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Lucky Hank nennt man ihn in der Gold Range von Colorado. Denn er ist das, was man ein Sonntagskind oder einen Goldjungen nennt. Eine Serie unwahrscheinlicher Glücksfälle hat ihm geholfen, sich nach zwischenzeitlichem Scheitern immer wieder aufzurappeln und es bis zum Gold King von Denver zu bringen. Hank ist eingebildet, ruhmsüchtig und sammelt Frauen wie Trophäen. Diese Schwäche machen sich Halsabschneider zunutze, und so sieht sich Lucky Hank eines Tages, als er aus dem Whiskey-Rausch erwacht, mit der Anklage des Mordes an dem Rotlichtgirl Harriet Goldeneye konfrontiert.
Während er in der Todeszelle auf den Henker wartet, zieht das Leben noch einmal an ihm vorbei, das Leben eines die Achterbahnfahrt des Schicksals mit Hingabe fahrenden Glücksritters. Ist diese rauschhafte Reise nun zu Ende? Oder erweist sich Hank ein weiteres Mal als Lucky Hank, der Goldjunge des Schicksals?
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Lucky Hank
Vorschau
Impressum
LuckyHank
Lucky Hank nennt man ihn in der Gold Range von Colorado. Denn er ist das, was man ein Sonntagskind oder einen Goldjungen nennt. Eine Serie unwahrscheinlicher Glücksfälle hat ihm geholfen, sich nach zwischenzeitlichem Scheitern immer wieder aufzurappeln und es bis zum Gold King von Denver zu bringen. Hank ist eingebildet, ruhmsüchtig und sammelt Frauen wie Trophäen. Diese Schwäche machen sich Halsabschneider zunutze, und so sieht sich Lucky Hank eines Tages, als er aus dem Whiskey-Rausch erwacht, mit der Anklage des Mordes an dem Rotlichtgirl Harriet Goldeneye konfrontiert.
Während er in der Todeszelle auf den Henker wartet, zieht das Leben noch einmal an ihm vorbei, das Leben eines die Achterbahnfahrt des Schicksals mit Hingabe fahrenden Glücksritters. Ist diese rauschhafte Reise nun zu Ende? Oder erweist sich Hank ein weiteres Mal als Lucky Hank, der Goldjunge des Schicksals?
Hank saß in der Todeszelle. Er war trübsinnig und schlechter Laune, wie nicht anders zu erwarten. Die Petroleumlampe im Flur vor den vergitterten Zellen warf einen trüben Schein.
Der junge Gold King von Denver ging ruhelos in der Zelle auf und ab. Hin und her tigerte er, immer vier Schritte vor und vier zurück.
In der Nebenzelle hockte ein besoffener, verlauster Penner und verhöhnte ihn.
»Morgen bei Sonnenaufgang wird dir der Hals langgezogen, Lucky Hank. Du hast lange genug in Saus und Braus gelebt, die tollsten Weiber gerammelt und bist mehrspännig durch die Stadt gefahren. Jetzt bist du dran. Du kommst an den Galgen – wegen Mordes an Harriet Goldeneye, obwohl sie es wohl verdient hat.« Er fing an zu grölen: »Hang down your head, Hank Meary, hang down your head and cry. Hang down your head, Hank Meary, poor boy, you're bound to die.«
Dabei blies der Verlauste auf seinen Fingern wie auf einer imaginären Mundharmonika. Er grinste höhnisch und hämisch.
Hank hörte sich das eine Weile an. Dann rief er laut nach dem Sheriff. Tyler Toblin kam aus dem Office vorn, ein großer, breitschultriger Mann mit einem über die Mundwinkel herabhängenden stattlichen Schnauzbart und zwei fußlangen Remingtons an der Seite.
»Was willst du, Hank?«
»Bring den Penner zum Schweigen. Sonst werde ich ungemütlich und randaliere. Kann man denn nicht einmal seine letzte Nacht in Ruhe verbringen? Übel genug, dass ich unschuldig hängen muss. Ich habe Harriet Goldeneye nicht ermordet.«
»Du wurdest gesehen, wie du zu ihr aufs Zimmer gingst. Dann fand man sie erwürgt, die schöne Harriet. Und du lagst hinterm ›Buckeye Saloon‹ stockbetrunken, eine leere Whiskeyflasche neben dir, mit Harriets goldener Halskette in der Tasche und dem Diamanten, den sie immer im Nabel trug. Und Kratzern im Gesicht. Wie kannst du da noch leugnen?«
»Zum Teufel, man hat mich reingelegt! Ich betrat Harriets Zimmer. Sie lag nackt auf dem Bett, spreizte die Schenkel und sagte: Reg dich nicht auf, Hankieboy. Steck ihn mir rein – das willst du doch nur. Meiner Pussy hast du noch nie widerstanden, du gefallener Gold King.«
»Und da verlorst du die Beherrschung und hast ihr den Hals umgedreht, hast das Lu... ähm, Harriet erwürgt. So war es, gesteh es endlich! Oder willst du mit einer Lüge aus dem Leben scheiden und vor deinen Schöpfer treten?«
Hank packte die Gitterstäbe. Er war fast so groß wie der Sheriff, braunlockig und gut gekleidet. Natürlich waffenlos. Ein durchaus gutaussehender Mann, den man noch bis vor kurzem das Schoßkind des Glücks genannt hatte.
Hank Mearys Glück war schon unverschämt. Es hieß, er würde selbst in einer Latrine noch einen Goldklumpen finden. Er hatte ein offenes, argloses Gesicht, wirkte mit seinen siebenundzwazig Jahren wie ein großer Junge und strahlte die Welt mit seinen blauen Augen an, als könnte er niemals ein Wässerchen trüben.
Einer, dem man nicht böse sein konnte – außer in einem Fall wie jetzt.
»Ich lüge nicht, Tyler. Warum glaubt mir denn keiner? Damned, wir sind doch Freunde ...«
»Gewesen«, unterbrach ihn der Sheriff. »Mit einem Mörder kann ich nicht befreundet sein. Ich habe dir oft genug aus der Patsche geholfen. Diesmal kann ich das nicht. Die Jury erkannte dich schuldig, der Judge sprach das Urteil. Tod durch den Strang. Nimm es hin wie ein Mann. Oder sollen wir dich als jammerndes Bündel mit vollgepissten Hosen zum Galgen schleifen?« Er zögerte einen Moment und fügte hinzu: »Dein Gnadengesuch an den Gouverneur des Colorado-Territoriums wurde abgelehnt.«
»So ist es. Ich schäme mich dafür, dass ich überhaupt eines stellte – begnadigt zu werden, obwohl ich das Verbrechen überhaupt nicht beging. Ich will es dir schildern – noch einmal. Goldeneye mit ihren Goldlöckchen lag da wie die Sünde und Verlockung persönlich.«
Der Hobo nebenan hatte aufgehört zu singen. Er sabberte regelrecht, als er die Schilderung hörte. Einen wie ihn hätte Harriet Goldeneye genauso wenig angefasst, wie sie sich mit einem Pferdeapfel geschminkt hätte.
»Ich sagte ihr«, fuhr Hank fort, »nicht mal mit der Feuerzange würde ich sie mehr anfassen. Sie sei das Letzte, was ich je erlebt hätte, und ich würde es bedauern, mich jemals mit ihr eingelassen zu haben. Sie ... lachte mich aus.«
»Da packtest du sie am Hals.«
»Nein, Tyler. Ich konnte es nicht. Ich schüttelte nur den Kopf und wollte mich zum Gehen wenden. ›Abschaum‹, nannte ich sie. Eigentlich hatte ich nochmal mit ihr reden wollen, ihr ins Gewissen reden, sie könne mich nicht derart ausnehmen und abservieren. Doch sie hatte keins. Ich begriff, dass es zwecklos gewesen war, sie nochmals aufzusuchen. Dass ich besser weggeblieben wäre. Ich spürte nur noch Abscheu und Ekel.«
Hank atmete schwer, als würde er alles noch einmal im Geist erleben.
»Verachtung für mich habe ich empfunden. Weil ich sie überhaupt noch mal aufgesucht hatte. Nur noch weg wollte ich. Um keinen Preis hätte ich sie noch mal angerührt. In dem Moment kriegte ich von hinten eins auf den Kopf, und für mich ging die Welt unter. Dann kam ich erst wieder zu mir, als man mich im Hinterhof vom ›Buckeye‹ fand und weckte. Ich war stockbetrunken. Man hatte mir Whiskey eingeflößt und meine Kleider mit Whiskey besprengt. Ich begriff zuerst überhaupt nicht, was Sache war.«
»Das erzähltest du vor Gericht und der Jury. Keiner hat dir geglaubt.«
»Du auch nicht?«
»Nein, ich auch nicht. Du hast mich tief enttäuscht, Hank. Dass du so etwas tun könntest, hätte ich nie von dir gedacht. Du bist ein leichtsinniger, lockerer Vogel – schnell mit dem Colt, mit mehr Glück, als dir zusteht. Jetzt ist es zu Ende – aus, vorbei. Bei Sonnenaufgang bezahlst du.«
»Tyler, glaubst du denn wirklich, ich wäre so blöd, die Saloon Queen auch noch zu berauben, nachdem ich sie erwürgt hatte?«
»Was du ihr nahmst, waren Trophäen.«
»Und würde mich dann, nachdem ich den Tatort ungesehen verließ, sinnlos betrinken und mit den Beweisstücken in der Tasche in einem Hinterhof auflesen lassen? So dumm kann doch keiner sein!«
»Du warst es. Aufgeregt warst du nach dem Mord und hast die Wirkung des Whiskeys unterschätzt. Die ganze Flasche hast du geleert in deinem Brass. Das haute dich um. Dein Pech.«
»Mich hat ganz was anderes umgehauen. Ich hatte eine Beule am Kopf, als ich gefunden wurde.«
»Yeah. Wer weiß, wogegen du mit deinem Suffkopf gerannt bist. Das ist kein Beweis für deine Unschuld. Und dann noch die Kratzer. Du musst hängen für das, was du getan hast. Eine Frau zu ermorden, pfui! Schämst du dich nicht?«
»Ein Vorbild an Tugend war Harriet Goldeneye ja nun gerade nicht. Bildschön, aber ausgekocht und mit allen Wassern gewaschen. Skrupellos.«
»Kein Grund, sie zu erwürgen. Auch wenn es im Affekt geschah. Das hättest du niemals tun dürfen. Weshalb bist du denn überhaupt noch einmal zu ihr gegangen? Ich habe dich von Anfang an vor ihr gewarnt. Aber du wolltest nicht hören.«
»Ja, hätte und wenn und wäre. Damit kommt man nicht weit. Ich ... ich wollte sie noch einmal sehen, ihr in die Augen sehen, bevor ich Denver verlasse, wo ich vom Himmel in die Hölle gestürzt bin. Von der höchsten Höhe des Glücks in den tiefsten Schacht der Verzweiflung. Ich, Lucky Hank, den sein Glück verließ.«
Er zitierte: »Begehre nie ein Glück zu groß, ein Weib zu schön, sonst könnt es dir in seinem Zorn der Himmel zugestehen.«
»Von wem ist das?«
»Weiß ich nicht. Habe es mal gehört. Nimm meine Henkersmahlzeit mit.« Er hatte kaum etwas angerührt. »Und schaff mir den Penner vom Hals. Das kannst du doch wohl für mich tun.«
Der Sheriff musterte ihn.
»Okay.« Er holte den Schlüsselbund und schloss die Zelle nebenan auf. »Raus mit dir«, sagte er zu dem Hobo.
»Kann ich seine Henkersmahlzeit haben?«, fragte der Verlauste und schäbig gekleidete Mann. »Und ...« Er leckte sich über die Lippen. »... ein paar Dollar für Drinks. Ich habe Durst.«
»Einen Tritt in den Hintern kannst du haben, wenn du nicht auf der Stelle verschwindest und hier weiter die Luft verpestest. Hau ab aus Denver! Wenn ich dich morgen noch hier sehe, wird es dir leidtun, verlass dich darauf.«
»Ich habe keine Frau erwürgt. Ich bin kein Verbrecher. Ich bin ein freier Amerikaner und kann mich besaufen, so oft ich will.«
»Erzähl das deinen Läusen.«
»Die gehören zu meinen Persönlichkeitsrechten.«
»Raus, Stinker, oder ich werde ungemütlich. Jetzt muss man die Zelle reinigen. Wenn du nicht Ruhe gibst, hole ich ein paar kräftige Burschen. Die waschen dich in der Pferdetränke und schrubben dich mit der Wurzelbürste ab!«
Das mochte der Penner nicht riskieren. Er verließ eilig das Sheriff's Office mit dem Zellentrakt hinten. Dabei brabbelte er vor sich hin. Als der Sheriff wieder ins Office zurückkehren wollte, fiel ihm eine untersetzte, dunkel gekleidete Gestalt auf.
Ein stämmiger Mann mit öligem Haar, weißem Hemd unterm Jackett und einer Schleife am Hals kam auf ihn zu. Es war der Henker von Colorado, Mitch O'Connell.
Er wirkte satt und zufrieden, als er in den Lichtschein der Laterne vorm Office trat.
»Kann ich den Gefangenen sehen?«, fragte er, nachdem ihn der Sheriff begrüßt hatte.
»Klar, warum nicht. Doch was treibt dich her mitten in der Nacht, Hangman? Den Termin mit Lucky Hank hast du doch erst morgen früh.«
»Ich konnte nicht schlafen. Da wollte ich ihn mir nochmal ansehen, ein letztes Wort mit ihm wechseln. Vor morgen. Hat er den geistlichen Beistand angenommen?«
»Nein. Den Prediger lehnte er ab. Komm rein.«
Beide traten ein. Der Sheriff sperrte die Tür ab. Man konnte nie wissen. Sie betraten den Zellentrakt.
✰
Hank saß auf der Pritsche der Zweierzelle. Er hatte den Jailtrakt nun für sich allein. Das Lied, das ihm der Hobo mit krächzender Säuferstimme vorgesungen hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf.
Lass deinen Kopf hängen, Hank Meary
Lass den Kopf hängen und weine
Lass deinen Kopf hängen, Hank Meary
Armer Junge, du musst sterben.
Der Name des Mannes in dem Lied lautete eigentlich anders. Der Hobo hatte seinen genommen. Das Schicksal war das Gleiche.
Ja, sterben musste er, für eine Tat, die er nicht begangen hatte, würden sie ihn hängen in Denver in Colorado, an einem Frühlingsmorgen in der Goldgräbertown in den Bergen. Oder war er es doch gewesen? Ganz sicher war er sich nicht, obwohl er vehement seine Unschuld beteuerte.
Und es sich auch selbst einredete.
Hatte sein Verstand ausgesetzt, als ihn Harriet mit ihrer nackten Schönheit verhöhnte? Ihre Schönheit schützte sie wie ein Mantel – sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
Ein Traum – eine Wonne. Und ein durchtriebenes Luder, dessen Charakter sich konträr zur äußeren Schönheit verhielt. Sie hatte ihm übel mitgespielt, sie, die er irrsinnig geliebt und über alles andere gestellt hatte. Für die er seine Braut verließ und der er seinen gesamten Besitz anvertraute.
Er hatte sich umgedreht, als sie sich ihm präsentierte, oder sich umdrehen wollen. Was war dann geschehen? War er tatsächlich niedergeschlagen worden, hinterrücks, ohne den Täter zu sehen? Oder hatte sein Verstand ausgesetzt und hatte er Harriet erwürgt, was der Verstand später verdrängte? Unbewusst handelnd und von Trieb und Hass gesteuert?
Hatte er den Schmuck an sich genommen und war aus dem Obergeschoss des Saloons geflohen, wie von Furien gejagt? Hatte sich irgendwo eine Flasche Whiskey geholt, wobei keiner ihn sah, und sie ausgetrunken, was ihm das Bewusstsein raubte?
Betrunken torkelnd konnte er sich den Kopf gestoßen und sich die Beule geholt haben. Gekratzt haben konnte ihn Harriet in verzweifelter Abwehr, als er sie würgte. So konnte er es sich zusammenreimen, aber er hoffte, dass es nicht so war. War er zum Mörder geworden, oder war er es nicht?
Das Gericht und die Geschworenen hatten ihm eine Absicht unterstellt. Planung. Nicht mal den Affekt hatte man ihm vollständig zugebilligt, da er den Schmuck mitnahm. Wie die Jury annahm, um einen Raubmord durch einen unbekannten Einbrecher vorzutäuschen.
Er wusste es selbst nicht genau. Und er traute sich selbst nicht mehr. In diesem Leben würde er keine Gewissheit mehr erhalten. Vielleicht hängten sie ihn ja zu Recht?
Der Henker und der Sheriff betraten den Zellentrakt. Hank blickte auf. Gestehen wollte und konnte er nicht. Seine Unsicherheit konnte er nicht zugeben. Sie war im Lauf der Verhandlung höchstens durch seine zögerliche und manchmal unsichere Haltung zum Vorschein gekommen, was die Anklage noch untermauerte.
Der Sheriff schloss nun die Zelle auf, stellte sich mit gezogenem Colt hin und ließ den Henker das Tablett mit der nicht angerührten Mahlzeit aus der Zelle holen. Er schloss wieder ab. Der Henker hielt das Tablett.
»Gutes Essen«, meinte er. »Ein gebratenes Hähnchen mit Kartoffeln und Salat, dazu eine Flasche Wein. Als Nachtisch Obstquark. Schade darum. Willst du es essen, Sheriff?«
»Die Henkersmahlzeit eines Todgeweihten esse ich nicht. Das bringt Unglück. Ich bin nicht abergläubisch, aber das glaube ich schon. Nimm du es.«
»Nein, ich hab gerade gegessen. Du kannst mich mit dem Delinquenten allein lassen, Sheriff.«
Tyler Toblin nickte, nahm das Tablett und verschwand nach vorn in den Office-Trakt. Dort setzte er sich hinter den Schreibtisch, legte die Füße darauf und gähnte. Die Nacht war noch lang. Er musste Wache halten und wollte den Todeskandidaten in der Zelle nicht allein lassen.
Der Henker stand unterdessen vor der Zelle, die Jackettschöße zurückgeschlagen, die Daumen in die Ärmelausschnitte der Weste darunter gehakt. Eine schwere goldene Uhrkette spannte sich über seinen Bauch. Eine große und teure Taschenuhr hing daran.
Henker zu sein war im Jahr 1860 im Goldgebiet von Colorado ein einträglicher Job. Zudem war der Henker für das gesamte Colorado Territorium zuständig, das man den Indianern abgeluchst hatte. Die Ute, Arapaho und Cheyenne lagen seitdem auf der Lauer und betrachteten argwöhnisch den Zustrom der Goldsucher, nachdem 1858 im South Platte River Gold gefunden worden war.
Wie immer schwärmten die Goldgierigen heran wie Fliegen zum Aas. Sie zogen rasch flussaufwärts in die Rockies, um die Mother Lode, die Mutterader, und noch weitere große Goldvorkommen zu finden, aus denen das Edelmetall flussabwärts trieb.
Black Hawk, Central City, Golden und Denver wurden gegründet. Es war eine wilde und zügellose Zeit mit einem rudimentären Anstrich von Recht, Ordnung, Verwaltung und Gesetz in den Goldgebieten, wo man rasch fündig wurde.
Lucky Hank Meary war einer der Glücklichen gewesen, denen das Gold nahezu zusprang. Jetzt war er das nicht mehr.
Er blickte zum Henker auf.
»Was willst du? Du weißt, was ich wiege und wie groß ich bin. Deine Vorbereitungen sind getroffen. Lass mich in Ruhe, hau ab.«
Der Henker nahm einen Hocker aus der Ecke und setzte sich darauf.
»Ich kann nicht schlafen. In der Nacht vor einer Hinrichtung kann ich das nie. Da wollte ich dich noch einmal besuchen. Willst du eine Zigarre?«
»Ich rauche nicht.«
»Gestattest du, dass ich rauche?«
»Nein.«
Daraufhin unterließ es der Henker.
»Ich kann mir denken, dass dir viel im Kopf herumgeht«, sagte er. »Von deinem ganzen Leben. Nimm es hin, wie es ist. Du kannst nichts mehr ändern. Wenn du dein Gewissen erleichtern willst, vertrau dich mir an. Es bleibt unter uns.«
Hank schwieg trotzig und blickte zu Boden.
»Oder wenn du noch einen besonderen letzten Wunsch hast. Unter dem Galgen wird man dich auch noch einmal fragen. Doch da sind Leute dabei. Und wenn es etwas Vertrauliches ist, das nicht jeder hören soll, sage es mir.«
»Häng dich vor mir auf.«
»Das kann ich nicht. Du hast es getan, du bist schuldig. Und selbst wenn du es nicht wärst, spielt das für mich keine Rolle. Die Jury sprach dich schuldig, der Richter fällte das Urteil. Ich tue nur meine Pflicht.«
»Bist du bald fertig, du Schwätzer?«
»Was die Hinrichtung angeht, kann ich dir deine Bedenken nehmen. Ich bin der Beste in meinem Fach. Bei mir hat sich noch nie einer beklagt.«
»Guter Witz.«
»Ich meine nicht von denen, die ich hängte, sondern den Zeugen und Zuschauern. 38 Mörder und andere Strolche habe ich vom Leben zum Tod gebracht. Alle waren sofort tot. Ich weiß, wie man den Henkersknoten knüpft und wo man ihn ansetzt. Die Fallhöhe und was dabei sonst zu beachten ist. Bei mir kommt nie vor, dass einem Delinquenten der Kopf abgerissen wird, weil der Strick viel zu lang ist, wenn er durch die Klappe fällt. Oder dass er zu kurz ist oder der Knoten nicht richtig angesetzt, sodass sich der Gehängte zu Tode zappelt, weil ihn die Schlinge erwürgt, was eine ganze Weile dauert. Als ich mal krank war und die Ruhr hatte, haben sie in Black Hawk drüben einen anderen Henker genommen, um Dirty Mac Mulligan vom Leben zum Tod zu bringen. Es dauerte zehn Minuten, bis alles Leben aus ihm entwichen war, und das ist kein schönes Bild gewesen, glaub es mir. Blau wurde er im Gesicht, die Augen quollen ihm vor, weit hing die Zunge heraus.«
Hank verzog das Gesicht.
»Bei mir gibt's das nicht. Da bricht dir sofort das Genick wie ein morscher Ast. Das gibt nur einen Ruck, ist nicht schlimmer als ein kräftiges Niesen. Ratzfatz bist du fort.«
»Woher weißt du das so genau, Hangman? Bist du schon mal auf die Weise gehängt worden?«
»Das nicht.«
»Oder konntest du einen fragen, den du gehängt hast, dass du dir da so sicher bist?«
»Natürlich nicht. Aber ich weiß es. Ärzte und Leichenbeschauer haben es mir bestätigt. Den Stümper bei der Hinrichtung Mulligans haben sie beschimpft und ausgepfiffen, mit Dreck und Abfall beworfen und mit Schimpf und Schande aus der Town gejagt. Er hat es seitdem nicht mehr gewagt, einen Henkersstrick anzufassen.«
»Du kannst es besser. Das weiß ich jetzt, denn du hängst es ja weit genug heraus. Dann gib dir mal Mühe morgen. Und jetzt lass mich allein. Ich kann deine selbstgefällige Visage nämlich nicht sehen. Morgen bei Sonnenaufgang ist früh genug.«
»So kannst du nicht mit mir reden, Junge. Ich bin der Henker von Colorado und übe einen ehrenhaften und wichtigen Job aus. Ich bin eine Tragsäule der Exekutive und eine Persönlichkeit, vor der man Achtung haben sollte. Nicht jeder kann das, was ich tue – ich würde sagen, das kann niemand sonst, nicht so perfekt wie ich.«
»Du gehst mir schwer auf den Geist. Verpiss dich endlich.«
»Na, na! Das will ich nicht gehört haben. So redet man nicht mit O'Connell, dem Henker von Colorado.«
»Wenn ich könnte, würde ich dich verprügeln, O'Connell. Du bist ein Schwein ersten Ranges und quälst mich. Machst du das bei jedem so, den du hängen sollst?«
»Ich schaue mir meine Leute an und rede mit ihnen. Was ich tue, ist sehr intim und auch wichtig. Eins der beiden wichtigsten Dinge überhaupt im Leben. Die Mutter gab einem Mann das Leben, ich nehme es ihm, wenn ich ihn hänge.«
O'Connell stand auf. Er zupfte sein schwarzes Jackett zurecht.
»Ich sehe, es hat keinen Sinn, mit dir zu reden. Du bist ein verstockter Sünder und kennst und schätzt die Würde meines Amtes nicht. Das finde ich äußerst schade.«
Hank sprang von der Pritsche auf. Er knirschte mit den Zähnen. Er konnte nicht mehr an sich halten. Bei ihm knallte im Kopf etwas durch.
Flugs nahm er den Koteimer. Bevor noch der Henker zurückweichen oder flüchten konnte, schüttete er ihm einen guten Liter Urin ins Gesicht und über den Anzug.
»Da hast du, du Schwein. Hau ab!«
»Das wird dich teuer zu stehen kommen!«, fuhr ihn der Henker an und klopfte sich die stinkende Flüssigkeit ab. »Das ... das ist die Beleidigung einer Amtsperson! Du solltest dich schämen, Hank Meary.« Er fuhr fort: »Eine Majestätsbeleidigung ist das. Ein Sakrileg.«
Hank brüllte laut. Unartikulierte Laute drangen aus seinem Mund. Die Halsadern schwollen ihm an.