JAGDFIEBER - Manche Legenden sind wahr - Lee Murray - E-Book

JAGDFIEBER - Manche Legenden sind wahr E-Book

Lee Murray

0,0

Beschreibung

Im Urlaub und hoffnungslos gelangweilt schließt sich Taine McKenna der Biologin Jules Asher auf eine Wildwanderungs-Expedition in Neuseelands südlichstem Nationalpark an. Überraschend stoßen sie dabei auf eine Gruppe der überaus scheuen Ureinwohner vom Stamm der Tureho. Wie sich herausstellt, ist ihnen auch eine Gruppe von Söldnern auf die Spur gekommen, welche fest entschlossen scheinen, das Geheimnis um die Ureinwohner für sich zu nutzen und jeden zu töten, der sich ihnen dabei in den Weg stellt. Doch es lauert noch etwas Anderes, sehr viel Umheimlicheres in der Wildnis … »Eine fantastische Mischung aus Military-Fiction, einem sehr realen Urzeitmonster und faszinierender Mythologie.« - Paul Mannering

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 452

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


JAGDFIEBER

Manche Legenden sind wahr

Lee Murray

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.comTitle: INTO THE SOUNDS. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2019. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: INTO THE SOUNDS Copyright Gesamtausgabe © 2022 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Katarina Rinas Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2022) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-678-8

Sie lesen gern spannende Bücher? Dann folgen Sie dem LUZIFER Verlag aufFacebook | Twitter | Pinterest

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf Ihrem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn Sie uns dies per Mail an [email protected] melden und das Problem kurz schildern. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um Ihr Anliegen.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche Ihnen keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

JAGDFIEBER
Impressum
Danksagung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog
Anmerkungen
Über die Autorin
Glossar

Kapitel 1

Fjordland, 1973

David Summers stemmte das Gewehr gegen seine Schulter und schob den Lauf vorsichtig aus der Tür.

»Jederzeit bereit, Kumpel«, sagte der Pilot, Wallace Makepeace, langsam.

David sah sich das Buchengewirr genau an, welches im Abwind des Helikopters schwankte, und wartete auf das Vorbeiflitzen von braunem Fell. Nachdem eine Nebelschwade vorbeigezogen war, waren die Bäume wieder sichtbar.

Warte, warte … dort drüben!

Ein Wapiti-Hirsch sprang aus dem Gebüsch, aufgescheucht vom dröhnenden Lärm der Rotorblätter. Der große Hirsch rannte quer über den Talgrund, bahnte sich seinen Weg patschend über das Flussbett und kam auf der anderen Uferseite wieder heraus. Als das Tier aus dem Schneider war, machte es sich hastig und verzweifelt davon, um dem Hubschrauber zu entkommen.

David feuerte ein halbes Dutzend Schüsse ab. Dabei flogen die verbrauchten Patronenhülsen in alle Richtungen. Die Kugeln aber prallten nur am steinigen Boden unter ihnen ab, während der Hirsch immer weiter fortlief.

»Ich meinte heute«, sagte Wallace trocken.

David nahm sich Zeit, visierte den Hirsch wieder an und drückte noch einmal ab. Dieses Mal fiel der Hirsch um. David zog den Kopf wieder zurück in den Helikopter hinein.

»Das nenne ich mal eine fette Beute!« Wallace leckte sich über die Lippen.

»Ich glaube, es waren um die vierzig in der letzten Stunde«, entgegnete David. Es mussten mindestens so viele gewesen sein, denn der Lauf seines Gewehrs war glühend heiß. »Darunter waren ebenso ein paar ziemlich große Kerle. Hast du die Größe des Geweihs gerade gesehen? Dieser Wapiti muss um die sechshundertfünfzig Pfund wiegen. Was glaubst du, wie viel das in Kilogramm ist?«

»Ich hab keine Ahnung. Verdammte Maßeinheiten. Sechshundertfünfzig Dollar pro Tier reichen völlig aus. Hey, da ich nicht von der gierigen Sorte bin, wäre ich auch mit fünfhundert Dollar zufrieden.«

David hielt sich an seinem Sitz fest, als Wallace den Helikopter in eine steile Kurve legte und das freiliegende Flussbett umkreiste, um sicherzustellen, dass der Kadaver immer noch am Boden lag.

»Was hältst du von einer weiteren halben Stunde, bevor wir aufhören? Wollen wir sehen, ob wir genau fünfzig schaffen?«, rief Wallace über die Windscherung hinweg.

David war nicht scharf darauf. Schließlich waren sie nicht die einzige Crew hier draußen. Der Preisanstieg von Wildfleisch hatte einen ganzen Haufen illegaler Anbieter motiviert, denn jeder wollte etwas von der Unsumme an Geld, welches angeboten wurde, erbeuten. Und es wurde nicht nur gewildert. In der Zeitung gab es Berichte von Jägern, die vom Boden aus beschossen werden, von stürzenden Helikoptern, Brandstiftungen, sogar von regelrechten Schlägereien. Es schien, als hätten diese Leute nicht einen Funken Stolz behalten.

»Ich weiß nicht«, sagte David, doch seine Augen waren immer noch auf den Wald gerichtet, für den Fall, dass sie ein weiteres Tier aufscheuchen sollten. »Wir müssen jetzt schon zehn Runden einlegen, um die ganze Beute einzusammeln.«

»Sorgst du dich immer noch wegen dieser Militärirokesen?«

»Sie könnten überall sein. Und ich habe gehört, sie schießen mit echten Kugeln.«

David stützte sein Gewehr gegen sein Knie.

»Ach, das ist nichts als Schwachsinn, sag ich dir. Die Regierung wird doch nicht wirklich ihre Luftstreitkräfte dafür benutzen, um Neuseeländer wegen ein bisschen Wilderei vom Himmel zu schießen. Die kommen höchstens vorbeigeflogen, um uns mit erhobenem Finger und ernstem Blick zu ermahnen, was für freche Burschen wir doch sind.« Er musste lachen. »Worin liegt das Problem? Was wir machen, ist nicht einmal wirklich Wilderei. Wir erbringen hier einen wertvollen Dienst, denn wir halten die Rehe davon ab, unsere wertvollen heimischen Wälder niederzutrampeln. Es ist ja nicht unsere Schuld, dass die Leute auf den Geschmack von Wildfleisch gekommen sind.«

David grinste. Wenn er es so ausdrückte, klang das gar nicht mal so schlimm.

»Wie dem auch sei, die Schuld liegt ganz allein bei der Regierung, wenn sie nur einer Gruppe erlauben, die Rehe zu keulen«, schimpfte Wallace.

David hätte ihn nicht dazu bringen sollen, damit anzufangen.

»Es gibt eine Lizenz zum Gelddrucken und nur ein Unternehmen bekommt die Chance dazu? Kein Wunder, dass die Leute aggressiv werden. Wir haben das Recht, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, genauso wie jeder andere.«

David blickte über das Tal, als Wallace den Helikopter von den Klippen weglenkte. Es war nicht nur irgendein Lebensunterhalt, sondern es war ein verdammt guter. An manchen Tagen verdienten die beiden noch vor dem Frühstück mehr als einen Monatslohn, selbst nachdem sie das Geld für den Helikopterkredit davon abgezogen hatten. Doch die Risiken waren groß und mit jedem Tag nahmen sie zu. Denn das Glück konnte einem nicht unbegrenzt hold sein.

Er blickte auf das Foto seiner Frau, welches er an die Windschutzscheibe geklebt hatte. Gina lächelte ihn an und ihr weiches, braunes Haar lockte sich um ihr Gesicht. Sie war der Grund dafür, weshalb er das alles tat. Ihre gemeinsame Zukunft. Doch letzte Nacht, als sie bereits im Bett gelegen hatten, hatte dieser verrückte Krieg um das Wildfleisch die beiden zum Reden gebracht.

»Es ist zu gefährlich, Schatz«, hatte Gina mit ihrem Kinn auf seiner Brust und einem Bein über sein eigenes geschlungen gesagt. »Alles Geld der Welt ist nichts wert, wenn man nicht am Leben ist, um es auszugeben.«

Dann fuhr sie mit einem Finger über seine Brust. »Du solltest damit aufhören, bevor du noch verletzt wirst. Wir könnten abkassieren und das kleine Haus in der Nähe von Nelson kaufen.«

David rutschte etwas herum, denn Ginas Gewicht ließ seine Schulter einschlafen. Selbst wenn es Zeit zum Abkassieren war, ein Dreizimmerhaus in Nelson war nicht gerade das, was er sich vorgestellt hatte. Es musste mehr im Leben geben, als nur ein Haus zu kaufen und sich niederzulassen. Es musste nicht einmal außergewöhnlich sein, nur etwas weniger … gewöhnlich.

»Und was ist mit Wallace?«, hatte er ihr entgegnet. »Ich kann ihn nicht einfach im Stich lassen.«

Darauf hatte Gina ihn unter ihren Wimpern hervor angesehen. »Du bist nicht der einzige Mann im ganzen Universum, der mit einem Gewehr umgehen kann.«

»Was hältst du davon, wenn wir uns auf den Mittelwert einigen?« Wallace’ Stimme unterbrach Davids Erinnerung. »Noch eine Viertelstunde und wir machen Feierabend?«

»Einverstanden.« Und David schulterte erneut das Gewehr.

Sie sackten zwei weitere Rothirsche ein, bevor Wallace sie wieder zurück zum Flussbett flog, wo sie den großen Hirsch umgelegt hatten. Dort gab es genug Platz, um mit der Fleischzerteilung zu beginnen.

Als sie über die Lichtung flogen, fluchte Wallace. »Schau dir das an!«

David lehnte sich aus dem Helikopter, worauf ihm der kalte Wind ins Gesicht stach. Er musste blinzeln. Zwei Männer in karierten Swanndris hockten neben dem umgelegten Hirsch. Sie hatten bereits den Kopf des Tieres abgehackt und die Hufe abgehauen.

»Was zum Teufel denken die, wer die sind?«, fauchte Wallace wütend. »Verdammte Diebe!« David wollte ihn nicht daran erinnern, dass sie im Grunde selbst das Tier gestohlen hatten. Wallace konnte eine echte Plage sein, wenn er aufgebracht war. Oder wenn er den gesamten Inhalt eines Bier-Sixpacks in sich hatte.

»Vergiss es einfach, Mann«, bat ihn David. »Das ist es nicht wert.«

Doch Wallace dachte nicht einmal daran, deren Verhalten zu tolerieren. Wie ein Hai, der seine Beute umkreist, wendete er den Helikopter erneut herum. Falls sich die beiden am Boden dafür überhaupt interessierten, so ließen sie es sich nicht anmerken. Sie fuhren einfach damit fort, das Tier zu häuten. Wallace wedelte mit der Faust herum und fluchte abermals.

»Lass uns einfach die anderen Hirsche einsammeln«, sagte David, der von einem Anflug von Unbehagen erfasst wurde.

Aber Wallace schüttelte nur den Kopf. »Ich werde uns nach unten bringen. Lehn dich heraus und feuere ein paar Warnschüsse in ihre Richtung ab, verstanden? Das sollte sie verscheuchen.«

»Was? Nein!« Er würde auf keinen Fall auf irgendjemanden schießen.

Wallace hörte ihm jedoch nicht zu und brachte den Helikopter herunter. Dadurch wurden Sand und Steine durch den Abwind aufgewirbelt und in Richtung der Räuber geschleudert.

Einer der Männer hob seinen Kopf in Richtung des Windes, seine Arme bis zu den Ellenbogen in Blut getränkt. Nachdem er sein Messer niedergelegt hatte, den Blick nicht für einen Augenblick vom Helikopter abwendend, stand er auf und hob sein Gewehr an seine Schulter.

»Scheiße! Wallace! Er wird gleich schieß…«

Kugeln bombardierten die Seite des Helikopters und der Lärm erinnerte dabei an eine Reihe von Mülltonnen, die auf den Bürgersteig umfielen. Der Helikopter wankte zur Seite.

»Scheiße!« Wallace zog das Höhensteuer zurück, um die beiden von dort wegzubringen.

Noch mehr Kugeln trafen die Hinterseite des Helikopters.

Wallace drehte sich in seinem Sitz und schaute nach hinten. »Scheiße. Ich glaube, sie haben den Heckrotor getroffen.«

»Ist das schlimm?« Es hörte sich schlimm an. Vielleicht hatte das Gespräch vom Abrechnen gestern Abend ihr Glück verhext.

Wallace warf David ein heiteres Grinsen zu. »Ich glaube nicht, dass es allzu schlimm ist. Wenn er abgebrochen wäre, würden wir bereits trudeln. Vermutlich haben die ihn nur eingebeult. Schnall dich besser an. Ich werde unsere Geschwindigkeit erhöhen und versuchen, unser dynamisches Gleichgewicht zu verbessern. Mit etwas Glück könnten wir nach Hause humpeln.«

Während der nächsten paar Meilen streiften sie Baumkronen und schwankten über Hügelkämme. Als sie über einem See vorbeiflogen, berührten die Landekufen praktisch das Wasser. David hielt seinen Atem an, während sein Freund damit kämpfte, den Helikopter horizontal zu halten. Wallace’ Haar klebte an seiner Stirn und sein Gesicht war starr wie Beton. Er biss seine Zähne zusammen. Ausnahmsweise hatte er nicht viel zu sagen.

Sie befanden sich in einer steilen Erosionsrinne, als plötzlich ein Knirschen aus dem hinteren Teil des Helikopters zu ihnen drang.

»Oh Scheiße, der Rotor ist hinüber«, krächzte Wallace. Er kämpfte mit dem Steuer, doch der Helikopter trudelte bereits wild herum. David klammerte sich an seinen Sitz. Der Wind überfiel ihn. Sein Körper wurde umhergeworfen. Nach links. Hoch. Runter. Er sah den Himmel, die Schlucht, Ginas Lächeln. Sie stürzten in die Tiefe. Der Boden raste auf sie zu. Der Wald verschluckte den stürzenden Helikopter und David hob den Arm schützend vor sein Gesicht.

***

David öffnete die Augen. Er befand sich immer noch angeschnallt in seinem Sitz. Er war am Leben, doch seine Beine taten so verdammt weh, dass er sich beinahe wünschte, tot zu sein. Ein Ast war durch die Windschutzscheibe des Helikopters geschossen und hatte ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt. Er schob das Laubwerk aus seinem Gesicht. Eine oder sogar mehrere seiner Rippen mussten gebrochen sein, denn das Bewegen seiner Arme schmerzte höllisch.

»Wallace? Alles in Ordnung bei dir, Kumpel?« David schaute durch das Astgewirr zum Pilotensitz. Sein Partner war nicht da. War er ins Freie geschleudert worden oder war er aus eigener Kraft herausgeklettert? Für einen Augenblick wurde David von Panik ergriffen. Hatte Wallace ihn hier zum Sterben zurückgelassen?

»Wallace!«, schrie er, während seine Finger mit dem Sitzgurt kämpften. Schließlich fiel der Gurt von ihm ab. Er versuchte, sich zu bewegen, doch bei dem Versuch wurde er von Schmerz überwältigt. Sein Blick verschwamm. Er steckte fest, sein Bein zwischen dem Sitz und dem Cockpit gefangen.

»Wallace!« Mit flachem Atem sowie verbluteten und wunden Fingern rang er mit dem Gestrüpp. »Wallace!« Nach seinem Partner zu schreien, gelang ihm nur mit viel Mühe.

Schließlich war das Fenster frei von Ästen.

Und David fiel zurück in seinen Sitz. Wallace lag draußen auf dem Boden. »Oh, du dämliches Arschloch.«

Wallace grinste ihn an. Mit einem Arm hinter seinen Rücken gekrümmt, klemmte er zwischen zwei Baumstämmen fest. Während des Absturzes musste er hinausgeworfen worden sein, denn sein Bein war am Knie zur Seite gespreizt. Der eine Arm, den David sehen konnte, war wegen einer Schramme, die von seiner Schulter bis zum Ellenbogen verlief, in Blut getränkt. Schlimmer noch – es schien, als wäre er mit dem Gesicht am Baumstamm heruntergeglitten, wodurch seine Haut hochgezogen wurde und nun die zerstörten Muskeln darunter zur Schau gestellt waren. Seine Nase fehlte genauso wie seine Lippen. Somit blieben ihm nur die Augäpfel, die aus einem blutigen Hackfleischklumpen herausstarrten. Sein Schnurrbart sowie der Großteil seines Bartes mussten sich irgendwo unter dem Hautlappen befinden, welcher gefaltet auf seinem Kopf lag. Es sah so aus, als wäre sein Gesicht eine Sonnenbrille, die hochgeschoben wurde.

David drehte sich der Magen um und er erbrach sich, weswegen sich sein gebrochener Oberkörper erheben und wieder senken musste. Und als sein Körper den Schmerz nicht mehr ertragen konnte, verlor er das Bewusstsein.

Das nächste Mal, als er zu sich kam, versuchte er verzweifelt, jemanden über das Funkgerät zu erreichen. Irgendjemanden. Doch es war zwecklos. Das Funkgerät war ein einziges Wrack.

Da war ja noch sein Gewehr!

Er könnte ein paar Schüsse abfeuern. Vielleicht würde ihn ja jemand hören und dem Geräusch auf den Grund gehen. Tief im Inneren wusste er, dass es eher unwahrscheinlich war – jeder, der einen Gewehrschuss hörte, würde denken, es wäre nur ein weiterer Hirschjäger, und würde sich wahrscheinlich sogar noch weiter entfernen, um eine bessere Beute zu erzielen – dennoch tastete er nach dem Gewehr. Das Kolbenblech war in Griffweite, doch der Lauf war im Fußraum eingeklemmt. Mit qualvollem Schieben und Ziehen gelang es ihm, das Gewehr herauszuziehen. Doch bei dem Anblick zog sich sein Herz zusammen. Der Lauf war verbogen, genauso ruiniert wie alles andere. Seine Beine. Wallace’ Gesicht. David unterdrückte ein Schluchzen, während sich die Kälte in seinen Knochen ausbreitete und das Zittern einsetzte. Er erkannte die Anzeichen eines Schocks.

Das war’s dann. Er steckte hier fest. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis er starb. Stunden? Tage? Eine Woche? Ein langsamer, langwieriger Tod. Gina wusste, dass sie hier draußen waren, doch Fjordland war groß und nach einem kurzen Blick nach oben wusste er, dass der Helikopter tief unter dem Blätterdach vergraben lag. Der Such- und Rettungsdienst könnte jahrzehntelang nach ihm suchen und ihn nie finden. Der Wald, der Helikopter, dieser Sitz würde sein Grab sein.

David erschauderte.

Doch dem makabren Grinsen nach zu urteilen, welches an seine Visage geheftet war, fand Wallace, dass es ein toller Scherz war.

Manapōuri, 1973

Gina rieb sich mit den Händen über ihr Gesicht, als sie sich aus dem Sessel erhob, in dem sie die Nacht verbracht hatte. Sie prüfte ihre Uhr: 7:01. Viel zu früh. Sie hätten die Suche noch nicht begonnen. Doch vielleicht waren David und Wallace über Nacht heimgekommen? Eilig lief sie zum Fenster und schob die Netze auseinander, in der Hoffnung den Helikopter wieder auf dem hinteren Feld zu sehen.

Wunschdenken.

Dort war nur Wallace’ Ford, den er neben dem Schuppen geparkt hatte. Langsam atmete sie ein, um ihre Enttäuschung zu zügeln. Sie hätte es wissen müssen, denn die beiden hätten sich nicht hereinschleichen können, ohne dass sie es bemerkt hätte. Das Dröhnen der Rotorblätter war kaum zu überhören. An den meisten Tagen reichte das ganze Kommen und Gehen der beiden aus, um Kopfschmerzen zu bekommen. Heute jedoch würde Gina alles dafür geben, um diese Rotoren zu hören. Wenn Gott sie nur dieses eine Mal zurückbringen würde, würde sie sich nie wieder über den Abwind des Helikopters beschweren, der ihre Wäsche immer wieder von der Leine blies.

Sie ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Die Küchenuhr zeigte zehn Minuten nach sieben. Immer noch zu früh. Nachdem sie das Hundefutter aus dem Kühlschrank genommen hatte, öffnete sie die Hintertür und befüllte Dukes Schüssel damit. Dann drehte sie den Wasserhahn auf, um seinen Wasserbehälter aufzufüllen. »Duke!«, rief sie.

Der Schäferhund stieß die Tür der Hundehütte auf und rannte springend hinaus. Bevor Gina ihn mit seinem Frühstück allein ließ, tätschelte sie noch seinen Kopf.

Wieder im Haus blickte sie erneut auf die Uhr: 7:23.

Sie öffnete den Ofen und nahm die Auflaufform von letzter Nacht heraus, um die trockenen Reste in den Mülleimer zu schaben. Sie würde David etwas Frisches kochen, wenn er wieder zu Hause war.

Wenn sie ihn fanden.

Sie spülte die Auflaufform ab und stellte sie weg. Dann trocknete sie ihre Hände am Geschirrtuch ab, bevor sie es über den Backofengriff hängte.

Es war genau 7:30 als sie endlich die Nummer auf dem Notizblock, der neben dem Telefon lag, eingeben konnte. Sie fragte nach Patrick Choat. Der Koordinator des Southland Such- und Rettungsdienstes meldete sich mit seiner Stimme, die vom jahrelangen Zigarettenrauchen rau klang.

»Sie sprechen mit Choat.«

»Patrick, ich bin es, Gina Summers. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?«

»Noch nicht, Liebes, aber die ganze Belegschaft ist gerade dabei, sie da draußen zu suchen.«

»Die Wettervorhersage sieht nicht gut aus.«

»Wann hat uns schon ein bisschen Regen aufgehalten, hm? Die Jungs werden so lange sie können da draußen bleiben. Versuche, dir keine zu großen Sorgen zu machen. David und Wallace sind zwei clevere Burschen. Ich bin mir sicher, die beiden werden noch auftauchen.«

Gina bemühte sich, ihrer Stimme eine heitere Note zu geben. »Oh, ich mach mir doch keine Sorgen um die beiden. Ich nehme an, sie werden sich irgendwo niedergelassen haben. Ich sollte wahrscheinlich die Bierkästen nachzählen gehen. Bei meinem Glück haben die beiden bestimmt entschieden, das ganze Wochenende mit Alkohol zu verbringen und haben einfach vergessen, mir Bescheid zu sagen. Gegen Ende des Tages wird David wieder mit hochgelegten Füßen vor dem Fernseher sitzen und eine seiner Spielshows anschauen. Wäre nicht ich dann diejenige, die dumm dastehen würde, wenn ich mich jetzt sorgen würde?«

Patrick kicherte. »Das ist die richtige Einstellung, Liebes. Wir müssen weiterhin positiv denken, nicht wahr? Ist jemand bei dir?«

»Nein, ich komme auch allein zurecht. Aber mein Nachbar wird später noch vorbeischauen«, log sie ihn an, während sie einen Finger in das gekräuselte Telefonkabel wickelte.

»Gut, dann mache ich mal besser weiter, Gina. Sollten wir etwas von den beiden hören, werde ich mich sofort bei dir melden.«

»Und ich werde darauf warten«, antwortete Gina, doch Patrick hatte bereits aufgelegt.

Sie ließ sich in den Sessel sinken und legte ihren Kopf in ihre Hände.

Fjordland, 1973

Als David den Kopf hob, ließ ihn die kleine Bewegung zusammenfahren.

Er konnte seine Beine nicht mehr spüren. Sie waren erstarrt. Seine Lippen waren aufgerissen und trocken. Zu diesem Zeitpunkt wäre er bereit gewesen, seine eigene Mutter umzubringen, wenn er im Gegenzug etwas zu trinken bekäme.

Hat da gerade jemand gesprochen? Vielleicht Hirschjäger? Angestrengt versuchte er zu lauschen. Jemand war in der Nähe! Sein Herz machte einen Sprung. Vielleicht würde er doch nicht sterben.

»Hey, ich bin hier!«, rief er, was seine Brust vor Schmerz explodieren ließ. »Hier drüben!« Vielleicht konnten sie den Helikopter nicht sehen. Er konnte sie nicht ohne ihn gehen lassen. Also musste er mehr Lärm machen, auch wenn es ihn umbringen würde. Mit dem beschädigten Gewehr gegen die Seite des Cockpits schlagend krächzte er: »Helft mir!«

Nach einer Weile hörte er mit dem Lärmen auf und lauschte erneut. Es war niemand mehr zu hören. Waren sie auf dem Weg zu ihm? Raschelte es gerade hinter dem Helikopter? Versuchten seine Erretter durch das Unterholz zu kommen? Entgegen dem Schmerz in seiner Brust atmete David langsam ein und versuchte, sich zu beruhigen. Er musste geduldig sein. Der Wald um ihn herum war dicht und das Gelände steil. Er könnte schwierig sein, zu ihm zu gelangen.

»Mein Name ist David Summers«, sagte er, nachdem er sich entschlossen hatte, seinen Rettern eine Stimme zu geben, der sie folgen konnten. »Es macht mir nichts aus zuzugeben, dass ich verdammt froh bin, euch zu treffen. Ich habe schon gedacht, ich wäre ein verlorener Mann, wisst ihr? Der Heckrotor wurde beschädigt und wir erlitten einen Sturzflug. Ich stecke hier fest. War hier die ganze Nacht. Scheint, als wären meine Beine nicht in ihrer Bestform, also hoffe ich, ihr habt eine Klapptrage dabei. Haha, vermutlich nicht. Vielleicht aber eine Aspirintablette. Dazu würde ich gerade nicht nein sagen.« Er kicherte, doch das Brennen in seinen Seiten erinnerte ihn daran, es sich noch mal gut zu überlegen, ob er denn wirklich lachen wollte.

Plötzlich vernahm er ein Gemurmel, das hinter dem Helikopter zu ihm vordrang.

Und auf einmal dachte David, es könnte ein Swanndri-Typ sein, der gekommen war, um ihm den Garaus zu machen. Doch das war unwahrscheinlich; nachdem die Schüsse abgefeuert waren, waren Wallace und er meilenweit vom Flussbett weggeflogen. Wahrscheinlicher war es, dass es zu schwierig war, sich einen Weg zurück durch das Gestrüpp zu bahnen. Wenn es aber wirklich der Schütze war, würde David einfach das Risiko eingehen müssen. Es war ja nicht so, als hätte er viele Möglichkeiten zur Auswahl.

»Wenn ihr von der Backbordseite kommt, so seid gewarnt: Mein Kumpel hat es nicht überlebt. Er sieht auch nicht gerade gut aus. Ich würde sogar sagen, etwas entsetzlich.«

David nahm eine Bewegung wahr. Wenige Sekunden später blickten ihn mehrere Gesichter durch die Helikoptertür an. Vier Männer. Groß und hellhäutig. Und abgesehen vom weißen Stofffetzen, den sie um ihre Hüften gebunden trugen, waren sie nackt. Grundgütiger. War ihnen nicht kalt? Was war das denn? Eine Art Hippiekommune? Vermutlich. Man nannte sie ja nicht umsonst die freizügigen 70er. Heutzutage gab es eine Unmenge an alternativen Lebensstilen, auch wenn deren Anhänger eigentlich dazu tendierten, sich in wärmeren Regionen zusammenzuscharren, wie zum Beispiel in Northland am oberen Ende des Landes. David hatte noch nie von solchen hier unteren gehört.

»Hey«, sagte er.

Die Männer antworteten nicht.

»David Summers. Sehr erfreut, euch kennenzulernen.« Sich einem Haufen halbnackter Männer vorzustellen, fühlte sich etwas dumm an. Da er sich aber vor nicht allzu langer Zeit sicher gewesen war, dass er sterben würde, konnten sie auch Tutus und Diademe tragen – er wäre trotzdem erfreut, sie hier zu treffen.

Schließlich sprach ein breitnasiger Mann, der eine Reihe von Worten ausspie. Er richtete sie an einen der anderen Männer, welcher ihm zischend antwortete. Seltsam. David erkannte die Sprache nicht. Es könnte Māori gewesen sein – er hatte sich nie die Mühe gemacht, mehr als ein paar Worte zu lernen – aber es klang nicht wie Maōri.

Während die beiden stritten, bot ein dritter Mann David einen Schluck aus einer alten Feldflasche an. David nahm sie an und trank dabei alles aus. Es war eine verdammt scheußliche Brühe, eine Art Tee, doch nach einer Nacht gefangen in einem Helikopter, war es David egal, solange es seinen Durst stillen konnte.

Breitnase stieß etwas bellend hervor, was den Streit letztendlich beendete. Dann benutzen er und der Feldflaschentyp zwei Holzspeere als Hebel, um das zertrümmerte Metall zurückzubiegen, und die beiden zogen David aus dem Helikopter heraus.

David wurde von einer Welle aus Übelkeit und Schmerz erschüttert und schrie auf, worauf er zu Boden fiel. Sein linkes Bein fühlte sich so an, als wäre es mit einem heißen Schüreisen durchstochen worden. Er blickte an sich herunter und stellte fest, dass seine Wade missgestaltet war: Die Haut war noch ganz, doch seine Achillessehne war durchtrennt worden und hatte sich vom Knochen gelöst, weshalb sich der nutzlose Muskel hinter seinem Knie zusammengehäuft hatte.

Er würde nicht bald aus dem Wald herausspazieren können.

Und somit trugen ihn die Männer; genauso wie Wallace, was David in den Momenten, in denen er nicht bewusstlos war, bemerkte. Als er das nächste Mal bei Bewusstsein und sich seiner Umgebung bewusst war, befanden sie sich auf einem Strand. Die felsigen Klippen der Sounds erhoben sich über ihnen. Scheinbar machte das kalte Wasser den blassen Männern nichts aus, denn sie tauchten hinein, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und nahmen Wallace mit sich. David erhaschte einen Blick auf das Gesicht seines Freundes – auf die Hautmaske mit ihren leeren Augenhöhlen –, während er unter die Wasseroberfläche glitt.

Dann schlug sich Breitnase mit David herum, als er ihn mit sich in das eisige Wasser zog.

»Was? Nein …«

Sie hatten ihn gerettet, nur um ihn jetzt zu ertränken?

Einen Scheiß werden sie tun.

David befreite sich aus Breitnases Umklammerung und versuchte verzweifelt, auf Händen und einem Knie zum Strand zu kriechen, sein unbrauchbares Bein hinter sich herschleppend. Seine gebrochenen Rippen schrien vor Schmerz und seine Wunden brannten, während er aus dem Wasser kroch. Doch der Mann ergriff ihn und riss ihn zurück. David hatte kaum Zeit, um einen qualvollen Atemzug zu nehmen, bevor er unter Wasser gezogen wurde.

Breitnase hielt David fest umklammert, wodurch er dessen Rippen zusammendrückte und ihn somit daran hinderte, sich zu bewegen. Aufgrund eines aufflammenden Schmerzes wurde David von Schwindel ergriffen. Wenn er jetzt das Bewusstsein verlor, würde er ertrinken! Zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen, hörte David mit dem Sträuben auf und hielt an der verbliebenen Luft in seinen Lungen fest.

Breitnase begann zu schwimmen und zog sie sanft durch das dunkle Gewässer. Er versuchte nicht, ihn zu ertränken. Er wollte ihn irgendwo hinbringen. Und es war eiskalt, ganz, als würden sie in einem Eimer voll Eis schwimmen.

David ließ sich dahintragen und versuchte, sich gleichzeitig zu orientieren. In diesen Sounds, wo das Meer riesige Höhlen in das Land meißelte, von denen einige mehr als 500 Meter tief waren, traf Salzwasser auf Süßwasser. Und er sah es mit eigenen Augen: Die Salzwasserschicht unter ihm war so dunkel wie das Trikot der All Black. Breitnase hielt sich an der trüben Süßwasserschicht und am Schelf, der sich ungefähr 3 Meter unter der Wasseroberfläche befand. Die anderen Männer, die Wallace immer noch mit sich zogen, waren in eine Höhle geschwommen. Davids Puls pochte, als sie ihnen hineinfolgten.

Und zwar nicht in eine Höhle, sondern in einen Tunnel. Führt dieser irgendwo hin? Langsam ging ihm die Luft aus.

Breitnase bewegte sie zügig durch die Stille. Ein horizontaler Riss, der so groß wie ein Laster war, klaffte zu ihrer Rechten. Durch die trübe Dunkelheit erspähte David eine Bewegung.

Dort befand sich etwas. Etwas Großes. Oh mein Gott, es kam aus dem Riss heraus. David wollte schreien, wollte Breitnase sagen, er solle die beiden so schnell wie möglich von hier wegbringen, doch der blasse Mann umklammerte David nur noch fester und schwamm weiter. Hilflos konnte David nichts anderes tun, als mit Entsetzen zuzusehen, wie ein Monster langsam zum Vorschein kam, während seine Lungen zu platzen drohten.

Es war gigantisch, mehr als fünfzig Meter groß, hatte einen kegelförmigen Körper, der so groß wie ein Wal war, und leuchtete auf eine unheimliche Art und Weise. Tintenfischtentakeln, die weiß und breiter als der Stamm eines Tōtara-Baumes waren, wogten in der Dünung und eine riesige Pupille betrachtete ihn boshaft.

Bei dem Anblick lockerten sich Davids Gedärme und etwas Warmes breitete sich um seine Beine herum aus.

Auf einmal löste sich der Feldflaschentyp von der Gruppe vor ihnen. Er schwamm zum Monster und zerrte Wallace’ Leichnam mit sich. Davids Herz hämmert in seiner Brust. Der Feldflaschentyp warf Wallace im Wasser umher. Anschließend ließ er ihn los und schwamm davon. Aus einem Wirbel von Gliedmaßen, die mit Saugnäpfen übersät waren, streckten sich zwei Tentakeln mit Widerhaken heraus, stachen in die Opfergabe und zogen sie zu sich. Ein riesengroßer Schnabel schloss sich um Wallace, bevor sich das Seeungeheuer wieder zurück in die Schatten schlich.

Und als Wallace’ Gesicht frei im Wasser umherschwebte, zog Breitnase David fort.

Kapitel 2

Fjordland, Gegenwart

Ka sonnte sich gerade auf einem Stein, die Füße unter sein Gesäß gezogen, als er eine Veränderung des Luftstroms wahrnahm. Auf einmal wurde der Wind stärker, was das Rascheln der Blätter bezeugte. Ka witterte die Luft, vernahm jedoch nur die normalen Waldgerüche, die aus Buchenduft und Verwelkung bestanden. Dennoch hatte ihn etwas alarmiert. Im Himmel erschien etwas, was sofort seine Aufmerksamkeit erregte. Die Silbervögel kamen wieder angeflogen. Im Augenblick waren sie weit entfernt, doch das tiefe Dröhnen ihrer Flügel wurde immer lauter. Schnell flüchtete er zum Fuß des Felsbrockens, nahm mit seiner Hand etwas Wasser auf und bespritzte die Kinder damit, die am Wasserrand spielten. Sie kreischten nicht, denn sie wussten es besser, und wandten sich zu ihm um. Darauf gab er ihnen das Zeichen, dass es an der Zeit war zu gehen. Das musste er ihnen nicht zweimal sagen. Sie schlichen sich davon, glitten lautlos unter die Wasseroberfläche und somit außer Sichtweite.

Rotorua

Rawiri Temera wälzte sich in seinem Bett herum und kniff die Augen fest zusammen. Der Kuckuckskauz rief erneut, wobei es ihm bei dem klagenden Ruf der Eule kalt den Rücken hinunterlief.

Nein. Nicht schon wieder. Er war sich doch so sicher gewesen, dass es vorbei war.

Doch das Klagen des Kuckuckskauzes fuhr fort und Temera wusste, es würde nicht aufhören, bis er sich ein weiteres Mal in die Welt der Geister begeben hatte. Also schleppte er seinen krächzenden Körper aus dem Bett und atmete tief ein. Sogleich stieg ihm der muffige Geruch von Müll und Adlerfarnen in die Nasenhöhlen. Trotz seiner Furcht machte sein Herz einen Sprung.

Er trat einen Schritt in das dichte Unterholz des Urewera. Und wieder war er neun Jahre alt, seine Haut glatt und seine Gliedmaßen sprühten nur so vor Energie. Es war ein berauschendes, aber gleichzeitig auch ein bittersüßes Gefühl.

Er hob seinen Blick und suchte das Blätterdach nach der Eule ab. Es war nicht einfach, sie zu finden, doch der Mond half ihm mit seinem silbernen Licht auf die Sprünge und brachte ein Paar gelber Augen zum Vorschein. Umgeben von der knorrigen, grauen Rinde der Buche, konnte man sie wegen ihres Federkleides kaum sehen.

»Hallo, alte Freundin«, begrüßte Temera den Kuckuckskauz.

Die kleine Eule antwortete ihm mit einem schrillen und drängenden Rufen. Augenblicklich flatterte sie von ihrem Sitzplatz herunter und setzte sich etwas weiter entlang des schmalen Pfades auf einen anderen Ast.

»Du willst also, dass ich dir folge.« Nach all den Jahren wusste Temera, was von ihm erwartet wurde.

Der Kuckuckskauz rief ihm weiterhin ungeduldig zu.

Temera biss die Zähne zusammen. Die Eule rief ihn selten ohne Grund. Manchmal handelte es sich um gute Gründe. Andere Male wiederum ganz und gar nicht. Doch er hatte jetzt nicht die Zeit, über ihre Absicht nachzudenken, denn die Vogel-Botin flog los und bahnte sich ihren Weg durch die Äste. Der junge Temera flitzte ihr durch den Wald hinterher, sprang über Baumstämme und duckte sich unter Farnwedeln hinweg. Er vergnügte sich an seiner Jugend im vollen Maße, während er seiner Seelenführerin durch das Stammgebiet seiner Vorväter nachjagte.

Temera rannte stundenlang hinter ihr her. Zunächst bemerkte er es kaum, denn seine Beine waren jung und der Wald war ein erstaunlicher Ort. Doch bald schon führte ihn der Vogel über die Grenzen des Ureweras hinaus und in einen weiteren Wald hinein, der dunkel und ihm völlig fremd war. Langsam wurde er müde. Der Schlamm saugte sich an seinen Füßen fest und die Bäume drängten sich mit ihren breiten und bedrohlichen Ästen um ihn herum. Die Eule aber flog weiter, ohne darauf zu achten. Als Temera spürte, dass er keinen weiteren Schritt mehr laufen konnte, ließen sie endlich die Bäume hinter sich und hielten direkt in der Nähe des Meeres an.

Temera setzte sich auf den kalten Sand, als er vor Anstrengung tief ein- und ausatmen musste. »War’s das?«, fragte er den Kuckuckskauz. »Du hast mich also zum Meer geführt.« Tatsächlich war dies nur in seinen Träumen möglich. Das Meer lag viel zu weit von Rotorua entfernt, um es in einer einzigen Nacht zu erreichen, vor allem als kleiner Junge. Dafür bräuchte man einen Wagen, einen vollen Benzintank und die Autobahn. Jedoch hinterfragte Temera die pure Unmöglichkeit der Situation nicht. Er hatte seine Gabe nie vollends verstanden, die so fließend und schwer zu erfassen war wie die peitschenden Wellen vor ihm.

»Und wen soll ich hier treffen?«, erkundigte er sich, doch nach der Vollendung ihres Auftrags war die Seelenführerin bereits verschwunden. Temera erhob sich. Er strich sich den Sand von der Hose und lief zum Wasser, wo er seine Zehe in die schäumende Brandung tauchte.

»Komm schon, wieso bin ich hier?«, rief er den Wellen zu.

Plötzlich stieg jenseits der Brandung eine Wölbung auf. War dies die Nachricht? Er versuchte, seine Angst zu unterdrücken und trat näher heran. Dabei brachen sich die Wellen an seinen Oberschenkeln. Unter dem Wasser kam eine dunkle Gestalt auf ihn zu. Es war bedrohlich und ominös. Bei dem Anblick spielte sich die Titelmusik aus Der weiße Hai in Temeras Kopf ab. Sein Mund wurde trocken.

In Wirklichkeit bin ich nicht hier, erinnerte er sich. Allein meine Wairua-Seele hat die Reise durch den Wald unternommen. Mein Körper liegt immer noch zu Hause im Bett. Hier kann mir nichts passieren.

Und trotzdem trat er einen Schritt zurück. Es bestand schließlich kein Grund, das Schicksal herauszufordern.

Temera spähte durch die Finsternis, als eine weißgefranste Wasserwand auf ihn zustürmte, die dunkel und voller Bedrohung war. Eine Welle riss ihn mit sich. Im nächsten Augenblick befand er sich unter der Brandung und die Kälte raubte ihm den Atem. Hilflos stürzte er und wurde von den rasenden Wellen hin- und hergeworfen. Salz und Sand verblendeten seine Augen. Wo befand sich die Oberfläche? Es schnürte ihm die Brust zu. Seine Lungen schrien vor Schmerz.

Ich bin nicht hier. Ich bin nicht hier!

Schweißgebadet wachte er auf. Der Schlafanzug klebte an ihm, als wäre es bereits Sommer. Sein altes Herz raste wie verrückt und es war ein Wunder, dass es nicht den Geist aufgab. Während er immer noch im Bett lag, zwang er sich, tief einzuatmen, dann noch einmal, und noch einmal. Er wiederholte es so lange, bis sich sein Puls beruhigt hatte.

Heiliger Bimbam! War das unheimlich.

Er rappelte sich auf und legte sein Ohr an die Wand. Im Zimmer nebenan vernahm er das Schnarchen seines Großneffen Wayne, welches ihn an das Brüllen eines Bullen erinnerte. Der Junge konnte mit seinem Lärm Tote aufwecken. Es war wirklich ein Wunder, dass sich Pania das gefallen ließ.

Nur war es nicht Waynes Schnarchen gewesen, das ihn aufgeweckt hatte.

Temera erschauderte. Seine nächtlichen Albträume waren zurück. Über ein ganzes Jahr lang hatte er seinen vollen Schönheitsschlaf genießen können, doch nun belästigte ihn seine Gabe von Neuem. Das war bereits das zweite Mal in dieser Woche, dass ihn der Kuckuckskauz geholt hatte. Temera seufzte. Das zweite Mal, dass er diese Nachricht erhalten hatte. Aber was für eine Nachricht? Und für wen war sie bestimmt? Temera wusste es nicht. Er wünschte sich, sein alter Mātua wäre hier, um ihm beim Interpretieren des Gesehenen zu helfen. Doch wem wollte er schon was vormachen? Sosehr er es auch lieben würde, seinen alten Lehrmeister wiederzusehen, wusste er dennoch, dass es ihm nicht weiterhelfen würde. Die Zukunftsvorhersage unterschied sich von Matakite zu Matakite. Verdammt, sogar seine eigenen Visionen unterschieden sich voneinander, jede Nachricht ein neues Rätsel. Temera verdrehte seine Augen so sehr, dass er das Farbenmosaik hinter seinen Augenlidern sehen konnte. Wenn die Dinge doch nicht so rätselhaft wären!

Verflucht! Nun war er hellwach. Da konnte er auch gleich aufstehen und sich eine Tasse Tee machen. Er schwang seine Beine aus dem Bett und legte sich seinen Morgenmantel um, schlüpfte in seine Pantoffeln und schleifte sich in die Küche. Unter dem schwachen Licht der Dunstabzugshaube schaltete er den Wasserkocher ein und solange er auf das Aufkochen des Wassers wartete, setzte er sich an den Tisch. Das Wasser blubberte leise vor sich hin und Temera rieb sich über die Altersflecken auf seinem Handrücken. Das Alter hatte sich leise an ihn herangeschlichen und es war ein Miststück. Heutzutage musste er sich sogar schon eine Pille einwerfen, um einfach nur kacken gehen zu können. An regnerischen Tagen war das Pillenschlucken das Einzige, was seine Muskeln dazu überreden konnte, ihn zum Gartenschuppen hinter dem Haus zu bringen. Und das Allerschlimmste war, dass er schon seit über einem Jahr nicht mehr im abgeschiedenen Gutshaus in Maungapōhatu gewesen war – die holperige Fahrt in Waynes Wagen allein genügte, um seine Zähne herauszuschlagen. Temera vermisste das Haus. Mittlerweile würde die Veranda einen neuen Anstrich brauchen und das Laub müsste aus den Dachrinnen entfernt werden. An manchen Wochenenden würde Wayne ihn als eine Art Trost zum Rand des Ureweras fahren. Sie würden ihre Klappstühle aufstellen, sich den Tee aus der Thermosflasche sowie eine Zigarette teilen und einfach dasitzen, während sie den Geruch der Bäume einatmeten. Jedoch war es einfach nicht dasselbe. Deshalb hatte ein Teil von ihm es begrüßt, als der Kuckuckskauz gekommen war, um ihn in der Nacht zu holen, denn ein Teil von ihm hatte sich danach gesehnt, barfuß durch den Wald laufen zu können, mit Schlamm und Farnen zwischen den Zehen, den Zweigen der Mātua-Bäume, die an seinen Armen kratzten, seinen Haaren, die hinter ihm herflogen, ganz wie Supermans Umhang. Es fühlte sich großartig an, wieder dort zu sein.

Auch wenn dies hieß, sich einem Albtraum stellen zu müssen.

Der Wasserkocher ging aus. Temera schob sein Haar zurück und ging zum Geschirrschrank. Er öffnete diesen und sah, dass seine Lieblingstasse ganz nach hinten gedrängt worden war. Also griff er nach ihr und schob die anderen Tassen mit dem Handrücken zur Seite. Dabei fiel eine aus dem Schrank. Sie prallte von der Arbeitsplatte ab und zerbrach, wobei die Scherben in alle Richtungen flogen.

Verdammt.

Als Temera sich bückte, um die Bruchstücke aufzuheben, wurde die Küche von Licht durchflutet.

»Onkel Rawiri! Ist alles in Ordnung?« Wayne zog sich einen Pullover über den Kopf. Hinter ihm legte sich Pania ihren Morgenmantel um.

»Alles ist gut. Ich konnte einfach nicht schlafen und dachte mir, dass ich mir gleich einen Tee machen könnte. Dabei fiel mir eine Tasse aus dem Schrank.« Er deutete mit der Hand auf den Boden. Nicht, dass es notwendig gewesen wäre. Man brauchte keine übernatürlichen Fähigkeiten, um zu sehen, was passiert war.

Pania holte den Handfeger und die Kehrschaufel heraus. »Setz dich, Onkel. Wayne macht dir schon einen Tee, oder, Wayne?«, sagte sie mit einem Blick, der ihnen weismachen sollte, dass sie es gar nicht erst wagen sollten, etwas dagegen einzuwenden.

Und so saß Temera, während Wayne drei Tassen mit Wasser befüllte.

»Also, worum geht’s, Onkel Rawiri?«, fragte Pania, als sie das zerbrochene Geschirr in den Mülleimer kippte und den Feger mit der Schaufel wieder an den Haken hinter der Tür hängte, die in die Wäscherei führte. Danach legte sie ihre Hand auf Temeras Schulter und nahm neben ihm Platz. »Fühlst du dich nicht gut? Soll ich vielleicht einen Termin mit dem Arzt vereinbaren?«

»Mir geht es gut. Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen, nichts weiter. Es gibt wirklich keinen Grund zur Aufregung.«

»Aber es ist schon die zweite Nacht in dieser Woche, die du auf warst«, erwiderte Wayne und reichte den beiden jeweils ihren Tee.

Pania legte beide Hände um ihre Tasse. »Wir machen uns Sorgen um dich«, sagte sie sanft.

Wayne hatte sich mit Pania wirklich selbst übertroffen. Zumindest dachte Temera so. Sie war ein gutes Kind: hübsch, klug und eine gute Köchin. Sie hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als Wayne ihr vorgeschlagen hatte, Temera bei sich aufzunehmen. Viele Mädchen hätten dem nicht zugestimmt.

Voller Sorge runzelte sie die Stirn. »Onkel?«

Temera seufzte abermals. Er kann es sie genauso gut wissen lassen. Niemand würde sowieso schlafen können, bis diese Sache geklärt wäre. »Meine Albträume«, sagte er schließlich. »Sie sind zurück.«

Pania sprang auf. Dabei schabte ihr Stuhl über den Holzboden.

»Deine Albträume? Ich dachte, das gehört bereits der Vergangenheit an.«

»Es scheint doch nicht der Fall zu sein.«

»Schnell, Wayne, zieh dich an und fahr den Wagen vor.«

Temera warf Wayne einen belustigten Blick zu.

»Pania …«, sagte Wayne ruhig.

Doch sie hörte ihm nicht zu. »Ist jemand verletzt? Wie viele? Weißt du, wo sie sich befinden?« Auf Antworten wartete sie ebenfalls nicht. Pania eilte zu den Küchenschränken und riss die Kramschublade auf, durchstöberte diese und nahm Streichhölzer, Batterien und einen Stapel von Kundenkarten heraus. »Wo ist die Karte hin?«

Temera unterdrückte ein Lachen. Vor einem Jahr noch hatte Pania nicht an seine Gabe geglaubt. Sie hatte gedacht, sie täte es, doch sie hatte nicht wirklich daran geglaubt. Zumindest nicht im tiefsten Inneren. Bei Wayne war das ganz anders. Als er ein Kleinkind gewesen war, hatte Temera einen Streit zwischen den Feuerdämonen Te Hoata und Te Pūpū vorhergesehen. Da er sich der Bedrohung für Wayne durch deren Keilerei sicher gewesen war, war er zu Waynes Eltern gegangen und hatte darauf bestanden, dass sie das Kind im Haus ließen. Nach nur wenigen Tagen war ein riesiger Geysir genau unter Waynes Sandkasten ausgebrochen. Die Zeitungen hatten diese Geschichte geliebt und hatten einen unterhaltsamen Artikel über Feuerdämonen und ihre Streiche gedruckt. Nur war es alles andere als zum Spaßen gewesen. Der Junge hätte im Sand spielen können, als der brausende Krater ausgebrochen war.

Vielleicht war dies auch der Grund, weshalb ihn sein Großneffe zu sich in die Stadt eingeladen hatte. Vielleicht fühlte er sich Temera gegenüber verpflichtet. Aber wie dem auch sei, jeder würde zu einem Gläubigen werden, wenn man einen Geysir im eigenen Hinterhof ausbrechen sehen würde. Es zu sehen. Es zu erleben. Pania hatte nichts dergleichen gekannt. Für sie war das alles antiker Māori-Hokuspokus. Sie selbst war eine Māori, sie wusste, was ein Matakite war und respektierte ihre Kultur, daran bestand kein Zweifel. Doch mit den ganzen naturwissenschaftlichen Fächern an den Schulen heutzutage, war es schwierig, die Leute glauben zu lassen. Nun wollte jeder Beweise haben. Erst als Temera sie aufgeweckt und verlangt hatte, dass sie alle unverzüglich in den Wald fuhren, weil dort Menschen sterben konnten, hatte Pania seine Gabe in Aktion gesehen.

Dabei hatte sie noch nicht einmal die Hälfte davon gesehen.

»Wo ist deine Pūrerehua?«, wollte Pania wissen. »Auf deinem Nachttisch? Wayne, du wirst Onkels Schwirrgerät für ihn holen müssen. Du weißt ja, dass ich es nicht anfassen darf – es ist nämlich heilig, tapu.«

Wayne erhob sich und durchquerte die Küche in zwei Schritten, wonach er seiner Freundin eine Hand auf die Schulter legte und sie an sich zog. »Babe, schön langsam. Es ist nicht so, wie du denkst«, versuchte er, sie zu beschwichtigen.

Sie drehte sich in seinen Armen herum, um ihn direkt anzusehen. »Nicht so wie ich was denke? Was meinst du damit?«

»Ich meine, es ist keine Katastrophe passiert. Wir müssen uns nirgendwohin beeilen. Manchmal weiß Onkel Rawiri nicht genau, was seine Träume zu bedeuten haben. Zumindest zunächst. Sie sind nicht immer ganz präzise.«

»Aber letztes Mal …«

»Das war letztes Mal.«

»Oh.« Pania blickte über Waynes Arm zu Temera. »Dann überstürzte ich wohl die Dinge ein wenig, was?«

Temera lächelte sie an. »Ein wenig, ja.«

Wayne küsste ihren Kopf und ließ sie los.

Nachdem sie den Kram von der Arbeitsplatte wieder zurück in die Schublade gefegt hatte, kehrte sie an den Tisch zurück und die drei tranken ihren Tee. Draußen durchzog ein blasser, blauer Fleck den Himmel. Die Sonne würde bald aufgehen.

Wayne war derjenige, der das Schweigen brach. »Möchtest du darüber reden oder uns sagen, was du bisher weißt? Vielleicht können wir ja helfen.«

Temera spielte nervös am Tassenhenkel herum, wo die Farbe bereits abnutzte. Er zuckte mit den Schultern. Wie gesagt, er konnte es ihnen auch genauso gut erzählen. Selbst hatte er einfach keinen Schimmer, was er davon halten sollte. »Ich war am Meer«, sagte er, musste sich aber gleich wieder korrigieren. »Mein Wairua war draußen am Meer und etwas verbarg sich jenseits der Wellen im Wasser. Etwas Großes und Dunkles.«

»Das war’s?«

»Mhm.«

»Es ist nicht gerade viel, um sich weitere Gedanken darüber zu machen«, stellte Pania fest. Temera konnte ihre Enttäuschung heraushören. »Bist du dir sicher, dass es eine Nachricht war?«

Temera nickte.

»Könnte es eine Flutwelle sein?«, fragte ihn Wayne. »In letzter Zeit hatten wir ja ein paar Erdbeben.«

»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.«

»Könnte es sich vielleicht um einen Haiangriff handeln?«, warf Pania ihre Vermutung in die Runde. »Oder vielleicht um eine Rippströmung?«

»Rippströmungen gibt es an jedem Strand und Neuseeland hat 14.000 Kilometer von denen. Wenn es sich bei der Nachricht um eine Rippströmung handeln sollte, müsste Onkel Riwari die exakte Stelle bestimmen. Anderenfalls würde es der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleichen.«

Pania strich sich mit beiden Händen die Haare über die Schultern. »Nun ja, es muss ja nicht immer etwas Schlechtes bedeuten, oder? Was, wenn sich die Nachricht auf etwas Gutes bezieht?«

»Zum Beispiel?«, fragte Wayne.

»Ich weiß nicht. Groß und dunkel jenseits der Wellen könnte sich auch auf das Finden einer Erdölreserve in Küstennähe beziehen.«

»Und du denkst, das wäre etwas Gutes?«

»Nein, du hast recht«, gestand Pania. »Nur diejenigen, die meinen, dass fossile Energieträger die Lösung seien, würden das gut finden.«

Etwas Gutes? Die Welle sprühte nur so vor Bedrohung.

»Ich weiß, was gut ist«, sagte Wayne, stand auf und öffnete die Tür zur Speisekammer. »Heißer Toast. Es ist schon beinahe Zeit fürs Frühstück. Möchte noch jemand eine Scheibe?«

»Ich habe nie daran gezweifelt, dass du immer nur ans Essen denkst. Dann mach uns doch gleich allen ein paar davon. Und setz doch bitte auch den Wasserkocher wieder auf«, antwortete Pania.

Kapitel 3

Fjordland

Der Pilot neigte den Steuerknüppel nach rechts und der Helikopter tauchte ab.

»Schaut euch das mal an«, drängte ihr Gastgeber, Beamter der Naturschutzbehörde, Thomas »Rocky« Stone, die beiden von seinem Passagiersitz aus.

Taine schaute an Jules vorbei und nahm das Gelände in Augenschein. Es war atemberaubend. Laut den Leuten seiner Mutter hatte der Halbgott Tu-te-raki-whanoa seinen Dechsel Te Hamo dazu benutzt, diese Fjorde aus dem Felsen zu meißeln. Als er den anmutigen Schwung der schneebedeckten Darran Mountains bewunderte und wie diese vom Himmel in das türkisfarbene Wasser des Lake Marian eintauchten, wollte Taine beinahe an diese Legende glauben.

»Was habe ich euch gesagt? Das ist die beste Behörde im ganzen Land«, sagte Rocky über seine Schulter.

Von ihrem Fensterplatz aus lächelte Jules den Ranger an, doch ihre Finger, die sich an Taines Unterarm klammerten, verrieten ihm, wie nervös sie in Wirklichkeit war. Von großen Höhen war Jules nicht gerade begeistert. Klippen gehörten ebenfalls nicht wirklich zu ihren Lieblingsdingen. Nicht nach dem Ereignis vor drei Jahren, als sie und ihre Freundin Sarah während einer beruflichen LandCare-Exkursion von einem plötzlichen Erdrutsch mitgerissen worden waren. Sie hatte eine grauenvolle Nacht damit verbracht, sich an eine Felswand festzuklammern, und kam mit einem erschütterten Selbstvertrauen davon. Sarah hatte es noch schlimmer getroffen, denn sie hatte eine schwere Kopfverletzung erlitten, durch die sie schwerbehindert wurde.

Bevor er sich wieder der Landschaft zuwandte, drückte Taine Jules Hand, um sie etwas zu beruhigen. Jules hatte jedes Recht, beunruhigt zu sein. Mit mehr als 1,2 Millionen Hektar voller aufragender Gebirgsketten, gemeißelter Täler und stürzender Wasserfälle war der Nationalpark nicht nur ergreifend schön, sondern auch tödlich. Selbst wenn man der Region seinen Respekt erwies, konnte sie einen mit ihrem rauen Gelände und dem Wetter, welches sich von einem Augenblick auf den nächsten schlagartig ändern konnte, überraschen. Man musste noch nicht einmal vom Weg abkommen, um in ein Unglück zu geraten. Vor ein paar Jahren hatten zwei erfahrende Wanderer ihr Leben auf dem Kepler Track gelassen, als sie unter einer Lawine begraben worden waren. Das Rettungsteam hatte die beiden aus dem Schnee wie Kartoffeln aus dem Garten herausgegraben.

»Nun, das wär’s dann mit dem Touristenrundflug für heute, liebe Leute«, sagte Rocky, als der Pilot sie aus dem Tal herausflog und sich in Richtung Süden aufmachte. »Und zwar für ganz umsonst.«

Taine musste grinsen. Jules war diejenige, die hier arbeiten musste. Vor fünfzehn Monaten wurde sie bei der Naturschutzbehörde in eine politische Rolle versetzt und nun war sie hier, um persönlich bei der Keulung von Wild in abgelegeneren Regionen der Sounds zugegen zu sein. Doch Taine – Sergeant Taine McKenna von der New Zealand Defence Force, kurz NZDF – hatte seit über einem Jahr wieder einmal einen richtigen Heimaturlaub. Taine hasste es, auf Urlaub zu sein. Erholungsurlaub machte ihn einfach nur nervös. Es war einfach nicht sein Ding, auf seinem Arsch zu sitzen und Netflix zu glotzen. Und als Jules ihm verkündet hatte, dass sie zum Nationalpark in Fjordland gehen würde, waren es nicht mehr nur die Tage, die sich ins Unendliche gezogen hätten, sondern auch die Nächte.

Und so ergriff er die Gelegenheit, sie zu begleiten.

Ein Stupser von hinten brachte ihn aus seinen Gedanken wieder zurück. NZDF Private Matt Read deutete mit seinem Kinn zum Fenster und hob die Daumen hoch. Er strahlte vor Aufregung. Taine schmunzelte und hob bestätigend die Hand.

Read, der zum jüngsten Neuzugang in Taines Einheit gehörte, konnte es genauso wenig wie Taine ertragen, die paar Wochen Heimaturlaub liegend auf der Couch zu verbringen. Er war ein guter Junge. Mutig. Einfallsreich. Geschickt mit dem Gewehr und schlau wie ein Fuchs. Zudem auch noch flink. Taine hatte gesehen, wie er einen Plan ausgearbeitet und umgesetzt hatte, während die anderen immer noch die Optionen erwogen hatten. Manche Leute mochten Read als kühn bezeichnen, doch er war auch ungestüm und Taines Erfahrung nach konnte diese Art von Verhalten tödlich für einen Mann sein. Taine hoffte, dass es nie dazu kommen würde, dass er Reads Eltern deswegen nie anrufen müsste. Wenigstens waren sie heute nicht im Dienst.

In der Kabine saß ein weiterer Passagier, nämlich Rockys Kollege, ein Beamter der Naturschutzbehörde namens Leo Herewini. Er sah mit seiner gebräunten Haut, den buschigen Augenbrauen und seinen zurückgegelten Haaren eher wie ein Gangster aus den 30ern als ein Umweltschutzbeauftragter aus. Bevor sie eingestiegen waren, hatten sich Taine und Herewini die Hände geschüttelt und den Begrüßungs-Hongi durchgeführt, indem sie ihre Nasen aneinander gerieben und den Atem ausgetauscht hatten. Seitdem hatte Herewini geschwiegen, sich in seinen Sitz zurückgelehnt und einen Kaugummi gekaut.

Ihnen würden sich noch ein paar weitere Leute anschließen. Ein zweiter Helikopter war auf dem Weg von Invercargill und würde einige private Pirscher absetzen, die kostenfreie Lizenzen erhalten hatten, um sich der Such- und Vernichtungsmission der Naturschutzbehörde anzuschließen.

»Leute, in ungefähr fünf Minuten werden wir landen«, sagte Rocky und klopfte sich mit den Knöcheln auf seinen Helm. »Vielleicht solltet ihr diese Helme prüfen.«

»Endlich!«, stieß Read aus, während er die Gurtbänder seines Helmes regulierte.

Taine erhaschte Jules Gesichtsausdruck. Sie war ganz blass geworden. Er schnallte seine Helmgurte enger, bevor er Jules’ Hand das letzte Mal drückte, und zog seine Handschuhe an. »In wenigen Minuten ist das alles vorüber«, versuchte er, sie zu beruhigen.

»Genau darüber mache ich mir ja Sorgen«, scherzte sie.

»Wir nähern uns jetzt dem Ziel«, rief der Pilot. Taine warf einen Blick aus dem Fenster. Sie schwebten nun ungefähr dreißig Meter über dem Boden. Die Kufen des Helikopters streiften dabei beinahe die Baumkronen.

Herewini warf die Kabinentür auf. Sofort peitschte der Wind in den Helikopter hinein und obwohl sie ihre Helme anhatten, war das Dröhnen der Rotorblätter ohrenbetäubend.

»Halte die Maschine ruhig, Phil«, sagte Rocky, der bereits von vorne in den hinteren Teil geklettert war. Das Gepäck mit ihrer Ausrüstung wurde seitlich heruntergelassen. Als die ganze Ausrüstung unten war, befestigte Herewini das Seil an seinem Gurtzeug. Rocky, der für die Sicherheit aller verantwortlich war, überprüfte den Karabinerhaken.

Aus Gewohnheit ging Taine die Schritte in seinem Kopf durch. Mach dich bereit. Wirf das Seil. Setz dich in die Tür.

Offensichtlich hatte der Naturschutztyp so was bereits früher getan. Gelassen und methodisch ging er jede einzelne Etappe flink durch, stieg auf die Kufen und drehte sich um 180 Grad, sodass er Taine direkt gegenüberstand. Seine führende Hand befand sich am Seil und die Bremshand im Bereich seines Kreuzes.

Er drehte seinen Kopf herum, um das Gelände unter sich zu prüfen.

»Alles sauber«, schrie Rocky und gab Herewini das Zeichen. »Los!«