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Jean-Pierre Bric wirft den Polizeidienst hin und folgt auf eigene Faust einer Fährte, die er aufgrund der Indizien für vielversprechend hält. Als scheinbarer Goldsucher schließt er sich einem Wagentreck an. Und tatsächlich stößt er eines Tages auf die Spur des Mörders ...
In dieser überaus spannenden Mischung aus Kriminalfall und einem Wagentreck durch den noch weitgehend unerschlossenen Westen ist kaum etwas, wie es scheint, und Jean-Pierre Bric muss höllisch aufpassen, um nicht über kaum erkennbare Fallstricke zu stolpern.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Ein Serienmörder in seiner Stadt
Vorschau
Impressum
Ein Serien-mörder in seiner Stadt
Mitte des 19. Jahrhunderts, New Orleans: Jean-Pierre Bric, ein aus Frankreich eingewanderter Mann, arbeitet als Polizist in der Metropole am Mississippi und bekommt es eines Tages mit einer Reihe von Frauenmorden zu tun, die, seiner Meinung nach, verdächtige Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Theorie stößt höheren Ortes jedoch auf keine Gegenliebe ...
Schließlich wirft Jean-Pierre Bric frustriert den Polizeidienst hin und folgt auf eigene Faust einer Fährte, die er aufgrund der Indizien für vielversprechend hält. Als vermeintlicher Goldsucher schließt er sich einem Wagentreck an. Und tatsächlich stößt er eines Tages auf die Spur des Mörders ...
Die feuchte Luft war zum Schneiden dick. Die Moskitos, die um diese Zeit in Schwärmen aus den Sümpfen kamen, taten sich an den vielen Menschen gütlich, die das French Quarter in dieser unheilvollen Nacht aufsuchten. Gaslaternen warfen flackernde Schatten auf die Kopfsteinpflaster.
Die Dunkelheit verhüllte die Unerfahrenheit des jungen Polizisten. Jean-Pierre Bric war froh, dass nur Kerzen den Tatort erhellten und die blutigen Details dieses Mords nicht in aller Deutlichkeit offenbarten. Die weitere Ermittlung bei Tageslicht würde mehr Hinweise zutage fördern. Denn um Mord handelte es sich zweifellos.
Die Prostituierte lag mit gespreizten Beinen auf dem Bett mit der eingefallenen Matratze. Sie war bis auf ihre gestreiften Wollstrümpfe entblößt, und man brauchte nur wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass hier ein Liebesspiel einen abrupten Abbruch gefunden hatte.
Das Bild, das sich ihm im Kerzenschein bot, war beinahe feierlich. Er zog seine Schirmmütze, als würde er eine Andacht betreten.
Bric trug die Uniform seines Polizeireviers, der First Municipality von New Orleans. Ihr Rayon reichte von der Canal Street bis zur Esplanade Ave und schloss das French Quarter mit ein. Zu seinem Leidwesen, denn das französische Viertel machte die meiste Arbeit. Da er, als gebürtiger Franzose, die Sprache fließend sprach, wurde er häufig dort eingesetzt.
Der schwarze Uniformrock, der ihm bis über die Knie reichte, wurde am Bauch von einem breiten Ledergurt zusammengehalten. Seine schwarzen Schuhe hielt Corporal Bric immer vorbildlich gebürstet. Da er alleinstehend war und keine Frau hatte, die das für ihn erledigen konnte, suchte er dazu den Schuhputzer an der Ecke Bourbon Street auf, der ihm für den Gegenwert eines Cents das Schuhwerk auf Hochglanz polierte, so dass er sein noch jungenhaftes Antlitz darin spiegeln konnte.
Das Mädchen sah überhaupt nicht aus wie eine Tote. Es sah aus wie ein Mädchen, das für Geld Liebe machen wollte und auf ihren nächsten Liebhaber wartete. Tatsächlich übersah er auf den ersten Blick die Todesursache. Ein dunkelroter Punkt direkt über der linken Brust. Eine tödliche Stichwaffe, schloss er daraus. Allerdings so klein, dass sie keinen Schnitt hinterließ. Das Herz musste punktiert worden sein. Wahrscheinlich hatte es sofort aufgehört zu schlagen. Was erklären würde, dass die Liebesdienerin nicht von ihrem eigenen Blut besudelt war.
»Was ist mit ihren Ohren?« Die Besitzerin des Bordells, die ihrer Klientele als Madame De la Croix bekannt war, sah neugierig über seine Schulter. Sie zeigte mit dem rotlackierten Nagel des Zeigefingers auf die Tote.
Bric hielt den Leuchter über das Gesicht. Das Mädchen war noch keine zwanzig. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, die krausen Haare waren zu einem Zopf geflochten. Ein Mischling, dachte er. Ihre geschminkten Lippen waren von einem kräftigen Kuss verschmiert. Noch auffallender waren tatsächlich die Ohren des Opfers. Respektive, was dort fehlte: die Ohrläppchen.
Im Jahr des Herrn 1849 tummelten sich in New Orleans Eingeborene, Indianer, Kreolen, französische Geschäftemacher und weiß Gott wer noch, und jeder Einwanderer hatte aus seiner Heimat eine ganz besondere Körperkultur mitgebracht. Es gab mehr Tätowierer als Straßenreiniger. Bric hatte schon Schwarze gesehen, die sich einen Knochen durch die Nase gezogen hatten. Es wäre immerhin denkbar, dass das Abtrennen der Ohrläppchen in einem weit entfernten Land eine Sitte war, von der er nichts wusste.
Er hätte sich also nichts weiter dabei gedacht. Wenn da nicht links und rechts des Kopfes, der auf ein weißes Kissen gebettet war, feine Bluttropfen getrocknet wären.
»Jemand muss sie abgeschnitten hatten«, informierte Bric die Madame. Nicht nur das, der Unbekannte musste die Ohrläppchen mitgenommen haben. Im großflächigen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sah er die Leiche auf dem Bett seitenverkehrt. Bric fragte sich, ob der Mörder diesen Anblick genossen hatte. Vielleicht sich selbst zugesehen hatte, wie er die Tat beging?
Bric setzte die Mütze wieder auf, an der die Plakette seines Reviers prangte.
»Wie lange hat das Mädchen für Sie gearbeitet, Madame de la Croix?«
Die Puffmutter senkte betroffen den Blick.
»Ach, Marie, arme Marie! Sie war eine meiner Besten. Immer freundlich, immer fürsorglich mit den Kunden«, sagte sie mit einem Anflug von Traurigkeit. Eine Vorstellung, die Bric ihr keine Sekunde abnahm. Sie drückte sich um die Antwort, weil sie gar nicht mehr wusste, seit wann die arme Marie begonnen hatte, in diesem Bordell ihre Dienste anzubieten.
»Wie lange also, Madame?«
»Ich schätze, so an die zwei Monate«, sagte sie schließlich schulterzuckend.
Er erkundigte sich, ob das Maries Sachen waren, die in der Ecke in einer Art von Seesack lagen. Die Madame bejahte das, und Bric durchsuchte sie, ohne große Aussicht auf Erfolg. Einige zusätzliche Kleidungsstücke, Handschuhe, die sie aus Frankreich mitgebracht hatte und in diesem Klima bestimmt nicht gebraucht hätte, eine billige Perlenkette, die nicht einmal einen Dieb interessiert hätte, einige Briefe und Dokumente, die amtlich wirkten, vielleicht Dokumente zur Einreise, dachte er.
Im Zimmer nebenan war ein Freier mit einer anderen Dame der Nacht zugange. Das Stöhnen der Prostituierten klang nach schlechter Schauspielerei. Die Bettstatt klopfte im Rhythmus der aufflammenden Leidenschaft ihres Kunden gegen die Wand.
»Ist Ihnen irgendetwas Sonderbares aufgefallen? Hatte Marie in letzter Zeit Kunden, die sich auffällig benahmen?«
Die Madame zog eine Augenbraue hoch. Genau genommen war es keine Braue, sondern ein Strich, den sie über ihre tiefe Augenhöhle gemalt hatte.
»Corporal Bric, das fragen Sie mich doch nicht im Ernst? Sonderbare Dinge gehen hier in allen Räumen vor, und auffällige Kunden kommen zu jeder Stunde. Das müssten Sie doch eigentlich wissen.«
Er beschloss, die süffisante Bemerkung zu überhören. Mehr gab es im Moment nicht zu tun.
Als er sich zum Gehen wandte, hielt Madame de la Croix ihn am Arm fest.
»Corporal, wann werden Sie dieses arme Geschöpf abholen?«
»Ich werde den Leichenwagen avisieren, Madame«, informierte er sie, und als sie dankbar die dunkelrot geschminkten Lippen schürzte, als wollte sie ihm zum Abschied noch die Wange küssen, ergänzte er schnell: »Doch was das Zimmer betrifft, Madame, so wird es in naher Zukunft nicht zur Verfügung stehen. Nicht, bevor meine Untersuchung abgeschlossen ist.«
»Bric, das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, empörte sie sich, plötzlich nicht mehr so damenhaft, sondern im Ton einer Unternehmerin. »Ich brauche das Zimmer, damit das neue Mädchen morgen ihre Arbeit aufnehmen kann!«
Bric verließ die protestierende Madame und ihr Bordell über den Hintereingang. Er wollte nicht, dass allfällige Beobachter auf falsche Gedanken kamen, wenn ein Polizist das Freudenhaus betrat, obgleich er wusste, dass viele Polizisten ihre Macht ausnutzten, um so auf ihre Kosten zu kommen. Die Nacht hatte erst begonnen, und im French Quarter begann es zu brodeln wie in einem Suppenkessel, in dem Golfaustern gekocht wurden.
Jean-Pierre Bric hatte noch einen anderen Grund, warum er nicht wollte, dass jemand ihn erkannte. Er war Kunde hier. Marie hatte er zwar nicht persönlich kennengelernt, sie aber im Salon schon erblickt, wo die Damen der Nacht den Kontakt mit ihren Freiern aufnehmen, um sie dann zum Zimmer im ersten Stock zu führen. Sie hatte ihn einmal angesprochen, doch er hatte dankend abgelehnt. Er ging nie mit Mischlingen aufs Zimmer. Sie waren nicht sein Typ.
✰
Bric hatte mit seinem Rapport bis zum nächsten Morgen gewartet. In einer Stadt mit über hunderttausend Einwohnern kamen Morde in einer bestimmten Regelmäßigkeit vor. Und wenn sie nicht gerade vor Zeugen auf offener Straße begangen wurden, dann blieben sie meist unaufgeklärt. Es gab daher keinen Grund, auf dem Revier Alarm zu schlagen. Vor allem nicht bei dieser drückenden Hitze.
»Aha. Wieder mal eine tote Hure.« Sein Vorgesetzter ließ sich von einem kleinen Milieu-Mord nicht den Morgen verderben. »Schon die zweite in diesem Monat. Diese blutrünstigen Freier glauben wohl, dass Nachschub unbegrenzt zur Verfügung steht.«
Bric stand stramm vor ihm, eine Hand auf dem Rücken, die andere an die Hosennaht angelegt.
Claude Boudreaux war der Kommandant des ersten Reviers, im Rang des Captain of the Guard. Bis heute hatte Jean-Pierre Bric die gutgemeinten Ratschläge des 55jährigen Offiziers dankbar aufgenommen. Als jüngster Polizist des ganzen Korps hatte er noch viel zu lernen. Aber die Art, wie Boudreaux über solche Bluttaten sprach, ließ den jungen Korporal immer häufiger an dessen Kompetenz zweifeln. Denn die Rate der Morde, die in seinem Distrikt zur Aufklärung kamen, war auffallend niedrig.
Während der Captain den schriftlichen Bericht las, legte Bric ihm einen weiteren Zettel auf den Tisch, die Bestätigung des Leichenbestatters.
»Ah, der Kerl ist fix und sehr geschäftstüchtig.« Captain Boudreaux meinte das durchaus als Kompliment. Nichts Schlimmeres als ein Leichenbestatter, der seine Arbeit nachlässig tat. So hatte der Mann, der im Sold der Stadt stand, Maries Leichnam bereits vom Bordell zum Saint Louis Cemetery überführt.
Als vor einigen Jahren eine Serie von Seuchen ausbrach, weil der hohe Grundwasserspiegel die Begrabenen immer wieder aus ihren Gräbern schwemmte, hatte die Stadt eine Verordnung erlassen. Bestattungen durften nur noch außerhalb der Stadt, im Bayou St. John, vorgenommen werden. Innerhalb von New Orleans durften die Toten nur noch in oberirdisch angelegten Gräbern bestattet werden.
Nicht, dass der armen Marie viel ausgemacht haben dürfte, wo sie ihre letzte Ruhe fand und dass die Stadt auf den Kosten sitzenblieb. Die Stadtverwaltung hatte die Leichenbestattung im Budget, wenn die Familien nicht für die Kosten aufkommen konnten. Im Fall der armen Marie war das notwendig. Sie hatte sonst niemanden gehabt. War erst vor zwei Monaten mit dem Schiff aus Le Havre gekommen.
»Die Untat hatte einige seltsame Begleitumstände«, meldete Bric, obwohl er das in seinem Bericht vermerkt hatte.
Sein Captain, die schriftlichen Bemerkungen überfliegend: »Du meinst die fehlenden Ohren?«
»Die Ohrläppchen, Sir. Sie wurden abgetrennt.«
Boudreaux gab diesem Umstand einige Sekunden Bedenkzeit. Dann wedelte er mit der Hand, als verscheuchte er eine Fliege. Fliegen betrachteten das Polizeirevier des ersten Distrikts als ihr Zuhause, weil direkt hinter dem Gebäude Pferdedung angeliefert wurde. Deshalb wedelte der Captain oft auf diese Weise mit der Hand. Nur in diesem Fall war die lästige Schmeißfliege, die es zu vertreiben galt, dieser Mord.
»Mein lieber Jean-Pierre, ich bin ein zu alter Hase, um mich über so was noch besonders aufzuregen. Eine Nutte hat einen Freier. Sie streiten sich. Über den Preis der Gefälligkeiten oder den nicht zufriedenstellenden Kundenservice. Der Freier schlägt zu – und schon lässt die gute, alte Madame de la Croix ein neues Mädchen von Frankreich herüberkommen. Fall abgeschlossen.«
Für Bric jedoch stank nicht nur der Haufen Pferdemist, sondern dieser ganze Fall.
»Wer nimmt schon die Ohrläppchen seines Opfers mit?«
Der Captain drückte einen Stempel auf sein Stempelkissen mit schwarzer Farbe und stempelte den Bericht ab.
»Vielleicht als Souvenir. Wer weiß das schon? Irgendein Verrückter bestimmt. Umso schwieriger, ihn zu finden.«
Er wies die Theorie seines Untergebenen zurück und legte den Fall ad acta. Was nichts anderes hieß, als dass er das Blatt Papier, das Bric ausgefüllt hatte, in den Tiefen seines Schreibtischs beerdigte. Ganz so, wie zur selben Zeit auf dem Saint Louis Friedhof die arme Marie in die feuchte Erde von Louisiana gesenkt wurde.
»Die Bewohner von New Orleans sind solchen Vorfällen gegenüber gleichgültig geworden. Vielleicht sogar abgestumpft. Wir haben ja, weiß Gott, andere Probleme.«
Damit hatte der Captain natürlich nicht Unrecht. Die Bevölkerung machte sich viel mehr Sorgen aufgrund von Gesundheitsrisiken. Das Trinkwasser stammte aus dem Mississippi oder aus Zisternen und war vielfach verschmutzt. Es gab kein vernünftiges Abwassersystem. Die Entwässerung bei Regen war mangelhaft. Und nach schwerem Regen musste die Hafenstadt am Lake Bougne mit Überschwemmungen rechnen. Ein paar Morde hie und da fielen darum nicht sehr ins Gewicht.
✰
Als er die nächste Leiche fand, bereute Jean-Pierre Bric, dass er sich bei seinem Vorgesetzten nicht durchgesetzt hatte. Nur zwei Tage waren vergangen. Heute trug der schwüle Südstaatenwind den modrigen Geruch des Mississippi herüber.
Ein schwarzes Dienstmädchen hatte die Polizei alarmiert. Sie gehörte als Sklavin zum Haushalt von Madame Dugas, einer gut betuchten Witwe, die in einflussreichen Kreisen verkehrte. Die Dienstmagd nahm an, dass ihrer Herrin etwas geschehen war, da sie seit Tagen nicht aus ihrem Schlafzimmer kam und auf das Klopfen an der Tür nicht antwortete. Doch die Magd fürchtete sich zu sehr vor ihrer Herrin, um ihr Schlafgemach unaufgefordert zu betreten.
Das Heim lag an einer Häuserzeile mit französischen Kolonialbauten, in der Nähe der St. Patrick's Church. Die Kirchenglocken schlugen gerade zwei Uhr nachmittags, als Bric schnell über die hölzernen Stege schritt. Er überquerte die Straße auf rohen Planken, die man für Fußgänger über den Matsch gelegt hatte, der sich nach der letzten Überschwemmung hartnäckig weigerte zu trocknen.
Die schwarze Magd war ihm vorangegangen. Die Schwarzen sind abergläubisch, dachte er und beobachtete, wie das Mädchen voller Furcht die Haustür öffnete. Das ganze Haus war still.
Es roch nach verwelkten Blumen. Dann roch er noch etwas anderes. Ein süßlich-beißender Geruch.
»Madame Dugas?« Er klopfte energisch an die Schlafzimmertür im ersten Stock. »Hier ist die Polizei. Corporal Bric. Wir kennen uns, Madame. Würden Sie bitte öffnen?«
Er sagte das nur noch der Ordnung halber, ohne auf eine Antwort zu hoffen. In diesem Klima entwickelte sich Leichengeruch schon bald nach dem Eintreten des Tods. Wenn der Körper nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wurde, trat der biologische Zersetzungsprozess ein. Dann verströmte ein Toter diesen typischen Geruch.
So einfach ins Schlafgemach der Hausherrin einzubrechen und sie allenfalls einer kompromittierenden Situation auszusetzen, würde ihm eine Rüge eintragen. Doch bei diesem Gestank, der seine Nase beleidigte, befürchtete Bric nicht, dass er Madame Dugas bei einem Liebesspiel mit einer Freundin oder einer ihrer Bediensteten antreffen würde.
»Tritt etwas zurück.«
Die Schwarze gehorchte. Bric warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Das Holz war weich, von der schwülen Luft seit Jahren aufgeweicht. Es splitterte, und schon beim zweiten Anlauf fiel die Tür aus den Angeln.
Madame Dugas lag auf ihrem Himmelbett. Er brauchte ihr nicht den Puls zu fühlen, um ihren Tod festzustellen. Ihr Gesicht war wächsern, und die offene Kinnlade reichte ihr bis auf die Brust.
Madame Dugas hatte die Vierzig schon überschritten, und es war ein offenes Geheimnis, das sie seit dem Ableben ihres Gatten das weibliche Geschlecht bevorzugte. Vielleicht war das tatsächlich schon der Fall gewesen, bevor Monsieur Dugas das Zeitliche segnete. Wie dem auch war, Bric wusste, dass sich die wohlhabende Witwe dann und wann eine Gespielin ins Haus hatte kommen lassen.
Gut möglich, dass solche sexuellen Gefälligkeiten auch zu den Pflichten ihrer schwarzen Sklavin zählten.
Bric wusste all das, weil er gesellschaftlich mit der Dugas verkehrte. Ihr Einfluss reichte bis ins Rathaus, und da sie seiner Karriere sehr förderlich sein konnte, hatte er Einladungen zu Teepartys nicht ausgeschlagen. Die Madame umgab sich gerne mit jungen, hübschen Menschen.
Die Schleier an den Bettpfosten, die lästige Moskitos abhalten sollten, bewegten sich sachte im lauen Wind, der durch das geöffnete Fenster drang. Da die Tür verschlossen gewesen war, musste ein Mörder diesen Weg genommen haben, nachdem die Tat vollendet war.
Bric warf einen Blick aus dem Fenster. Von hier aus war die katholische Kirche zu sehen. Unten auf der Camp Street waren unauffällige Fußgänger unterwegs. Vom Balkon führte eine metallene, an die Wand geschraubte Leiter zur Straße. Die Leiter war für den Notfall eines Brands gedacht. Aber wer sie benutzt hatte, dürfte kaum jemandem aufgefallen zu sein. Augenzeugen zu suchen, war aussichtlos.
Er sah sich im Zimmer um. Auf einem Schreibtisch lag eine Zeitung, der Louisiana Courier. Außergewöhnliche Goldgewinne!, schrie die Schlagzeile. Die Neuigkeit vom Goldfund in Kalifornien war bereits ein Jahr alt. Der Artikel verriet also nichts Neues. Bric interessierte sich mehr für das Erscheinungsdatum. Es gab Aufschluss darüber, wie lange die Tote schon hier lag. Die Zeitung war vor sieben Tagen gedruckt worden. Der Tod konnte also nicht früher eingetreten sein.
Der Text informierte darüber, dass die Goldfelder nun bereits in 35 Tagen per Dampfschiff erreicht werden konnten. Beworben wurde die Fahrt mit der Nicaragua, die den Weg um Südamerika herum nahm, um in San Francisco zu landen.
Bric wendete die Zeitung, um zu sehen, ob er die Adresse der Hausherrin fand, doch es sah nicht danach auch, dass sie die Zeitung abonniert hatte. Vielleicht einfach an der Straßenecke gekauft. Aber warum? Interessierte eine Frau, die so gut situiert war, ein Goldfund am anderen Ende der Welt?
Daneben lag ein Buch. Bric schlug es an der Seite auf, in der etwas wie ein Lesezeichen lag. Es war das Massband einer Magd. Das Buch war ein reich bebilderter Weltatlas. Die Art Buch, die nur reiche Menschen besaßen. Was sollte man sonst schon mit Weltkarten anfangen? Dass dieses Lesezeichen ausgerechnet zwischen den Seiten lag, die Südamerika abbildeten, schien ihm kein Zufall zu sein. Hatte die Dugas mit dem Massband im Ernst die Seemeilen berechnen wollen?
Seit sich die Nachricht der Goldader bei Sutters Mühle im Westen des Landes im Januar 1848 in Windeseile verbreitet hatte und Goldfieber auch den Osten angesteckt hatte, profitierten vor allem die Unternehmen, die schnelle Reisen zu den Goldfeldern anboten. Man konnte per Schiff Zentralamerika ansteuern, den Kontinent bei Panama durchqueren und dann auf ein Schiff nach San Francisco umsteigen. Die Reederei versprach, dass die Goldfelder in drei bis fünf Monaten erreichbar wären. Der längere Schiffsweg führte um Kap Horn, er nahm fünf bis acht Monate in Anspruch. Bei weitem der kürzeste Weg war auch der gefährlichste: westwärts durch die meist nicht kartographierten Prärien. Viele nahmen das Risiko in Kauf, weil man auf diesem Weg nur drei Monate bis zum Gold brauchte.