Goodbye Istanbul - Esmahan Aykol - E-Book

Goodbye Istanbul E-Book

Esmahan Aykol

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Beschreibung

Um einer unglücklichen Liebe zu entkommen, verlässt Ece ihre Heimatstadt Istanbul und beginnt ein neues Leben in London. Doch beim Tellerwaschen in einem Grillrestaurant stürzen tausend Erinnerungen auf sie ein, schmerzliche, aber auch schöne. Ece erkennt: Für einen Neuanfang ist Vergessen viel, Erinnern alles.

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Seitenzahl: 417

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Esmahan Aykol

Goodbye Istanbul

Roman

Aus dem Türkischen vonAntje Bauer

Titel der 2006 bei

Merkez Kitaplar, Istanbul,

erschienenen Originalausgabe: ›Savrulanlar‹

Copyright ©2006 by Esmahan Aykol/

Merkez Kitaplar

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2007 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von Ismail Güzelsoy

Copyright ©Ismail Güzelsoy

Für Ö.

All rights reserved

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23780 1 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60653 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Inhalt

Ikbal Sokak No. 22, 3. Stock, Küçükçekmece  [7]

Hotel Bukarest, Aksaray  [13]

Rahman Sokak No. 52, Beyazit  [21]

Camden Road 158B, NW1  [41]

Camden High Street 196, NW1  [65]

Junction Road 71, N19  [79]

Kingsford Street 7, NW5  [101]

Waterlow Park  [116]

Passage der Metalläuterer, Mahmutpascha-Tor, Großer Bazar  [132]

Emek-Siedlung, Bakırköy  [145]

Lock 17, Camden Market  [157]

Mis Sokak, Beyoğlu  [184]

Veliko Tirnovo, Bulgarien  [197]

Schamiramkanal, Van  [214]

Kuruçeşmepark, Bosporus  [232]

Van in dieser Welt, das Paradies in der anderen  [250]

Insel Oxia, Marmarameer  [265]

Ozean, Australien  [279]

Suicide Bridge, Hornsey Lane  [296]

Camden Road 28, NW1  [323]

Wenn Unheil über die Welt kommt, läßt der Himmel aus Unglückswolken Steine regnen  [339]

Danksagung  [355]

[7]Ikbal Sokak No. 22, 3. Stock Küçükçekmece

»In spätestens zwei Wochen stehst du heulend wieder vor der Tür«, sagte mein Vater. Er hockte wie immer mit angezogenen Beinen in der Sofaecke, die Füße auf dem orange gemusterten Schonbezug, und rauchte eine stinkende filterlose Zigarette, die er nun, wie um seine Überzeugung noch zu bekräftigen, ausdrückte.

Ich stand vor ihm, steif wie ein Zinnsoldat. Er würdigte mich keines Blickes. Durch den offenen Fensterflügel fiel ein Lichtstrahl auf ihn. Schweiß und Schmutz standen ihm auf der Stirn, und die Stoppeln seines angegrauten Schnurrbarts betonten die verächtlich gekräuselte Oberlippe. Mein Blick wanderte über seinen Hals zu den weißen Brusthaaren, die aus dem offenen Hemd wucherten, und weiter über die Schultern. Eine linke Hand hatte mein Vater nicht. Auch keinen linken Arm. Mir kam es so vor, als habe er ihn nie gehabt. Die linke Hälfte seines Körpers fehlte. Er besaß kein Herz.

»Könntest du mir nicht mal was Positives sagen?« fragte ich. »Ein einziges Mal?«

Er fuhr mit der verbliebenen Hand durch die Luft und brüllte:

»Hau ab, laß mich in Frieden. Werd’ erst mal ein ordentlicher Mensch, dann kannst du was Positives hören.«

[8]Ich verzog mich aufs Klo, den einzigen Ort des Hauses, an dem ich allein sein konnte. Dort verriegelte ich die Tür, setzte mich auf die Klobrille, zog ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und zündete mir eine an. Laut sagte ich dann: »Ich werde nicht zurückkommen. Weder in vierzehn Tagen noch in vierzehn Jahren. Ich werde keinen Fuß mehr hierhinein setzen.«

Bislang waren alle Mädchen, die dieses Haus verlassen hatten, sei es, um zu heiraten, sei es, weil sie in einer anderen Stadt studierten, früher oder später in die Familie zurückgekehrt. Weil sie geschieden wurden oder ihren Ehemann verlassen hatten, weil sie keine Arbeit fanden oder mit ihrem Verdienst nicht auskamen. Vor zwei Monaten hatte meine älteste Schwester, die in Antalya lebte, eines Morgens vom Busbahnhof aus angerufen: Sie sei in Istanbul. Wir bereiteten ihr ein Lager auf dem Boden des Zimmers, das ich mir mit meiner zweitältesten Schwester Jale und deren Sohn teilte, und dort schlief sie, bis ihr Mann sie sechs Wochen später wieder zu sich nahm. Während des ersten Monats wirkte sie gefaßt und schwor Stein und Bein, niemals zu ihrem Mann zurückzukehren, doch als mein Schwager keine Anstalten machte, sie zurückzuholen, begann sie tagsüber ständig zu lachen und dafür die Nächte unter der Bettdecke durchzuheulen. Wir alle stellten bei dieser Gelegenheit fest, daß wir auch nur einen einzigen Menschen mehr zu Hause emotional nicht verkrafteten. Jeder von uns hatte mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen.

»Ach«, sagte meine Mutter immer zu mir, »was hast du denn schon für Sorgen! Was sollen denn da deine großen Schwestern und dein Vater sagen!« Niemand nahm meine [9]Mutter für voll. Weder wir Kinder noch mein Vater. Da ich die Jüngste war, noch nicht geheiratet, noch keine Eheprobleme durchgestanden und keine Kinder bekommen hatte, wurde auch ich nicht für voll genommen. In unserer Familie hatten nur wichtige Menschen Sorgen. Da meine Mutter und ich nicht wichtig waren, konnten wir auch keine Sorgen haben. Wenn mein Vater im Fernsehen die Nachrichten sah oder in einer Zeitung las, daß einer der Reichen des Landes oder ein Politiker ein Problem hatte, sagte er immer:

»Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten«, und meine Mutter nickte dann zustimmend mit dem Kopf.

Nur die Nachbarinnen nahmen meine Mutter ernst, und ihnen öffnete sie ihr Herz. »Warum habe ich mit meinen Kindern nur so ein Pech?« fragte sie die Nachbarinnen, die ebenso klein und rundlich waren wie sie selbst.

Diese Frauen, die tagaus, tagein zwischen dem Markt unseres Viertels, wo es die Tomaten günstig gab, und dem Markt in Binevler, in dem der Blumenkohl heruntergesetzt war, hin- und herpendelten und dabei den Bolu-Süpermarket im Auge behielten, um das Sonderangebot an Reis nicht zu verpassen – diese Frauen senkten dann jeweils wortlos den Blick und begannen, den maschinengefertigten Teppich auf dem Boden zu studieren, als sei er das großartigste Kunstwerk der Welt.

»Bin ich vielleicht schuld, habe ich meine Kinder zu anständig erzogen?« fragte meine Mutter dann weiter, und die Nachbarinnen wußten, daß sie damit meinte, man sei in diesen Zeiten geradezu zum Scheitern verdammt, wenn man nicht betrügerisch, intrigant und unmoralisch war. Doch die [10]Nachbarinnen waren mit allen unseren kleinen Familiengeheimnissen bestens vertraut, sei es infolge scharfer Blicke durch den Spion in der Haustür, sei es, weil meine Mutter in schwachen Momenten einer von ihnen unter Tränen ihr Herz ausgeschüttet hatte; sie wußten, daß ich immer erst spätabends nach Hause kam, daß der Mann meiner großen Schwester Jale wegen Diebstahls im Gefängnis saß und daß die Frau meines großen Bruders Hikmet, der in Alanya ein Juweliergeschäft betrieb, früher in billigen Nachtclubs als Sängerin aufgetreten war, und deswegen fiel ihnen keine rechte Antwort ein, wenn die Sprache auf unseren vermeintlichen Anstand kam. Meine Mutter führte dieses Einpersonenstück – warum auch immer – dann noch eine Weile weiter auf, um schließlich die Hauptrolle unserer Nachbarin, Frau Sebahat, zu übergeben, deren einer Sohn für einen Mafiaboß den Laufburschen machte und die ihr Türschloß ausgewechselt hatte, damit ihr heroinsüchtiger anderer Sohn das Haus nicht betrat; erst wenige Tage zuvor hatten wir alle mitbekommen, wie er unter lautem Gebrüll die Haustür mit Fußtritten traktierte. Nachdem jede ihr Leid geklagt hatte, kamen die Kinder der abwesenden Nachbarinnen an die Reihe, und angesichts der gewichtigen Probleme der anderen fanden sie selber Trost.

Es kränkte mich, daß meine Mutter, die nie ein Buch las und sich im Fernsehen ausschließlich die gräßlichen Serien ansah, mich für ebenso erfolglos hielt wie ihre anderen Kinder. Diese Beurteilung rührte daher, daß ich seit Jahren die Zulassungsprüfung für die Universität ablegte, aber nirgendwo angenommen wurde. Während meine Arbeitskollegen am Wochenende mit ihren Familien Picknicks [11]veranstalteten oder in Beyoğlu oder Bakırköy spazierengingen, besuchte ich Vorbereitungskurse für die Uni-Aufnahmeprüfung. Von den Universitäten, die nur die besten Prüflinge aufnahmen, und an denen ich tatsächlich studieren wollte, bis hin zu den langweiligsten Studiengängen an miserablen Kleinstadtuniversitäten versuchte ich alles, aber nie hatte ich irgendwo Erfolg. Dafür war ich allerdings nicht allein verantwortlich. Wäre ich nicht an einem Handelsgymnasium gewesen, das als Berufsgymnasium eine geringere Punktezahl einbrachte, hätte ich die Prüfung für jede beliebige Fakultät mit Leichtigkeit geschafft. Und die Entscheidung, das Handelsgymnasium zu besuchen, hatte nicht ich gefällt. Aber daraus zu folgern, daß ich meinen Vater allein aufgrund dieser blödsinnigen Entscheidung haßte, wäre falsch.

Selbst als mein Vater noch ein Riese mit zwei Armen war, hätte man ihn sich niemals als Romanheld vorstellen können. Wobei das Wort »Held« für seine Rolle in meinem Leben und demnach auch in diesem Roman unangemessen ist. Na, sagen wir mal: Er spielt eine Nebenrolle. Dieser Roman hat eine Heldin, und das bin ich. Und einen zweiten Helden: Tamer – der Grund für meine Reise nach London.

Als ich zum ersten Mal bei der Aufnahmeprüfung für die Universität durchfiel, wurde mir klar, daß es nicht ausreichte, wenn ich alleine büffelte, und so schrieb ich mich in einen privaten Vorbereitungskurs ein. So ein Vorbereitungskurs kostet Geld. Um Geld zu verdienen, nahm ich eine Stelle in der Buchhaltung einer Fabrik an, und Ende September begann der Vorbereitungskurs. Dort lernte ich Tamers Schwester Güler kennen. So begannen sieben Jahre, [12]während derer es für mich allein um die Vorbereitungskurse und um Tamer ging. Daß ich in dieser Zeit meine schreckliche Familie ertrug, lag nur an meinem unerschütterlichen Glauben daran, daß ich eines Tages die Prüfungen bestehen und dieses Leben hinter mir lassen würde. Und daß ich den schrecklichen Job ertrug, lag daran, daß ich von meinem Lohn den Vorbereitungskurs bezahlen konnte.

Und Tamer?

[13]Hotel Bukarest, Aksaray

»Wieso sagst du mir erst jetzt, daß du verheiratet bist?« fragte ich, als ob es irgend etwas geändert hätte, wenn ich davon früher in Kenntnis gesetzt worden wäre. Ich war in ihn verliebt – daran hätten auch vier Ehefrauen nichts geändert.

»Weiß ich nicht«, sagte er, vergrub das Kinn in den Armen und starrte vor sich hin.

Unter der Decke zog ich mir die Unterhose an. Ich wollte nicht, daß er mich nackt sah. Barfuß lief ich über den ekligen braunen Hotelteppich zum Bad und begutachtete mein Gesicht im Spiegel. Kein Unterschied zu vorher. Nur mein Kinn und der Rand meiner Lippen waren von den Küssen ein wenig gerötet, mehr nicht. Und trotzdem war ich jetzt ein ganz anderer Mensch. Ein neues Ich. Ich war jetzt eine junge »Frau«. Vor einer Viertelstunde hatte ich mit einem verheirateten Mann geschlafen, in den ich heftig verliebt war. Ich war eine Maitresse, also eine der Frauen, die ehrbare Ehefrauen in Panik versetzten und vor denen sie ihre Ehemänner immer warnten. Eine Maitresse!

Meine Freundin Şükran fiel mir ein, die immer, wenn sie eine Frau am Steuer eines teuren Autos sah, sagte: »Wer weiß, wessen Maitresse die ist.«

Und die Mischung von Sehnsucht und Abfälligkeit in der [14]Stimme meiner Mutter, wenn ich das Kleid, den Haarschnitt oder die Haarfarbe von einem der Fernsehstars bewunderte, und sie ihren immer gleichen Kommentar abgab: »Glaubst du vielleicht, wir könnten jemals so sein wie die?«

Mein Vater, der seinen Armstummel um 90Grad anhob und aufgebracht schrie: »Dieses Mädchen ist viel zu eigensinnig, die wird uns noch was einbrocken!«

Ich lachte mein Gesicht im Spiegel an. Jetzt hatte ich mir in der Tat eine Suppe eingebrockt. Eine wunderbare Suppe! Und diese Suppe wollte ich sofort noch mal auslöffeln.

Ich stieg in die Badewanne und wusch mich vom Bauch an abwärts. Sah den Liebesflüssigkeiten zu, die aus meinem Körper heraus die Beine hinunterflossen, sich mit Wasser vermischten und dann im Abfluß verschwanden. Der menschliche Körper war ein Wunder. Sexualität war ein Wunder. Erst recht, wenn man verliebt war. Mein armer Körper, den ich bislang nur zum Essen, Trinken, Laufen, Gehen, Arbeiten und für andere unsinnige Dinge benutzt hatte, war endlich seiner wahren Bestimmung zugeführt geworden: mir Lust zu bereiten. Und Tamer.

Als ich ins Zimmer zurückkehrte, saß Tamer angezogen da und rauchte mit mürrischem Gesicht eine Zigarette. Ohne mich anzusehen, meinte er: »Du hast mir auch nicht gesagt, daß du noch Jungfrau bist.«

Ich nahm die Zigarettenschachtel vom braunen Resopaltischchen und zog eine Zigarette heraus. Soeben hatte ich beschlossen, mit dem Rauchen zu beginnen. Der 7.Juli 1998 war für mich ein Tag voller neuer Dinge.

Hier also hatte ich zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen, in diesem Hotelzimmer in Aksaray: Die Fenster [15]waren mit tabakfarbenen, dicken Polyestervorhängen verhängt, die braunen Bettdecken paßten mit ihren beigefarbenen Elefantenmotiven zu dem mit Brandflecken übersäten Teppichboden, und im blaßrosa gekachelten Bad hing rosafarbenes Toilettenpapier. Wenn ich Jahre später an diesem Hotel vorbeikam, schaute ich immer noch zu dem Fenster jenes Zimmers hoch. Vielleicht waren die Teppiche des Hotels Bukarest inzwischen erneuert und die Decken gewaschen worden, und rosa Toilettenpapier gab es vermutlich auch schon längst nicht mehr. Aber als ich, einen Tag vor meiner Abreise, ein letztes Mal zu jenem Zimmer hochblickte, stellte ich es mir wieder genauso vor, wie es vor sechs Jahren gewesen war.

Eine ganz klare, starke Erinnerung hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt.

Daß er ein junges Mädchen befleckt und sie des kostbaren Schatzes beraubt hatte, der eigentlich ihrem Ehemann vorbehalten war, stellte für Tamer eine Bürde dar, die er nicht alleine tragen konnte. Eine Zeitlang behauptete er, ich sei daran mehr schuld als er, weil ich ihn nicht vorgewarnt hatte, daß ich noch Jungfrau war. Auch wenn ich insgeheim niemandem irgendeine Schuld gab (wie konnte es ein Vergehen sein, verliebt zu sein?) und den neuen Zustand meines Körpers dem alten deutlich vorzog, durfte ich dennoch nicht den Eindruck erwecken, ein leichtes Mädchen zu sein, das mit dem Erstbesten ins Bett geht, und so entgegnete ich ihm hartnäckig, ich hätte nicht gewußt, daß er verheiratet sei, und hätte gedacht, wir würden früher oder später ohnehin heiraten.

Und wieso hätte ich ihm überhaupt sagen müssen, daß [16]ich Jungfrau war? Hätte er sich das nicht selbst denken können? Das war doch eine allseits bekannte und nicht weiter mitteilungsbedürftige Tatsache, so wie man sich verbrannte, wenn man ins Feuer griff, den Durst löschte, wenn man Wasser trank und sich aufwärmte, wenn man einen Pullover anzog.

Jedes Mädchen aus meinem Freundeskreis, ob Şükran, Gülsen oder Sevtap, hatte ihren eigenen Plan, wie sie ihre Jungfräulichkeit verlieren wollte. Das heißt, eigentlich hatten sie alle denselben Plan: Am Ende einer – je nach den finanziellen Möglichkeiten des Bräutigams – mehr oder minder prachtvollen Hochzeit würde man das weiße Hochzeitskleid ausziehen (das von Şükran würde eine mehrere Meter lange Schleppe haben und mit aufwendigen Spitzen besetzt sein, Gülsen wollte ihres kragenlos, im Rücken ausgeschnitten und von der Taille ab eng anliegend; Sevtap wünschte sich ihr Kleid einfach, im Kostümstil, aber mit Bordüren), man würde das rote Bändel an der Taille, das die Jungfräulichkeit symbolisierte, lösen, dann mit dem Ehemann ins Bett gehen und unter Stoßgebeten, daß während des Turnunterrichts in der Schule, beim Fahrradfahren als Kind oder beim Kopfsprung das Jungfernhäutchen keinen Schaden davongetragen hatte, die Sache zu einem glücklichen Ende bringen. Am nächsten Morgen würde man, wenn der Ehemann ins Bad oder Brot holen gegangen war, die Mutter und uns anrufen und einen Bericht über die Nacht abliefern.

Ich hingegen wollte mich mir nicht als Hauptperson einer Hochzeit vorstellen. Außerdem gab es kein Modell eines Hochzeitskleides, das meine Träume beflügelt hätte, und [17]vor allem wollte ich nicht, daß alle wußten, wann und wo und wie ich mit meinem Liebsten schlief. Auch die Vorstellung, daß meine Mutter genauso wie bei der Hochzeit ihrer anderen Töchter bis zu dem Telefonanruf, der die frohe Botschaft verkündete, unruhig in der Wohnung auf und ab ging, bis schließlich mein Vater mit lauter Stimme aus dem Schlafzimmer rief: »Was geisterst du denn da herum, komm schlafen, Frau!« gefiel mir nicht.

Ich hatte keinen Traum, keinen genauen Plan, wie ich meine Jungfräulichkeit verlieren wollte, doch eine Jungfräulichkeitsverlustzeremonie in einem armseligen Hotelzimmer mit einem verheirateten Mann hätte wohl nicht eben zu meinen Mädchenträumen gehört. Und trotzdem war ich glücklich. Wie in den Märchen meines Großvaters hatte ich die verschlossene Tür trotz des Verbots und trotz aller Warnrufe neugierig geöffnet, doch anders als im Märchen war ich weder auf ein furchterregendes Wesen gestoßen noch auf einen bösen Zauberer, sondern auf den Vogel Greif, den Zaubervogel vom Kaf-Berg mit den blauen Augen und der Nachtigallenstimme, der die ganze Welt unter seine in allen Farben des Regenbogens schillernden Fittiche nahm, Weisheit kündete und Lieder sang, die man endlos hätte hören mögen… Das war die Liebe!

Das zweite Mal schliefen wir miteinander, nachdem ich festgestellt hatte, daß ich beim ersten Mal nicht schwanger geworden war, und Tamer beschlossen hatte, die Realität zu akzeptieren, kurz: nachdem wir uns beide ein bißchen entspannt hatten. Dieses Mal geschah es in einer etwas persönlicheren Atmosphäre, nämlich in Tamers Geschäft, und ging mit Tamers vorzeitiger Ejakulation abrupt zu Ende. [18]Allerdings wußte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht, daß es sich dabei um eine vorzeitige Ejakulation handelte. Ich stellte lediglich fest, daß es ziemlich kurz dauerte und Tamer danach bekümmert war, sich mir gegenüber genierte und ein entschuldigendes Gesicht aufsetzte. Er zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Schon als ich dich damals im Garten der Vorbereitungsschule sah, habe ich mich in dich verliebt.«

Er hatte schon vorher vielleicht mal gemurmelt, daß er mich gern hätte, aber daß er verliebt war… verliebt!

Es war das erste Mal, daß er so etwas sagte. Ich faltete die Hände über der gestärkten Bettdecke, die Tamer gekauft hatte, damit wir in seinem Laden miteinander schlafen konnten, und die wir kurz zuvor gemeinsam ausgepackt hatten, und starrte an die Zimmerdecke.

Mein Herz pochte.

Tamer wartete darauf, daß ich etwas sagte.

Zum Beispiel, daß auch ich in ihn verliebt war.

Ich spürte die Kälte des Steinbodens unter dem Teppich, auf den wir das Laken gebreitet hatten.

Meine Füße froren.

Wurde es selbst in dieser Jahreszeit nachts kühl?

Dabei war es noch gar nicht Nacht.

Allerhöchstens Abend.

Wie viele Minuten, wie viele Sekunden dauerte der sogenannte Liebesakt?

Hatte meine Mutter schon begonnen zu murmeln: »Wo bleibt sie bloß?«?

Wann fuhr wohl der nächste Bus nach Hause?

Oder würde mich vielleicht Tamer nach Hause bringen?

Meine Halsschlagader pulsierte heftig.

[19]Eben noch hatte Tamer meinen Hals geküßt.

Wie glücklich ich doch war.

Selbst wenn ich jetzt sterben müßte, würde mir das nichts ausmachen.

Ohnehin lag ich schon da wie die christlichen Toten im Sarg, mit gefalteten Händen.

Die waren allerdings angezogen.

Ich lag splitternackt unter der Decke.

Morgen mußte ich zum Vorbereitungskurs.

Ich hatte die Tests nicht gemacht, die uns der Türkischlehrer als Hausaufgabe gegeben hatte.

»Ich bin auch in dich verliebt«, sagte ich. So wahnsinnig verliebt, daß mir das Herz zu zerspringen drohte, daß ich den Verstand zu verlieren fürchtete. Sehr verliebt war ich. Aber ich konnte nicht mehr sagen als: »Ich bin auch in dich verliebt.«

Tamer drehte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sagte: »Heirate mich. Ich lasse mich scheiden.«

Danach erzählte er mir von seiner Frau. Vor zwei Jahren hätten sie geheiratet und vor elf Monaten ein Baby bekommen. Nach der Geburt des Sohnes habe seine Frau ihren Job bei der Bank gleich hier um die Ecke aufgegeben. Dort hatten sie sich auch kennengelernt, da Tamer dort geschäftlich ein und aus gegangen war. Nach dem ersten Mal mit mir hätte er gleich daran gedacht, mit seiner Frau zu sprechen. Er sei nicht glücklich in seiner Ehe. Hätte er sonst jemand anderen gesucht? Aber das Kind sei noch sehr klein. Söhne brauchten unbedingt einen Vater. Er sollte erst mal zwei, drei Jahre alt werden. Mete hätten sie ihn genannt. Unglaublich lebhaft sei er. Und einfach süß. Aber seine Frau [20]sei eine Schwatzbase. Nie gebe sie Ruhe. Ach, wenn er mich doch nur zwei Jahre früher kennengelernt hätte. Aber damals sei ich ja noch klein gewesen. Ein richtiges Küken. Noch nie hätte er so tief empfunden, noch nie sei es so intensiv gewesen wie mit mir. Sex ohne Liebe sei einfach nichts. Nur Selbstbetrug. Nach unserem ersten Mal habe er seine Frau nicht mehr angefaßt. Er habe keine Lust gehabt. Wenn man einem Straßenhund ein Kotelett gab, würde der sich dann später mit Abfällen zufriedengeben? Völlig ausgeschlossen. Meine pechschwarzen Augen und meine Locken hätten ihn verzaubert. Er denke ständig an mich. Nie hätte er mir etwas Böses antun wollen, aber es sei nun einmal geschehen. Wenn er gewußt hätte, daß ich Jungfrau war, hätte er mich nicht angerührt. Oder – er lachte – vielleicht doch, vielleicht hätte er nicht widerstehen können. Und würden wir nicht sowieso später heiraten? So bald wie möglich würde er mit seiner Frau sprechen. Nur das Kind mußte erst mal ein wenig größer werden. Das war seine einzige Sorge. Es war sehr wichtig, daß Kinder in einer liebevollen Umgebung aufwuchsen. Jeden Tag sah er in Beyoğlu Dutzende Klebstoff schnüffelnde Kinder. Die wuchsen eben in lieblosen Familien auf. Jedes Kind war bei der Geburt unschuldig. Die Familie und das Umfeld waren sehr wichtig.

[21]Rahman Sokak No. 52, Beyazit

Wann immer meine Mutter bemerkte, daß ich einen Roman las, schrie sie sofort: »Du verdirbst dir die Augen!« und erfand die unglaublichsten Dinge, nur um mich vom Lesen abzuhalten. Entweder schickte sie mich einkaufen, weil das Mehl ausgegangen war, oder es gab unaufschiebbare Hausarbeiten wie Bettenmachen, Waschbecken putzen oder Geschirr spülen.

Wofür war es schon nütze, diese Sachen zu lesen? Waren das etwa Schulaufgaben? Würde ich bei Prüfungen nach diesen Romanen gefragt werden? Oder wurde ich womöglich dafür bezahlt, daß ich den Schmus las, den irgendwelche Leute geschrieben hatten? Das war doch noch nicht mal wahr, was da drin stand, die sogen sich doch nur was aus den Fingern, um Leuten wie mir das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wieviel hatte ich wohl ausgegeben für diesen Schinken da? Der Schreiberling hatte sich auf meine Kosten eine goldene Nase verdient.

Einmal, als ich gerade Vom Winde verweht las, war ich aufgebraust: »Diesen Roman hat eine Frau geschrieben! Schau, das ist ein Frauenname«, und hatte ihr das Buch unter die Nase gehalten. Aber sie wußte natürlich nicht mal, daß Margaret ein Frauenname ist.

»Ob Mann oder Frau, die verdienen sich auf deine [22]Kosten eine goldene Nase«, hatte sie entgegnet, und ihr war anzusehen, daß sie eine Frau schlicht nicht für fähig hielt, einen richtigen Roman zu schreiben.

Zwar ertrug sie es nicht, daß jemand Romane las, aber sie respektierte, wenn jemand fernsah. Wahrscheinlich, weil sie dieses Vergnügen teilte. Auch wenn ich lernte, ließ sie mich in Ruhe. Daß ich mir die Augen durch zuviel Lernen verderben könnte, war ihr egal. Immer wieder sagte sie, irgendwann würde ich Ärztin werden und ihre Wehwehchen heilen, deren Ursache niemand zu erklären wußte. Wenn ich an einem Sonntagmorgen zur Aufnahmeprüfung für die Universität aufbrach (was bislang siebenmal geschehen war), drückte sie mir jeweils ein Glas Wasser in die Hand sowie einige Reiskörner, über denen sie am Vortag Koransuren gemurmelt und die sie bepustet hatte. Wenn ich die Reiskörner unter ihrer Aufsicht hinuntergewürgt hatte, befeuchtete sie mein Gesicht und meine Augen mit dem heiligen Wasser, das der Eigentümer der gegenüberliegenden Wohnung von der Pilgerfahrt nach Mekka mitgebracht hatte, und zwang mich, davon einen Schluck zu trinken.

Ich glaubte weder an die Reiskörner noch an die Segnungen des Wassers. Denn selbst in meiner Kindheit, also in der Zeit, in der man am ehesten gläubig ist, war ich dank meines Großvaters der Religion ferngeblieben.

»Das ist was für Dummköpfe, mein Kind«, sagte er immer. »Die brauchen etwas, woran sie glauben können. Sollen sie doch. Wer weiß, was aus dieser Welt würde, wenn dieses Heer von Betrügern noch nicht mal Angst vor Gott hätte.«

Mein Großvater hatte die Schriften aller drei [23]monotheistischen Religionen gelesen. In seinem Arbeitszimmer im Obergeschoß standen in seinem Bücherschrank die Heilige Schrift und der Koran nebeneinander.

»Seit Jahrtausenden lesen die Menschen diese Bücher und bringen sich gegenseitig um. Und dann sprechen sie von der Religion der Liebe und des Friedens. Wo ist denn da die Liebe?« pflegte er zu sagen und dabei den Kopf zu wiegen. Danach richtete er immer eine Weile den Blick starr auf die Wand. Und dabei kam es mir so vor, als gebe es hinter dieser Wand unbekannte, religionslose Welten voller Liebe und Frieden und mein Großvater könne diese erblicken und berichte mir aus der Zukunft. Ich saß mit meinem Großvater beim Essen, und während er Rakı trank, leistete ich ihm Gesellschaft mit einem Glas rosafarbenem Sirup, den meine Großmutter aus den duftenden Rosen ihres Gartens herstellte.

Sie wohnten in Beyazit, in einem zweistöckigen Backsteinhaus, das sie vor Jahren erworben hatten. Sowohl der Laden im Großen Bazar wie auch die Werkstatt im Nuruosmaniye-Viertel lagen in der Nähe. In der Küche gab es einen Kamin, in dem meine Großmutter an kalten Winterabenden ein Feuer anschürte, einen riesigen Spülstein aus Marmor, in den sich die Salzsäure, mit der er jahrelang gereinigt worden war, eingefressen hatte, und daneben stand ein ausgedienter Ziehbrunnen. Zu Zeiten, als es noch keine Kühlschränke gab, hatte man in den rostigen Eimer, der noch immer auf der Abdeckung stand, Wassermelonen gelegt und zum Kühlen an einem Seil in den Brunnen hinabgelassen.

Mein Großvater stammte aus Gevasch im Bezirk Van. [24]Das heißt, eigentlich war es komplizierter. Seine Familie stammte aus Gevasch, aber er selbst war in Hakkâri geboren, war als junger Hecht, wie er es nannte, mit 18Jahren nach Istanbul gekommen und nie mehr in seine Heimat zurückgekehrt. Seine Mutter hatte jeden mit ihrer Schönheit verzaubert, mit ihren in die Stirn fallenden Locken und pechschwarzen Augen, doch schon als junge Frau war sie in einen Brunnen gefallen und gestorben.

Das war der Grund, warum ich mich vor dem Ziehbrunnen neben dem großen Marmorspülstein schrecklich fürchtete. Ich hatte Angst, die dicke Holzabdeckung könnte verrutschen, und ich würde wie meine Urgroßmutter vom Brunnen verschluckt und irgendwo in seiner unendlichen Tiefe auf all die Menschen stoßen, die jemals in einem Brunnen ertrunken waren.

Wenn ich gebadet hatte, wickelte sich mein Großvater meine Haare um seinen Zeigefinger und drehte dann die linken Strähnen in Richtung Uhrzeigersinn und die rechten gegen den Uhrzeigersinn, so wie seine Mutter es immer getan hatte; wenn ich rannte oder in die Luft sprang, hüpften meine Locken dann mit mir. Seine Mutter hatte er zwar nicht kennengelernt, aber er hatte als Kind eine alte Frau im Dorf von ihr erzählen hören, und davon hatte er jedes Detail im Herzen bewahrt.

Ich besaß ein Bankkonto, das mein Großvater auf meinen Namen eröffnet hatte, und ein bordeauxfarbenes Sparbuch, dessen Aufbewahrungsort nur wir beide kannten. Nach seinem Tod, hatte er mir gesagt, solle ich seinen Bücherschrank etwas von der Wand abrücken. Das Sparbuch stecke in einer Hülle, die er mit Nägelchen an der [25]Sperrholzrückseite des Schranks befestigt habe. Als er mir das zum ersten und letzten Mal mitteilte, war ich noch klein, er aber schon ziemlich alt. Laut seinem Personalausweis war er 1919 geboren, aber er sagte immer, eigentlich sei er ein Jahr älter, auf dem Papier habe man ihn jünger gemacht, damit er nicht so früh zum Militär mußte.

Meine Großmutter sprach wenig und lachte nie. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen und trug selbst zu Hause immer knielange, enge Röcke, in denen sie nur kleine Schritte machen konnte, und Pantoletten mit Absätzen. Mein Großvater gab diesen hochhackigen Schuhen die Schuld an den ruinierten Füßen meiner Großmutter: Alle ihre Zehen waren über- und untereinander gequetscht.

Meine Großmutter besaß ein grellrosa Hochzeitskleid – »Zigeunerrosa« nannte sie selber diese Farbe. Es befand sich in der Rumpelkammer im Obergeschoß, deren Geheimnisse ich nur zu gerne ergründet hätte. Ab und zu betrat sie diese Rumpelkammer, öffnete den riesigen Wandschrank, holte das alte Hochzeitskleid heraus und zog es an, um zu kontrollieren, ob sie zugenommen hatte. Manchmal quoll ihr blaßrosa Fleisch zwischen den Haken und Ösen durch, an anderen Tagen tänzelte sie in ihrem Hochzeitskleid, das ihr (vom Bauch abgesehen) wie angegossen saß, durch das Haus. Wenn meine Großmutter im Hochzeitskleid auftauchte, bekam mein Großvater vor Aufregung immer rote Backen und bat sie, ihre Haare zu lösen. Meine Großmutter drehte sich dann kokett ihm zu, und sie sahen einander tief in die Augen, ohne sich von meiner Anwesenheit stören zu lassen. Ich kuschelte mich derweil in eine Ecke des Sofas, knabberte Rosinen und Haselnüsse und sah ihnen [26]zu. In solchen Augenblicken sagte meine Großmutter zwar kein Wort, aber ihre Augen lachten. Wenn sie schließlich mit schwingendem Rock und klappernden, altmodischen Silberlaméschuhen das Zimmer verließ, seufzte mein Großvater leise auf und sah ihr über den Brillenrand hinterher.

Meine Großmutter trug immer fuchsiafarbenen Lippenstift und Rouge in der gleichen Farbe. Sie tupfte ein bißchen Rouge auf die Wangenknochen und verrieb es dann sorgfältig. Ihr aschblond gefärbtes Haar trug sie zu einem Knoten gedreht.

Meine Großmutter erzählte nicht gerne von alten Zeiten, aber mein Großvater glich das aus. Als sie wieder einmal mit dem rosa Hochzeitskleid umhertanzte und damit bewies, daß sie seit 50Jahren nicht zugenommen hatte, spottete er, sie sei ja bereits im dritten Monat schwanger gewesen, als sie dieses Kleid das erste Mal getragen habe.

»Na und? Du weißt genau, daß sich mein Körper bis zum vierten Monat nicht verändert hat, wie kannst du so etwas sagen!« schimpfte sie.

1942 war meine Großmutter mit ihrer ganzen Familie von Bulgarien nach Istanbul gezogen. Sie war 19, als sie ein Jahr später im Istanbuler Mädchengymnasium in Cağaloğlu angemeldet wurde. Zwar hatte sie in Bulgarien das Gymnasium beendet, aber der Abschluß wurde in der Türkei nicht anerkannt. Das Zulassungsgremium hatte beschlossen, daß sie zunächst ein weiteres Schuljahr absolvieren müsse, bevor sie Abitur machen könne. Jeden Tag fuhr sie mit der Straßenbahn zur Schule, mit einem hartgekochten Ei, Brot und einem Apfel in der Schultasche.

Und in der Straßenbahn war es, daß sich die beiden zum [27]ersten Mal sahen. Meine Großmutter hatte ihre Tasche auf die Knie gelegt, das Kinn in die Hand gestützt und schaute nach draußen. Was sie an jenem Tag trug, daran erinnerte sich mein Großvater nicht mehr. Meine Großmutter habe die Augen zusammengekniffen und gelangweilt dreingeschaut, und deshalb seien ihm ihre honigfarbenen Augen nicht gleich aufgefallen. Ihr blauschwarzes Haar hatte hingegen sofort seine Aufmerksamkeit erregt. Wegen dieses Haars hatte er sich sofort in sie verliebt, und dieses Haar war auch später seine ganze Leidenschaft. Solange ich mich erinnern konnte, hatte meine Großmutter aschblondes Haar, deswegen konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß es einmal blauschwarz gewesen sein sollte. Ich fand, das paßte nicht zu ihr. Manchmal versuchte ich, mir meine Großmutter mit blauschwarzen Haaren, einem gelangweilten Gesichtsausdruck, hohen Absätzen und einem Minirock vorzustellen. Die Röcke meiner Großmutter endeten immer über dem Knie, es gab keinen Grund anzunehmen, daß das in ihrer Jugend anders gewesen sein könnte.

Nach jenem ersten Mal habe er, in der Hoffnung, sie wiederzusehen, jeden Tag zur gleichen Zeit die Straßenbahn genommen, pflegte mein Großvater zu erzählen. Zuerst habe er schüchtern begonnen, meine Großmutter zu grüßen, und dann nach einem Weg gesucht, sie kennenzulernen.

Es war die Zeit, in der sich mein Großvater bei Meister Kevork vom Lehrling zum Gesellen hocharbeitete. Meister Kevorks Werkstatt lag in der Nähe des Großen Bazars, im »Han der Tuchhändler«, einer Passage, in der zahlreiche Handwerker arbeiteten. Mein Großvater sprach immer anerkennend über seinen Meister, der ihm später helfen sollte, [28]sein erstes Juweliergeschäft zu eröffnen. Die Meister standen alle in dem Ruf, hart zu sein, doch der härteste von ihnen war Meister Kevork, genannt »der Verrückte«.

»Wie oft hat er mir den Ringstock aus Buchenholz an den Kopf geworfen! Und Buche ist ein sehr hartes Holz. Das tut genauso weh, wie wenn dir jemand einen Stein an den Kopf wirft. Ich starb damals tausend Tode aus Liebe zu deiner Großmutter, am liebsten hätte ich ihren Namen überall hingeschrieben, immerzu habe ich an deine Großmutter gedacht, alles andere war für mich bedeutungslos. Ich dachte immer nur darüber nach, was ich tun sollte, wie ich sie kennenlernen könnte, und alles andere hat mich nicht interessiert. Wenn der Meister das bemerkte, warf er mir den Ringstock an den Kopf. ›Erst wenn der Fisch auf die Pappel klettert, dann wird aus dir ein vernünftiger Mensch!‹ sagte er dann. Er hatte zwei Sprüche auf Lager, die er immer sagte, wenn ihm etwas unmöglich erschien. Der eine lautete: ›Wenn weiße Bohnen roh gegessen werden, dann…‹, und der andere war eben: ›Wenn der Fisch auf die Pappel klettert, dann…‹ Ich hätte zum Beispiel gerne die Werkstatt in Ordnung gebracht. Wir hatten einen Werktisch, der stammte noch aus dem Jahr 1870 und kippelte. Den hätte ich gerne repariert. Oder ich hätte gerne die Wände gestrichen. Aber dazu sagte der Meister immer nur: ›Das machen wir, wenn weiße Bohnen roh gegessen werden.‹« An dieser Stelle hielt mein Großvater immer inne und holte erst mal tief Luft, bevor er weiterredete.

»Eines Tages regte sich Meister Kevork ganz furchtbar auf. Er warf mir wieder einmal den Ringstock an den Kopf, aber selbst das besänftigte ihn nicht, und da schrie er: ›Hau [29]ab, ich will dich nie wiedersehen.‹ Damit war ich gefeuert. Ich habe die Werkstatt verlassen und bin ratlos an der nächsten Ecke stehengeblieben. Zwei Jahre lang hatte ich bei ihm gearbeitet. Eigentlich hatte ich das Handwerk erlernt, aber ich konnte doch nicht einfach so weggehen! Ich war gern bei ihm gewesen. Trotz seiner Härte war der Meister wie ein Vater für mich gewesen. Normalerweise dauert die Lehrzeit in meinem Beruf sieben Jahre, aber bei mir ging es schneller, weil ich bereits als Silberschmied gearbeitet hatte. Das ist genauso, wie einer schneller Italienisch lernt, wenn er Latein kann. Und der Meister mochte mich. Ratlos stand ich im Hof der Passage, am Fuß der Treppe zum 2. Stock, wo die Werkstätten lagen. Wo sollte ich jetzt hin? Ein Zuhause hatte ich nicht, ich schlief immer in der Werkstatt. Ich war also nicht nur arbeitslos, sondern hatte auch keine Unterkunft mehr. Während ich noch so grübelte, sah ich den Hausmeister der Passage zu mir laufen: Mein Meister hatte ihn losgeschickt, um mich zurückzuholen. Ich schwebte geradezu vor Glück, als ich hinter ihm herging.«

Immer wieder betonte mein Großvater, daß die Silberschmiedearbeit, die er in Van bei einem Meister gelernt hatte, so gut war wie die Goldschmiedearbeit in Istanbul. In Van wurden silberne Zigarettenetuis und Uhrgehäuse gefertigt. Die jungen Frauen, die von dort nach Erzurum heirateten, beauftragten meinen Großvater, Liebesbotschaften für ihre Verlobten in Zigarettenetuis zu gravieren. Wer solch ein Silberetui zu fertigen verstand, war praktisch schon ein Goldschmied.

»Und wenn man in diese Zigarettenetuis noch dazu Verzierungen einritzte, Muster herausstach oder [30]Einlegearbeiten aus Tulasilber hinzufügte… Wer solch ein Zigarettenetui zustande bringt, der kann auch Ringe, Ohrringe und Kolliers fertigen«, sagte mein Großvater. Er war stolz darauf, durch seine Lehrzeit in Van zu den wenigen Silberschmieden zu gehören, die die Technik des Tulierens noch beherrschten.

Als er nach Istanbul kam und sah, was dort alles aus Silber hergestellt wurde, kam er aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Servierplatten für Fisch stellten die Silberschmiede hier her und Besteck, Teekannen und Bilderrahmen: Haushaltgerät aus massivem Silber gab es in der Metropole. Die älteren Meister klagten freilich, im Vergleich zu früher habe die Nachfrage deutlich abgenommen. Wie viele Menschen gab es denn noch in diesem immer mehr schrumpfenden, von Kriegen und Massakern erschütterten Land, die mit Silbergabeln Fisch von Silbertellern aßen? Dementsprechend hatte die Nachfrage abgenommen, und sie alle, die Silberschmiede und Goldschmelzer, die Ajourmeister und Ziseleure saßen in ihren Werkstätten und warteten den lieben langen Tag auf Kunden.

»Kurz nach meiner Ankunft in Istanbul habe ich bei Agop zu arbeiten begonnen, in der Passage der Metalläuterer. Heute nehmen sie niemanden mehr einfach so von der Straße, eingestellt wird man nur durch eine Empfehlung. Aber damals ging das. Waren die Leute damals vielleicht rechtschaffener, ehrlicher als heute? Sicherlich hatte man mehr Vertrauen zueinander. So kam ich also zu Agop. Im Bazar bekommt jeder einen Spitznamen verpaßt. Mich haben sie den »Vaner« genannt, wie du weißt. Mein Meister hieß dagegen einfach Agop, der hatte keinen Beinamen. Er [31]war nicht so hart wie die anderen Meister, vielleicht, weil er damals noch jung war. Während die anderen brüllten, wenn sie etwas von einem wollten, bediente er sich eines freundlichen Tons. Er war Musikliebhaber. Spielte auch selber Geige. Ich sagte dir ja, daß es wenig zu tun gab, aber Meister Agop schnallte den Gürtel enger und ließ seine Kinder selbst in dieser Situation Geigenunterricht nehmen. Ich habe zwar von ihm das Handwerk erlernt, aber Kunden kamen nicht, wir saßen den ganzen Tag herum. Mir wurde klar, daß das Silberschmiedehandwerk keine Zukunft hatte. Und während ich noch darüber nachgrübelte, lernte ich Meister Kevork kennen, der in der Passage der Tuchweber als Goldschmied arbeitete. Meister Kevork hatte keine Kinder. ›Der Verrückte‹ wurde er genannt, und wenn er seine verrückten fünf Minuten hatte, geriet er in der Tat völlig außer sich. Kein Lehrling hielt es bei ihm aus. Er war ein Meister seines Handwerks. Wenn ein Ring nur einfach gut geraten war, dann runzelte er die Stirn, warf ihn dem Gesellen an den Kopf und befahl ihm, ihn neu zu machen. Seine Ringe konnte man auf Kilometer Entfernung erkennen, so makellos waren sie. Meister Kevork suchte damals jemanden, an den er seine Fertigkeiten weitergeben konnte, und da habe ich die Passage der Metalläuterer verlassen und bei ihm zu arbeiten begonnen. Wobei – das stimmt nicht ganz, wenn ich behaupte, ich hätte die Passage der Metallläuterer verlassen – wenn die Leute, die in den fünfziger Jahren mit Kind und Kegel nach Amerika gezogen sind, mal nach Istanbul zurückkamen, haben sie unweigerlich auch der Passage der Metalläuterer einen Besuch abgestattet, und genauso zog es auch mich immer wieder dorthin. [32]Also habe ich die Passage der Metalläuterer in Wirklichkeit nie so ganz verlassen. Ich habe noch heute viele Freunde dort, aus der Lehrlingszeit und danach–«

»Und was ist mit der Großmutter?« warf ich ein, in der Hoffnung, daß er erzählen würde, wie er meine Großmutter kennengelernt hatte. Aber er tat so, als habe er mich nicht gehört und erzählte weiter von Meister Kevork.

»Dieser Meister Kevork war so hart, daß ich noch im Traum vor ihm zitterte. Aber gleichzeitig war er ein sehr guter Mensch. Und er sah auch, daß ich fleißig war: Wenn er abends nach Hause ging, arbeitete ich weiter. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich schlief in der Werkstatt, also las ich ein Buch, oder ich machte eine Arbeit fertig. Nun ist das nicht wie bei Silberarbeiten, man arbeitet da mit Gold, es liegt immer Gold in der Werkstatt. Er mußte mir vertrauen, um mich einfach so allein dort zurückzulassen. Was, wenn er eines Morgens in die Werkstatt käme und ich wäre mitsamt dem ganzen Gold verschwunden? Aber er vertraute mir, und wir verstanden uns mit der Zeit immer besser, so daß ich schließlich auch bei ihm zu Hause ein und aus ging. Und da habe ich zu meinem großen Erstaunen festgestellt, daß er zu Hause weich war wie Watte. Die Freundlichkeit in Person. Als ob er ein anderer Mensch wäre. Zuerst habe ich mich sehr gewundert, aber dann ist mir klargeworden, daß die Meister sich so hart gaben, um sich bei den Lehrlingen durchsetzen zu können. Aber ihm nahm ich nichts übel, ich sah ihn wie einen Vater an, und er liebte mich wie einen Sohn. Später hat er mir dann auch geholfen, meinen eigenen Laden aufzumachen. ›Dir steckt der Händler im Blut‹, hat er damals gesagt. ›Du bist zwar auch [33]ein guter Goldschmied, das läßt sich nicht leugnen, aber…‹ Und er hat recht gehabt. Ich bin viel eher ein Händler als ein Handwerker, und außerdem kann ich gut reden.«

Wenn er an diesem Teil seiner Geschichte angelangt war, wußte ich, daß er gleich wieder auf meine Großmutter zu sprechen kommen würde.

»Auch deine Großmutter habe ich so herumgekriegt, durch süße Worte. Die Leute, die mich mit deiner Großmutter zusammen sahen, dachten immer: ›Was findet bloß diese wunderschöne Frau an dieser Vogelscheuche?‹ Und das ist ja immer noch so.«

Ich lachte und warf ein: »Jetzt hör aber auf!«

»Aber es stimmt doch. Und außerdem ist deine Großmutter nicht nur schön, sie hat auch ein reines Herz. In unserem Dorf gab es einen Spruch – so ein typischer Dorfspruch natürlich, das geht nicht ohne Mist und Dreck ab: ›Gib ihr einen getrockneten Kuhfladen, und sie gibt dir ein Brot zurück‹. So eine ist deine Großmutter. Nachdem ich sie kennengelernt hatte, entdeckte ich, daß sich ihre innere Schönheit in ihrem Gesicht ausdrückte. Ich schlich dann also dauernd aufgeregt um sie herum und dachte an nichts anderes mehr, als was ich wie zu ihr sagen sollte und wie ich sie wohl ansprechen könnte. Damals konnte man nicht einfach ein Mädchen auf der Straße ansprechen, das war nicht so wie heute. Während ich mir so das Hirn zermarterte, sind sechs Monate vergangen, stell dir vor. Ich kam ja schließlich vom Dorf… Zwar lebte ich damals schon seit sechs, sieben Jahren in Istanbul, aber das Dörflersein ist wie das Sumpffieber: Wenn du es erst mal hast, wirst du es nicht mehr los. Es hat mich eine furchtbare [34]Überwindung gekostet, mit deiner Großmutter ein paar Worte zu wechseln…«

Bald nachdem sie sich kennengelernt hatten, hörte meine Großmutter auf, sich für die Mittagspause ein hartes Ei und einen Apfel einzupacken. Denn um meine Großmutter herumzukriegen, hatte mein Großvater begonnen, seinen Wochenlohn, den er seit Jahren Kurusch für Kurusch eisern auf die hohe Kante legte, um irgendwann einen eigenen Laden aufzumachen, ›in Restaurants zu verpulvern‹, wie er es nannte.

»Damals gab es im Großen Bazar das Restaurant Bursa. Das war aber viel berühmter als das Havuzlu, das da heute betrieben wird. Und da es einen Namen hatte, war es natürlich auch teuer. Dorthin konnte ich deine Großmutter nicht einladen. Die Lehrlinge und die Mehrzahl der Meister brachten damals ihr Essen in Henkelmännern von zu Hause mit. Mein Meister hatte immer drei Gerichte dabei, und ganz gleich, was in seinem Henkelmann drin war, er teilte es immer mit mir. Aber nachdem ich deine Großmutter kennengelernt hatte, habe ich das Essen meines Meisters eine Zeitlang verschmäht. Deine Großmutter hatte den ganzen Tag Unterricht, aber mittags gab es eine lange Pause. In dieser langen Mittagspause schlich sie sich heimlich aus der Schule. Es war den Schülerinnen nämlich nicht erlaubt, draußen herumzulaufen. Ich wartete unauffällig in der Nähe der Schule, bis sie mit hochroten Wangen angelaufen kam, und dann gingen wir zusammen ins Restaurant von Herrn Atom. Herr Atom, der Besitzer, war ein gutaussehender, stattlicher Mann, der sein winziges Lokal ganz alleine betrieb. Morgens ging er in aller Frühe hin, kaufte beim [35]Goldenen Metzger ein, kochte die Gerichte, und wenn alles aufgegessen war, wusch er ab, räumte auf, und dann ging er nach Hause. In Sıraodalar lag sein Lokal.

Sechs Hackfleischklößchen machten eine Portion. Und ein weiteres Hackfleischklößchen steckte er dem Lehrling, der die Portion holen kam, in den Mund. Deswegen kamen die Lehrlinge immer besonders gern her, wenn ihre Meister Hackfleischklößchen bestellten.

Zu dieser Zeit war ich schon fast Geselle und bekam einen höheren Wochenlohn, aber der reichte nicht aus für zwei Portionen Hackfleischklößchen täglich. Dennoch wollte ich deine Großmutter jeden Tag sehen. Was sollte ich bloß tun? Nach einer Weile entschloß ich mich, wieder den Henkelmännern meines Meisters zuzusprechen, und wenn wir bei Herrn Atom saßen, behauptete ich, ich sei satt, und sah deiner Großmutter beim Essen zu. Das fiel mir natürlich furchtbar schwer, denn das khavitz (armenische Süßspeise aus Mehl, Zucker und Fett) von Herrn Atom war berühmt, und ich aß es sehr gerne. Jeden Tag gab es bei ihm ein bestimmtes Gericht. Am Dienstag zum Beispiel waren das gefüllte Weinblätter. Am berühmtesten waren Herrn Atoms Hammelkoteletts, aber die kamen ein bißchen teuer. Zwar hatte ich zu der Zeit die Spendierhosen an, aber Koteletts konnte ich mir trotzdem nicht leisten. Sicher, mit den Jahren ist die Brieftasche ein bißchen dicker geworden, und dann habe ich angefangen, auch Koteletts zu essen. Die von Herrn Atom schmeckten immer gleich. Die Jahre vergingen, aber die Koteletts von Herrn Atom waren immer gleich gut. Als ob er die Rippen immer aus ein und demselben Hammel herausschneiden würde. Wie machte er das nur?«

[36]Da sich das anhörte wie eine Frage, fühlte ich mich genötigt, etwas zu sagen, obwohl ich es eigentlich lieber hatte, wenn mein Großvater weitersprach.

»Gab es die Gerichte, die du vom Dorf her kanntest, hier nicht?«

»Bei uns auf dem Dorf gab es doch gar keine Gerichte. Was sollte es da schon geben? In welchem Dorf gibt es denn so was wie Gerichte? In Van gab es Fisch. Damals nannte man ihn nur ›Fisch‹, aber inzwischen hat man ihm einen Namen gegeben, jetzt heißt er Ukelei. In dem See lebt sowieso nur eine Sorte Fisch. Und das Ungeheuer vom Van-See. Sonst gibt es nichts Lebendiges in dem mineralhaltigen Wasser.«

»Und wenn du keine Fleischklößchen gegessen hast, hat das die Großmutter nicht mißtrauisch gemacht? Hat sie dich nicht gefragt, warum du nichts ißt?«

»Sie kam gar nicht dazu, mißtrauisch zu werden. Von dem Tag, an dem ich deine Großmutter zum ersten Mal gesehen habe, bis zu dem, an dem sie mit mir fortgelaufen ist, sind höchstens sieben Monate vergangen. Von diesen sieben Monaten habe ich sechs damit zugebracht, mir den Kopf zu zerbrechen, wie ich sie kennenlernen könnte, das heißt, wir sind höchstens ein, zwei Wochen lang Mittag essen gegangen. Mir kam das natürlich ewig vor, weil das Geld zerrann. Ich überlegte sogar, deine Großmutter so schnell wie möglich zu heiraten, um nicht alles Geld auszugeben.«

An dieser Stelle bekam mein Großvater immer einen Lachanfall und schielte unauffällig zu meiner Großmutter hinüber. Die versteckte dann den Kopf hinter der Zeitung.

In der Zeit der Restaurantbesuche träumte mein [37]Großvater davon, seinen Meister zu verlassen, alles Geld zusammenzukratzen und einen eigenen Laden aufzumachen. Meine Großmutter lernte für die Abiturprüfung. Wenn in ein paar Jahren der Laden existierte und sie die Universität besuchte, wollten sie heiraten.

Als der Onkel meiner Großmutter die beiden Hand in Hand an der Straßenbahnhaltestelle Çemberlitaş stehen sah, malten sie sich vielleicht gerade aus, wie es in ein paar Jahren sein würde, in ihrem Haus mit den sauber geschrubbten Dielenböden und weißen Spitzenbettdecken, und wie sie abends von der Arbeit nach Hause kommen würden. Meine Großmutter erschrak fürchterlich, als sie ihren Onkel mit dem Geigenkasten im Arm vor sich stehen sah. (An dieser Stelle der Geschichte pflegte mein Großvater ihren erstaunten und erschreckten Gesichtsausdruck nachzuahmen.) Der Onkel war Musiklehrer am Konservatorium. Auf allen Fotos, die es von ihm gab, ob aus Bulgarien oder aus Istanbul, hielt er die Geige in der Hand und lächelte. Ich stellte mir den Onkel so vor wie auf den Schwarzweißfotos: ein hagerer Mann in dunklem Anzug, weißem Hemd und Krawatte, der den Kopf zur Geige an seiner linken Schulter neigt.

Als sie ihren Onkel erblickte und sah, wie er unter seinem Schnurrbart lächelte, zog meine Großmutter vielleicht schnell ihre Hand aus der meines Großvaters zurück – wer weiß? Dann stellte sie meinen Großvater ihrem Onkel vor.

An jenem Abend ging meine Großmutter nicht nach Hause und am nächsten Tag nicht zur Schule. Alle Tage und Nächte nach diesem Zusammentreffen verbrachte sie in der Junggesellenwohnung, die mein Großvater kurz zuvor an[38]gemietet hatte. Sie hatte Angst, ihr Onkel erzähle ihrem Vater, daß er sie Hand in Hand mit einem Mann gesehen hätte, und das war schlimmer, als die Schule nicht zu beenden. Sie hatte eine ihrer Schulfreundinnen zu ihrer Mutter geschickt mit der Botschaft, sie sei weggelaufen, um zu heiraten.

In Wirklichkeit war weder ihr Onkel so schwatzhaft, daß er seine Beobachtung sofort ihrem Vater weitererzählt hätte, noch ihr Vater so kleinmütig, daß er in solch einer Situation außer sich geraten wäre. Aber als meiner Großmutter klar wurde, daß ihr Onkel ihr gemeinsames Geheimnis niemandem weitererzählt hatte, war sie bereits eine verheiratete Frau.

Als meine Großmutter heiratete, war sie neunzehn und im dritten Monat schwanger, und statt Turkologie zu studieren, wie ihr Vater es sich erhofft hatte, brachte sie drei Kinder zur Welt.

An den Abenden, an denen wir fünf Kinder zu unseren Großeltern gingen, um dort zu übernachten, schärfte unsere Mutter uns immer ein, brav zu sein und alles zu tun, was man uns sagte. Meine älteste Schwester war für mich verantwortlich. Mein Bruder und meine anderen Schwestern mußten auf sich selbst aufpassen, sie waren groß genug. Wir schliefen nicht in den unbewohnten Schlafzimmern im ersten Stock, sondern im beheizbaren Salon im Erdgeschoß, wo wir uns auf den ausziehbaren Sofas nebeneinander ausstreckten. Mein Großvater weckte uns morgens um sechs durch lautes Rufen. Noch im Nachthemd stellten wir uns verschlafen in der Küche vor ihm auf. Meine Schwester Hatice setzte dann den Tee auf und bereitete das Frühstück zu. [39]Meine älteste Schwester wischte den Fußboden, denn mein Großvater verlangte, daß vor dem Frühstück alles sauber war. Meine Schwester Jale holte beim Krämer an der Ecke die Zeitung, während mein Bruder zu der Bäckerei gehen mußte, die eine Viertelstunde entfernt lag, und dort Baguettes kaufte, das Lieblingsbrot meiner Großmutter; sie waren so lang, daß sie aus dem Einkaufsnetz herausragten. Ich saß neben meinem Großvater, sah meinen Schwestern und meinem Bruder zu und trank ein erstes Glas Tee.

Von meinem Großvater habe ich mir abgeschaut, den Zucker nicht in den Tee zu geben und umzurühren, sondern ihn im Mund aufzulösen. Anfangs steckte ich mir für jeden Schluck Tee ein Stück Zucker in den Mund. Durch die Hitze schmolz es mir auf der Zunge und rann mir dann brennend heiß die Kehle herunter. Meinen Großvater ärgerte es, daß ich für ein Glas Tee zehn Stück Zucker verbrauchte. Er brachte mir bei, den Zucker zwischen Zahn und Backe zu schieben und bei jedem Schluck nur ein bißchen davon zu schmecken. In Erzurum, sagte er, trinke jeder den Tee auf diese Weise. Ich ahmte also meinen Großvater nach: spreizte den kleinen Finger ab, wenn ich das Glas hielt, und versuchte, mit einem kleinen Stück hartem, geschnittenem Zucker pro Glas auszukommen.