Istanbul Tango - Esmahan Aykol - E-Book

Istanbul Tango E-Book

Esmahan Aykol

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Beschreibung

Sie tanzt Tango, wohnt in einer schicken Wohnung mitten in Istanbul, die Liebhaber kommen und gehen – doch seit kurzem schwebt die Modejournalistin Nil in Lebensgefahr. Um ihr zu helfen, setzt die Buchhändlerin Kati Hirschel ihre Krimi-Kenntnisse ein und beginnt zu recherchieren.

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Seitenzahl: 341

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Esmahan Aykol

Istanbul Tango

Ein Fall für Kati Hirschel

Roman

Aus dem Türkischen von Antje Bauer

{5}1

Diese Hektik! Er lehnte sich mit dem Oberkörper weit aus dem Fenster und brüllte hinunter: »Wir sind gleich da!«, dann wandte er sich mir zu: »Los, mach schnell, das Taxi wartet!«

Ich schwieg. Was soll man da schon sagen? Seit fünf Minuten stand ich ausgehfertig an der Tür, im Trenchcoat, die Handtasche am Arm, und sah ihm zu, wie er durch die Wohnung rannte.

Jetzt hatte er den petrolfarbenen Pulli aus seinem Zimmer geholt und schwenkte ihn wie eine Fahne. »Der bringt mir Glück, das hast du selbst gesagt.«

»Fofo!!« Das genügte. Der Ton und mein Gesichtsausdruck sagten mehr als tausend Worte.

»In Ordnung! Ist ja gut! Reg dich nicht auf!« Er klopf‌te nochmals seine Hosentaschen ab, um sicherzugehen, dass er auch nichts vergessen hatte, rief: »Der Schlüssel steckt, oder?«, und hastete die Treppe hinunter. Ich schloss ergeben die Tür ab und folgte ihm.

Als ich unten ankam, hatte Fofo sich bereits auf dem Vordersitz niedergelassen. So af‌fektiert, wie er den Sicherheitsgurt anlegte, musste der Fahrer wohl attraktiv sein, jedenfalls in Fofos Augen. Was Männer angeht, haben wir nicht eben denselben Geschmack.

{6}»Wohin?«

Da Fofo mit dem Fahrer ins Gespräch kommen wollte, antwortete er sofort: »Nach Firuzağa.«

Im Rückspiegel sah ich, wie der Fahrer das Gesicht verzog. Verständlich. Zu Fuß hätten wir höchstens zwanzig Minuten gebraucht. Für so eine kurze Strecke lohnte es sich für einen Taxifahrer nicht, den Platz in der Warteschlange am Taxistand aufzugeben. Und dann hatte er noch minutenlang auf uns gewartet.

»Ich gebe Ihnen ein Trinkgeld«, versprach ich sofort, um keine Missstimmung aufkommen zu lassen. Seit einiger Zeit versuche ich, mich nicht über alles aufzuregen und vor allem keinen Streit mit Taxifahrern anzufangen. Gelassenheit gehört zu den Vorzügen des reiferen Alters.

Fofo steckte den Kopf zwischen die beiden Sitze und flüsterte: »Was sie wohl sagen wird?« Mit »sie« meinte er die Hellseherin, zu der wir gerade fuhren. Mir war es völlig egal, was sie weissagen würde, aber ich wollte meinen armen, liebeskranken Fofo nicht anblaffen.

»Warten wir’s ab«, sagte ich deshalb nur ausweichend.

Wie einige von Ihnen wissen, ist Fofo einer meiner engsten Freunde. Und nicht nur das: Wir wohnen und arbeiten auch zusammen. Oder, genauer: Er wohnt und arbeitet bei mir. In einer der angesagtesten Straßen des Galata-Viertels betreibe ich einen Krimibuchladen. Nicht nur die Istanbuler Leser kennen mein Geschäft, sondern auch viele Touristen, die die schönste Stadt der Welt besuchen.

Und – in aller Bescheidenheit – die große Wohnung, {7}in der wir wohnen, mit den hohen Decken und dem Blick auf die Blaue Moschee und das Topkapı – die gehört ebenfalls mir. Heute könnte ich mir so was nicht mehr leisten – unser Viertel ist mittlerweile schick geworden. Letztes Jahr habe ich meine Schulden abbezahlt, insofern bin ich jetzt entspannt. Den Laden habe ich seither ein bisschen vernachlässigt, aber so langsam spüre ich, wie die Kräf‌te wiederkommen. Das ist auch gut so, denn ich möchte meinen Laden vergrößern und das Angebot erweitern. Hof‌fentlich klappt’s.

Nach einer langen Phase der Unentschlossenheit habe ich mir kürzlich auch eine neue Frisur zugelegt. Jetzt bin ich blond und trage die Haare kurz. Wenn Sie mich allerdings fragen, ob das was gebracht hat – bislang nicht. Ich habe immer noch keinen Liebhaber, gebe aber die Hoffnung noch nicht auf. Unter den fast drei Milliarden Männern weltweit wird wohl einer für mich dabei sein.

 

Wir hatten bereits das Italienische Krankenhaus passiert, da trat der Taxifahrer plötzlich auf die Bremse. Ich wurde kräf‌tig nach vorne und dann nach hinten geschleudert. Der hatte seinen Führerschein wohl im Kramladen gekauft!

»Auf dem Firuzağa-Platz gibt es Bauarbeiten, der ist gesperrt. Soll ich die Seitenstraßen nehmen oder wollen Sie lieber laufen?«

»Lass uns laufen. Dann können wir auf dem Weg einen Tee trinken«, schlug Fofo vor.

Eigentlich hatte ich keine Lust auf Tee und außerdem {8}null Bock auf die Abgase und den Lärm der Planierraupen. Zugegeben, ohne diesen Krach fehlte mir inzwischen etwas. Seit die Baulöwen in Istanbul die Macht an sich gerissen haben, gehören die Planierraupen zur Stadt wie die Dornen zur Rose.

Während wir die Cafés in Firuzağ nach einem freien Platz absuchten, stieß Fofo plötzlich einen kleinen Schrei aus. »Oh, guck mal! Ist das nicht die junge Schauspielerin aus der Fernsehserie auf Star TV?«

»Was für eine Serie?«, fragte ich.

Fofo erstarrte kurz, dann antwortete er ironisch: »Oh, Entschuldigung! Wie konnte ich nur! Da frage ich ausgerechnet den einzigen Menschen weit und breit, der keine Fernsehserien guckt!«

Stimmt schon: Ich gucke keine TV-Serien. Ich sehe gar nicht fern. Sowie Fofo nach der Fernbedienung greift, schnappe ich mir ein Buch und verziehe mich in mein Zimmer. Jetzt fiel mir der Krimi wieder ein, den ich gestern Abend angefangen hatte und der zu Hause auf mich wartete. Heute musste ich nicht mal zum Laden, ich hatte frei. Vor mir lagen Stunden der angenehmsten Versenkung in seitenlange Verbrechen. Und ich wollte keine Minute mehr als nötig von dieser Zeit abzwacken.

»Los«, sagte ich. »Trink deinen Tee aus und lass uns gehen, die Hellseherin erwartet uns.«

Erstaunlich folgsam kippte Fofo seinen schon kalten Tee hinunter und stand auf. Ich kramte in meinem Portemonnaie und legte ein paar Münzen auf den Tisch.

 

{9}Wir nahmen die Treppe neben dem Café und bogen dann links ein. »Hier irgendwo muss es sein«, sagte Fofo und deutete auf die Häuserreihe vor uns.

Na, klasse! Hof‌fentlich würde es es in den nächsten Stunden kein Erdbeben geben, denn sonst würden wir keines dieser Häuser lebendig verlassen.

»Tören Appartement, Wohnung 8«, murmelte Fofo und ging auf ein schmutziggelbes Gebäude zu, natürlich das schlimmste von allen. Nein, nicht wegen der Farbe. An mehreren Stellen bröckelte der Beton, dahinter waren verrostete Eisenträger zu sehen. Und wenn ich nicht plötzlich zu schielen begonnen hatte, lehnte dieses Haus leicht an seinem rechten Nachbarn.

Ich packte Fofo am Arm und flehte: »Lass uns bitte gehen. Wir können doch im Internet Tarotkarten legen und uns das Horoskop angucken!«

Fofo sah mich mit unverhohlener Verachtung an – diesen Ausdruck war ich bei ihm nicht gewohnt. »Wir können auch das Blumenorakel befragen«, zischte er. Ich gab klein bei und folgte ihm.

Auf einer engen Treppe ging es hinauf bis in den vierten Stock. Das Geländer wackelte, als ob es sich gleich aus der Verankerung lösen würde. Jede Stufe schien unter meinem Fuß nachzugeben. Was hatte ich hier bloß verloren? Ich klingelte.

Eine junge Frau öffnete die Tür. Über ihrem riesigen T-Shirt hing ein Dreifachkinn. Ich starrte sie kurz an, dann fasste ich mich wieder.

»Wie wollten uns den Kaf‌feesatz lesen lassen. Wir haben einen Termin.«

{10}Das Mädchen ließ uns nicht aus den Augen, während sie laut in die Wohnung rief: »Muttiii, hast du einen Termin ausgemacht?«

Eine halbe Minute lang warteten wir vergeblich auf eine Antwort, dann sagte das Mädchen: »Ziehen Sie die Schuhe aus und kommen Sie rein.«

Wenn ich bei den Orientalen eine einzige Veränderung herbeiführen dürf‌te, dann würde ich dafür sorgen, dass man beim Betreten einer Wohnung nicht mehr die Schuhe ausziehen muss, das können Sie mir glauben. Zum einen sind Leute in Strümpfen kein schöner Anblick. Und außerdem verstößt man damit gegen das Recht auf Distanz, denn nicht alle Leute stehen mir so nahe, dass ich ihnen meine Strümpfe zeigen möchte. Fofo zuliebe moserte ich nicht herum, aber ich verzog das Gesicht.

Als ich allerdings der Frau ansichtig wurde, die im Wohnzimmer mit aufgestützten Ellenbogen am Esstisch saß, vergaß ich meinen Orientalismus, meine Erdbebenängste und meine Hello-Kitty-Strümpfe. Sie war interessant. So interessant, dass ich bereit gewesen wäre, allein für ihren Anblick Geld zu bezahlen, auch ohne Weissagung. Eine Riesin aus dem Märchen saß da vor mir: mit riesigen Lippen und einem ausladenden Körper. Bestimmt ließ jeder ihrer Schritte die Erdkugel erzittern. Bei aller Körperfülle war sie aber weder hässlich noch abstoßend, noch ekelerregend.

»Wollen Sie sich beide die Zukunft lesen lassen?«, fragte sie mit harter, keinen Widerspruch duldender Stimme. Fofo überging ihre Frage und schob mich vorwärts.

{11}»Zuerst ist sie dran.«

Wieso lässt sich ein Mensch die Zukunft lesen? Weil er unglücklich verliebt ist oder weil er seine große Liebe verdächtigt, ihn zu betrügen. Das heißt, weil im Liebesleben irgendwas falsch läuft. Wie ich aber vorhin schon erläutert habe, gibt es in meinem Leben nichts, was man als »Liebesleben« bezeichnen könnte. Insofern hatte ich auch keinerlei Absicht, mir die Zukunft deuten zu lassen.

»Zu welcher Frage sollte ich mir weissagen lassen?«, fragte ich ihn scharf. Ich war nur mitgekommen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er hatte mich hereingelegt.

»Du kannst doch fragen, wie es mit dem Laden weitergeht.«

Ich verstummte sofort. Das war eigentlich gar keine schlechte Idee. Schließlich trug ich mich mit dem Gedanken, den Geschenkeladen nebenan zu übernehmen und mein Angebot zu erweitern. Mit einem Büchercafé zum Beispiel. Vor meinem inneren Auge sah ich fröhliche Gäste vor Bücherregalen sitzen und Kaf‌fee schlürfen. Gelächter, Kaf‌feeduft, Schokokuchen, Biosalate, abends Wein … Vielleicht war es ja nützlich zu erfahren, ob ich diese Träume würde wahrmachen können.

»Das ist eine gute Idee«, erklärte ich deshalb und setzte mich der Frau gegenüber an den Tisch.

»Wie möchten Sie Ihren Kaf‌fee?«, fragte das Mädchen, das uns die Tür geöffnet hatte. Damit wollte sie nicht der berühmten türkischen Gastfreundschaft Genüge tun, sondern sie fragte, weil das Kaf‌feesatzlesen darauf {12}beruht, dass man aus den Mustern, die der Kaf‌feesatz in der Tasse hinterlässt, Symbole herausliest und diese interpretiert. Dabei braucht man kein sonderlich ausgeprägtes Abstraktionsvermögen: Ein Herz zum Beispiel bedeutet, dass der Mensch sich verlieben wird. Eine Schlange heißt, dass ein Feind auf der Lauer liegt. Ein Vogel kündigt eine Nachricht an.

»Mit wenig Zucker«, antwortete ich.

Schweigend wartete ich auf meinen Kaf‌fee und beobachtete nur gelegentlich die Hellseherin aus den Augenwinkeln. Am liebsten hätte ich sie stundenlang betrachtet, aber ich nahm mich zusammen. Of‌fen gestanden fühlte ich mich etwas kläglich, wie ich da mit meinen Hello-Kitty-Strümpfen in der Wohnung einer Unbekannten saß, die mir noch dazu die Geheimnisse meines Lebens of‌fenbaren sollte.

Für meinen Geschmack war der Kaf‌fee etwas süß geraten. Aber ich trank ihn schnell aus, ohne mich zu beklagen, um nur möglichst schnell diese Tortur hinter mich zu bringen.

»Überleg dir einen Wunsch, kipp die Tasse in deine Richtung um, stell sie auf die Untertasse und beschreib mit der Untertasse einen waagrechten Kreis«, befahl die Frau und machte mit Gesten vor, was ich zu tun hatte.

»Und jetzt warten wir, dass es abkühlt.« Meine Bemühungen, ihr zu zeigen, dass ich keine Fremde war, fand ich belustigend. Natürlich bin ich hier nicht fremd. Ich bin hier geboren und habe mit Ausnahme von zwanzig Jahren mein gesamtes Leben in diesem Land verbracht, {13}in dem an jedem gottgegebenen Tag Kaf‌fee getrunken und der Kaf‌feesatz gelesen wird.

»Wie heißt du?«

»Kati Hirschel.«

»Warst du schon mal hier, Kati?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Noch nie?«

Ich verneinte erneut.

»Ich würde mich sonst erinnern. Wie heißt deine Mutter, Kati?«

Entsetzt schrak ich zusammen. Seit zehn Tagen hatte ich meine Mutter nicht angerufen. Das würde sie mir ewig vorwerfen. Ich fühlte mich plötzlich bleischwer.

»Rosalie«, murmelte ich.

Mit der Behutsamkeit eines Forschers berührte sie die Tasse, um zu sehen, ob der Kaf‌feesatz abgekühlt war. »Warten wir noch ein bisschen.« Mir gefiel, dass sie ihre Arbeit so ernst nahm. Ihr so stumm gegenüberzusitzen, gefiel mir weniger. Fofo hatte sich in eine Ecke des Schlafsofas gefläzt und starrte auf den Boden. Mein Blick fiel auf den Teppich. Es war ein billiger, maschinengewebter Teppich in Bordeaux- und Grautönen. Aus lauter Langeweile begann ich, die Blumenmotive zu zählen. Mit irgendwas musste ich mich schließlich beschäf‌tigen. Als ich alle Motive zusammengezählt hatte, ergriff mich Entsetzen. Das konnte doch nicht sein! Ich versuchte, mich zu beruhigen, und zählte noch einmal. Nein, ich hatte mich nicht geirrt! Es waren genau 22 Motive in den Teppich eingewebt. Doppelzahlen bedeuten nichts Gutes. Wirklich. Probieren Sie es aus, wenn Sie {14}mir nicht glauben. Primzahlen zum Beispiel sind großartig. Das sind die besten Zahlen überhaupt. Sehr stark. Können sich gegen alle Zahlen der Welt durchsetzen, denn man kann sie nur durch sich selbst und durch eins teilen. Doppelzahlen hingegen sind übel. Wirklich übel.

Nicht eine Sekunde länger hielt es mich an einem Ort, wo ein Teppich mit zweiundzwanzig Motiven lag. Fofo und Kaf‌feesatzleserei hin oder her, ich musste sofort von hier verschwinden. Doch kaum hatte ich die Hand nach meiner Tasche ausgestreckt, da überfiel mich wieder ein Zweifel. »Moment«, sagte ich zu mir selbst. »Schau doch erst mal genau hin.« Das tat ich. Fast ein Viertel des Blumenmotivs am Rand des Teppichs ging in die Fransen über. Wenn es nur 21 ¾ Blumen waren, war es vielleicht nicht so schlimm. Teilweise jedenfalls. Während ich so dasaß, von Zweifeln geplagt, meine Handtasche umklammernd, murmelte die Wahrsagerin plötzlich in feierlichem Ton: »Kati Hirschel.« Sie hatte den Kaf‌fee für kalt befunden und die Tasse aufgestellt. Eine ganze Weile starrte sie auf die Muster, die der Kaf‌feesatz gebildet hatte. Währenddessen betrachtete ich sie und versuchte, die unglückbringende Anzahl der Teppichmotive zu vergessen. Die Frau verzog das Gesicht, runzelte die Stirn und sah mich dann ratlos an.

»Diesen Kaf‌feesatz kann man nicht lesen!«, rief sie und hielt dabei die Tasse mit den Fingerspitzen hoch, als handele es sich um etwas Ekliges.

»Was soll das heißen?«

»Den kann man nicht lesen«, wiederholte sie, stellte {15}dabei die Tasse umgedreht auf den Unterteller und schob beides an die entfernteste Ecke des Tisches.

»Wieso denn nicht?«

Sie antwortete nicht. Ich blickte fragend Fofo an, der in den letzten Monaten bei Wahrsagerinnen ein und aus gegangen war. »Sie hat was Schlimmes gesehen«, antwortete er mit gesenktem Kopf.

»Was heißt hier: etwas Schlimmes?«

»Woher soll ich das wissen?«, gab Fofo gereizt zurück.

»Könnten Sie mir bitte sagen, was Sie gesehen haben?«, fragte ich diesmal die Wahrsagerin. Sie wirkte ernsthaft verstört. Wenn das nur Theater war, dann hätten die Filmregisseure vor dem Haus dieser fabelhaften Schauspielerin Schlange stehen müssen. Sie war echt gut.

»Was haben Sie denn gesehen?«, fragte ich nochmals – meine Stimme klang streng. Sie reagierte nicht.

Wie kam es nur, dass diese Frau plötzlich schwieg wie eine Nachtigall, die sich an Maulbeeren überfressen hat? Dass sie meine sexuellen Phantasien im Kaf‌feesatz gelesen hatte, war wohl nicht anzunehmen.

»Einen Toten?«, rief ich, erkannte jedoch sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass ich den absolut falschen Ausdruck gewählt hatte. »Also, ich meine – einen Leichnam?«

Was sollte denn sonst im Kaf‌feesatz von jemandem auf‌tauchen, der wie ich einen Krimibuchladen besitzt und jede Woche zwei Krimis verschlingt? Blonde, schnuckelige Kinder etwa, die auf einem Rasen mit herzförmigen Luftballons spielen?

{16}»Und was ist das für ein Leichnam?«, fragte ich weiter. »Jung, alt, Frau oder Mann? Das könnten Sie mir doch zumindest sagen.«

»Eine junge Frau. Sehr schön.« Sie sprach, als ob sie gleich den Geist aufgeben würde.

»Wann wird sie sterben?«

Nun warf die Frau den Kopf zurück, wobei ihr Mund einen Spalt geöffnet blieb. Es sah ziemlich schrecklich aus. Sie legte die Hand auf ihr Herz und rief: »Huriyeee!«

Ich nahm ihren Arm. »Ist Ihnen nicht gut?«

Sie hatte noch immer die Hand auf dem Herzen und röchelte: »Hu-ri---yeee!«

Fofo war aufgestanden, aber kümmern musste ich mich mal wieder. Ich rief nun meinerseits: »Fräulein Huriye!«

»Was ist?« Das Mädchen erschien auf der Türschwelle und knetete ihre nassen Hände. Als sie ihre Mutter sah, stürzte sie zu ihr hin.

»Sie braucht ihre Medikamente.«

Was immer das für Medikamente waren – sowie sie sie eingenommen hatte, beruhigte sich die Wahrsagerin ein wenig – ein Placebo-Ef‌fekt, vermutete ich, denn keine Pille kann so schnell wirken.

»Heute werde ich nicht mehr wahrsagen«, sagte sie zu ihrer Tochter. Uns ignorierte sie, aber ich nahm es ihr nicht übel.

»Und was wird mit meinem Freund?«, fragte ich trotzdem, denn Fofo lebte schon seit Tagen auf diesen Termin hin.

{17}»Sie kommen eben ein andermal wieder«, entgegnete Huriye naseweis. »Mutter, streck dich ein bisschen auf dem Sofa aus.« Sie reichte ihrer Mutter den Arm, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Ich wagte nicht, mich anzubieten.

Fofo hatte sich bereits in sein Schicksal gefügt und wiederholte, was die junge Frau gesagt hatte: »Wir kommen eben ein andermal wieder.«

»Ich nicht!«, entgegnete ich. Vor allem würde ich nicht noch einmal meine Schuhe ausziehen. Aber das führte ich jetzt nicht weiter aus. Für diesmal hatte ich den Damen des Hauses einen Skandal geliefert, an dem sie noch ein paar Tage zu nagen haben würden. »Geh schon, Fofo!«

Wir zogen die Schuhe an und stiegen die Treppe wieder hinunter – das Treppengeländer wackelte so stark wie zuvor, aber wenigstens mussten wir jetzt nicht mehr befürchten, bei einem Erdbeben zu den ersten Toten zu gehören. Wie Sie sehen, bin ich ein Champion in der Kunst, jeder Situation das Beste abzugewinnen.

Draußen auf der Straße holte ich tief Luft. Of‌fen gestanden laugt es mich aus, mit solchen Leuten in Kontakt zu kommen, und sei es nur marginal. Schiefe Treppen, vollgepfropf‌te Drei-Zimmer-Wohnungen mit kitschigen Bildern von der Kaaba in Mekka, Buffets aus Kiefernholz, Schlafsofas und bodenlange Stores – das macht mich fertig. Und dann noch die Blumen in dem maschinengeknüpf‌ten Teppich. Ich hätte sofort weggehen sollen, nachdem ich das bemerkt hatte. Aus dieser Sache konnte einfach nichts Gutes werden.

{18}»Komm, lass uns hier noch was trinken«, schlug ich Fofo vor. Ich brauchte frische Luft. Wir bestellten Tee und schwiegen.

In solchen Momenten würde ich gern eine rauchen. Ich stelle mir vor, wie ich mir die Zigarette anzünde und zum Mund führe, dann den Rauch tief einziehe, genussvoll wieder ausstoße und zusehe, wie er vom Wind zerstoben wird. So wie der Zigarettenrauch bin auch ich dann von der Erdanziehung befreit, fliege still, lasse mich auf Ästen nieder.

Allerdings muss ich mir immer wieder selbst klarmachen, dass eine Zigarette nichts an der Schwerkraft ändert. So ist das eben. Eine Zigarette ist keine Lösung. Sie befreit niemanden von der Schwerkraft und der Banalität des Lebens.

»Gehen wir eben ein andermal wieder hin, was soll’s«, sagte Fofo.

»Ja, klar. Am besten hättest du gleich einen neuen Termin ausgemacht«, antwortete ich spöttisch. Dabei war mir eigentlich gar nicht nach Spott zumute. Der Zustand der Frau hatte mich nicht unberührt gelassen. »Was glaubst du, wer sterben wird?«

»Mensch, vergiss es! Bestimmt hat sie nur einen deiner Romanhelden im Kaf‌feesatz gesehen. Wir kennen doch gar keine junge, schöne Frau, die sterben könnte.«

Eine junge Frau kannten wir in der Tat nicht, wohl aber eine »ziemlich junge«: Pelin. Jahrgang 1976. Als schön konnte man sie zwar nicht bezeichnen, trotzdem ließ mir die Sache keine Ruhe. Viele Leute finden magere, große Frauen schön.

{19}Die Tote in dem Krimi, dessen erste hundert Seiten ich bereits gelesen hatte und dem ich mich so schnell wie möglich wieder zuwenden wollte, war hingegen mit ihren fünfundzwanzig Jahren nicht nur tatsächlich jung, sondern der Beschreibung des Autors nach auch wirklich schön. Ida Smith hatte man in einer videoüberwachten, hochgesicherten Luxusresidenz in der Badewanne tot aufgefunden.

Sie war die Leiche im Kaf‌feesatz, ganz sicher.

 

Zu Hause angekommen, krallte ich mir meinen Roman und verkroch mich aufs Sofa. Ich war fest entschlossen, die Vorgänge bei der Wahrsagerin zu vergessen.

Aber keine Chance! Da über jedem Buchstaben Pelins lächelndes Gesicht auf‌tauchte, gab ich auf der dritten Seite auf und suchte stattdessen in der Küche nach etwas, was ich saubermachen könnte. Einen angebrannten Topf zum Beispiel. Den hätte ich jetzt mit großer Inbrunst saubergekratzt. Aber nichts. Auch die Fenster glänzten. Wann Fatma die wohl geputzt hatte? Gestern. Stimmt ja, gestern war sie da gewesen. Wann immer mich der Putzfimmel packt, hat Fatma am Vortag alles auf Hochglanz poliert. Die Ironie des Schicksals.

Ich hätte ja auch shoppen gehen können. Irgendetwas findet man immer. Aber in dieser Hinsicht ist mir nicht zu trauen. Für ein Seidenkleid, von dem ich nicht mal weiß, wann und zu welcher Gelegenheit ich es tragen werde, mache ich jederzeit bereitwillig Schulden, die ich danach mühsam in Raten begleichen muss. Der Tag war gelaufen.

{20}Am besten, ich ging zum Laden. Zwar war ich nicht eben stolz darauf, meinen freien Nachmittag dort zu verbringen, aber wenigstens konnte ich dort Pelin im Auge behalten, und das war die preiswerteste Art, mich zu beruhigen.

Im Teegarten am Galata-Platz legte ich einen Zwischenhalt ein und bestellte einen Kaf‌fee mit wenig Zucker. Kein Vergleich zu dem vom Morgen: die richtige Menge Kaf‌fee und die richtige Menge Zucker, ein Genuss. Ich sah das sofort als gutes Zeichen an. Daraufhin beschloss ich kurzerhand, meine Mutter auf Mallorca zu besuchen. Es war sicher schon recht warm dort, und die Flüge kosteten derzeit nicht so viel. Ich würde erst den Flug buchen und dann meiner Mutter Bescheid sagen. Dadurch nahm ich ihr den Wind aus den Segeln und ersparte mir eine Strafpredigt. Eine großartige Idee.

Vor dem Laden angelangt, spähte ich durch das Schaufenster. Ein Kunde las mit seitlich geneigtem Kopf die Titel auf den Buchrücken in den Regalen. Ein anderer saß in meinem Schaukelstuhl und versuchte, einen Roman im Backsteinformat durchzublättern.

Fofo saß vor dem Computer. Irgendwie war ich mir sicher, dass er keiner sinnvollen Beschäftigung wie etwa der Kontrolle der Lagerbestände nachging. Von Pelin hingegen keine Spur. Unwillkürlich runzelte ich die Stirn. Wahrscheinlich ist sie einen Toast essen gegangen, redete ich mir zur Beruhigung ein. Oder sie holt ein Buch aus dem Lager. Ich betrat den Laden. Drei Augenpaare richteten den Blick auf mich. Ich nickte ihnen allen zu.

{21}Mein Laden ist zwar keine Bibliothek, aber trotzdem spricht man dort immer leise – wahrscheinlich aus Respekt vor den Büchern. Deswegen fragte ich jetzt Fofo im Flüsterton: »Wo ist Pelin?«

»Eine Freundin von ihr ist ohnmächtig geworden und ins Krankenhaus gekommen. Pelin ist hin, um nach ihr zu sehen«, antwortete er.

»Du machst wohl Witze?«

»Nein. Sie hat einen Anruf gekriegt und ist sofort losgestürzt.«

Manchmal verstehe ich Fofo nicht. Ist er blöd oder nur naiv? Oder ist das dasselbe?

»Mein lieber Fofo«, zischte ich. Es kostete mich Mühe, ihn nicht anzubrüllen. »Haben wir das nicht im Kaf‌feesatz gesehen? Wieso sagst du mir nicht Bescheid?«

»Die Person, die in deinem Kaf‌feesatz aufgetaucht ist, muss jemand sein, der dir nahesteht. Du wirst dich doch jetzt nicht um jeden kümmern, der in Istanbul ohnmächtig wird.«

Er hätte sicher noch lange so weitergelabert, wenn ich ihn nicht mit einer rabiaten Geste zum Schweigen gebracht hätte. Das fehlte noch, dass wir uns jetzt im Laden im Beisein von Kunden stritten.

Ich wies drohend mit dem Zeigefinger auf ihn und befahl: »Du bleibst hier!«

»Was sollte ich denn sonst tun?«, fragte er.

»Und hör bitte auf, dir im Internet das Tarot zu legen!«

Als ich den Laden verließ, brabbelte er immer noch irgendwelche Widerworte. Ich hörte gar nicht zu. Wie {22}leicht könnte man zum Mörder werden. Und zwar zu einem der blutrünstigen Sorte.

 

Auf dem Weg zum Galata-Platz rief ich Pelin an. Es klingelte ein paarmal, dann ertönte das Besetztzeichen. Ich wählte die Nummer erneut. Diesmal hörte ich eine Ansage, das Telefon sei ausgeschaltet, ich solle später nochmals anrufen. Versuchten die gerade mit vereinten Kräf‌ten, mich in den Wahnsinn zu treiben? Wenn ich je das Bedürfnis verspürt hätte, lebenslang für jemanden verantwortlich zu sein, dann hätte ich das getan, was alle tun, nämlich Kinder bekommen. Wenn ich mich jetzt ärgerte, war ich selbst dran schuld.

Ich rief Fofo an und fragte ihn, in welches Krankenhaus Pelin gegangen sei.

»Ins Taksim-Krankenhaus.«

Ich nahm das erste Taxi, das vorbeikam. Unter normalen Umständen würde ich so etwas nie tun. Meistens rufe ich direkt an der Taxihaltestelle an. Oder aber ich mustere zumindest den Fahrer, bevor ich einsteige: Ist es ein Rüpel oder ein höf‌licher Mensch? Wobei man sich heutzutage allerdings nur noch bedingt auf den äußeren Eindruck verlassen kann.

Ich schaute dem Fahrer direkt in die Augen. Sollte er eine falsche Bewegung machen, würde ich ihm mein Pfef‌ferspray direkt ins Gesicht sprühen. Dann konnte ich wenigstens meinen Ärger loswerden. Mit meiner rechten Hand hielt ich in der Handtasche schon das Pfef‌ferspray umklammert, um gerüstet zu sein. Aber ich hatte Pech: Ich hatte eines der wenigen höf‌lichen {23}Exemplare erwischt, die als Taxifahrer im Großraum Istanbul unterwegs sind. Obwohl ich ununterbrochen meckerte, ließ sich der Mann zu keinem Widerwort hinreißen.

An der Sıraselviler-Straße stieg ich aus, durchquerte den Vorgarten des Krankenhauses und drängte mich durch die Besucher zur Information. Eine junge Frau sei hier ohnmächtig eingeliefert worden, wo sie sich befinde, fragte ich.

»Eine ohnmächtige Frau?«, wiederholte der Mann am Empfang.

»Die Freundin einer Freundin«, erklärte ich.

Der Rezeptionist sah mich ausdruckslos an und erklärte: »Wir geben keine Informationen über unsere Patienten heraus. Nur gegenüber den Angehörigen.«

Na, großartig! Ich war also umsonst hierhergekommen!

»Sie haben ja recht, keine Informationen herauszugeben. Eigentlich suche ich auch nicht die Patientin, sondern meine Freundin, die ist wie eine Verwandte für mich.« Dann verstummte ich. Was war das denn für ein Unsinn. Und wenn ich das sogar selbst bemerkte, dann hatte ich ihn sicher nicht überzeugt. Kleinlaut wandte ich mich dem Ausgang zu, da hörte ich plötzlich, wie jemand meinen Namen rief. Pelin.

Ich drehte mich um. Pelin machte ein höchst erstauntes Gesicht.

»Was ist denn los? Wieso machst du dein Handy aus, wenn du meine Nummer siehst?«, brüllte ich. »Kannst du dir nicht denken, dass ich mir Sorgen mache?«

Ich packte sie am Arm und zog sie hinaus. Hinter {24}einem der Krankenwagen, die vor dem Gebäude parkten, blieben wir stehen. Sie senkte den Kopf und murmelte: »Ich dachte, du bist sauer, weil ich nicht im Laden bin.«

Manchmal fehlen mir die Worte. So auch jetzt. Das Brüllen hatte mir aber gutgetan, immerhin.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich. »Wen haben sie hier eingeliefert? Und woher kennst du diese Person? Wer hat dich angerufen?« Ich hatte noch mehr Fragen auf Lager, aber die behielt ich mir für später auf.

»Eine Schulfreundin aus Izmir, Nil heißt sie. Sie war auch schon mal im Laden. Ihr habt festgestellt, dass ihr beide George R.R. Martin mögt, erinnerst du dich?«

Wie könnte ich das vergessen haben! Bekanntermaßen bin ich nicht gerade ein Fan von Science Fiction. Aber George R.R. Martin – das ist etwas anderes. Und wenn ich dann mal jemanden tref‌fe, der diesen Autor ebenso schätzt wie ich …

»Ja, klar erinnere ich mich. Sie sieht aus wie Kate Winslet im Film Little Children, oder?«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Wieso?«

»Du kannst doch meine Freundin nicht mit Kate Winslet in dem Film vergleichen!«

Na ja, vielleicht hatte ich ein bisschen übertrieben. In dem Film spielt Kate Winslet eine verwahrloste Mittelschichtsmutter. Trotzdem sah sie hübsch aus, jedenfalls für eine bedingungslose Anhängerin wie mich.

»Aber sicher kann ich das. Du weißt doch, dass sie meine Lieblingsschauspielerin ist.«

{25}»Lass uns darüber jetzt nicht streiten, okay?«

Sie hatte recht. »Was ist denn mit Nil?«, fragte ich deshalb.

»Sie hat in einem Café gesessen, ist urplötzlich umgekippt und auf den Boden gefallen und hat dabei furchtbar gezittert wie bei einem epileptischen Anfall. Aber soweit ich weiß, leidet sie nicht unter Epilepsie. Kann man so eine Krankheit auch in späteren Jahren noch kriegen?«

»Keine Ahnung. Ja, und dann?«

»Dann haben sie sie ins Krankenhaus gebracht.«

»Und wie ist man auf deine Telefonnummer gekommen?«

»Sie haben einfach auf die Wiederholtaste ihres Handys gedrückt. Wir hatten mittags miteinander telefoniert und uns für morgen für die Edward-Hopper-Ausstellung in der Istanbul Modern verabredet. Ab und zu gehen wir zusammen ins Theater oder in Ausstellungen. Für Hopper haben wir uns schon vor einer Weile verabredet, die Ausstellung geht ja nächste Woche zu Ende.«

»Und wer hat dich angerufen? Die Kellner?«

»Nein, eine Frau, mit der sie of‌fenbar im Café gesessen hat. Of‌fenbar keine enge Freundin von ihr, eher eine entfernte Bekannte. Die hat mich angerufen, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun können. Sie hat hier im Krankenhaus auf mich gewartet und ist dann gegangen.« Pelin schnaubte gereizt. »Hast du noch mehr Fragen? Sonst könnten wir einen Tee trinken gehen. Eigentlich wollte ich auf den Arzt warten. Aber wir könnten {26}was trinken, und danach komme ich wieder hierher. Ich habe einen ganz trockenen Mund.«

Zunächst wollte ich eins der Cafés in Firuzağa vorschlagen, aber dann fielen mir die Straßenarbeiten am Platz ein.

»Gab es nicht gleich hier gegenüber eine Börekbude?«, fragte Pelin.

»Stimmt, und die Böreks sind gut dort«, erwiderte ich. Ich hatte mich beruhigt. Nil war nur ohnmächtig geworden. Die Leiche im Kaf‌feesatz hatte mit uns nichts zu tun. Jedenfalls nicht direkt. Arme Ida Smith.

{27}2

Wir bestellten Börek mit viel Puderzucker und Tee. Die Luft war zwar noch nicht besonders warm, aber früher oder später würde der Sommer kommen. Bislang hatte ich allerdings noch rein gar nichts unternommen, um die vier Kilo loszuwerden, die ich im Winter zugenommen hatte. Und jetzt stürzte ich mich auf mein Börek, als ob ich ewig nichts zu essen bekommen hätte. Pelin saß mir bedrückt schweigend gegenüber. Ich verputzte die letzten Krümel auf meinem Teller und schlug ihr selig lächelnd vor: »Am besten, wir gehen gleich ins Krankenhaus. Nicht dass sie dort auf uns wartet.«

Pelin richtete sich auf und reckte ihr Gesicht über den Tisch: »Was heißt hier, sie wartet? Du hast of‌fenbar nicht verstanden. Nil liegt auf der Intensivstation!«

»Wie bitte?«, fragte ich erstaunt. »Wieso denn das? Nur wegen dieses Anfalls? Erzähl doch mal ausführlich, was passiert ist!«

»Woher soll ich das wissen? Es ist eben so. Ich habe dir alles gesagt, was ich von der Frau, die bei ihr war, erfahren habe. Mit dem Arzt konnte ich noch gar nicht sprechen. Dauernd kommen neue Notfallpatienten an. Und wenn du die siehst, wird’s dir ganz {28}anders – schrecklich!« Ein Schatten huschte über Pelins Gesicht.

»Aber wegen zu niedrigem Blutdruck verlegt man doch niemanden auf die Intensivstation«, wandte ich ein. »Und wegen eines epileptischen Anfalls auch nicht.« Da sich meine Kenntnisse hinsichtlich Epilepsie auf eine Dostojewski-Biographie und das Werk Der Idiot beschränken, in dem Fürst Myschkin epileptische Anfälle hat, führte ich das nicht weiter aus.

»Sie leidet bestimmt nicht unter Epilepsie, es sei denn, man kann diese Krankheit auch erst mit fünfunddreißig bekommen. Es muss etwas anderes sein. Ich habe ihren Bruder in Izmir angerufen, er hat sich gleich auf den Weg hierher gemacht. Aber ich weiß nicht, wann er ankommt. Ich warte hier auf ihn. Du kannst ja gehen.«

Bisher hatte ich Pelin nur ein einziges Mal so traurig gesehen wie jetzt – das war, als sie festgestellt hatte, dass ihr Freund sie betrog. Sie redete wie benommen: »Erst vor einem Jahr haben die beiden ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren. Und jetzt das noch!« Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Du meinst, Nil liegt im Sterben?«

Pelin löste ihre Hände und sah mich an.

»Kati, geht’s dir noch gut?« Ihre Augen waren schreckgeweitet.

Nein, es ging mir nicht gut. Wirklich nicht. Sonst würde ich doch nicht so brutal of‌fen zu Pelin sein, oder?

»Es ist bestimmt nichts Ernstes«, murmelte ich, um die Sache herunterzuspielen. Jetzt war nicht der Moment, den Teufel an die Wand zu malen.

{29}»Aber würde sie denn auf der Intensivstation liegen, wenn’s nichts Ernstes wäre?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Pelin waren Tränen in die Augen gestiegen. »Wir müssen sehen, was der Arzt meint.«

Mir war bewusst, dass ich jetzt irgendetwas Tröstliches zu ihr sagen musste, aber mir fiel nichts ein. Also versuchte ich, das Thema zu wechseln.

»Ihr kennt euch von der Schule her?«, fragte ich. Gut, ich weiß, das war jetzt kein extrem gelungener Themenwechsel, aber immer noch besser, als weiter über Nils Krankheit zu spekulieren.

»Wir sind seit der Kindheit befreundet. Sie wohnte im Sommer direkt neben uns in der Ferienhaussiedlung. Und nach der Grundschule wurden wir ins selbe Gymnasium aufgenommen. Wir verbrachten Tag und Nacht zusammen. Sie war meine beste Freundin.«

»Und später?«

»Später bin ich nach Istanbul gezogen, und Nil ist in Izmir geblieben und hat dort Journalismus studiert. Da haben wir natürlich den Kontakt verloren. Und mit der Zeit … Wenn man sich nicht sieht, lebt man sich auseinander. Trotzdem trafen wir uns ab und zu. Aber es war nicht so wie früher.«

»Sie hat als Modejournalistin gearbeitet, oder?«

Pelin nickte. »Nach dem Studium hat sie in Izmir bei einer Zeitung angefangen.«

»Wieso ist sie überhaupt in Izmir geblieben?« Das hört sich vielleicht komisch an, ist aber eine berechtigte Frage. Ein ehrgeiziger junger Mensch, der was werden {30}will, bleibt nicht in Izmir, sondern zieht so schnell wie möglich nach Istanbul, wo die Chancen auf der Straße liegen. »Hat sie vielleicht geheiratet?«

»Nein, das nicht. Ihre Mutter war herzkrank, die wollte sie nicht allein lassen. Vor zwei Jahren ist sie dann hierhergekommen.«

Die junge Frau, die ihre Mutter nicht allein lassen wollte, war trotzdem plötzlich hierher gezogen. Ich konnte nicht anders, ich musste weiterfragen. »Moment mal, wann sind ihre Eltern bei dem Verkehrsunfall umgekommen? War das nicht letztes Jahr?«

»Doch. Ihr Vater hat auf einer frisch asphaltierten Straße die Herrschaft über das Auto verloren. Da stand noch nicht mal ein Warnschild, stell dir vor!«

»Als das passierte, hatte Nil also längst ihre Mutter im Stich gelassen und lebte in Istanbul.«

Pelin guckte mich wütend an. Wie süß. Sie hatte ja wohl nicht geglaubt, dass mir dieses Detail entgehen würde, oder?

»Ja, das stimmt wohl«, räumte sie ein.

»Pelin!«, rief ich. »Was sollen denn diese Spielchen?«

»Was für Spielchen?« Pelins Stimme überschlug sich.

»Erzählst du mal bitte genau, was passiert ist?«

»Mehr weiß ich auch nicht.«

Normalerweise muss man Pelin nicht alles aus der Nase ziehen. So langsam verlor ich die Geduld.

»Ihr habt euch doch getrof‌fen! Du bist die Letzte, mit der sie telefoniert hat.«

»Zufall«, sagte Pelin und starrte ins Leere.

»Es war Zufall, echt.«

{31}»Jetzt hör mal zu, meine Liebe.« Mein Ton ließ sie aufhorchen. Ich legte eine bedeutungsvolle Pause ein und erzielte damit den gewünschten Ef‌fekt.

»Ja?«, fragte sie neugierig.

»Niemand fällt einfach zu Boden, während er im Café sitzt und sich mit jemandem unterhält. Haben die beiden sich vielleicht gestritten? War sie wegen irgendetwas besorgt? Ist am Morgen vielleicht etwas Unerfreuliches geschehen? Oder gestern Abend? Und wieso hat sie dich plötzlich angerufen, obwohl ihr euch sonst eher selten gesehen habt?«

»Kati«, rief Pelin, »wir sind doch hier nicht im Krimi!« Der ältere Herr, der am Nachbartisch Börek mit Hackfleisch aß, hob den Kopf und sah zu uns herüber. »Wir sind hier immer noch in der Realität, merkst du das denn nicht? Wir leben hier im richtigen Leben. Da gibt es all diese unglaublichen Intrigen, Komplotte, Andeutungen und ungeklärten Dinge nicht. Alles ist ganz normal und einfach, da steckt nichts dahinter. Außerdem hat mich Nil nicht einfach so angerufen. Ich habe dir doch gesagt, dass wir zusammen in die Edward-Hopper-Ausstellung gehen wollten, und die geht nächste Woche zu Ende.«

Im realen Leben sollte also alles ganz normal und einfach sein und nichts dahinterstecken? Das war ja zum Totlachen! Kaum zu glauben, dass eine erwachsene Frau so etwas allen Ernstes behauptete!

»Im wahren Leben ist längst nicht alles so, wie es scheint, meine Süße«, antwortete ich. »Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein.« Den letzten Satz hatte ich nur so dahergesagt. Aber eigentlich bin ich mir nicht sicher, {32}ob ich ein langweiliges Leben ohne jegliche Intrigen wirklich schöner fände.

Pelins Smartphone, das sie sich erst letzten Monat zugelegt hatte, begann zu klingeln. »Ich bin beim Krankenhaus, und du? Ja, gut, dann komm her«, sagte sie. »Ich warte hier auf dich. Du biegst vom Taksim-Platz aus in die Sıraselviler-Straße ein, fährst die runter, und dann liegt es rechts. Der Taxifahrer weiß bestimmt, wo es ist.«

Sie legte auf und wandte sich mir zu. »Das war Nils Bruder Hakan. Er sitzt im Taxi auf dem Weg vom Flughafen hierher.«

 

Hakan war ein sehr gutaussehender Mann. Wenn ich ihm im Traum begegnet wäre, hätte ich nie mehr aufwachen wollen. Hellbraunes, welliges Haar, lange Wimpern, riesige braune Augen, groß und breitschultrig. Mehr konnte man nicht wollen.

Die beiden küssten sich auf die Wangen, dann deutete Pelin auf mich und sagte: »Meine Chefin.«

Da diese Bezeichnung meine Anwesenheit dort nicht wirklich erklärte, fügte ich hinzu: »Außerdem sind wir befreundet.«

»Was ist denn passiert mit Nil?«, fragte Hakan.

Stockend antwortete Pelin: »Ich weiß es auch nicht genau. Ich konnte noch mit keinem Arzt sprechen. Sie liegt auf der Intensivstation.«

Ganz of‌fensichtlich hatte sie die Sache mit der Intensivstation am Telefon nicht erwähnt. Der junge Mann wurde blass, lehnte sich an die Wand und fragte: »Das heißt wohl, dass es sehr ernst ist?«

{33}Pelin berichtete Hakan, was ich schon wusste. »Die Krankenschwester hat gesagt, der Arzt wolle mit einem nahen Angehörigen von Nil sprechen. Wahrscheinlich will er wissen, ob sie irgendwelche Vorerkrankungen hatte.«

Wir kehrten ins Krankenhaus zurück. Pelin wandte sich an den Rezeptionisten, der mich kurz zuvor abgewiesen hatte, und fragte ihn nach der Krankenschwester Nesrin von der Intensivstation. Der Mann machte ein paar Telefonanrufe, und gleich darauf stand eine Krankenschwester vor uns, mit einer Mappe in der Hand, vermutlich Nils Krankenakte. Sie war eine hübsche Frau. Sie begrüßte uns beide mit einer Kopfbewegung, dann ließ sie den Blick eine Weile auf Hakan ruhen – ein bisschen unprofessionell, meinen Sie nicht? Ich nahm ihr das nicht übel, nicht dass Sie mich falsch verstehen, ich hätte das genauso gemacht. Hakan zuckte nicht mit der Wimper. Wäre ja auch ganz schön daneben, mit einer Krankenschwester zu flirten, während die eigene Schwester auf der Intensivstation liegt. Wir folgten Nesrin über den Flur.

Vor einer Tür mit der Aufschrift »Intensivstation« wies Nesrin uns an zu warten. Pelin zog aus ihrem sackähnlichen Beutel eine schicke Handtasche in Preußischblau heraus. »Die Frau, die bei Nil war, als sie zusammengeklappt ist, hat Nils Ausweis und Versichertenkarte hier abgegeben. Und mir hat sie diese Tasche in die Hand gedrückt.«

»Behalte sie fürs Erste, ich nehme sie später an mich«, sagte Hakan, ohne Pelin auch nur anzusehen.

{34}Der Formolgestank war beißend. Ich zwang mich, durch den Mund zu atmen. Die Tür zur Intensivstation ging auf, und Nesrin erschien. »Hier sind die Habseligkeiten der Patientin«, sagte sie und hielt Hakan eine Tüte hin.

»Hat sie ein Nachthemd? Sollen wir irgendwas für sie kaufen?«, fragte dieser.

»Nein, das ist nicht nötig«, antwortete Nesrin, »wir ziehen unseren Patienten auf der Intensivstation einen Kittel über.« Just als ich fragen wollte, wann wir wohl den Arzt sehen könnten, fügte Nesrin hinzu: »Doktor Fatih kommt gleich«, und entfernte sich über den Flur.

Wir warteten schweigend, bis sich die Tür zur Intensivstation erneut öffnete. Fatih Bayram war ein athletischer Mann in den Vierzigern. Er besaß die für einen Arzt wichtigste Gabe: Er wirkte vertrauenerweckend. »Sind Sie Angehörige der Patientin?«, fragte er, während er uns allen die Hand schüttelte.

»Ich bin ihr Bruder«, antwortete Hakan.

»Und ich ihre Freundin«, sagte Pelin.

Ich schwieg.

»Wer war bei ihr, als sie hier eingeliefert wurde?«

»Die Person, die bei ihr war, ist weg.«

Während der Arzt mit uns sprach, sah er nebenbei die Krankenakte durch, hob dann den Kopf und sagte, an Hakan gewandt: »Die Patientin hatte einen Herzstillstand, als sie hierher gebracht wurde. Es ist uns gelungen, sie wiederzubeleben. Jetzt liegt sie auf der Intensivstation. Wenn sich ihr Zustand stabilisiert, werden wir versuchen herauszubekommen, woran sie leidet.«

{35}»Kann ich meine Schwester sehen?«, fragte Hakan.

»Auf der Intensivstation dürfen die Patienten leider keinen Besuch empfangen.«

Ich war verwirrt. Und was war mit der Epilepsie und dem Blutdruckabfall? Ich konnte mich nicht beherrschen und nahm in Kauf, eine dumme Frage zu stellen.

»Es war also kein epileptischer Anfall?«

»Nein, sie hatte, wie gesagt, einen Herzstillstand.«

Das hörte sich an, als sei es die normalste Sache der Welt, als hätte Nil Kopfschmerzen oder so ähnlich. Dabei sterben Leute an Herzstillstand, oder? Sie war gestorben und wieder zurückgeholt worden.

»Hat die Patientin irgendetwas genommen?«

Erschreckt sah ich Pelin an. War die arme Nil womöglich drogensüchtig? War es das, was Pelin mir nicht erzählen wollte?

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Hakan beleidigt.

Der Arzt ließ sich keinen Ärger anmerken. Wahrscheinlich war er es gewohnt, dass Angehörige hef‌tig reagieren konnten. »Ich frage wegen ihres Alters«, antwortete er. »Wenn eine junge Frau Herzprobleme hat, ziehen wir immer auch das in Betracht.«

»Ich glaube nicht, dass sie Drogen nahm. Bestimmt nicht. Oder, Pelin?«

»Keine Ahnung. Ich glaube nicht.«

Hakan unterbrach die Stille, die plötzlich eingetreten war. »Kann ich hier im Krankenhaus bleiben?«

Der kam vielleicht auf Ideen. Ein Krankenhaus ist doch kein Hotel!

{36}»Das geht leider nicht. Es ist auch gar nicht nötig. Sie können morgen wiederkommen«, erwiderte der Arzt.

»Wann wird sie denn von der Intensivstation verlegt? Morgen?«

»Es ist zu früh, um etwas Genaueres zu sagen.« Aus der Art und dem Benehmen des Doktors schloss ich, dass es gar nicht gut aussah für Nil.

Keine Sekunde länger hielt es mich an diesem Ort, wo mich jeder Atemzug an den Tod denken ließ. Ich floh in den Vorgarten und fühlte mich gleich ein bisschen besser. Kurz darauf kamen auch Pelin und Hakan. Die Ratlosigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

»Wie bist du bloß auf die Idee mit dem epileptischen Anfall gekommen?«, fragte ich Pelin sofort.