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Es war Clarks erste Lesung aus seinem neuen Roman, und er war dementsprechend aufgekratzt. Er saß auf einem erhöhten Podium hinter einem Tisch und las gerade die Stelle vor, wie Marshal Aaron Fox seine Geliebte Eliza den Klauen einer Bande von Desperados entriss, als es unter den Zuhörern unruhig wurde.
Clark hielt inne und schielte über den Rand seiner Nickelbrille hinweg.
»Achtzehn!«, rief ein blasser Mann in der ersten Reihe.
Clark starrte den Störenfried an. »Was meinen Sie mit ,achtzehn’, Mister?«
Der Blasse grinste stärker. »Ich habe mitgezählt. Ihr Marshal Fox hat bereits achtzehn Schüsse auf die Gauner abgefeuert. Aus einem Colt, ohne ein einziges Mal nachzuladen!«
Clark spürte, wie er rot anlief. »Fox hat ein - Sondermodell«, keuchte er.
Vereinzelt erklang hämisches Gelächter, und der Westernautor Nathan Clark hätte sich am liebsten in ein Mäuseloch verkrochen ...
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Ein Greenhorn im Wilden Westen
Vorschau
Impressum
EinGreenhornim WildenWesten
Es war Clarks erste Lesung aus seinem neuen Roman, und er war dementsprechend aufgekratzt. Er saß auf einem erhöhten Podium hinter einem Tisch und las gerade die Stelle vor, wie Marshal Aaron Fox seine Geliebte Eliza den Klauen einer Bande von Desperados entriss, als es unter den Zuhörern unruhig wurde.
Clark hielt inne und schielte über den Rand seiner Nickelbrille hinweg.
»Achtzehn!«, rief ein blasser Mann in der ersten Reihe.
Clark starrte den Störenfried an. »Was meinen Sie mit ,achtzehn', Mister?«
Der Blasse grinste stärker. »Ich habe mitgezählt. Ihr Marshal Fox hat bereits achtzehn Schüsse auf die Gauner abgefeuert. Aus einem Colt, ohne ein einziges Mal nachzuladen!«
Clark spürte, wie er rot anlief. »Fox hat ein – Sondermodell«, keuchte er.
Vereinzelt erklang hämisches Gelächter, und der Westernautor Nathan Clark hätte sich am liebsten in ein Mäuseloch verkrochen ...
Drei Stunden später stieg Clark aus der Droschke, die vor einem dreistöckigen Haus in der Lambert Street hielt, unweit der Trinity Church.
Obwohl es später Abend war, hatte der Autor darauf verzichtet, sein eigenes Zuhause aufzusuchen. Nach der misslungenen Lesung brauchte der Junggeselle jetzt einen Menschen, mit dem er reden konnte. Und er fand, sein älterer Bruder Timothy war genau der Richtige dafür.
Timothy hatte eine Kammer im Dachgeschoss eines schlichten Stadthauses angemietet, in dem überwiegend arme Familien wohnten. Er arbeitete als Buchhalter im Personalbüro einer Baufirma. Sicher würde Nathan ihn zu Hause antreffen. Um diese Zeit verließ sein Bruder selten das Haus. Meistens hockte er im Schein einer rußenden Kerze in seinem Ohrensessel und schmökerte in vergilbten Romanen, die er sich aus billigen Antiquariaten besorgte.
Nathan entlohnte den Kutscher, nahm seine Ledertasche von der Sitzbank und warf die Tür zu. Über das Kopfsteinpflaster rumpelte der Zweispänner davon.
Die Tasche vor die Brust gepresst, blieb der Autor eine Zeit lang stehen. Selbstvergessen starrte er die düstere Hausfassade an, in deren Fenstern nur noch vereinzelt Licht brannte. Schließlich trat er an die Haustür. Als er die Klinke herunterdrückte, spürte er Widerstand.
Die Tür war abgeschlossen.
Der dunkelhaarige Mann nickte vor sich hin. Die Uhr ging auf zehn. Um diese Zeit war die Vordertür immer verriegelt. Mit staksigen Schritten umrundete er das Haus.
Auf dem Hinterhof war es dunkel wie in einem Ofenrohr. Nathan musste genau Acht geben, wohin er trat. Überall lag Gerümpel und Unrat herum. Der Untergrund war holprig, und er musste höllisch aufpassen, dass er sich nicht die Beine brach.
Doch er hatte den mit einer Mauer umgrenzten Hof schon öfter in der Dunkelheit überquert. Zielsicher strebte er der Hintertür zu, die auch des Nachts offen blieb.
Wenige Meter davor blieb er stehen und spitzte die Ohren.
Aus dem windschiefen Bretterschuppen an der Mauer drang ein Geräusch. Es hörte sich an wie das Wimmern eines verletzten Tieres.
Den Kopf zur Seite geneigt, lauschte Nathan angestrengt.
Nach einer Weile wurde ihm klar, dass es kein Tier war, das sich Schutz suchend in dem Schuppen verkrochen hatte. Nein, die klagende Stimme gehörte einem Menschen!
Der Schriftsteller schluckte schwer. Unschlüssig überlegte er hin und her. Sollte er so tun, als ob er nichts gehört hatte, und im Haus verschwinden? Oder sollte er zum Schuppen gehen und nachschauen, wer sich darin verbarg?
Während er sich darüber den Kopf zerbrach, wehte der Wind den kehligen Ruf eines Mannes an sein Ohr. Der Ton klang furchterregend und brutal.
Der Autor bekam eine Gänsehaut. In einer Metropole wie New York geschahen nachts die schändlichsten Dinge. Womöglich schwebte gerade in diesem Augenblick ein paar Straßenzüge weiter ein Mensch in höchster Gefahr? Ihm konnte der Schriftsteller jetzt nicht helfen – aber womöglich demjenigen, der sich in dem Schuppen versteckt hielt?
Die Tasche fest gepackt, näherte sich Clark dem Holzverschlag. Unter seinen Schuhsohlen knackte es. Viele der Mieter warfen ihren Abfall einfach zum Fenster hinaus.
Als er unmittelbar vor der lose in den Angeln hängenden Brettertür stand, verebbten die Klagelaute aus dem Inneren. »Hallo? Ist da jemand?«, flüsterte er.
Keine Antwort.
Nathan stand da, seine Arme um die Tasche geschlungen, und starrte in das Dunkel. Im Inneren der Holzhütte war es jetzt totenstill. Kurzentschlossen schob er die verfallene Tür zur Seite.
»Vor mir brauchen Sie keine Angst zu haben«, versicherte er. »Ich tue Ihnen nichts!«
Endlich gewahrte er eine Bewegung. Es sah als, würde sich eine Gestalt aus der Dunkelheit lösen. Obwohl sein Herz bis zum Hals schlug, gab er sich gefasst. »Kommen Sie nur«, sagte er und kramte eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche. »Wenn Sie wollen, rauchen wir eine. Dabei können wir uns unterhalten. Ich habe gerade etwas Zeit.«
Eine Weile passierte nichts.
Dann schluchzte eine weibliche Stimme: »Also gut, ich werde kommen!« Langsam schälte sich eine zierliche Gestalt aus dem Dunkel.
Bei ihrem Anblick trat Nathan einen Schritt zurück. Die Frau war noch jung, ungefähr Mitte zwanzig. Aber jemand hatte ihr übel mitgespielt. Ihr Kattunkleid hing in Fetzen von ihrem hageren Leib. Als sie vor den Schuppen trat, bemerkte Nathan, dass ihr Gesicht völlig zugeschwollen war. Auch auf ihren nackten Schultern wimmelte es von blauen Flecken und verschorften Risswunden. Zudem hatte die Unglückliche keine Schuhe an. Ihre langen dunklen Haare hingen in verklebten Strähnen bis zu ihrer Taille hinab.
Als sie seinen schockierten Blick bemerkte, lächelte sie gequält.
»Geben Sie mir eine Zigarette«, bat sie lispelnd.
Nathan sah, dass ihr ein Schneidezahn fehlte. Es dauerte einige Zeit, bis er seine Verblüffung überwunden hatte. Mitleidig starrte er das bedauernswerte Geschöpf an.
Die Frau hob eine Hand. »Zigarette«, hauchte sie.
»Wer, zum Kuckuck, hat Ihnen das angetan, Ma'am?«, stieß er hervor.
»George, mein Mann«, sagte sie, als wäre es die normalste Sache der Welt. »Was ist nun mit dem Glimmstängel?«
Nathan Clark rang um Fassung. Wie konnte ein Mann seine Frau so herzlos behandeln? In den Romanen, die er bisher verfasst hatte, kamen solche Scheusale nicht einmal am Rande vor. Vielmehr waren seine männlichen Helden perfekte Gentlemen, die dem weiblichen Geschlecht gegenüber äußerst charmant und zuvorkommend auftraten.
Nathan gab ihr eine Zigarette, entzündete ein Schwefelholz und hielt ihr das Flämmchen hin. Die Frau beugte sich vor, hielt das Ende der Zigarette ins Feuer und saugte gierig.
Im Lichtschein konnte er ihr Gesicht erkennen. Ein hübsches Ding, dachte er, natürlich ohne ihre Wunden und mit einem hübschen sauberen Kleid.
»Ich heiße Donna Taylor«, sagte sie zwischen zwei Zügen.
Mechanisch nannte Nathan seinen Namen. Dann deutete er auf das Haus, das sich neben ihnen erhob. »Mein Bruder hat unterm Dach eine kleine Kammer. – Timothy Clark, vielleicht kennen Sie ihn?«
Sie schüttelte den Kopf.
Nathan sah ihr ins Gesicht. »Ihr Mann«, sagte er mit belegter Stimme, »schlägt er Sie öfter?«
»Jede Woche«, bejahte sie. »Und dann jagt er mich aus dem Haus. Besonders schlimm ist es im Winter.«
»Im Winter?« Nathan tippte gegen die Schuppentür. »In diesem Verschlag könnten Sie glattweg erfrieren!«
»Für George kein Problem. Er würde sich eine neue Frau nehmen. Jeden Tag kommen Schiffe aus Europa herüber. Es gibt Frauen ohne Ende.«
Nathan prallte zurück. Um ein Haar wäre ihm die glimmende Zigarette aus der Hand gefallen. Sekundenlang wusste er nicht, was er sagen sollte. Die schonungslose Offenheit der Frau jagte ihm einen Entsetzensschauer über den Rücken. »Warum wehren Sie sich nicht, Ma'am?«
Donna Taylor blies den Rauch nach oben. »George ist ein kräftiger Kerl«, erwiderte sie. »Wo er hinhaut, wächst so schnell kein Gras mehr. Ich komme nicht gegen ihn an.«
»Aber das ist doch kein Leben!«
»Ich habe keine Wahl.«
»Sie könnten ihn verlassen.«
»Um zu verhungern?«
Ratlos ließ der Autor die Schultern hängen. Er versuchte sich in die Frau hineinzuversetzen, aber obwohl er eine Menge Fantasie besaß, gelang ihm das nicht. »Sie sind ein hübsches Mädchen«, sagte er schließlich mit gepresster Stimme. »Sie haben etwas Besseres verdient, als regelmäßig mit Fäusten traktiert zu werden.«
Sie horchte auf. »Ich gefalle Ihnen?«
»Ja«, gab er unumwunden zu.
Plötzlich kicherte sie. »Das sagen Sie ja bloß, um mich zu trösten. In Wirklichkeit halten Sie mich für eine...«
»Nein, das tue ich nicht!«, fiel er ihr ins Wort. »Ich finde Sie ganz reizend.«
Das stimmte genau. Irgendwie gefiel ihm die Frau. Er wusste zwar nicht, warum, aber er fühlte sich zu ihr hingezogen. Mit in Ordnung gebrachtem Gebiss, nett frisierten Haaren und in einem hübschen Sommerkleid würde sie einen prächtigen Anblick abgeben. Ein richtiger Augenschmaus. Viele Männer würden sich auf der Straße nach ihr umdrehen.
Leider war sie die Frau eines anderen Mannes – eines Dreckskerls, der sie schlug und aus dem Haus jagte, wenn es ihm in den hohlen Schädel kam.
Nathan stieß einen Stoßseufzer aus.
»Was haben Sie, Mr. Clark?«, forschte sie.
»Ich frage mich gerade, wie eine Frau wie Sie auf einen Mann wie George hereinfallen konnte«, schnaufte er.
Schweigend blickte Donna dem davonziehenden Rauch ihrer Zigarette hinterher. Plötzlich malte sich auf ihren Zügen der Anflug eines melancholischen Lächelns ab.
»Würden Sie denn eine wie mich tatsächlich heiraten wollen?«, fragte sie leise.
Nathan räusperte sich. »Warum nicht? Natürlich müsste ich Sie noch ein wenig näher kennenlernen. Aber im Grunde genommen finde ich Sie in Ordnung.«
Sie strahlte ihn an. »Wären meine Lippen nicht so zerschlagen, würde ich Ihnen jetzt einen Kuss geben!«
Nathan errötete. Am liebsten hätte er Donna in die Arme genommen, sie zärtlich gedrückt und sie anschließend in die Kutsche gesetzt, um sie mitzunehmen. Bei sich zu Hause würde er die junge Frau schon wieder aufpäppeln.
In diesem Augenblick wurde über ihnen ein Fenster aufgerissen.
Ein Mann brüllte: »Komm rauf, Donna! Du hast vergessen, mir mein verdammtes Hemd zu stopfen!«
Nathan beobachtete, wie die Frau ihre Zigarette austrat und dann schnell wie ein Reh ins Haus schlüpfte.
Als ihre Schritte verklungen waren, folgte er ihr.
In Gedanken versunken stieg er die Treppe bis zum Dachgeschoss empor. Noch ahnte er nicht, dass die nächtliche Begegnung auf dem Hinterhof bald schon eine große Bedeutung für ihn haben würde.
✰
Als Nathan Clark die Kammer seines Bruders betrat, stieg ihm der muffige Geruch von alten Büchern in die Nase.
Das Zimmer war mit Brettern ausgekleidet und nur spärlich möbliert. Dafür gab es vier hohe Regale, die mit zerlesenen Zeitschriften und uralten Büchern vollgestopft waren. An der Wand hing ein rahmenloser Kupferstich, der William Shakespeare zeigte.
»Ich habe gerade ein Debakel hinter mir«, erzählte Nathan und schloss die Tür hinter sich. »Die Lesung heute Abend war eine einzige Katastrophe!«
Timothy legte ihm brüderlich den Arm um die Schulter. Er war Nathan wie aus dem Gesicht geschnitten. Blondes, welliges Haar. Wache, kristallblaue Augen hinter der Nickelbrille. Ein sorgfältig gestutztes Bärtchen über der Oberlippe. »Ich habe dir gleich gesagt, dass deine Liebe in Abilene noch nicht ausgereift ist. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören.«
Nathan zog einen Flunsch. »Vorwürfe sind das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.«
»Wie wäre es dann mit einem Bier?«
»Hast du nichts Härteres?« Nathan setzte sich auf einen klapprigen Stuhl und ließ die Schultern hängen.
Sein Bruder grinste. »Auch das.« Er holte eine Flasche Brandy aus dem Regal und schenkte zwei Gläser voll. Dann ließ er sich auf einem Stuhl mit geschnitzter Lehne nieder. »Erzähl mal, altes Haus«, ermunterte er. »Was ist schief gelaufen?«
»Alles«, brummte Nathan und drehte sein Glas zwischen den Fingern. »Alles, was schief gehen konnte, ist schief gelaufen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich schon einmal so froh war, eine Lesung hinter mir zu haben, wie heute.«
»Aber jetzt hast du es ja geschafft.«
»Gott sei Dank. Ich glaube, ich setze mich nie wieder vor ein Publikum. Da waren Typen darunter, die haben mir den letzten Nerv geraubt.«
»Wurdest du unterbrochen?«
Nathan nickte finster. »Und das nicht nur einmal. Ständig rief einer dazwischen.« Ärgerlich ahmte er eine Stimme nach: »Marshal Fox schießt ja, ohne nachzuladen! In Kansas gibt es gar keine Mammutbäume! Das Tal des Todes liegt in Kalifornien, nicht im Big Bend! Heißt das Versteck von Desperados in der Cowboysprache nicht Shebang? Ich dachte, der Rio Grande entspringt in Colorado! Mr. Clark, eben haben Sie vorgelesen, dass Eliza ein grünes Kleid trägt, plötzlich hat sie ein rot gepunktetes an! Waren die Haare des Marshals zu Beginn Ihres Romans nicht schwarz? Wieso hat er jetzt braune? Und warum...?«
»Halt, stopp!«, lachte Timothy. »Hör auf, Nathan! Ich habe ja begriffen, was du meinst.«
Der geplagte Autor griff in die Keksschale, die auf dem kleinen Lesetisch zwischen den Stühlen stand.
»Ich bin ein Idiot, Timothy«, erklärte er kauend, »zu dumm, um einen Kreis in den Sand zu pinkeln. Wie konnte mir das nur passieren?«
»Das werde ich dir sagen, Kleiner«, versetzte der Ältere gutmütig. »Du hast dich nicht ausreichend mit der Materie beschäftigt. Du wolltest so fix wie möglich das Wort ›Ende‹ unter dein Werk kritzeln, um das Manuskript an den Verlag zu schicken.«
»Ich brauchte das Geld«, sagte Nathan kleinlaut.
Timothy stand auf. »Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Vor deinen Augen geisterten nur die Dollarsymbole herum. Deshalb hast du deiner Feder die Kante gegeben, ohne Rücksicht auf Verluste.«
»Und dabei finde ich die Geschichte so toll.« Nathan sah zu, wie der Bruder sein Glas nachfüllte. »Ein Marshal rettet die Tochter eines Banditen vor einer Stampede. Er bringt sie in das Gebirgsversteck der Outlaws und kommt dazu, wie ihr Vater einen Mann erschießt. – Was für Zündstoff in der Handlung liegt!«
Timothy wackelte mit dem Kopf. »Geschmackssache«, meinte er und deutete auf seine Bücherwände. »Ich halte mich da mehr an die alten Meister.«
Das hatte Nathan befürchtet. Als Unterhaltungsautor konnte er sich natürlich nicht mit den schillernden Namen von Goethe, Schiller, Shakespeare und Dante messen. Es gab seinem Selbstbewusstsein jedes Mal einen Knacks, wenn seine Werke den unsterblichen Klassikern gegenübergestellt wurden. Er verglich die Arbeit seines Bruders in der popeligen Baufirma ja auch nicht mit den Jahrtausendprojekten der ägyptischen Pyramidenbaumeister.
»Eines solltest du unbedingt tun, Nathan«, sagte Timothy mit einem Mal. »Wenn du das nächste Mal einen Roman im Wilden Westen ansiedelst, solltest du vorher eine Menge Recherchen anstellen. Je mehr du über das Land weißt, in dem deine Handlung spielt, desto besser.«
»Hab's schon kapiert«, knurrte Nathan. »Ich war eben eine Idee zu voreilig. Bei Lichte besehen hatten die Leute aus dem Publikum gar nicht so Unrecht.«
»So ist es.« Timothy trank sein Glas leer. Plötzlich fasste er seinen Bruder fest ins Auge. »Warum setzt du dich nicht in die Union Pacific und fährst... sagen wir, zum Beispiel nach Texas?«
Nathan hätte fast sein Glas fallen lassen. »Ich soll nach Texas?«
»Oder ins Arizona Territorium«, spann Timothy den Faden weiter. »Du besorgst dir in einer hübschen Pension ein Quartier und studierst das wilde Leben im Grenzgebiet. Das müsste doch zu machen sein, oder?«
»Ich habe New York noch nie verlassen«, wandte Nathan ein.
»Höchste Zeit, dass du es tust!«
Nathan Clark versank ins Grübeln. Was sein Bruder da vorschlug, war zwar eine irrwitzige Idee, aber trotzdem nicht von der Hand zu weisen. Wenn er vor Ort Notizen sammelte, würde sein zweiter Roman über den Westen vielleicht ein Erfolg werden. Niemand würde mehr ein Wort über die verhunzte Liebe in Abilene verlieren. Und sein angekratzter Ruf wäre gerettet.
Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Timothy!«, rief er aufgeregt. »Das ist die Lösung! Ich fahre in den Wilden Westen, kaufe mir ein Schießeisen und schnüffle so lange in den gottverdammten Creeks, Canyons und Mesas herum, bis ich selbst ein waschechter Westmann geworden bin!«
Timothy schwenkte die Brandyflasche. »Bruderherz, ich bin stolz auf dich!«, verkündete er.
Nathan grinste breit. Vor seinem geistigen Auge erblickte er sich bereits als knallharten Gunslinger. Wenn er die Stepwalks entlang ging, schlugen die verwegensten Burschen die Augen nieder, um ihn nicht unnötig zu reizen.
Sobald er genügend Stoff und Eindrücke gesammelt hatte, würde er, vor Selbstbewusstsein strotzend, nach New York zurückkehren. Er würde diesem Dreckskerl George Taylor eine Tracht Prügel verabreichen, ihn aus der Stadt jagen und aus der kleinen Donna eine richtige Lady machen.
Bei dem Gedanken wurde ihm ganz warm ums Herz.
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Drei Wochen später hielt am späten Nachmittag vor dem Abfertigungsgebäude der Rio Grande Overland Mail in Hot Springs eine staubbedeckte Concord-Kutsche. Ein Pferdejunge spannte die ermüdeten Tiere aus und führte sie in einen großzügig angelegten Corral. Die beiden Kutscher rissen die Verschläge der Gondel auf. Links und rechts wurden Treppchen angestellt, sodass die Passagiere bequem aussteigen konnten.
Sechs Leute kletterten aus der Kutsche. Ein Captain der US Cavalry mit seiner Frau, ein Handelsreisender in Sachen Kentucky-Whiskey, ein stutzerhaft gekleideter Berufsspieler, eine rotwangige Prostituierte sowie ein zappeliger Schriftsteller aus New York, Nathan Clark.