministerien für Forschung und Technologie (MSRT) bzw. für Gesundheit und medizinische Ausbildung (MoHME), die regionalen Büros der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) unterstützen das Netzwerk finanziell, logistisch und ideell.

In diesem Buch werden Fragen aufgegriffen, die wir im Kooperationsverbund untersuchen. Allerdings habe ich Themen ausgewählt, für die in der alltäglichen Netzwerkarbeit zumeist kein Platz ist, um sich damit differenziert auseinanderzusetzen. Denn in solchen Projekten hat man in einem begrenzten Zeitfenster und mit einem relativ bescheidenen Budget klar definierte Ziele zu erreichen, sodass es ratsam ist, die geplanten »Work packages« zügig und geradlinig abzuarbeiten. Der Freiraum für disziplinäre Selbstreflexionen und eine fundierte »interkulturelle Hermeneutik« (Münnix 2017) ist selbst in expliziten internationalen »Dialog«-Projekten oftmals nicht gegeben.

Nach einer nunmehr zehnjährigen kontinuierlichen Zusammenarbeit wage ich es, einige dieser komplexen Problemstellungen anzugehen. Nicht, weil ich glaube, den Iran zu kennen. Aber ich meine, in der Kooperation vieles gelernt zu haben, das in der Theoretisierung und praktischen Weiterentwicklung der International Vergleichenden Behinderungswissenschaft mitbedacht werden sollte. Das Buch trägt den Titel Isfahan Lectures, weil es hauptsächlich während einer Gastprofessur an der IUMS im Sommersemester 1398 HS (= 2019 n. Chr.) entstanden ist. Die einzelnen Kapitel beruhen auf Vorträgen, die ich in dieser Zeit in Vorlesungen, Seminaren, Tagungen und Workshops gehalten und für diesen Band bearbeitet sowie erweitert habe. Die Fertigstellung des Manuskripts erfolgte in Hamburg, unterstützt durch »E-Mail-Dialoge« mit Isfahan.

Das Bild auf dem Buchumschlag symbolisiert die Si-o-se Pol, die historische 33-Bögen-Brücke, die die nördlich und südlich des Zaayandeh-Flusses gelegenen Stadtteile in Isfahan verbindet. Die Vorlage des Motivs sind Beschläge auf Holzkästchen, die an der IUMS als Gastgeschenke überreicht werden: Die doppelstöckigen Brückenbögen sind aus goldfarbenem Metall, dazwischen Blumenmotive auf einem türkisfarbenen Untergrund. Im Mittelpunkt ist das Logo der IUMS appliziert: ein Wappenschild mit einem aufgelegten Rhombus aus einem Türkis, in den eine sehr abstrakte kalligrafische Version der Schahāda, dem Glaubensbekenntnis des Islam, eingraviert ist. Iran ist weltweit eines der Hauptabbaugebiete des Türkis-Minerals. Viele Kuppeln und Minarette an Moscheen, Tore und Friese in Palästen sind dort mit türkisfarbenen Kacheln verziert; für Geschirr und Vasen wird ebenfalls häufig diese Farbe verwendet. Auch die Räume des Gästehauses der IUMS sind in Türkis gehalten.

Die IUMS ist mir in all den Jahren zu einem sehr vertrauten Ort geworden. Wenn ich dort bin, werde ich in dem wunderschönen Gästehaus umsorgt und verwöhnt, und im Büro wird mir sogar der Tee mit leckeren Süßigkeiten bis an den Schreibtisch gebracht. In der Fakultät Rehabilitation bin ich in ein großartiges Kollegium aufgenommen worden, auch in anderen Fachbereichen führen wir gemeinsame Lehrveranstaltungen und Projekte durch. Eine außergewöhnlich anregende Erfahrung ist für mich der Austausch mit den Studierenden und Promovierenden in Seminaren, Workshops und Kolloquien. Das Team im International Office und das gesamte Präsidium kümmern sich rührend um mich und sorgen für beste Arbeitsbedingungen. Sie alle zeigen mir ›ihr‹ Isfahan, bringen mich mit ihren Familien und Bekannten in Kontakt, fahren mich durchs Land, organisieren Vorträge an anderen Universitäten und lassen mich teilhaben an ihren Sichtweisen und Gedanken.

 

Dafür allen mehr als nur tausendundein Dank.

 

Dialoge

 

Dialoge mit der islamischen Welt

Wichtige Teile der Kooperation sind aus dem DAAD-Programm »Hochschuldialoge mit der islamischen Welt« finanziert worden: »Gefördert werden Kooperationsprojekte deutscher Hochschulen mit Partnerinstitutionen in der islamischen Welt in allen Fachgebieten. […] Die Teilnehmer erhalten neben ihrem wissenschaftlichen Anliegen Zeit und Raum für den persönlichen Austausch. So lernen sie die Kultur und die Interessen ihrer Partner kennen und schätzen.«1 Dem Programm liegt ein spezifisches Verständnis des Dialogs zugrunde, das folgendermaßen beschrieben wird:

»Das primäre Programmziel ist die Förderung des Kulturdialogs und des interkulturellen Verständnisses. Dabei unterscheidet sich das Dialogkonzept des DAAD erheblich von den Ansätzen vieler anderer Organisationen. Dem DAAD geht es nicht um ›Dialog mit dem Islam und seinen Vertretern‹ oder ›Dialog über den Islam‹, sondern um ›Dialog mit Menschen aus der islamisch geprägten Welt‹. Der DAAD geht davon aus, dass bei Hochschulangehörigen das Interesse und Verständnis füreinander vor allem durch gemeinsames Arbeiten und Forschen gestärkt wird. Austausch und akademische Kooperation auf der Grundlage gemeinsamer wissenschaftlicher Interessen bilden den Ausgangspunkt dafür, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen miteinander ins Gespräch kommen, die sich in anderen Konstellationen vielleicht skeptisch gegenüberstehen. Über den fachlichen Austausch machen die Teilnehmer interkulturelle Erfahrungen, die das Verständnis für andere Kulturen erhöhen und dabei gleichzeitig einen wissenschaftlichen Gewinn versprechen.«2

Der DAAD hat für dieses Programm ein kulturell-religiöses Referenzfeld definiert: die islamische Welt. In der Liste der möglichen Partnerländer orientiert sich der DAAD an den 56 Mitgliedern der Organisation für Islamische Zusammenarbeit, zu denen Suriname und Guayana in Südamerika, die Maghreb- und Sahelstaaten sowie viele weitere west-, zentral- und südostafrikanische Länder inklusive der Komoren, die arabischen Staaten und die Türkei, die zentralasiatischen Länder einschließlich Iran sowie verschiedene süd- und südostasiatische Nationen, beispielsweise Pakistan, Bangladesh, Malediven, Indonesien oder Malaysia gehören.3 Ein Islambezug wird auch im Programmlogo hergestellt:

 

 

 

Das Icon zeigt ein quadratisches Ornament mit einem spiegel-symmetrischen Muster aus sich wiederholenden vieleckigen und kreisförmigen Teilflächen, die miteinander zu einem Flechtband verschränkt sind. Das Design erinnert an arabische und iranische Kacheln und Fliesen, Schnitzereien an Holztüren oder Muster auf Teppichen. Die Gliederung des Ornaments erfolgt durch die visuelle Schichtung unterschiedlicher Musterebenen aus Dreiecken und Halbkreisen und die farbliche Betonung einzelner Elemente: Jedes Dreieck der vier Ecken hat eine andere Farbe, die sich in vier kleinen Quadraten im Mittelpunkt des Ornaments wiederholen, wobei jedes Farbquadrat komplementär dem farblich entsprechenden Dreieck gegenüberliegt. Ob sich der DAAD in diesem Logo auf die islamischen Farbsymboliken bezieht, ist nicht bekannt, jedenfalls würden sie dies bedeuten: Grün, die Farbe des Islam; Gelb hat eine eher negative Konnotation (Schwäche, Feigheit); Rot ist die Farbe des Blutes und des Lebens; Schwarz ist der Stein in der Ostecke der Ka’ba in Mekka.4 Das Ornament wird von einem grauen Rahmen begrenzt, von dem aber nur die zwei Ecken rechts oben und links unten zu sehen sind, die vielleicht die zwei Partnerländer symbolisieren sollen? Rechts daneben steht in schwarzer Schrift in der ersten Zeile: »Hochschuldialog mit der« und darunter »islamischen Welt«.

Für den DAAD ist die islamische Welt die Partnerregion – doch wer sind »wir«? Nach den Förderrichtlinien sind »wir« die »Mitglieder einer deutschen Hochschule«. Im DAAD-Dialogverständnis heißt es, dass »wir« etwas über die Partnerkultur lernen sollen, die folglich eine islamisch geprägte und in unserer Kooperation zudem eine iranische Kultur ist. Die Partnergruppe wiederum soll etwas über »uns« lernen – also über deutsche Kultur? Christliche Kultur? Abendländische, westliche, europäische, moderne oder postmigrantische Kultur? Unser »interkultureller Dialog« wird zwischen zwei Hochschulen und in zwei Städten geführt, die definitorisch verschiedenen »Welten« angehören, diese Unterschiede lassen sich aber nicht ohne weiteres bestimmen. In der Hamburger Gruppe gibt es mehrere Projektmitglieder, die mit Iranisch als Familiensprache aufgewachsen sowie Muslime sind und nach Deutschland migrierten. Im Isfahaner Team haben etliche in Europa oder Nordamerika studiert und promoviert, Familienmitglieder leben in vielen nicht-islamischen Ländern. In der Bundesrepublik wird seit längerem – wenngleich sehr kontrovers – debattiert, ob denn »der Islam« zu Deutschland gehört. Im Iran wiederum gibt es viele christliche Gemeinden. Die kulturellen und religiösen Selbstverortungen der Projektmitglieder sind nicht einfach und waren häufig Gegenstand des Dialogs.

 

Geopolitik des Dialogs

Der DAAD hat das Programm »Hochschuldialog mit der islamischen Welt« 2006 eingeführt, somit zu einem Zeitpunkt, als infolge des »11. September« (2001) international das geopolitische Denken eine Renaissance erlebte. Geopolitik ist eine spezifische »Rede über den Raum« (Werber 2014, 76): In diese »Raumsemantik« (ebd., 31) wird die »topographische Ordnung des menschlichen Zusammenlebens« in einer Konstruktion »geographischer Gegensätze« (ebd., 53) und als »ein von ›Staaten‹ und ›Völkern‹ gegeneinander geführter ›Kampf um Raum‹« (ebd., 51) gedeutet. Geopolitisches Denken geht davon aus, dass »die außenpolitischen Beziehungen von Staaten […] damit grundsätzlich agonal« sind (ebd., 52).

»Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Begriff ›Geopolitik‹ in Europa als faschistisches Konzept weitgehend tabuisiert, obwohl geopolitisches Denken die außenpolitische Praxis weiterhin prägte. Gerade der Ost-West-Konflikt ist hierfür ein beredtes Beispiel, mit seiner Abgrenzung von Einflusszonen, der kein Territorium aussparenden Einstellung der Welt in Freunde und Feinde, dem Aufbau territorialer Feindbilder und der Produktion von Raumbildern als Legitimationsbasis für militärisch aggressive Außenpolitik« (Zeilinger/Rammer 2001, 7).

Der hier genannte geopolitische »Ost-West-Konflikt« bezieht sich auf den zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Staaten. Ein anderer, noch nicht beendeter »Ost-West-Konflikt« besteht überdies zwischen dem »Orient« und dem »Okzident«. Die geopolitische Raumsemantik konstruiert polare Beziehungen nicht nur zwischen Staaten oder nationalstaatlichen Blöcken, sondern nutzt auch immer wieder eine »kulturbestimmte Sichtweise« zur »Aufteilung der Welt in Kulturräume« (Stöber/Kreuzmann 2001, 214). Die historisch nie spannungsarmen Beziehungen zwischen »uns« und »der islamischen Welt« und umgekehrt wurden von Samuel Huntington (1993) als »Kampf der Kulturen« (Clash of civilizations) beschrieben.

»Die Weltordnung werde, so Huntington, entlang ›kultureller Kampflinien‹ organisiert […], die einige wenige großräumige ›Einflusssphären‹ voneinander trennen, welche jeweils durch die ›Kernstaaten von Kulturkreisen‹ dominiert werden. […] Huntington tritt auch insofern als Erbe der deutschen Geopolitik an, als er die Gründe für die ›Bruchlinienkonflikte‹ naturalisiert« (Werber 2014, 166). »Erneut kommt hier der bekannte ›Schematismus der Freund-Feind-Unterscheidung‹ zum Tragen«, die nun aber »›Freunde‹ und ›Feinde‹ von ›Kulturkreisen‹ und nicht mehr von Staaten intensiv assoziiert bzw. dissoziiert« (ebd., 154).

»Nine-Eleven« schien Huntingtons Beschreibung der Weltgeopolitik »triumphal« (ebd., 167) zu bestätigen. Die »islamische Welt«, insbesondere der Iran, werden von nun an international einer globalen »Achse des Bösen« zugeordnet, ein Narrativ, dass Edward W. Said (2001) als »Clash of Ignorance« bezeichnet hat. Im vorliegenden Buch erörtere ich, wie dieses geopolitische »Narrativ« auf eine internationale Hochschulkooperation einwirkt. Hierfür problematisiere ich nicht das Narrativ selbst, von dem ich mich distanziere, sondern werde darstellen, wie wir damit im »Dialog«-Projekt umgegangen sind. Zugleich frage ich nach den »Raumsemantiken« der International Vergleichenden Behinderungsforschung. Mich interessiert, wie in dieser Teildisziplin der politischen Geografie »die Welt« segmentiert bzw. hierarchisiert und der Diskurs über Behinderung und Inklusion formatiert wird.

 

Dialogfelder und Dialogformen

Der akademische Austausch hat 2011 begonnen. In mehreren Vortragsreisen (2011, 2012, 2013, 2015) und während zweier zehntägiger Studienreisen nach Hamburg und Isfahan (2014, 2016) konnten gemeinsame wissenschaftliche Fragestellungen sowie Ideen zur Weiterentwicklung der fachlichen Ausbildung und Nachwuchsförderung identifiziert werden. 2013 kam es zur Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung der beiden Universitäten in Form eines »Memorandum of Understanding« (das 2019 für weitere sechs Jahre verlängert wurde). Der erste dreijährige »Hochschuldialog mit der islamischen Welt« begann 2017, nach einem relativ langen Sondierungs- und Vorbereitungsprozess, durch den sich sowohl in Isfahan als auch in Hamburg zwei recht stabile Gruppen mit jeweils rund einem Dutzend Professorinnen und Professoren, Postdocs, PhD, Lehrenden und Studierenden konstituiert haben (→ Anhang I). Seit 2020 und bis 2022 läuft nun der zweite »Hochschuldialog«, wie erwähnt, mit sechs Universitäten aus Deutschland, Iran und Irak.

Viele der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Isfahan und Hamburg sind seit zehn Jahren über die gesellschaftlichen, kulturellen, pädagogischen und curricularen Herausforderungen von Behinderung in den zwei Städten und an den beiden Universitäten kontinuierlich im Gespräch. Der gemeinsame Austausch hat das Ziel, die jeweiligen Aktionspfade, den aktuellen Stand und die künftigen Herausforderungen an die Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderung zu erörtern. Die UN-BRK wurde am 13. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen, am 3. Mai 2008 in Kraft gesetzt und am 24. Februar 2009 von Deutschland bzw. am 23. Oktober 2009 von Iran ratifiziert.

Das Netzwerk hat für seine Arbeit drei Dialogfelder definiert: Es werden internationale Dialoge zwischen den Universitäten, kommunale Dialoge zwischen der jeweiligen Hochschule und ihrem städtischen Umfeld sowie institutionelle Dialoge in der einzelnen Universität selbst geführt.

 

■ Internationale Dialoge: In diesem Dialogfeld diskutieren wir zentrale Begriffe wie Behinderung, Inklusion, Barrierefreiheit oder Universal Design im Kontext der jeweiligen lokalen Verhältnisse. Die Forschungsprojekte, die an den beiden Hochschulen durchgeführt werden, erheben und vergleichen intersektional und interdisziplinär die Bedarfe, Konzepte und Maßnahmen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen, nicht zuletzt, um zur Verbesserung der akademischen Ausbildung an den zwei Universitäten beizutragen.

■ Kommunale Dialoge: Ein wichtiges Projektziel ist die Stärkung der Kooperation zwischen den Universitäten und den Einrichtungen zur Unterstützung, Bildung und psychosozialen Förderung von Menschen mit einer Beeinträchtigung vor Ort. Die IUMS hat ein bereits bestehendes Netzwerk mit Behörden, Einrichtungen und NGOs intensiviert. Die UHH kooperiert vor allem mit Schulen, weil Kinder und Jugendliche mit einer komplexen Behinderung in Hamburg bislang noch kaum in die Inklusion einbezogen sind.

■ Institutionelle Dialoge: Die dritte Dialogachse fokussiert auf die Intensivierung der inneruniversitären Diskussion über Behinderung und Inklusion sowie die Weiterentwicklung von Lehrformaten der medizinischen, rehabilitativen und pädagogischen Ausbildung. Die IUMS hat u.a. zum Thema Behinderung ein internes Fortbildungsprogramm für Lehrende sowie Pflichtmodule für Studierende implementiert. Die Gruppe der UHH arbeitet an dem seit geraumer Zeit verfolgten Projekt zur »Barrierefreien Universität« weiter.

 

Der besseren Übersicht halber stellen wir diese drei Dialogfelder in Projektanträgen, Präsentationen und Wirkungsketten (→ Anhang II) getrennt dar, sie werden jedoch aufeinander bezogen umgesetzt. Die Teams aus Hamburg und Isfahan bringen sich in den drei Dialogachsen in unterschiedlichen Funktionen ein: Sie sind kritisch-konstruktive Diskussionspartner im gemeinsamen internationalen Dialog, solidarische externe Beobachter in den jeweiligen lokalen Netzwerken und geben ein fachliches Feedback zu den Lehr-Forschungs-Seminaren, den akademischen Curricula und internen Entwicklungsprogrammen der Partnerhochschule.

Der interkulturelle Austausch wird in gemeinsamen Fachkolloquien, Tagungen und Workshops strukturiert, um die unterschiedlichen oder ähnlichen gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontexte, Einstellungen und Verständnisweisen zu Behinderung und Inklusion zu analysieren. Das Netzwerk geht davon aus, dass sich in den Hochschuldialogen nicht zwei geschlossene und in sich homogene »Kulturkreise« begegnen, sondern sich sowohl in der islamischen Welt als auch in der zentraleuropäischen Sphäre durch vielfältige historische Entwicklungen, religiöse Traditionen sowie transnationale Migrations- und Globalisierungsprozesse eher heterogene »kulturelle Gewebe« herausgebildet haben. Denn sowohl Isfahan als auch Hamburg sind multikulturelle, multilinguale, multiethnische bzw. multireligiöse Städte und somit in gewisser Weise Spiegel der iranischen bzw. deutschen Gesellschaft.

Zwar konzentriert sich das Projekt auf Großstädte, dennoch haben wir uns immer wieder auch mit Behinderung und Inklusion in ländlichen Regionen befasst. Isfahan ist Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, und deshalb ist die kommunale Verwaltung verantwortlich für zahlreiche, teilweise sehr abgelegene Dörfer. Da Inklusion in ländlichen Räumen in Teilen vor anderen Problemstellungen als in Großstädten steht, ist ein »Dialog« zwischen dem urbanen und ruralen Kontext relevant. Im Iran gibt es außerdem viele Nomaden, eine Lebensform, die für Menschen mit Behinderung sehr herausfordernd ist. In Exkursionen in das ländliche Umland von Isfahan sowie in das nicht mehr so sehr rurale Schleswig-Holstein haben wir Einrichtungen besucht und diskutiert, wie dort entwickelte regionale Lösungen künftig in die Lehre der medizinischen und pädagogischen Fächer einbezogen werden können.

 

Dialogpräsentation

Die vorliegende Monografie ist als Sammelband angelegt, das heißt, die einzelnen Beiträge bauen nicht notwendig aufeinander auf, deshalb können der Leser oder die Leserin die Reihenfolge der Lektüre selbst festlegen. Jeder Lecture ist hierzu eine Zusammenfassung für den schnellen Überblick vorangestellt. Mit (→) sind Verweise im Text markiert, um inhaltliche Zusammenhänge mit anderen Kapiteln aufzuzeigen. Die Auswahl der im Folgenden erörterten Themen begründet sich aus den in der Hochschulkooperation bearbeiteten Fragestellungen. Außerdem habe ich mir persönlich wichtige Problembereiche aufgenommen, die zwar ebenfalls Behinderung und Inklusion berühren, aber nicht unbedingt fokussieren. Schließlich finden sich Reflexionen zur Organisation, zum Verlauf und zur Zukunft der Zusammenarbeit.

 

■ Projektthemen: Zu dieser Textgruppe gehören Analysen historischer und zeitgenössischer Reiseberichte über den Iran zur Frage, ob und wenn ja, wie in diesen Dokumenten Behinderung thematisiert wird (→ Beschreibungen), eine Bestandsaufnahme zu den Bemühungen, Hamburg und Isfahan zu inklusiven Städten umzugestalten (→ Stadtlandschaften), sowie ein Vergleich der Berücksichtigung von Behinderung in den Internationalisierungsstrategien der UHH und der IUMS (→ Universitäten).

■ Ergänzende Themen: Sehr intensiv habe ich mich mit den Herausforderungen in Isfahan und Hamburg durch Zuwanderung befasst, ein Schwerpunkt ist auf die soziale Lage von Geflüchteten gerichtet (→ Fluchtorte). Spannend auch, mich den Lebenswelten besonders benachteiligter Kinder und Jugendlicher in Hamburg und in Isfahan anzunähern (→ Kindheitsmuster) sowie den Lebenslagen, der Bildungssituation und Gesundheitsversorgung von Nomaden mit und ohne Behinderung im Iran (→ Zeltschulen).

■ Projektreflexionen: In weiteren Kapiteln wird das Projekt in die International Vergleichende Sonderpädagogik theoretisch eingeordnet (→ Verortungen). Überdies erörtere ich Probleme und Strategien im Umgang mit laut-, schrift- und bildsprachlicher Vielfalt im Verbund (→ Übersetzungen). Zu den projektbezogenen Reflexionen gehören auch die Zwischenbilanz zur und der Ausblick auf die Hochschulkooperation (→ Ergebnisse).

 

Die Amtssprache des Iran wird in Deutschland zumeist »Farsi« bzw. »Persisch« genannt. Da »Pars« bzw. »Fars« zwar das Kernland des Iran ist, heutzutage jedoch nur eine von 31 Provinzen des Landes bildet (Hauptstadt ist Shiraz), verwende ich den Begriff »Iranisch«, weil damit alle von der Bevölkerung gesprochenen Varianten des West-, Ost-, Nord- und Südiranischen eingeschlossen sind. Im Deutschen gibt es etliche iranische Lehnwörter, zum Beispiel Basar, Karawane, Kiosk, Magier, Paradies, Pistazie, Pyjama, Schach, Schal und Scheck, die ich in den in Flexion, Lautung und Schreibung »eingedeutschten« Versionen gebrauche. Seit der Islamisierung Persiens ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. wird Iranisch in arabischen Schriftzeichen geschrieben. Religiöse Begriffe haben im Iranischen oftmals einen arabischen Ursprung, deshalb wähle ich das in Deutschland geläufigere arabische »Ramadan« statt des iranischen »Ramezan«. Für das arabische und iranische »Masdschid« nutze ich hingegen das bei uns bekanntere (aus dem Italienischen übernommene) Wort »Moschee«.

Die Schreibweise iranischer Eigennamen und geografischer Bezeichnungen handhabe ich ebenfalls kontextuell: Der Ortsname »Esfahan« wird heutzutage im Iran überwiegend »Isfahan« geschrieben, daran habe ich mich angepasst. Bei der Hauptstadt ist es umgekehrt: »Tehran« ist dort verbreiteter, deshalb gebrauche ich diese Schreibweise statt des im Deutschen üblichen »Teheran«. Für den armenischen Stadtteil »Jolfa« in Isfahan ziehe ich diese international häufigere Schreibweise dem iranischen »Dschulfa« vor. Bei anderen Ortsnamen habe ich mich hingegen für die iranische Variante entschieden, zum Beispiel »Shar-e Kord« statt »Shar-e-Kurd« oder »Shahrekord«. Der besseren Lesbarkeit halber übernehme ich deutsche geografische Bezeichnungen wie »Zagrosgebirge« oder »Kaspisches Meer«. Iran nennt das Meer im Süden des Landes »Persischer Golf«, diesem Namen schließe ich mich an, auch wenn das Gewässer in den benachbarten Emiraten »Arabischer Golf« heißt.

Eine Wissenschaft für sich ist die Frage, ob das Land mit einem Artikel geschrieben wird: »›Der Iran‹ oder ›Iran‹? Literatur zu Iran oder zum Iran? Nach Iran oder in den Iran? Das Atomabkommen mit ›Iran‹ oder mit ›dem Iran‹?«5 Wiktionary sagt: »›Iran‹ kann sowohl maskulines als auch neutrales Genus haben. Der Artikel wird bei ›Iran‹ als Maskulinum stets gebraucht, bei ›Iran‹ als Neutrum nur dann, wenn ›Iran‹ in einer bestimmten Qualität, zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Zeitabschnitt als Subjekt oder Objekt im Satz steht. In amtlichen Texten wird die Vollform Islamische Republik Iran verwendet, bei wiederholtem Vorkommen in einem Text kann auch Iran ohne Artikel gebraucht werden.«6 Der Duden legt sich ebenfalls nicht eindeutig fest und lässt mehrere Möglichkeiten offen, auf die ich deshalb alle zurückgreife: »[Tehran ist] die Hauptstadt von Iran/des Irans/des Iran.«7 In der deutschen Wissenschaftssprache wird jedoch Iran bevorzugt ohne Artikel benutzt, auch das tue ich hin und wieder. Zur Begründung folgt man zumeist der Argumentation des iranischen Sprachwissenschaftlers Touradj Rahnema:

»›Iran‹ ist ein echter, übrigens sehr alter Ländername, der von Resā Schāh zwischen den beiden Weltkriegen wiederbelebt wurde. Insofern besteht kein Grund, ›Iran‹ mit dem Artikel zu benutzen, genauso wenig wie bei ›Frankreich‹, ›England‹ oder ›Schweden‹. Es gibt im Deutschen einige Fälle, in denen Ländernamen mit dem Artikel zu benutzen sind: Übertragungen von Namen anderer Dinge auf ein Land (z.B. ›der Libanon‹, ursprünglich das Gebirge); Plural (›die Niederlande‹); Zusammensetzungen mit Gattungsnamen (›die Sowjetunion‹) und Länder auf -ei (›die Türkei‹). Keiner dieser Gründe ist hier gegeben. Daß die deutsche Umgangssprache in diesem Fall heute meist von dem Artikel Gebrauch macht, liegt vielmehr an einer fehlerhaften Übersetzung aus dem Französischen. Als Resā Schāh den alten Namen für sein Reich einführte, war die europäische Sprache, die man in Iran auf offiziellen Dokumenten, Pässen, Briefmarken usw. benutzte, das Französische. In dieser Sprache aber heißt es ›l’Iran‹ oder ›Empire de l’Iran‹ (wie das Französische überhaupt Ländernamen mit dem Artikel zu verwenden pflegt). Gestützt wurde dieser Übersetzungsfehler noch durch das ähnliche ›der Irak‹. […] Hinzu kommt, daß das Arabische Länder ebenfalls mit dem Artikel zu benennen pflegt: das Persische aber kennt keinen Artikel« (Rahnema 1981, 4f.).

Das Alltagsleben im Iran ist durch einen Parlamentsbeschluss von 1925 nach einem Sonnenkalender organisiert. Das Jahr beginnt mit dem Monat Farwardin (»treibende Kraft«) am 21. März (Frühlingstagundnachtgleiche) und hat, wie auch in »unserem« gregorianischen Kalender, 365 Tage mit 12 Monaten zu 31, 30 und 28 Tagen und einem zusätzlichen Schaltjahrtag. Gezählt werden die Jahre seit der Flucht (Hidschra) des Propheten Mohammed von Mekka und Medina, die 622 n. Chr. stattfand. Im arabischen Raum wird dieses Bezugsjahr der Jahreszählung mit einem H abgekürzt, im Iran hingegen als Heyri-e schamsi (»Sonnen-Hidschra«) und mit HS markiert. So stand in meinem Visum, auf Hotelrechnungen und inneriranischen Flugtickets 1398 HS (= 2019 n. Chr.). Die Woche hat sieben Tage, die bereits bei Sonnenuntergang, nicht erst um Mitternacht wechseln. Das Wochenende fängt am Donnerstagmittag an und dauert bis Freitagabend. Vor allem am Freitag (= jomøe, »Tag der Versammlung« mit dem wichtigen »Freitagsgebet«) sind der islamischen Tradition folgend Behörden, Schulen, Universitäten, manche Geschäfte und zeitweise die Basare geschlossen.

Die unterschiedlichen kalendarischen Systeme in Hamburg und Isfahan führten im Projekt fortwährend zu interkulturellen Lernprozessen. Wie erwähnt, beginnt im Iran das Jahr am 1. Farwardin (21. März). Wenn ich mitteilte, dass »das neue Projekt Anfang des nächsten Jahres starten kann«, meinte ich eher den Januar/Februar, das Team in Isfahan dachte hingegen an März/April. Gewöhnungsbedürftig auch, dass die rot markierten Tage im iranischen Kalender keine Sonntage sind. In Hamburg irritierte es uns, wenn bei der Tagungsplanung in Isfahan der Beginn unserer internationalen Treffen auf den Sonntag gelegt wurde. Wenn wir der Gruppe vorschlugen, freitags nach Hamburg zu fliegen, fand man das in Isfahan nicht gut, weil man am Tag der religiösen Versammlung (wie auch im Ramadan) nicht so gerne reist.

Für die Abbildungen habe ich in diesem Buch, den Anforderungen der barrierereduzierten Manuskriptgestaltung folgend, Alternativtexte erstellt, also Bildbeschreibungen, die von assistiven Technologien (z.B. Screen Reader) vorgelesen werden können. Von den Regeln zur Gestaltung von Alternativtexten weiche ich jedoch ab: Anders als üblich, sind die Alternativtexte nicht im Anhang eingefügt und somit auch nicht im Text mit dem Foto/der Abbildung verlinkt, sondern die Beschreibung ist vor oder nach dem jeweiligen Bild in den Text integriert. Das hat den Vorteil, dass ich allen Leserinnen und Lesern offenlegen kann, was ich auf dem Bild sehe. Deshalb halten sich meine »Alternativtexte« auch nicht an die Vorgabe, die Bilder möglichst kurz und in einfachen Sätzen zu beschreiben. Vielmehr werde ich diese detailliert und mit Fachbegriffen erläutern, um die Bildstruktur und Bildsemantik in der Beschreibung nicht zu banalisieren. Die Alternativtexte erfüllen somit nicht nur formal-technische oder deskriptiv-informierende Funktionen, sondern sie versuchen auch, die semantisch-hermeneutischen Dimensionen der Bilder darzulegen.

Bei gesellschaftlich umkämpften Begriffen verwende ich die aktuell politisch korrekten Wörter, z.B. statt »Flüchtlinge« also »Geflüchtete«, obgleich absehbar ist, dass auch diese Bezeichnung bald als rassifiziert dekonstruiert werden wird. Im geschlechtssensiblen Sprachgebrauch bleibe ich bei dem, was ich vor vierzig Jahren im Studium gelernt habe: Vollständige Paarbildung (Studentinnen und Studenten) oder geschlechtsneutrale Formulierung (Studierende). Damit exkludiere ich zwar nicht-binäre Geschlechtsidentitäten, nutze aber Lösungen, die den Kriterien barrierefreier Textgestaltung möglichst nahekommen. Denn keine einzige der bislang vorgeschlagenen Techniken des sprachlichen Genderns (Asterisk, Gap, Schrägstrich, Einklammerung, Doppelpunkt oder Binnenmajuskel) kann von digitalen Vorleseprogrammen fehlerfrei ausgegeben werden. Zugleich zeigt sich daran wieder einmal, dass es ein Regelwerk des inklusiven Sprachgebrauchs, das allen gerecht wird, (noch) nicht gibt.

Verortungen

 

 

Disziplinär ist unser »Dialog«-Projekt der International Vergleichenden Sonderpädagogik zuzuordnen. Jeder dieser drei Begriffe ist in den Sozialwissenschaften umstritten: Ist eine Komparatistik von Nationen bzw. Staaten theoretisch noch begründbar? Sind aber Vorschläge, den Begriff »International« durch »Interkulturell« oder »Transnational« zu ersetzen, überzeugender? Eine lange Debatte wird auch über den wissenschaftlichen Vergleich geführt, der in internationalen Studien oftmals in Rankings von Ländern, Systemen oder Kulturen mündet, wobei der angelegte Vergleichsmaßstab jedoch häufig problematisch ist. Bezeichnungen wie Heil- oder Sonderpädagogik, Special (Needs) Education oder Disability Studies werden ebenfalls kritisiert. Im Folgenden geht es deshalb um die geopolitischen Ordnungslogiken, mit denen in der International Vergleichenden Sonderpädagogik die »Eine Welt« gegliedert wird, und um die Frage, wo Deutschland und Iran in solchen Klassifizierungssystemen platziert werden.

 

Die Ordnung der sonderpädagogischen Welt

Adolf Dannemann hat 1911 ein »Enzyklopädisches Wörterbuch der Heilpädagogik« herausgegeben, in dem ein über 120 Spalten umfassendes Stichwort »Schwachsinnigenbildungs- und Fürsorgewesen in den einzelnen Kulturländern« zu finden ist. Der Beitrag wurde von Max Kirmsse verfasst, der als Begründer der deutschsprachigen vergleichenden sonderpädagogischen Geschichtsschreibung gilt (Hopmann 2007, 76). Die »Darstellung bewegt sich von A wie Afrika bis zu U wie Ungarn« (ebd.) und enthält »eine bunte Mischung von Fakten und Anekdoten, Hörensagen und gutem Glauben« (ebd., 77). Aus ebendiesen Gründen habe ich den Artikel nicht in die Analyse einbezogen. Gleichwohl schreibt Kirmsse, dass es in Asien »die frühesten Fürsorgebestrebungen zugunsten der Abnormen durch Anhänger des Islam« gegeben habe (Dannemann 1911, Spalte 1446). Diese Behauptung steht konträr zu der von dem christlichen Missionar Ernst Jakob Christoffel verbreiteten These, der Islam kümmere sich überhaupt nicht um beeinträchtigte Menschen (→ Beschreibungen).

Bereits 1977 haben Christa Theiner, Eva Künne und Klaus-Peter Becker in der Deutschen Demokratischen Republik die international vergleichende Studie »Zur Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung Geschädigter in sozialistischen Ländern« veröffentlicht. Zunächst werden in »Länderberichten« einige »wichtige bildungspolitische Grundsätze genannt. Es folgt die Darstellung wesentlicher Inhalte der Wissenschaft von der Erziehung Geschädigter sowie ein Überblick über das Bildungssystem und dessen gesetzliche Grundlagen« (Theiner et al. 1977, 5). Der »Vergleich ausgewählter Positionen soll unter Beachtung der nationalen Besonderheiten jedes Landes dazu dienen, den Gegenstand der Pädagogik physisch-psychisch Geschädigter noch tiefer zu erfassen und für die weitere Entwicklung des Bildungssystems physisch-psychisch Geschädigter neue Anregungen zu erhalten« (ebd.). Die Untersuchung präsentiert Länderberichte zur UdSSR, VR Polen, ČSSR, Ungarischen VR und DDR – also im Wesentlichen zu den Nachbarländern Ostdeutschlands. Geopolitisch nicht überraschend wird in der Darstellung mit der Sowjetunion begonnen, höflich steht der Bericht zur DDR am Schluss. Es wird nicht begründet, weshalb andere sozialistische Länder Europas (Albanien, Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien) oder außereuropäische Staaten wie Kuba, China, die Mongolei, Nordvietnam, Nordkorea, Angola oder Mozambik nicht einbezogen wurden, sodass ein etwas vollständigeres Bild zumindest der sozialistischen Welt »der Geschädigten« hätte gezeichnet werden können.

Auch in den von mir ausgewählten Kompendien werden nicht alle Länder dieser Welt erörtert, sondern – notwendigerweise – nur einzelne besprochen. Es war keine Überblicksdarstellung zu finden, in die sowohl Iran als auch Deutschland aufgenommen wurde. Deshalb analysiere ich nur diejenigen, in denen zumindest einer der beiden Staaten vertreten ist. Letztlich konnte ich drei wissenschaftliche Bücher hinsichtlich ihrer geopolitischen Ordnungslogiken auswerten: zwei englischsprachige (Peters 1993; Mazurek/Winzer 1994) und einen Beitrag der International Vergleichenden Sonderpädagogik im deutschsprachigen Raum (Klauer/Mitter 1987).

 

Sonderpädagogische Länderkunde

Meine erste Quelle ist die »Vergleichende Sonderpädagogik«, die Karl Josef Klauer und Wolfgang Mitter 1987 als letzten der elfbändigen Reihe »Handbuch Sonderpädagogik« herausgegeben haben. Es ist eine der wenigen staatenbezogenen Darstellungen, die in der deutschsprachigen Sonderpädagogik erschienen sind. Die Literaturlage ist allerdings insgesamt spärlich: Neben einzelnen monografischen Texten von Alois Bürli (1997, 2006, 2020) gibt es lediglich ein paar an systematischen Problemstellungen orientierte Sammelbände (Albrecht et al. 2006; Biewer et al. 2007; Sehrbrock et al. 2013). Jedenfalls konstatieren Klauer/Mitter (1987) im Vorwort zu ihrem Handbuch einen notorischen Mangel an Internationalität in der Disziplin:

»In fast allen bisherigen Darstellungen der Sonderpädagogik spielt der Aspekt des internationalen Vergleichens entweder überhaupt keine oder eine vernachlässigbar geringe Rolle. […] Wo immer es Sonderpädagogik gibt, scheint sie eine spezielle Variante des ptolemäischen Weltbildes zu pflegen, so als ob das eigene Land im Mittelpunkt der Welt stünde und als ob allenfalls noch einige benachbarte Länder existierten! […] Es gilt nicht nur, ein neues Fach zu gründen, sondern auch die Provinzialität zu überwinden, den Blick zu öffnen, das eigene Fach zu weiten durch Kenntnisnahme dessen, was draußen geschieht« (ebd., Vf.).

Als einen Beleg für diese Kritik führen die Autoren ebenjene Enzyklopädie an, in der ihr eigenes Kompendium erschienen ist:

»Das vorliegende elfbändige repräsentative Handbuch der Sonderpädagogik ist trotz aller unverkennbaren Weltoffenheit ein deutsches Handbuch. Es spiegelt auf verschiedene Weise und auf verschiedenen Ebenen den Mangel an Internationalität wider, der für die deutsche Sonderpädagogik (aber nicht nur für diese!) kennzeichnend ist. Die Beschäftigung mit dem international vergleichenden Zugang kann ein Weg sein, wie diesem Mangel begegnet werden kann« (ebd., 21).

In ihrem einleitenden Aufsatz zu den Grundfragen einer Vergleichenden Sonderpädagogik, in dem gleichzeitig die Konzeption des Bandes begründet wird, schreiben die beiden Herausgeber kurz und knapp:

»Selbstverständliche Basis aller komparatistischen Arbeit ist die Kenntnis der Verhältnisse in den verschiedenen Ländern der Erde. Im vorliegenden Zusammenhang geht es also um die Kenntnis der sonderpädagogischen Situation, wie man sie in den verschiedenen Ländern antrifft. Dabei ist die sonderpädagogische Situation in einem weiten Sinne gemeint: Dazu gehören selbstverständlich alle sonderpädagogischen Institutionen, also nicht nur die Sonderschulen. Dazu gehören aber auch die sonderpädagogischen Traditionen, die Theorien, die bildungspolitischen Zielsetzungen und dergleichen mehr« (Klauer/Mitter 1987, 19).

Die erste und grundlegende Aufgabe einer Vergleichenden Sonderpädagogik ist ihrer Ansicht nach somit die Darstellung der sonderpädagogischen Geschichte und Entwicklungen in den verschiedenen Nationalstaaten – Klauer/Mitter bezeichnen dies als »Sonderpädagogische Länderkunde« (ebd., 19). Länderdarstellungen sehen sie gleichsam als empirische Grundlage, von denen ausgehend dann problemorientierte Fragestellungen angegangen werden können: Sie nennen beispielsweise die unterschiedliche Wahrnehmung von Behinderung, den »Zusammenhang zwischen der allgemeinen Entwicklungshöhe eines Volkes und dem Ausmaß der sonderpädagogischen Hilfen« (ebd., 20) oder die Betrachtung der Konzepte und Institutionen bezogen auf einzelne Behinderungsformen (ebd., 20f.).

Ziel des Handbuchs war es, »so etwas wie eine internationale Bestandsaufnahme der Sonderpädagogik einzuleiten« (ebd., VI). Es sollten möglichst viele Länder beschrieben werden, ein vollständiges Kompendium vorzulegen sei jedoch, unter anderem aus Platzgründen, nicht möglich gewesen (ebd.). Die Beiträge sollten von Autorinnen und Autoren der ausgewählten Länder geschrieben werden, weil diese in der Regel über besonders intime Kenntnisse zum jeweiligen Land verfügen (ebd.). In den Entwicklungsländern sei es besonders schwierig gewesen, fachlich ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu finden (ebd., VI und VIII). Der länderkundlichen Sammlung wird ein »Allgemeiner Teil« vorangestellt, in dem »von verschiedenen Disziplinen ausgehend tatsächlich im engen und strengsten Sinn vergleichende Sonderpädagogik geboten werden sollte« (ebd., VIII). Die drei hier präsentierten Texte diskutieren neben den schon erwähnten disziplinären Grundfragen (Klauer/Mitter) Behinderung in der Sicht verschiedener Kulturen (Gisela Trommsdorff) und Bedingungen für die Entstehung und Weiterentwicklung der pädagogischen Förderung Behinderter im internationalen Vergleich (Ulrich Bleidick und Waldtraut Rath). Dann folgt der umfangreiche »Länderteil« (ebd., 99), der aber keinerlei Zusammenhang zu den einführenden systematisch-komparatistischen Kapiteln hat. Auch die Texte im Länderteil sind lediglich aneinandergereiht, es gibt keine vergleichenden Reflexionen. Wie von den Herausgebern angekündigt, werden »-kunden« geboten, also enzyklopädische Deskriptionen, die informativ, aber nicht analytisch sind.

Die Ordnungslogik des Länderteils ist nicht begründet. Die Darstellung beginnt mit »Europa« und hier mit Studien zur Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Es folgen Österreich und die Schweiz, vermutlich, weil dies ebenfalls deutschsprachige Länder sind, was im Falle der Schweiz bekanntlich jedoch eine eher gewagte Zuordnung wäre. Nach Darstellungen zu drei Ländern des Mittelmeerraumes (Italien, Spanien und Portugal) sind Frankreich, Belgien und die Niederlande, Großbritannien und Irland an der Reihe, dem sich ein zusammenfassender Text zu Skandinavien anschließt, in dem aber nur Dänemark, Schweden und Norwegen thematisiert werden. (Süd-) Osteuropa ist mit der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken (UdSSR), Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und zuletzt Griechenland vertreten.

Die zweite Ländergruppe ist mit »Vorderer Orient und Afrika« bezeichnet. Zunächst gibt es Berichte zur Türkei, zu Jordanien, Israel und Ägypten, dann einen Überblicksartikel zu »Schwarzafrika« (in dem sonderpädagogische Projekte aus Kenia, Ghana, Botswana und Nigeria präsentiert werden) und eine Einzeldarstellung zur Republik Südafrika. Der Teil zu »Amerika« startet mit Kanada und den USA, dann kommt ein zusammenfassender Artikel zu Mittelamerika und zur Karibik. Südamerika ist mit dem spanisch-sprachigen Ecuador und dem portugiesisch-sprachigen Brasilien repräsentiert, ein letzter Text widmet sich Lateinamerika insgesamt. Im dritten Teil sind Berichte zu »Asien und Australien« aufgenommen, beginnend mit einem Text zu Südostasien (Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand), dann zu Indien, zur Volksrepublik China, zu Taiwan, Korea und Japan, abschließend zu Australien.

Die von Klauer/Mitter gewählte Anordnung der Länderberichte nach Staaten, supranationalen Regionen (z.B. Skandinavien) und Kontinenten ist – auch für das Erscheinungsjahr 1987 – sehr germano- und eurozentrisch geraten. Die sonderpädagogische Welt wird in einem nach konzentrischen Kreisen gestalteten Zonenmodell beschrieben, mit den beiden Deutschlands (erst West, dann Ost) im Zentrum, von denen aus die Nachbarländer, dann die immer weiter entfernt liegenden Staaten dargestellt werden. Die Herausgeber reproduzieren somit das »ptolemäische Weltbild« der Sonderpädagogik mit dem eigenen Land als Mittelpunkt, das sie in ihrer Einleitung heftig kritisieren. In der impliziten Hierarchisierung der Staaten des kapitalistischen »Westblocks«, die bevorzugt vor den Ländern des sozialistischen »Ostblocks« präsentiert werden, spiegelt sich das geopolitische Denken des Kalten Krieges ebenso wider wie in der Nord/Süd-Perspektive, die tendenziell zuerst die Industrie- und dann die Entwicklungsländer eines Kontinents betrachtet. Etliche Benennungen reifizieren den kolonialen Sprachgebrauch: Der »Vordere Orient« war 1987 bereits als ideologische »Erfindung des Westens« dekonstruiert worden (u.a. von Said 1978). Auch »Schwarzafrika« ist 1987 nicht mehr begriffssensibel gewesen, zumal wenn man die Republik »Südafrika« (das ist dann »Weißafrika«?) davon abgrenzt.

Schon länger wird in der Fachdiskussion die Wahl von Kontinenten, supranationalen Regionen oder Nationalstaaten als Referenzräumen des internationalen Vergleichs kritisiert: »Sonderpädagogik mit Beiwörtern wie ›europäisch‹, ›asiatisch‹ oder ›international‹ zu schmücken, könnte einen Zusammenhang und eine Verbundenheit vortäuschen, die gar nicht vorhanden ist« (Bürli 1997, 194). Und in Bezug auf Staaten schreibt der Autor: »Innerhalb einer Nation kann es – je nachdem – mindestens so viele Unterschiede geben wie im Vergleich zu anderen (z.B. angrenzenden) Ländern. Nationale Abgrenzungen sind also reichlich willkürlich« (Bürli 2006, 36). Ähnliche Probleme diskutiere ich im vorliegenden Buch für den supranationalen Referenzraum »islamische Welt« (→ Dialoge). Die Vielgestaltigkeit solcher geopolitischen Entitäten wird zumeist eingeebnet, die Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten werden übergangen.

Andererseits ist die Bezugnahme auf Länder dann begründet, wenn auf Institutionen und Systeme fokussiert wird, weil gerade Erziehungs-, Bildungs-, Rehabilitations- und soziale Unterstützungssysteme vor allem nationalstaatlich fundiert sind. Bürli weist darauf hin, dass im 19. Jahrhundert Bildung und Curricula maßgeblich durch nationale Definitionen und Ideale, aber nicht durch supranationale oder europäische Ideen beeinflusst worden seien und auch heute noch Schule und Bildung durch nationale Strukturen und Vorgaben geprägt würden (Bürli 1997, 192). Diese Grundannahme müsse allerdings immer mehr in Frage gestellt werden, »und zwar angesichts offenkundig zunehmender Überlagerungen nationaler Kontexte durch internationale Verflechtungen, Austauschbeziehungen und Integrationsprozesse und der damit einhergehenden Entstehung komplexer Weltverhältnisse« (Bürli 2006, 37).

An anderer Stelle warnt der Autor, »dass es eigentlich müßig ist, die nationalen Sonderpädagogiken gegen supranationale, europäische oder weltweite sonderpädagogische Konzepte auszuspielen« (Bürli 1997, 197). Größere Gemeinschaften müssten weiterhin »auf kleinen, dynamischen Einheiten von angemessener, übersichtlicher Grösse [sic] aufbauen« (ebd.), und folglich brauche es noch eine Weile »die Nationalstaaten als Funktionseinheiten, so künstlich sie auch sein mögen. Dasselbe lässt sich wohl auch bezüglich der Sonderpädagogik sagen« (ebd.). In der Tat: Zwar beschränken wir uns in der Kooperation auf einen Städtevergleich, doch müssen wir auch Bezüge zu den nationalstaatlichen Kontexten oder zu intranationalen Referenzräumen wie z.B. Bundesländer oder Provinzen herstellen, denen die beiden Städte zugehören.

Vergegenwärtigen müssen wir uns auch, dass sich die Vergleichende Erziehungswissenschaft »in expliziter und systematischer Form seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts« im Zuge des Aufkommens »szientistischer und nationalistischer Denkmuster« (Bürli 2006, 29 und 37) herausgebildet hat. Kritische Stimmen zum methodologischen Nationalismus behaupten, dass alle Kategorien, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften genutzt werden – Staat und Politik, Gesellschaft und Gemeinschaft, Recht und Gerechtigkeit, Sozialisation und Erziehung, Haushalt und Familie, Geschichte und Kultur, Wissen und Bildung –, aus historischen Gründen nationalgesellschaftlich codiert seien (Wimmer/Glick-Schiller 2002). Auch Begriffe wie Integration und Inklusion gehören ganz gewiss zu diesem methodologischen Erbe, das in international vergleichenden sonderpädagogischen Länderberichten oftmals unkritisch weitergegeben wird.

 

Entwicklungsmodelle sonderpädagogischer Praxis

Sieben Jahre nach dem Handbuch von Klauer/Mitter (1987) erschien in den USA ein ähnliches Überblickswerk: »Comparative Studies in Special Education«, herausgegeben von Kas Mazurek und Margret A. Winzer (1994), beide aus Kanada. Obgleich das deutsche Handbuch keine Erwähnung findet und Deutschland auch gar nicht als »Case-Study« (ebd., XI) vertreten ist, liest sich die Einleitung wie eine methodologische und ethische Kritik zur sonderpädagogischen Länderkunde der deutschen Enzyklopädie. Zwar gibt es einige methodische Gemeinsamkeiten, zum Beispiel die Wahl des nationalstaatlichen Referenzraumes, um über »essential aspects of special education in nations around the globe« zu berichten (ebd., XIII). Oder die Entscheidung, die Ländertexte nur von Autorinnen und Autoren schreiben zu lassen, die sowohl im jeweiligen Land leben als auch dazu forschen oder aktiv in die Gestaltung der nationalen Bildungssysteme involviert sind, über die sie schreiben (ebd., XIV). Und die Vorgabe an die Autorinnen und Autoren, bestimmte thematische Aspekte in ihren Länderberichten abzuarbeiten, die, wie auch im Handbuch von Klauer/Mitter (1987, VIIf.), Probleme der Prävalenz, der Identifizierung, der Etikettierung, des sozialen und rechtlichen Kontextes, des Schulsystems und zentrale nationale Kontroversen zu Behinderung umfassen (Mazurek/Winzer 1994, XII).

Ein zentraler Unterschied zum deutschen Handbuch ist hingegen, dass Mazurek und Winzer ihr sonderpädagogisch-vergleichendes Kompendium an die internationale Debatte um den »kulturellen Imperialismus« anschließen (ebd., XX). Empirisch unterfütterte Konflikttheorien hätten gezeigt, dass die wissenschaftlichen Perspektiven und daraus abgeleitete politische und pädagogische Praktiken einiger international dominanter Kulturen bzw. Nationen in viele ökonomisch und normativ subalterne Länder »exportiert« bzw. diesen übergestülpt wurden (ebd.).

»Applied to special education, the consequences are clear. Just as some nation’s economic systems are more ›developed‹ than others’, just as some governments and legal systems are more ›humane‹ than others, so too are some special education philosophies and practices more ›advanced‹ than others« (ebd., XXIV).

Zwar würden diese hegemonialen Theorien und Konzepte in den Empfängerländern oftmals begrüßt und die Übernahme der Ideen forciert, nicht zuletzt, um die externe Finanzierung nicht zu gefährden. Doch gerade in der internationalen Komparatistik müssten sehr sorgfältig die sozialen und kulturellen Bedingungen der Erziehung und Bildung reflektiert werden.

»The diversity within special education around the globe is, in other words, merely a reflection of the diversity of cultures around the world. […] We can ›explain‹ this variance perfectly well by employing the social context perspective. […] The cultural milieu determines attitudes and practices in special education, in turn special education is ideologically and pragmatically supportive of and reinforces the general milieu. It is a circular argument – a tautology from which there is no escape« (ebd., XXIf.).

Es sei gerade die Stärke des vergleichenden Ansatzes, lokale soziale Kontexte genau zu beschreiben, regionale Praktiken zu rekonstruieren und nationale Differenzierungen sichtbar zu machen. Diese sollten jedoch nicht durch ethnozentrische Beobachtungsperspektiven (ebd., XXI) verstellt werden.

»There are real and important sociopolitical-economic idiosyncrasies in the various national milieus in which special education is practised. It is certain that there are unique elements to each specific context, and unique problems and issues arise which demand tailored solutions. For these reasons those who conduct comparative studies are always cautious about the degree to which global generalizations can be made from case studies« (ebd., XIX).

Trotz dieser kulturrelativistischen Positionierung gehen Mazurek/Winzer davon aus, dass ein Handbuch der sonderpädagogischen Komparatistik einen theoretisch und empirisch begründeten Rahmen benötige, innerhalb dessen sich die Fallstudien vergleichen lassen. Hierfür konstruieren sie fünf verschiedene »Modelle«, die beschreiben, wie sonderpädagogische Praxis in den verschiedenen Ländern organisiert ist. Keines dieser Modelle ist ihrer Ansicht nach besser oder schlechter. Vielmehr sei es eine übliche Herangehensweise, Länder hinsichtlich der Potenziale und Grenzen ihrer sozialen und ökonomischen Bedingungen zu gruppieren (ebd., XXXI).

»Essentially, our models are founded on the political will, public commitment, and the number of children served, not on an ideological commitment to educational integration as it is currently perceived in Western societies. […] Promoting models of mainstreaming and integration drawn from highly developed systems and trying to fit them to the unique circumstances of varied nations may doom the enterprise of special education to isolation and ultimate failure« (ebd., XXXI).

Sie betonen, dass mit den fünf Ländergruppen nicht die Formen der prosperierenden westlichen Staaten als ideale Modelle der Sonderpädagogik präsentiert und somit der kulturelle Imperialismus reifiziert werden sollen (ebd.). Überdies könnten sich die Länder einer Gruppe hinsichtlich regionaler Disparitäten oder ungleicher Teilhabechancen der Geschlechter und Ethnien unterscheiden. Die fünf Modelle werden folgendermaßen abgegrenzt (ebd., XXX–XXXIII):

 

■ Länder mit Limited Special Education zeichnen sich dadurch aus, dass nur sehr wenige Menschen mit Behinderung einen Zugang zum Rehabilitationssystem und zu sonderpädagogischer Unterstützung haben und es somit noch Jahrzehnte benötigt, entsprechende Angebote zu schaffen. Es sind zumeist Staaten, die relativ spät die Unabhängigkeit erlangt und immer noch mit den Folgen kolonialer Strukturen zu kämpfen haben. In diesen Ländern, die weltweit zu den ärmsten gehören, ist der Zugang zu schulischer Bildung insgesamt noch nicht für alle Kinder gesichert, und deshalb erreicht Sonderpädagogik nicht mehr als einen »kosmetischen Level« (ebd., XXXII). Dieser Gruppe sind die Republik Südafrika, Papua-Neuguinea, Senegal sowie Palästina zugeordnet.

■ In Ländern mit Emerging Special Education ist das Ziel einer Universalisierung der sonderpädagogischen Förderung durch ein differenziertes präventives, rehabilitatives und früh förderndes System ebenfalls noch eine Utopie, auf die aber beharrlich und in Teilen erfolgreich hingearbeitet wird. In diesen Nationen besteht ein gesellschaftlicher und politischer Konsens, dass Menschen mit Behinderung ein Recht auf staatlich-öffentliche Unterstützung haben, und es gibt einen gesetzlichen Rahmen, der diese Rechte einklagbar macht. Nigeria, die Islamische Republik Iran, Brasilien, Indonesien, Ägypten, Pakistan, China, Indien und Uruguay sind in dieser Gruppe zu finden.

■ Im Modell Segregated Special Education sind Japan, Taiwan, Russland, die Tschechoslowakei und Hongkong platziert. Dort erhalten viele Menschen mit Behinderung die erforderliche Unterstützung, die vornehmlich in einem eigenen, hochspezialisierten behinderungsspezifischen System organisiert wird. Im Regelsystem sind sonderpädagogische Problemstellungen hingegen wenig präsent in der Annahme, dass entsprechende Angebote am besten in differenzierten Spezialschulen und Rehabilitationseinrichtungen organisiert vorgehalten werden könnten. Vermutlich wäre ein Länderbericht zu Deutschland – im Erscheinungsjahr 1994 – ebenfalls dieser Gruppe zugeordnet worden.

■ Zu Staaten mit Approaching Integration werden Israel, Polen, Österreich und Kanada gezählt. Im Gegensatz zum vorherigen Modell wird politisch vor allem auf Integration und Inklusive Schulen gesetzt. Das segregierte System soll so schnell wie möglich abgebaut werden, die Verantwortung für alle benachteiligten und beeinträchtigten Menschen wird in den »natural units of family and community« (ebd., XXXIII) gesehen. Diese Staaten versuchen, gleiche Zugänge für alle zu eröffnen, beispielsweise zu den Regelschulen am Wohnort.

■ Die fünfte Staatengruppe mit Integrated Special Education hat bereits überwiegend inklusive Strukturen geschaffen. Allerdings bestehen weiterhin innergesellschaftliche Kontroversen und erhebliche Probleme der Sicherung einer flächendeckenden Qualität eines solchen Angebots, nicht zuletzt, wenn diese Länder in wirtschaftliche Rezessionen geraten oder hauptsächlich die Kommunen für die Finanzierung des Angebots zuständig sind, was in sozioökonomisch schwachen Regionen zu Benachteiligungen führen kann. In jeweils einem gemeinsamen Beitrag sind Finnland, Norwegen und Schweden sowie England und Wales dargestellt, außerdem gibt es Case-Studies zu den USA und Neuseeland.