Jake Djones und die Hüter der Zeit - Damian Dibben - E-Book

Jake Djones und die Hüter der Zeit E-Book

Damian Dibben

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Beschreibung

Es ist Zeit für neue Helden!

Jake Djones führt ein ganz gewöhnliches Leben – bis er eines Tages vom Geheimbund der Geschichtshüter erfährt. Die Agenten dieses Bundes eröffnen Jake nicht nur, dass er durch die Zeit reisen kann, sie benötigen auch noch seine Hilfe. Der skrupellose Prinz Xander Zeldt will die Vergangenheit nach seinem Willen verändern und der Welt damit für alle Zeit seine Herrschaft aufzwingen. Gemeinsam mit den besten Agenten der Geschichtshüter begibt Jake sich auf eine gefährliche Mission ins Venedig des 16. Jahrhunderts. Das Schicksal der Menschheit hängt allein von ihrer Entschlossenheit ab – in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ...

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Seitenzahl: 451

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Damian Dibben

Jake Djones

und die Hüter der Zeit

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Michael Pfingstl

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The History Keepers. The Storm Begins« bei Doubleday,

an imprint of Random House Children’s Books

a Random House Group Company, London.

1. Auflage

© 2011 by Damian Dibben

© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Penhaligon Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-07953-6www.penhaligon.de

Für Claudine.Und für Ali,den sie nie kennengelernt hat.

1

Die Treppe im Denkmal

In der Nacht, als Jake Djones erfuhr, dass seine Eltern irgendwo in der Zeit verschollen waren, tobte einer der schwersten Stürme, die England je gesehen hatte. Einzig der längst vergessene Hurrikan von 1703 hatte London mit ähnlich schweren Regenfällen und erbarmungslosen Sturmböen heimgesucht.

Mitten im Herzen des tobenden Unwetters schlingerte ein alter dunkelblauer Bentley über die Tower Bridge hinüber zum Nordufer der immer stärker anschwellenden Themse. Die Scheinwerfer des Wagens waren auf Fernlicht gestellt, und die Wischerblätter zuckten mit maximaler Geschwindigkeit unter dem Ansturm des Wassers hin und her.

Auf der breiten ledernen Rückbank saß ein vierzehnjähriger Junge mit olivfarbenem Teint, dunklen Locken und klugem, unerschrockenem Blick. Er trug seine Schuluniform: einen einfachen Blazer, eine schwarze Hose und abgetragene Lederschuhe. Neben ihm lag eine mit Büchern und Schreibheften vollgestopfte Schultasche. Auf dem zerfledderten Adressanhänger stand, mit einem dicken Filzstift geschrieben, der Name Jake Djones.

Jake war nervös. Seine braunen Augen musterten die beiden Gestalten hinter der gläsernen Trennscheibe. Links auf dem Beifahrersitz saß ein groß gewachsener Schnösel in schwarzem Anzug und Zylinder. Der Fahrer zu seiner Rechten trug eine Chauffeuruniform. Sie tuschelten leise miteinander, obwohl Jake hinter der Glasscheibe ohnehin nicht hören konnte, was sie redeten.

Die beiden Männer hatten ihn erst vor dreißig Minuten gekidnappt.

Jake war gerade auf dem Nachhauseweg von der Schule gewesen, als die zwei Fremden im Greenwich Park, in der Nähe der Londoner Sternwarte, plötzlich aus dem Schatten der Sträucher getreten waren, um ihm zu verkünden, er müsse sie in einer äußerst dringenden Angelegenheit begleiten. Als Jake eher zurückhaltend reagiert hatte, hatten sie versucht, ihn mit dem Hinweis zu beschwichtigen, dass dort, wo sie ihn hinbringen würden, bereits seine Tante auf ihn warte. Misstrauisch hatte er weiter nachgefragt, bis der Regen einsetzte – zuerst nur ein paar Tropfen, dann eine regelrechte Sintflut. Seine Entführer hatten die Gelegenheit genutzt und ihm ganz schnell ein Stück Stoff auf den Mund gepresst. Jake hatte einen stechenden Geruch wahrgenommen, dann waren ihm die Beine weggesackt, und schließlich war er auf der Rückbank des Bentley wieder zu sich gekommen.

Ein Donnerknall erschütterte die Tower Bridge bis ins Fundament, und Jake spürte Panik in sich aufsteigen. Er sah sich im Inneren des Wagens um. Alle Oberflächen waren mit dunklem Leder ausgekleidet; das Auto musste einmal der Inbegriff einer Luxuskarosse gewesen sein, hatte aber eindeutig schon bessere Tage gesehen. Die Türen (Jake hatte, kurz nachdem er aufgewacht war, vergeblich versucht, sie zu öffnen) hatten elegant geschwungene Griffe aus massivem Gold. Er beugte sich vor und inspizierte einen davon genauer. In der Mitte entdeckte er ein fein detailliertes Emblem: eine Sanduhr, um die zwei Planeten kreisten.

Der Mann mit dem Zylinder warf Jake über die Schulter einen missbilligenden Blick zu. Jake starrte ihm unbeirrt in die von der Krempe beschatteten Augen, bis der Mann sich schließlich umdrehte und seine Aufmerksamkeit wieder der Straße widmete.

Der alte Bentley hatte die Tower Bridge inzwischen überquert und schlängelte sich nun durch das Straßenlabyrinth der Londoner City, bis sie Fish Hill erreichten und auf einen kleinen, kopfsteingepflasterten Platz einbogen, der im Schatten einer gigantischen steinernen Säule lag.

Jake bestaunte das aus weiß schimmerndem Kalkstein errichtete Bauwerk, das sich von einem mächtigen würfelförmigen Sockel in den stürmischen Himmel erhob. Auf der Spitze, die sich eine halbe Meile weit über ihren Köpfen zu befinden schien, glaubte er eine vergoldete Urne zu erkennen, und Jake fiel ein, dass er das seltsame Denkmal schon einmal gesehen hatte. Auf dem Rückweg von einem Ausflug zum Dungeon, dem Londoner Gruselkabinett, waren er und seine Eltern zufällig über diesen Platz gekommen, und Jakes Vater hatte ihm den geschichtlichen Hintergrund der Säule erklärt, die alle nur »das Monument« nannten: Ende des siebzehnten Jahrhunderts war sie von Sir Christopher Wren als Denkmal für den großen Brand von London erbaut worden. Über eine Wendeltreppe im Inneren konnte man bis zu der goldenen Spitze gelangen und von dort die Aussicht über die Stadt genießen. Sie waren hineingegangen, und Jake hätte nichts lieber getan, als ebenjene Spitze zu erklimmen, genauso wie sein Vater. Aber seine Mutter, normalerweise für jeden Spaß zu haben, war plötzlich nervös geworden und hatte darauf bestanden, dass sie noch vor der Hauptverkehrszeit nach Hause fuhren. Jake erinnerte sich ebenfalls, wie seine Eltern ihn daraufhin von dem Platz weggeschleift hatten und er sich immer wieder umgedreht hatte, um wie hypnotisiert das imposante Bauwerk anzustarren.

Der Mann im Zylinder stieg aus dem Wagen und spannte seinen Regenschirm auf, den er mit einiger Kraft festhalten musste, damit der Sturm ihn nicht sofort davonblies. Er öffnete Jakes Tür und blickte ihm fest in die Augen. »Folge mir. Und denke nicht einmal daran wegzulaufen«, sagte er.

Jake beäugte seinen Häscher misstrauisch. Der Mann hatte ein markantes Gesicht mit stolzer Adlernase und hohen Wangenknochen. Der Blick seiner dunklen Augen war ebenso arrogant wie undurchdringlich, und er war elegant gekleidet: seidig schimmernder Zylinder, weißes Hemd, schwarze Krawatte, ein dunkler Cutaway, der perfekt zu seinem schmalen Körperbau passte, eine enge Stresemannhose mit dezenten Nadelstreifen und fein säuberlich polierte Lederschuhe.

Es gab einen Blitz, gefolgt von einer weiteren Sturmböe, die sie mit Regen übergoss.

»Beeil dich!«, herrschte der Mann Jake an. »Wir gehören zu den Guten. Ehrenwort.«

Jake warf sich seine Schultasche über die Schulter und kletterte zögernd aus dem Wagen.

Der Mann packte ihn am Oberarm und klopfte an die Scheibe der Fahrertür, woraufhin das Fenster sich mit einem elektrischen Summen einen Spaltbreit öffnete. »Fahr sofort los und hol Ihre Majestät ab.«

»Wird gemacht.«

»Und vergiss Miss St. Honoré nicht. Sie ist im Britischen Museum, wahrscheinlich in der Ägyptischen Sammlung.«

»Ägyptische Sammlung«, wiederholte der Chauffeur und nickte.

»Und, Norland, wir legen in einer halben Stunde ab. Pünktlich auf die Minute, verstanden? Keine Extratouren also, weder ins Wettbüro noch zu irgendeiner deiner Lieblingsspelunken.«

Der Chauffeur schien irritiert über die bissige Bemerkung, verbarg seinen Ärger aber hinter einem perfekt gespielten Lächeln. »Ablegen in einer halben Stunde, alles klar«, sagte er und schloss das Fenster.

Ein Adrenalinstoß durchflutete Jakes Körper. Sein Puls raste doppelt so schnell wie normal – dann riss er sich los und rannte, so schnell er konnte, quer über den Platz.

Der groß gewachsene Mann reagierte sofort. »Halten Sie ihn auf!«, brüllte er einer Gruppe von Büroangestellten zu, die gerade auf dem Weg zur U-Bahn war. Seine Erscheinung strahlte eine derartige Autorität aus, dass die Leute nicht einmal auf die Idee kamen, dass er der Verbrecher sein könnte und nicht Jake.

Als sie sich ihm in den Weg stellten, wirbelte Jake herum und lief in die Gegenrichtung – wo er im nächsten Augenblick frontal mit dem Mann zusammenprallte, dem er soeben erst entronnen war. Mit einem lauten Krachen schlug Jakes Stirn gegen den Unterkiefer des Kidnappers.

Sein Verfolger taumelte ein paar Schritte zurück, der Regenschirm wirbelte davon, dann verloren seine langen, dünnen Beine den Bodenkontakt, und er fiel hintenüber in eine tiefe Pfütze. Der Zylinder rollte hinüber zum Sockel des Denkmals, und aus dem Augenwinkel sah Jake, wie der Regenschirm Richtung St.-Pauls-Kathedrale davonsegelte.

Jake ließ alle Vorsicht fahren und lief auf den am Boden liegenden Knoten aus Gliedmaßen und verdreckter Kleidung zu. Auch der Chauffeur war aus dem Bentley gesprungen, und die Passanten standen vor Schreck wie angewurzelt da.

Jake blickte hinunter auf den bewegungslosen Körper. »Ist Ihnen etwas passiert?«, fragte er.

Endlich bewegte sich der Kopf des schlaksigen Mannes. Ganz langsam setzte er sich auf und strich sich mit feingliedrigen Fingern die Haare aus der Stirn, als wäre nichts geschehen.

Jake seufzte erleichtert. »Ich wusste nicht, dass Sie hinter mir sind. Ist Ihnen nun was passiert?«, wiederholte er leise und streckte dem Mann eine Hand hin, um ihm auf die Beine zu helfen.

Letzterer ignorierte ihn einfach und wandte sich stattdessen an seinen Chauffeur. »Was stehst du hier noch rum? Ich wiederhole: Wir legen in dreißig Minuten ab!«, keifte er, um dann den Rest seiner Wut an den verdutzten Büroangestellten auszulassen: »Habt ihr noch nie jemanden hinfallen sehen?«

Sein Ton war so gallig, dass die Angesprochenen unverzüglich aus ihrer Erstarrung erwachten und sich eilig aus dem Staub machten. Der Chauffeur hatte sich unterdessen wieder ans Steuer gesetzt und ließ den Motor an, woraufhin der Bentley um eine Ecke verschwand und Jake mit seinem Entführer allein am Fuß des Denkmals zurückblieb.

Aus irgendeinem Grund verspürte er nicht mehr den Wunsch wegzurennen. Stattdessen hob er den Zylinder auf, strich ihn glatt und hielt ihn dem seltsamen Gentleman hin.

»Ich habe dir doch gesagt, dass wir zu den Guten gehören!«, knurrte der durch zusammengebissene Zähne und rappelte sich mühsam hoch. Er riss Jake den Zylinder aus der Hand und setzte ihn auf. »Wenn du mir nicht glaubst, kann deine Tante dich ja aufklären, sobald sie hier ist.«

»Meine Tante?«, fragte Jake kopfschüttelnd. »Was hat sie damit zu tun?«

»Zu den Erklärungen kommen wir später. Folge mir jetzt!« Mit diesen Worten ging der Mann hinüber zum Sockel des Monuments, zog einen erstaunlich großen Schlüssel aus der Westentasche und steckte ihn in einen Spalt zwischen den Kalksteinen.

Jake fragte sich, was zum Teufel der Kerl da machte, da entdeckte er den nahezu unsichtbaren Umriss einer Tür – einer Geheimtür im Sockel der Säule.

Der Mann drehte den Schlüssel, und mit einem Rumpeln schwang die steinerne Tür auf. Der Raum dahinter wurde schwach vom flackernden Licht einer Wachskerze erleuchtet.

Jakes Anspannung wich; fasziniert reckte er den Kopf und spähte hinein: Am anderen Ende der kleinen Kammer befand sich eine breite, offensichtlich sehr alte Wendeltreppe, die nach unten führte.

»Schnell! Schnell jetzt!«, bellte der Mann. »Drinnen wirst du alle deine Antworten bekommen. Und auch erfahren, wo sich deine Eltern aufhalten.«

Jake horchte auf. »Mei … meine Eltern?«, fragte er. »Was ist mit ihnen passiert?«

»Folge mir einfach, und du wirst es erfahren.«

Jake rührte sich nicht von der Stelle. Er atmete einmal tief durch und sagte dann mit fester Stimme: »Sie entführen mich aus dem Greenwich Park, verfrachten mich in ein Auto und bringen mich hierher. Ich denke, das sollte für ein paar Jahre Gefängnis reichen, und jetzt hätte ich gern ein paar Fragen beantwortet! Und zwar zuallererst, was mit meinen Eltern ist.«

Der Mann rollte die Augen. »Wenn du so freundlich wärst, ins Trockene zu kommen und mir zu gestatten, mich umzuziehen« – er deutete auf einen langen Riss in seiner Hose –, »erzähle ich es dir.«

»Wer sind Sie überhaupt?«, bohrte Jake weiter nach.

Der Mann seufzte leise. »Mein Name ist Jupitus Cole. Ich habe nicht die Absicht, dir etwas zu tun. Ganz im Gegenteil. Ich versuche nur zu helfen. Wir mussten dich entführen, weil du sicherer bist, wenn du mit uns kommst. Wenn du mir jetzt den Gefallen tun würdest, mich nach unten zu begleiten …«

Jake, in dem jetzt die Abenteuerlust erwachte, war absolut fasziniert von diesem exzentrischen Mann, von der Geheimtür, von der mysteriösen Treppe. Aber er gab nicht nach. »Was soll das heißen, ›nach unten‹?«

»Das Büro ist unten. Das Büro, verdammt!«, schnauzte Jupitus ihn an. »Wenn du endlich mitkommen würdest, könnten wir alles Weitere klären!« Seine Augen bohrten sich in Jakes. »Es geht hier um Leben und Tod, verstehst du? Leben und Tod. Du kannst jederzeit wieder gehen. Aber ich garantiere dir, es wird das Letzte sein, wonach dir der Sinn stehen wird.«

Jakes Blick wanderte zwischen Mr Cole und der nach unten führenden Treppe hin und her. Er hatte ohnehin schon alle Mühe, seine Neugier im Zaum zu halten, und etwas an der Art des Mannes, vielleicht seine unbeirrbare Entschlossenheit, fegte schließlich alle Zweifel beiseite.

»Ich werde mich mal von einem Psychologen durchchecken lassen müssen«, murmelte Jake und betrat die Kammer. Knirschend schloss sich die Tür hinter ihm, und er spürte, wie ihm von der Treppe ein kalter Luftzug entgegenschlug.

»Und jetzt folge mir«, sagte Jupitus leise, dann machten sie sich auf den Weg nach unten.

2

Das Londoner Büro

Mit von den Wänden widerhallenden Schritten eilte Jupitus die Stufen hinunter, und Jake folgte ihm. In regelmäßigen Abständen wurde die Treppe von Gaslaternen beleuchtet, deren flackerndes Licht auf alte Wandmalereien fiel. Die Farben waren verblichen und teilweise abgeplatzt, doch es war eindeutig zu erkennen, was sie darstellten: Momentaufnahmen aller großen Zivilisationen der Menschheitsgeschichte, von Szenen aus dem alten Ägypten, dem Assyrischen Reich, dem antiken Griechenland über Persien, Rom und Byzanz bis hin zum Indien der Moguln, den Ottomanen und schließlich dem mittelalterlichen Europa. Jake war vollkommen hingerissen von den Abbildungen der Könige und Helden, der prächtigen Festzüge, der geschichtsträchtigen Schlachten und Expeditionen.

»Die wurden von Rembrandt gemalt«, erklärte Jupitus sachlich, »als das Londoner Büro im Jahr 1667 hierher umzog. Schon mal von Rembrandt gehört?«

»Klar …«, antwortete Jake nach kurzem Zögern.

Jupitus warf ihm einen herablassenden Blick zu.

»Ich mag Bilder«, erklärte Jake. »Alte Bilder, auf denen man sich vorstellen kann, wie die Leute damals gelebt haben.«

Er war selbst überrascht, sich das sagen zu hören. Normalerweise behielt er seine Liebe zur Malerei für sich, aber irgendwie hatte er das Gefühl, sich vor diesem seltsamen Snob rechtfertigen zu müssen. Genauso wie vor seinen Freunden, die seine Begeisterung für die alten Schinken nicht teilten. Vielleicht, dachte Jake manchmal, weil sie nicht genug Fantasie hatten. Oft ging er allein in die Gemäldegalerie in Dulwich, stellte sich mit halb geschlossenen Augen ganz dicht vor die Bilder und stellte sich vor, er wäre dort, in einem anderen Zeitalter. Meistens kam dann ein übel gelaunter Museumswärter angelaufen und forderte ihn auf, gefälligst den vorgeschriebenen Mindestabstand einzuhalten, was Jake auch tat. Aber nur, um zu warten, bis der Aufseher wieder verschwunden war, und dann von Neuem in die Szene einzutauchen.

Sie hatten das Ende der Treppe erreicht und standen nun vor einer massiven Tür, in deren Mitte Jake ein Messingschild sah, in das das gleiche Symbol eingraviert war wie in die goldenen Türgriffe des alten Bentley: eine Sanduhr, die von zwei Planeten umkreist wurde. Das Emblem wirkte auf Jake altmodisch und modern zugleich – irgendwie erinnerte es ihn an Elektronen, die einen Atomkern umkreisten.

Jupitus musterte Jake mit ernstem Gesicht. »Nicht vielen wird die Ehre zuteil, vor dieser Tür stehen zu dürfen, und diejenigen, die eintreten, finden ihr Leben danach unwiderruflich verändert. Nur als kleine Vorwarnung.«

Jake nickte kurz, dann stemmte Jupitus die Tür auf, und sie traten ein.

»Ich bin gleich wieder bei dir. In der Zwischenzeit setz dich irgendwohin, wo du nicht im Weg bist.« Er deutete auf einen Stuhl neben der Tür. »Hört alle gut zu, wir haben noch exakt fünfundzwanzig Minuten!«, verkündete er. Dann verschwand er mit langen, schnellen Schritten in seinem Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Jakes Augen leuchteten nur so vor Staunen.

Der Raum, in dem er sich befand, hatte etwas von einer alten, ehrwürdigen Bibliothek. Keine öffentliche wie die in seiner Schule, sondern eine mit alten, wertvollen Büchern, eine, für die man eine Genehmigung brauchte, um überhaupt hineinzukommen. Diese hier war riesig: Sie hatte zwei Stockwerke, Wendeltreppen führten zu den verschiedenen Ebenen, die nur so überquollen mit Regalen voll schwerer alter Folianten. Hoch über diesen Regalen spannte sich ein gläsernes Dach, dessen metallene Verstrebungen unter der Wucht des Sturms ächzten und pfiffen.

Über die gesamte Länge des Raumes erstreckte sich ein hölzerner Tisch, der von flimmernden grünen Schreiblampen erhellt wurde. Alte Land- und Seekarten, Manuskripte, Pläne und Diagramme lagen darauf ausgebreitet, dazwischen standen mehrere antike Globen, die Jakes Blick unwillkürlich auf sich zogen.

Die Bibliothek brummte nur so vor Geschäftigkeit. Männer, die eine Art Matrosenuniform trugen, verstauten ebenso schnell wie geschickt alle möglichen Ausrüstungsgegenstände in großen hölzernen Kisten.

Jake ignorierte Jupitus’ Anweisung und ging, immer noch mit der Schultasche über der Schulter, hinüber zu dem langen Tisch. Der Globus direkt vor seiner Nase musste der älteste Gegenstand sein, den Jake jemals aus solcher Nähe gesehen hatte. Die Ländernamen waren in altmodischer Schrift von Hand geschrieben. Jake beugte sich näher heran und erkannte die Nordsee, darin Großbritannien wie ein Juwel im Meer, etwas darunter Spanien, das in dieser Darstellung beinahe dieselbe Fläche einnahm wie Asien und in dessen Mitte ein Ehrfurcht gebietend aussehender Kaiser oder König abgebildet war. Den amerikanischen Kontinent zierten lediglich ein paar Wälder und Gebirgszüge.

Jake sah noch genauer hin: Ganz unten, wo der Atlantische Ozean in die antarktische See überging, zwischen zwei halb verblassten Delfinen und einer alten Galeone, entdeckte er, gerade noch erkennbar, eine Jahreszahl: 1493.

»Wenn Sie so freundlich wären, Sir …«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Einer der uniformierten Männer stand mit einer Kiste unterm Arm hinter ihm. Als Jake zur Seite trat, nahm er den Globus vom Tisch und verstaute ihn in der Kiste, die er sorgfältig mit Stroh ausgepolstert hatte. Den Deckel verschloss er mit Hammer und Nägeln.

Jake beobachtete, wie der Mann die Kiste zu einem breiten Durchgang auf der anderen Seite der Bibliothek brachte, um sie dort mit einer ganzen Anzahl weiterer Kisten auf einen Gepäckwagen zu laden, der umgehend losfuhr und in einem langen Korridor verschwand.

Da erregte noch etwas Jakes Aufmerksamkeit: Hinter einem holzgetäfelten Raumteiler saß an einem Schreibtisch ein Junge mit strubbeligem braunem Haar und roten Wangen. Er trug eine dicke Brille, deren Nasensteg notdürftig von Klebeband zusammengehalten wurde, und – obwohl er in Jakes Alter war – einen braun karierten Anzug, der ihn wie einen verschrobenen Professor aussehen ließ. Auf seiner Schulter saß ein Papagei, dessen dichtes Gefieder in allen Farben des Regenbogens schimmerte, von orangefarben über purpurrot bis zu einem dunklen Türkisblau.

Der Junge tippte eifrig auf etwas, das aussah wie eine altmodische Schreibmaschine, aber das Gerät hatte weniger Tasten, auf denen sich statt Buchstaben eigenartige Symbole befanden. Aus der Rückseite ragte ein kristallener Stab, wahrscheinlich eine Antenne, der bei jedem Anschlag knisternd Funken sprühte. Nach ein paar Dutzend Anschlägen drehte der Junge an einem Rad seitlich an der Maschine, dann ging die Prozedur wieder von vorn los.

»Entschuldige, aber du stehst mir im Licht«, sagte er ohne aufzublicken zu Jake. »Wenn ich das hier nicht in fünf Minuten fertig habe, bin ich erledigt.«

Jake stellte sich auf die andere Seite des Schreibtischs.

Der Junge schaute kurz auf, musterte Jake einen Moment lang und schob dann seine Brille zurecht, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Neben der Schreibmaschine stand eine Schale mit Erdnüssen, von denen er sich immer wieder eine Handvoll in den Mund stopfte.

Jakes Magen knurrte; seit Mittag hatte er nichts mehr gegessen.

»Nimm dir schon welche, wenn’s sein muss«, sagte der Junge, der das Knurren anscheinend gehört hatte. »Aber beiß dir nicht die Zähne aus.« Er hatte eine lupenreine Aussprache, wie der Nachrichtensprecher eines Radiosenders.

Jake warf ihm einen fragenden Blick zu und nahm sich schließlich ein paar Nüsse. Ihm fiel auf, dass der Papagei ihn genau beobachtete.

»Ist er zahm?«, fragte Jake und streckte eine Hand aus, woraufhin der Vogel einen markerschütternden Schrei ausstieß und mit wild schlagenden Flügeln sein Gefieder aufplusterte, sodass Jake unwillkürlich einen Satz nach hinten machte.

»Mr Drake ist nicht gut auf Fremde zu sprechen«, ließ der Junge ihn wissen. »Kommt ursprünglich von der Karibikinsel Mustique; das hiesige Klima scheint ihn ein wenig reizbar zu machen. Wenn ich du wäre, würde ich Mr Coles Rat befolgen und mich wieder dort drüben hinsetzen.«

Jake kehrte – unter dem wachsamen Blick von Mr Drake – zu dem Stuhl neben der Tür zurück, und der Junge tippte, halblaut vor sich hin murmelnd, weiter auf seiner Maschine herum.

Jake dachte an die Ereignisse der vergangenen Woche zurück. Bis vor einer Stunde schien alles noch völlig normal gewesen zu sein …

Jake Djones lebte mit seinen Eltern in einem kleinen Doppelhaus in einer ganz gewöhnlichen Straße in einem ganz gewöhnlichen Teil Südlondons. Das Haus hatte drei kleine Schlafzimmer, ein Bad und einen immer noch nicht fertigen Wintergarten. Des Weiteren gab es ein Arbeitszimmer, das Jakes Vater etwas überzogen »das Kommunikationscenter« nannte, denn in Wahrheit war dieses in vier Wände gefasste Kabellabyrinth eher so etwas wie eine Abstellkammer für alte Computer und sonstige ausrangierte Hardware.

Ihren Lebensunterhalt verdienten Alan und Miriam Djones mit einem kleinen Sanitärgeschäft an der Haupteinkaufsstraße. An den Wochenenden versuchte Miriam sich an selbst ausgedachten Kochrezepten, und Alan betätigte sich als Heimwerker, was jedes Mal in Katastrophen wie durchgeschmorten Herdplatten und geplatzten Rohrleitungen endete.

Jakes Schule war genauso durchschnittlich wie das Haus, in dem er mit seiner Familie lebte. Sie lag gleich hinter dem Greenwich Park, nur fünfzehn Minuten zu Fuß von seinem Zuhause entfernt, und es gab dort ein paar gute Lehrer und viele ziemlich schlechte. Jake hasste Mathe, dafür war er gut in Geografie und hervorragend in Basketball, übte begeistert für jedes Theaterstück, das in der Schule aufgeführt wurde, bekam dann aber meistens doch nur eine Sprechrolle im Chor. Was ihn jedoch vor allem anderen faszinierte, war Geschichte, waren mächtige und geheimnisumwitterte Persönlichkeiten, Könige und Herrscher wie die auf den Wandgemälden, die er gerade eben gesehen hatte, doch leider gehörte sein Geschichtslehrer nicht zu den guten …

Zum letzten Mal hatte Jake seine Eltern vor vier Tagen gesehen. Sie hatten ihm eine Nachricht hinterlassen, er solle auf dem Heimweg von der Schule noch kurz im Laden vorbeischauen. Als Jake dort angekommen war, hatte er ihn geöffnet, aber verlassen vorgefunden und beschlossen zu warten.

Der Sanitärladen lief nicht gut, und Jake fragte sich oft, wie seine Eltern sich überhaupt über Wasser hielten. Sie hatten das Geschäft kurz nach Jakes Geburt eröffnet und schlugen sich seit dem ersten Tag mehr schlecht als recht durch. Wie einer der vielen unzufriedenen Kunden es einmal ausgedrückt hatte: »Sie haben einfach kein Händchen für Dinge, die mit Keramik zu tun haben!«

Jake war ähnlicher Meinung. Seine Mutter führte den Laden vollkommen chaotisch, verlor ständig Unterlagen und Belege und manchmal sogar ganze Badezimmereinrichtungen. Sein Vater war meistens bei den Kunden vor Ort und versuchte ebenjene Badezimmereinrichtungen – wenn sie nicht zuvor verloren gegangen waren – zu installieren. Er war eine imposante Erscheinung, kräftig gebaut und weit über eins achtzig groß. Jake konnte ihn sich eigentlich kaum in diesen winzigen Vorstadtbadezimmern vorstellen – nicht nur aufgrund seiner Größe, sondern auch wegen seiner ausufernden Persönlichkeit.

Während er so da gesessen und gewartet hatte, waren plötzlich zwei Gestalten in den Ausstellungsraum geplatzt.

»Da bist du ja, Schatz!«, hatte seine Mutter ihn keuchend begrüßt und sich die widerspenstigen dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht gewischt. Rein äußerlich war sie das genaue Gegenteil von Jakes hellhäutigem Vater mit dem unbändigen blonden Haar und dem nicht wegzudenkenden Bartschatten im Gesicht. Sie hatte denselben olivfarbenen Teint wie Jake und eine warme, fast schon sinnliche Ausstrahlung. Ihre großen Augen wurden von langen Wimpern umrahmt, und direkt über dem Mundwinkel hatte sie ein kleines Muttermal.

»Desaster bei Dolores Devises. Die Überlaufrohre in ihrem Bad sind nicht dicht«, hatte Miriam seufzend mit einem Seitenblick auf Alan gesagt. »Ich musste ihr ihr Geld zurückgeben.«

»Ich könnte ein ganzes Jahr damit verbringen, ihr Badezimmer zu reparieren«, hatte sein Vater mit einem amüsierten Grinsen erwidert, »und diese Dolores Devises würde immer noch rummeckern wie eine alte Ziege!«

Es war eine Pause gefolgt, und dann waren Jakes Eltern, wie jedes Mal, in schallendes Gelächter ausgebrochen. Sie hatten beide einen unerschütterlichen und absolut ansteckenden Humor; praktisch alles konnte sie zum Lachen bringen, am allermeisten aber ein bestimmter Schlag von Kunden: arrogante Managertypen und affektierte Yuppiedamen wie Dolores Devises.

Alan und Miriam zogen es vor, über die Dinge zu lachen, anstatt sich von ihnen runterziehen zu lassen.

»Wir müssen mal wieder für ein paar Tage verschwinden, Schatz, leider«, hatte seine Mutter dann zu Jake gesagt und versucht, möglichst beiläufig zu klingen.

Jake war enttäuscht gewesen, und Miriam hatte kleinlaut hinzugefügt: »Meine Schuld. Hab mal wieder nicht daran gedacht, mir das Datum aufzuschreiben. Eine Messe in Birmingham, unvorstellbar langweilig, aber wir müssen hin. Der Vertreter hat gemeint, wir sollten mal unser ›Sortiment erweitern‹.«

»Granit und Sandstein sind total in im Moment«, hatte Alan gut gelaunt erklärt.

»Wir fahren heute, gleich von hier.« Miriam hatte auf einen roten Koffer hinter der Theke gedeutet und vorsichtig gesagt: »Rose wird nach dir sehen, solange wir weg sind. Das geht doch in Ordnung, Jake, oder?«

Eigentlich hatte Jake nicken wollen, aber es war eher ein Schulterzucken daraus geworden. Vor drei Jahren hatten seine Eltern angefangen, diese Messen zu besuchen, zuerst nur einmal im Jahr, aber in diesem Jahr waren sie schon zweimal bei einer gewesen und hatten ihre Abreise beide Male erst in allerletzter Sekunde angekündigt.

»Freitagnachmittag sind wir wieder zurück«, hatte seine Mutter mit einem Lächeln erklärt und Jakes dicke Locken zerzaust. »Und dann unternehmen wir was Tolles zusammen!«

»Wir haben ein paar Überraschungen geplant«, hatte sein Vater hinzugefügt.

Miriam hatte ihre Arme um Jake geschlungen und ihn fest an sich gedrückt. »Wir lieben dich so sehr!«

Jake hatte sich eine Weile drücken lassen und sich dann losgemacht. Er hatte gerade seinen Schulblazer wieder glatt gestrichen, da hatte sein Vater ihn ebenfalls in eine kräftige Umarmung geschlossen.

»Pass auf dich auf, Jake«, hatte er gesagt, und Jake hatte sich ein weiteres Mal befreien müssen.

»Danke. Amüsiert euch gut, ihr beiden«, hatte Jake gemurmelt und ohne sich noch einmal umzudrehen den Laden verlassen, um seinen Nachhauseweg fortzusetzen.

Nachdenklich hatte er den Greenwich Park durchquert und sich auf eine Bank gesetzt. Es tat ihm leid, dass er sich nicht richtig von seinen Eltern verabschiedet hatte, aber er hatte ihnen eben eine kleine Lektion erteilen wollen, damit sie ihn in Zukunft früher über ihre Geschäftsreisen informierten – eine sturmfreie Bude zu haben, war ja schön und gut, aber Jake wollte das nächste Mal einfach früher Bescheid wissen.

Nach einer Stunde hatte er dann aber doch noch mal das Bedürfnis verspürt, sie zu sehen, bevor sie abfuhren, und war zurück zum Laden gegangen. Doch es war zu spät gewesen. Das Geschäft war geschlossen, die Lichter im Schaufenster aus, der rote Koffer nicht mehr da.

Wie versprochen war Alans Schwester Rose noch am selben Abend gekommen. Jake mochte sie sehr, denn Rose nahm nie ein Blatt vor den Mund; sie war exzentrisch und äußerst unterhaltsam. Sie trug jede Menge klimpernden Schmuck, den sie von ihren Weltreisen mitgebracht hatte, unterhielt sich gern und ausgiebig mit den unterschiedlichsten Leuten, auch und gerade, wenn sie sie eben erst kennengelernt hatte, und sagte oft zu Jake: »Das Leben ist so kurz, man muss es in vollen Zügen genießen!«

Die Tage mit ihr waren unterhaltsam und abwechslungsreich gewesen, und Freitagnachmittag direkt nach Schulschluss war Jake wie ein Blitz aus dem Schulgebäude geschossen, denn an diesem Tag hatten seine Eltern von der Messe zurückkommen sollen. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause und war ein weiteres Mal durch den Greenwich Park gehastet. Er hatte gerade die wie eine Armee heranrollenden schwarzen Sturmwolken am Horizont gesehen, da waren Jupitus Cole und Norland, der Chauffeur, plötzlich vor der Königlichen Sternwarte aufgetaucht.

Erst Tage danach sollte Jake die besondere Bedeutung dieses Ortes bewusst werden: Im Jahr 1668 hatte Robert Hooke dort, zusammen mit anderen Gelehrten von der eben erst gegründeten Royal Society, seine intensiven astronomischen Beobachtungen begonnen, die Jahrhunderte später ihren Teil zur Entdeckung der Verbindung zwischen Raum und Zeit beitragen sollten.

Diese Begegnung war kaum eine Stunde her, und jetzt saß Jake hier in dieser mehr als ungewöhnlichen Bibliothek und wartete darauf, sein Leben schon bald »unwiderruflich verändert vorzufinden«, wie Jupitus Cole es genannt hatte.

Unvermittelt schwang die Bürotür auf. »Sie können jetzt reinkommen, Mr Djones«, sagte sein »Gastgeber« knapp.

Jake stand auf. Er wollte gerade auf die Tür zugehen, als er merkte, dass alle im Raum ihn unverwandt anstarrten, um sich dann, als er genauso unverwandt zurückstarrte, schnell wieder an die Arbeit zu machen. Dann betrat er Jupitus Coles Büro.

3

Schiffe und Diamanten

Schließ die Tür«, befahl Jupitus. Er saß bereits wieder am Schreibtisch und schrieb eifrig mit seinem Füller. Jupitus hatte frische Sachen angezogen, die beinahe identisch waren mit denen, die er zuvor getragen hatte: weißes Hemd, schwarze Krawatte, dunkles, tailliertes Jackett und eine Hose mit grauen Nadelstreifen. Die nassen Kleidungsstücke lagen neben ihm auf dem Boden.

Jake sah sich in dem mit Holz getäfelten Büro um. Es war eine regelrechte Schatzkammer, randvoll mit erlesenen Kostbarkeiten: In einer Ecke stand die Marmorbüste eines römischen Kaisers, in einer Vitrine waren Schwerter und andere antike Waffen ausgestellt, auf dem Parkettboden lag ein Tigerfell, das riesige Maul weit aufgerissen, an den Wänden hingen Gemälde mit Porträts von Adligen und Königen, außerdem gab es weitere Globen und Landkarten. Neben dem prasselnden Kamin stand ein riesenhafter ausgestopfter Vogel mit einem beeindruckend großen Schnabel, der Jakes besondere Aufmerksamkeit erregte.

»Ist das …?«

»Ein Dodo, genau«, sagte Jupitus, ohne von seinen Papieren aufzublicken. »Einer der Letzten, die auf unserer Erde gewandelt sind. Aber damit ist es nun, wie man deutlich erkennen kann, auch für ihn vorbei. Und du fragst dich wahrscheinlich, was du hier eigentlich machst und wer wir alle sind.«

»Noch viel mehr als das: Vor allem möchte ich wissen, woher Sie meine Eltern kennen«, erwiderte Jake.

»Zuerst muss ich mir deine Augen mal ansehen«, entgegnete Jupitus, ohne auf Jakes Worte einzugehen.

»Meine Augen …?«

Jupitus öffnete eine Schublade in seinem Schreibtisch und zog ein fein gearbeitetes Instrument aus dunklem Holz mit silbern glänzenden Metallteilen daran hervor. Für Jake sah es aus wie eine dieser Lupen, mit denen Juweliere teure Edelsteine untersuchen. Jupitus streifte den Riemen über den Kopf, schob das Okular über sein rechtes Auge und kam um den Tisch herum.

»Setz dich auf diesen Stuhl«, befahl er.

»Mit meinen Augen ist alles in Ordnung.«

Jupitus reagierte nicht, sondern wartete, bis Jake tat, wie er ihn geheißen hatte, und schließlich setzte Jake sich zögernd hin.

»Stell das hier ab«, sagte Jupitus und deutete auf Jakes Schultasche.

Jake nahm die Tasche von der Schulter und legte sie auf den Tisch.

Mit einem Drehregler schaltete Jupitus eine kleine Lampe an dem Gerät ein und hob Jakes Kinn. »Augen möglichst weit auf, bitte«, sagte er und beugte sich nach vorn, um Jakes rechte Pupille zu inspizieren.

»Was soll das Ganze?«

»Schhhh!« Jupitus zog eine Grimasse und wechselte zu Jakes linkem Auge. »Und jetzt schließe deine Augen, so schnell du kannst.«

Jake gehorchte, und Jupitus richtete die Lichtquelle an dem Gerät abwechselnd auf seine geschlossenen Lider.

»Jetzt sag mir, was für Formen du siehst.«

»Formen? Ich sehe rein gar nichts.«

»Natürlich tust du das! Du siehst Umrisse. Umrisse verschiedener Größe, aber alle mit derselben Form – Rechtecke, Quadrate, Kreise, was siehst du? Schau genau hin.«

Jake konzentrierte sich, und tatsächlich sah er etwas. »Hmm, sieht irgendwie aus wie … Diamanten.«

»Diamanten? Wirklich? Keine Rechtecke oder Quadrate?«, fragte Jupitus ungläubig.

»Ja doch! Diamanten. Jede Menge.«

Jupitus wirkte wütend, als hätte Jake ihn beleidigt. »Sind sie symmetrisch geformt, klar definiert oder verschwommen?«, bohrte er nach.

»Die Umrisse sind klar, würde ich sagen.«

Bebend holte Jupitus tief Atem. »Du Glückspilz«, sagte er kaum hörbar, zog das Instrument vom Kopf und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück.

»Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden. Wir reisen nach Frankreich. Per Schiff. Du musst uns begleiten.«

Jake lachte nur. »Wie bitte? Frankreich? Heute Nacht noch?«

»Ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich. Aber wir haben alles, was du brauchst: Kleidung, Essen, egal was. Wirst du leicht seekrank? Es könnte eine stürmische Überfahrt werden.«

»Nein, aber trotzdem, ich meine … Wer sind Sie und Ihre Leute überhaupt?«

Jupitus schaute ihn verächtlich an. »Vielleicht bleibst du ja lieber in London, an dieser langweiligen, drittklassigen Schule. Stures Lernen tagaus, tagein, Geschichtsdaten und Formeln.« Mit einer lässigen Geste zog er ein Schulbuch aus Jakes Tasche und blätterte es durch. »Wozu? Um sinnlose Prüfungen zu bestehen? Einen höheren ›Bildungsweg‹ einzuschlagen, damit du einen geisttötenden Beruf ergreifen und ein langweiliges, bedeutungsloses Leben führen kannst, an dessen Ende ein ebenso bedeutungsloser Tod wartet?«

Jake schüttelte heftig den Kopf. Er verstand überhaupt nichts mehr.

Mit einem lauten Knall klappte Jupitus das Buch zu und stopfte es zurück in die Schultasche. »Wenn du Bildung willst, ist die Welt der Ort, um sie zu erlangen: Unsere Erde ist weit reichhaltiger und komplexer, als du es dir selbst in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst!«

Jake betrachtete den Mann vor ihm. Irgendwie hatte dieser letzte Satz etwas in ihm angerührt. »Na ja, es geht hier ja wohl nicht nur um meine Schule …«, begann er. »Meine Eltern wären wohl kaum begeistert, wenn ich mit einem Haufen wildfremder Leute einfach so nach Frankreich verschwinden würde. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie scheinen mir alle nicht ganz richtig im Kopf … Diese seltsamen Klamotten, die Sie tragen, und die komische Art, wie Sie sprechen.« Jake versuchte ruhig zu bleiben, aber seine Hände zitterten.

»Deine Eltern, sagst du? Es geschieht um ihretwillen, dass ich dich bitte, mit uns zu kommen. Sie sind verschollen, musst du wissen.«

»Was?«, keuchte Jake. »Wie meinen Sie das?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie in Sicherheit. Sie haben eine zähe Natur, die beiden, und haben im Lauf der Jahre einiges an gefährlichen Situationen gemeistert. Tatsache ist jedoch, dass wir den Kontakt zu ihnen verloren haben, und das seit drei Tagen. Wir beginnen uns Sorgen zu machen.«

Jakes Kopf drehte sich. »Entschuldigung, aber ich verstehe nicht ganz. Woher kennen Sie meine Eltern überhaupt?«

Jupitus bedachte Jake mit einem kühlen Blick, bevor er antwortete. »Wir arbeiten für dieselbe Organisation«, sagte er und deutete mit ausladender Geste auf sein Büro. »Diese Organisation.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann lachte Jake laut los. »Wissen Sie, Sie haben gerade einen Fehler gemacht. Meine Eltern verkaufen Badezimmereinrichtungen: Waschbecken, Bidets, Badewannen. Während wir uns hier unterhalten, kommen sie gerade von einer Messe aus Birmingham zurück. Und das hätten Sie natürlich gewusst, wenn Sie meine Eltern tatsächlich kennen …«

»Alan und Miriam Djones«, unterbrach Jupitus, »fünfundvierzig beziehungsweise dreiundvierzig Jahre alt. Hochzeit auf der griechischen Insel Rhodos in einem an der Küste gelegenen Orangenhain. Ich gehörte zu den geladenen Gästen. Unvergesslicher Tag«, fügte er ohne jede erkennbare Leidenschaft hinzu. »Der Name ›Djones‹ mit stummem ›D‹ ist selbstredend ungewöhnlich. Ein Sohn« – Jupitus deutete beiläufig auf Jake –, »Jake Archie Djones, vierzehn Jahre, hat keine Ahnung, wer er ist. Ein weiterer Sohn, Philip Leonardo Djones, ist vor drei Jahren im Alter von fünfzehn Jahren verstorben.«

»Halten Sie die Klappe!«, rief Jake und sprang, außer sich vor Wut, auf die Füße.

Jupitus hatte mit geradezu widerwärtiger Nonchalance das einzige Thema angesprochen, das Jake heilig war: seinen älteren Bruder Philip.

»Ich werde hier sofort verschwinden! Von wegen, mit dem Schiff nach Frankreich fahren, mir neugierig in die Augen starren … Sie sind doch total durchgeknallt!« Er warf Jupitus einen wütenden Blick zu, packte seine Schultasche und stürmte mit bebenden Lippen auf die Tür zu. Es kostete ihn einige Kraft, seine Selbstbeherrschung zu wahren.

»Wenn du jetzt gehst, wirst du deine Eltern vielleicht nie wiedersehen!«, verkündete Jupitus mit solchem Nachdruck, dass Jake wie vom Blitz getroffen stehen blieb.

»Wie dir bereits gesagt wurde, wird auch deine Tante hierherkommen«, fügte Jupitus ihn etwas sanfterem Ton hinzu. »Sie wird uns begleiten und kann dir alles erklären. Ihr rechtzeitiges Erscheinen vorausgesetzt, natürlich. Pünktlichkeit war noch nie ihre Stärke.«

Jake drehte sich um. Er war jetzt so verwirrt, dass er kaum noch denken konnte.

»Wenn du deine Eltern wiedersehen willst, wenn du am Leben bleiben willst, hast du in der Tat keine andere Wahl, als mit uns zu kommen«, beendete Jupitus seinen Vortrag mit ernster Stimme.

Jake war schwindelig, aber er hatte zumindest seine Sprache wiedergefunden: »Wo genau in Frankreich fahren Sie hin?«

Zum ersten Mal sah Jupitus Jake mit einem Anflug von Respekt an. »An einen Ort, an dem du mit Sicherheit noch nie in deinem Leben gewesen bist.«

An der Tür ertönte ein lautes Klopfen. »Captain Macintyre«, verkündete eine geschäftsmäßige Stimme.

»Herein«, befahl Jupitus.

Die Tür öffnete sich, und ein stämmiger Mann in der Uniform eines Kapitäns zur See trat ein. Er nickte Jake kurz zu und wandte sich dann an Jupitus.

»Mister Cole, wenn Sie einen Moment erübrigen könnten, damit wir die Koordinaten besprechen können.« Macintyre breitete eine Karte auf Jupitus’ Schreibtisch aus. Sie sah alt aus; die Küste Großbritanniens, die Nordsee und der Ärmelkanal waren darauf zu sehen.

»Wenn wir den üblichen im Osten gelegenen Horizontpunkt nehmen, Sir, könnten wir, so fürchte ich, abgefangen werden«, sagte Macintyre und deutete auf ein Symbol, das aussah wie ein Stern. »Von wirklich jedem, der zur gleichen Zeit dorthin unterwegs ist. Deshalb würde ich vorschlagen, Sir, diesen hier zu nehmen, Südsüdost.«

Ein weiteres Klopfen kam von der immer noch offen stehenden Tür. Ein Matrose salutierte, eine leere Kiste unter den Arm geklemmt. »Verzeihen Sie die Störung, Mister Cole, Sir. Was soll ich aus Ihrem Büro mitnehmen?«, fragte er höflich.

Jupitus ging zu einer Glasvitrine mit alten Büchern darin, öffnete sie und sagte: »Den Galileo natürlich, Newton … und packen Sie auch den Shakespeare ein.«

Er zog ein Buch heraus, und Jake reckte den Hals, um zu sehen, um welches es sich handelte. »Macbeth, neues Stück für das Globe« stand mit verblasster blauer Tinte auf dem Einband geschrieben. Als Jakes Blick auf die ebenfalls handgeschriebene Unterschrift fiel, lief ihm ein Schauer über den Rücken: William Shakespeare.

Jupitus reichte dem Matrosen das Buch. »Was soll’s? Packen Sie einfach alle ein! Gott allein weiß, wann wir wieder zurück sein werden.« Dann nahm er ein Gemälde von der Wand, schloss den dahinterliegenden Safe auf, zog mehrere Bündel uralt aussehender Geldscheine heraus und warf sie in einen Koffer. Als Nächstes fischte er einen prall gefüllten Lederbeutel aus dem Tresor und leerte den Inhalt in seine Hand – funkelnde Diamanten, Smaragde und Turmaline, die er in seine altmodische Geldbörse stopfte, welche er daraufhin ebenfalls in den Koffer warf.

Schließlich holte er den letzten Gegenstand hervor – ein kleines furniertes Holzkästchen, das er mit größter Vorsicht behandelte. Drei Objekte lagen in dem mit Samt ausgekleideten Inneren: in der Mitte ein silbrig glänzendes Gerät, in etwa so groß wie ein Ei, mit einer Unzahl von winzigen Rädchen und Hebeln daran, und links und rechts daneben zwei kleine Fläschchen. Das eine schien aus gewöhnlichem Glas zu bestehen, war glatt und schmucklos; eine graue Flüssigkeit befand sich darin. Das andere hatte wunderschöne Gravuren und musste aus Kristall oder etwas Ähnlichem hergestellt sein. Es beinhaltete eine golden schimmernde Flüssigkeit. Behutsam nahm Jupitus die Kristallphiole heraus und hielt sie ans Licht. Sie war zu einem Viertel gefüllt und glitzerte ätherisch.

Erst jetzt bemerkte er, dass Jake immer noch im Büro war. »Das wäre alles, Mister Djones«, sagte er knapp.

»Ich … Wo soll ich …?«, fragte Jake.

»Warte einfach auf weitere Anweisungen.«

Jake nickte, und noch während er das Büro verließ, sprach Jupitus schon weiter: »Ganz recht, Macintyre, wo waren wir stehen geblieben? Ah ja, die Koordinaten. Südsüdost …«

4

Die Escape

Immer noch verwirrt stolperte Jake zurück in die Bibliothek. Seine Gedanken waren ein heilloses Durcheinander. Die eine Hälfte von ihm, die logische Hälfte, wollte nichts wie weg von diesem verrückten Ort. Wollte seine Tante anrufen, seine Eltern finden, den ganzen Vorfall melden und wieder so etwas wie Normalität herstellen. Die andere Hälfte drängte ihn zu bleiben: herauszufinden, wer diese Leute waren, woher dieser Jupitus seine Eltern kannte und vor allem, weshalb er von seinem Bruder Philip wusste.

Vor beinahe drei Jahren war Philip auf einer Klassenfahrt gewesen: Klettern in den Pyrenäen. Er war damals vierzehn, so alt wie Jake jetzt. Expeditionen waren seine große Leidenschaft – Bergsteigen, Segeln, Kanufahren – und seine Abenteuerlust war unstillbar. Er sehnte sich danach, Wüsten zu durchwandern, Dschungel und Urwälder und unbekannte Orte zu entdecken.

Auf jener Klassenfahrt hatte er sich allein aus dem Staub gemacht, nachts und ohne Erlaubnis, um einen berüchtigten Gipfel zu besteigen, und war nie zurückgekehrt. Die Bergrettung hatte alle Schluchten und Felsspalten abgesucht, aber Philips Leiche wurde nie gefunden. Sein Lachen, das stets das Haus der Djones erfüllte hatte, war verstummt. An seine Stelle war bedrückendes Schweigen getreten, das nur dann und wann vom Klingeln des Telefons unterbrochen wurde. Dann war für einen Moment ein Hoffnungsschimmer in ihren von den vielen durchwachten Nächten übermüdeten Augen aufgeflackert, nur um jedes Mal wieder enttäuscht zu werden, sobald Jakes Eltern den Hörer abhoben. Jake war damals elf gewesen, und der Verlust hatte eine tiefe, unheilbare Wunde hinterlassen.

Doch Jakes Eltern waren stark, und nach dem ersten Schock hatten sie versucht, ihr Leben wieder in geregelte Bahnen zu lenken, hatten sich immer wieder etwas Neues einfallen lassen, um die Stimmung irgendwie aufzuheitern. Doch auch wenn Jake ihre Bemühungen durchaus zu schätzen wusste, hatten sie ihn doch nicht darüber hinwegtrösten können, dass seine Eltern sich von nun an so sehr in ihre Arbeit stürzten und immer öfter zu diesen verdammten Messen fuhren.

Die Tür zum Treppenhaus ging auf, und drei Gestalten traten ein: als Erstes Norland, der rotgesichtige Chauffeur, der sich mit ein paar elegant aussehenden Koffern und mehreren Hutschachteln abmühte. Hinter ihm folgte eine groß gewachsene, elitär wirkende Dame im langen Pelzmantel, an dessen Saum samtig schimmernde Tierschwänze baumelten. Sie musste die Lady sein, die Jupitus als »Ihre Majestät« bezeichnet hatte. Gemeinsam mit Norland durchschritt sie die Bibliothek und verschwand im Durchgang auf der gegenüberliegenden Seite.

Die Dritte war ein Mädchen, bei deren Anblick Jake der Atem stockte. Sein Mund fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an, und seine Augen wurden groß vor Staunen. Das Mädchen hatte einen wachen Blick, ein verspieltes Lächeln um die Lippen, lange goldene Locken fielen über ihre Schultern, und ihre großen Augen, deren Farbe irgendetwas zwischen Blau und Indigo sein mochte, sprühten nur so vor Leben. Sie war zierlich und strahlte eine ruhelose, unbändige Energie aus.

Mit ein paar schnellen Blicken schien sie alles in sich aufzunehmen und die Lage zu analysieren. Als sie Jake sah, eilte sie sogleich auf ihn zu.

»Was ist los? Weißt du was darüber? Nous partons tout de suite? Müssen wir zu einem Einsatz?«

Jake schmolz dahin – ihr französischer Akzent war absolut bezaubernd, und sie plapperte einfach drauflos, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen. Er versuchte, sich ein souveränes Lächeln abzuringen, brachte aber nur ein schiefes Grinsen zustande.

»Zuerst war ich ein wenig sauer, als Mr Norland im Museum auftauchte. Ich hatte noch so viel zu tun«, sprach sie weiter, und Jake wurde schwindelig beim Anblick ihrer leuchtenden Augen. »Ich bin mit meinen Nachforschungen über Tutanchamun gerade an einem wichtigen Punkt angelangt: Il a été assassiné. Ganz ohne Zweifel. Er wurde ermordet. Die forensischen Beweise sind unwiderlegbar.«

Die Art, wie sie sich ohne jede Furcht auch auf die schwierigsten Wörter seiner Muttersprache stürzte, beeindruckte Jake.

»Ich bin sicher, es war dieser allseits hoch geschätzte Buchhalter Horemheb. Und dann kommt Norland und sagt mir, wir müssten sofort los. Hat dir Mister Cole vielleicht irgendwas erzählt?«

»Ähm … nicht direkt«, stammelte Jake und fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar. »Das hier ist alles ziemlich neu für mich.«

Aber das Mädchen hörte schon gar nicht mehr zu und schaute hinüber zu Jupitus’ Bürotür. Der Griff bewegte sich, als würde sie jeden Moment aufschwingen. Dann rief sie zu dem Jungen mit dem Papageien auf der Schulter hinüber, der immer noch wie wild auf seiner seltsamen Schreibmaschine herumtippte: »Charlie, kannst du mir nicht sagen, was los ist?«

»Wenn ich das tue, müsste ich dich danach leider umbringen«, gab er trocken zurück.

Da schien ihr ein Gedanke zu kommen, und sie wandte sich mit gerunzelter Stirn wieder an Jake. »Du hast gesagt, das alles wäre neu für dich?«

Jake nickte.

»Mon Dieu!«, rief sie. »Du musst der Sohn von Alan und Miriam sein!« Sie sah Jake von oben bis unten an und ging einmal im Kreis um ihn herum, um ihn von allen Seiten zu begutachten. »Jetzt sehe ich die Ähnlichkeit. Du hast die Augen deiner Mutter, ganz ohne Zweifel.«

»Ja … ähm … genau. Jake … Normalerweise nennen mich die Leute Jake«, erwiderte er.

»Topaz St. Honoré. Enchantée«, sagte sie und schüttelte Jake erfreut die Hand. Dann veränderte sich ihr Ton wieder. »Auf dem Weg hierher hat Norland mir das mit deinen Eltern erzählt: Mach dir bitte keine Sorgen um sie, sie sind die besten Agenten in der ganzen Organisation und außerdem die nettesten.«

»Ja … schön …«, hörte Jake sich sagen.

»Wie alt bist du? Ich hätte mir dich jünger vorgestellt.«

Jake spürte einen Kloß im Hals und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Tatsächlich? Ich … ich bin fast fünfzehn. Nun ja, nächstes Jahr werde ich fünfzehn. Und du?«, fragte er.

»Beinahe sechzehn. Noch zwei Wochen.«

»Und … und du kommst aus Frankreich?«

»Bien sûr. Wenn auch aus einer anderen Zeit.«

Jake nickte wissend, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon sie redete. Da flog die Bürotür auf.

»Wir haben keine Zeit mehr!«, rief Jupitus. »Nehmt, was immer ihr gerade in der Hand habt, und schifft euch unverzüglich auf der Escape ein!«

»Mister Cole, Sir. Darf ich den Grund für unsere plötzliche Abreise erfahren?«, fragte das Mädchen Topaz und folgte Jupitus durch die Bibliothek.

»Befehl vom Hauptquartier. Wir müssen unverzüglich zum Nullpunkt zurückkehren.« Er gab Charlie den Zettel, auf den er vorhin eilig etwas mit Füller geschrieben hatte. »Telegrafier das an Kommandantin Goethe. Schreib ihr, dass wir auf dem Weg sind, dann pack deine Sachen zusammen.«

»Wurde unser Standort entdeckt?«, bohrte Topaz nach. »Besteht irgendein Zusammenhang zwischen der momentanen Situation und dem Verschwinden der Agenten Djones und Djones?«, fragte sie im Flüsterton weiter, damit Jake es nicht mitbekam.

»Ich tappe ebenso im Dunkeln wie ihr.«

»Ist zu erwarten, dass wir auf einen Einsatz geschickt werden, sobald wir den Nullpunkt erreichen?«

»Ich weiß es nicht.«

Alle stürzten sich in hektische Betriebsamkeit, die uniformierten Männer packten eilig die noch übrigen Kisten und verschwanden damit im Durchgang, und inmitten all des Aufruhrs stand Jake wie angewurzelt.

»Verzeihung, aber was ist mit meiner Tante? Kommt sie jetzt mit oder nicht?«, fragte er Jupitus.

»Sie ist zu spät, und uns läuft die Zeit davon. Sie wurde gewarnt.«

»Ich kann nicht ohne sie mitkommen.«

»Nun, das musst du aber. Um deiner Eltern willen. Anker lichten in drei Minuten.« Dann war Jupitus weg.

Der Junge mit der Brille kam herüber, die eigenartige Schreibmaschine unter den Arm geklemmt, Mr Drake aufgeregt flatternd auf seiner Schulter. »Charlie Chieverley, angenehm«, sagte er zu Jake. »Mister Cole hat recht. In London zu bleiben ist keine Option. Dein weiteres Schicksal wäre mehr als ungewiss. Viel besser, du kommst mit uns«, sprach er weiter, und Mr Drake krächzte, als wollte er Charlies Worte bekräftigen.

Jake fühlte sich, als stünde er an einem Scheideweg. Er dachte an seine Eltern, an seine Tante, an das verrückte Abenteuer, zu dem er gerade eingeladen worden war, und an die Alternative hierzubleiben. »In Ordnung«, sagte er schließlich.

Topaz ergriff Jakes Hand und führte ihn im Eilschritt quer durch die Bibliothek und hinein in einen langen, gewundenen Korridor. An den Wänden waren noch mehr von den alten verblassten Malereien, wie Jake sie auf der Treppe, die von dem Denkmal herunterführte, gesehen hatte – Momentaufnahmen der Geschichte, Zeugnisse längst vergangener Zivilisationen. Eines davon erweckte sein ganz besonderes Interesse. Eine Galeone, die durch einen Sturm auf eine felsige Küste zusegelte, war darauf abgebildet.

»Keine Zeit«, meinte Topaz nur und zog ihn weiter, schneller und immer schneller auf den Ausgang zu, bis sie schließlich unter dem stürmischen Himmel hinaus ins Freie traten.

Jake brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie standen auf einer Kaimauer neben der Themse, krachend schlugen die Wellen gegen die Ufermauern unter ihnen, aber das eigentlich Interessante war das am Kai vertäute Schiff, das mit beängstigender Kraft an seinen Leinen riss. Es war ein robuster, von Wind und Wetter gezeichneter Dreimaster von der Bauart einer alten spanischen Galeone, ganz ähnlich dem, das Jake vorhin auf dem Wandgemälde gesehen hatte. Jahrhunderte zuvor waren heldenhafte Entdecker mit Schiffen wie diesem aufgebrochen, um die Neue Welt zu erforschen. Am Bug prangte eine goldene Galionsfigur, eine Kriegsgöttin, die mit leuchtendem Blick die Arme in Richtung der See streckte. Darunter entdeckte Jake den durch das Meerwasser und die Spuren unzähliger Fahrten beinahe unkenntlich gemachten Namen des Schiffes: Escape.

»Alle Mann an Bord!«, brüllte Jupitus.

In der Hoffnung, vielleicht doch noch seine Tante auftauchen zu sehen, blickte Jake noch einmal zurück auf den Ausgang des Tunnels, und auch Jupitus verharrte noch einen Moment auf dem Kai. Mit ernstem Gesicht betrachtete er den stürmischen Fluss, dessen tosende Wellen im Licht der zuckenden Blitze gleißten und schimmerten. »Gehab dich wohl, geliebtes England«, flüsterte er. Dann rief er: »Leinen los!«, und sprang an Bord.

Genau in diesem Moment kam neben der London Bridge mit quietschenden Reifen ein Taxi zum Stehen.

»Sie kommen zurecht?«, fragte der Fahrer. »Wegen des Sturms, meine ich.«

Eine Frau kam keuchend aus der Beifahrertür herausgeklettert. Sie trug einen langen afghanischen Hirtenmantel, einen Seidenschal um den Kopf, um ihre rote Korkenzieherlockenmähne zu bändigen, und eine große Reisetasche über der Schulter. »Glauben Sie mir, ich habe schon Schlimmeres erlebt«, antwortete sie und schlug die Tür hinter sich zu. »Stellen Sie sich bei Gelegenheit mal während eines Gewitters wie diesem mitten auf ein Schlachtfeld, kurz bevor die preußische Kavallerie angreift. Dann wissen Sie, was ein richtiger Sturm ist! Und behalten Sie das Wechselgeld. Dort, wo ich hingehe, werd ich’s nicht brauchen«, sagte sie noch und reichte dem Fahrer ein Bündel Scheine.

»Wenn Sie es sagen, Madam«, erwiderte der Taxifahrer mit sichtlich erfreutem Gesichtsausdruck.

Aber die Frau hörte ihn nicht mehr, denn sie lief bereits mit wehendem Mantel die Stufen zur Kaimauer hinunter, wo sie plötzlich, bleich vor Schreck, stehen blieb. »Wartet auf mich!«

Jake horchte auf – die Stimme war unverkennbar. Sofort rannte er zur Reling.

»Rose!«, rief er, so laut er konnte, und fuchtelte so wild mit den Armen, dass er beinahe über die Reling gefallen wäre. »Du musst springen!«

Mehrere Crewmitglieder eilten an Jakes Seite und schrien durcheinander.

Rose atmete einmal tief durch. »Okay, okay. Ich versuch’s.« Sie warf ihre Reisetasche in hohem Bogen durch die Luft; einer der Matrosen fing sie auf. Dann nahm sie ein paar Schritte Anlauf und rannte los. Mit einem Schrei stieß sie sich vom Pier ab, aber der Sprung war zu kurz – Rose krachte gegen den Rumpf und bekam gerade noch mit einer Hand die Reling zu fassen.

Ihr Griff lockerte sich bereits, da packte einer der Matrosen sie am Arm. Die Adern an seinem Hals traten hervor, als wollten sie platzen, und er zog die Frau an Bord.

Rose sank aufs Deck und blieb liegen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich wie eine Ziehharmonika, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich blickte sie lachend zu Jake auf. »Gott sei Dank hab ich’s noch rechtzeitig geschafft!«

Die Matrosen hatten ihr kaum auf die Beine geholfen, da warf sie schon die Arme um Jakes Hals. »Du musst ja völlig durcheinander sein, du Ärmster«, keuchte sie, dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich, und sie stand stocksteif da.

Jake drehte sich um und sah Jupitus Cole, der hinter ihnen stand. »Rosalind Djones. Immer für einen dramatischen Auftritt gut, nicht wahr?« Mit durchdringendem Blick starrte er sie an. »Wir wären auch ohne Sie losgefahren.«

Rose reckte ihr Kinn vor. »Freut mich auch, Sie zu sehen – nach fünfzehn Jahren«, gab sie gereizt zurück. »Dafür, dass ich gerade mal eine Stunde Zeit hatte, mein ganzes Leben in diese Reisetasche hier zu packen, bin ich eigentlich ziemlich früh dran, finde ich.«

Jake beobachtete die beiden. Sie schienen einander ungefähr so anziehend zu finden wie zwei gleichpolige Magneten.

Da beugte Rose sich näher an Jupitus heran. »Am Telefon wollten Sie es ja nicht sagen«, flüsterte sie ihm ins Ohr, damit Jake nichts hörte, »aber könnten Sie mir jetzt endlich verraten, wo Alan und Miriam eigentlich hingeschickt wurden?«

Jake spitzte angestrengt die Ohren.

»Wie ich bereits erwähnte«, erwiderte Jupitus aalglatt, »ist diese Information streng geheim …«

»Streng geheim? Papperlapapp! Diese Ausrede hat bei mir noch nie funktioniert. Wo sind sie?«, insistierte Rose. »Erzählen Sie mir nicht, Sie wären es nicht selbst gewesen, der sie auf diesen Einsatz geschickt hat!«

»Auf diesen Einsatz geschickt?!«, rief Jupitus entrüstet aus. »Nichts läge mir ferner, als Alan und Miriam Djones wieder in den Dienst der Organisation zu nehmen!«

»Sagen Sie mir einfach, wo sie sind«, ließ Rose nicht locker. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und blickte Jupitus direkt in die Augen. »Sagen Sie es mir!«

»In Venedig«, antwortete Jupitus schließlich mit einem Seufzen. »Im Jahr 1506.«

Rose begrub das Gesicht in den Händen, und Jakes Verstand drehte sich wie ein Jahrmarktkarussell. Was in aller Welt konnten die Worte dieses Mr Cole zu bedeuten haben?

Jupitus bedachte Rose mit einem dünnlippigen Lächeln. »Willkommen an Bord«, sagte er und warf einen Blick auf seine Uhr. »Dinner und Atomium in dreißig Minuten.« Damit drehte er sich um und stolzierte auf eine schmale Treppe zu, die unter Deck führte. »Und in der Zwischenzeit erklären Sie dem Jungen besser, wer er ist und warum er hier ist. Er glaubt mir kein Wort. Alle Mann auf die Stationen«, fügte er noch hinzu und verschwand.

Die Escape nahm Fahrt auf und segelte auf die Tower Bridge zu. Jake nahm seine Tante beiseite. »Rose, was ist hier eigentlich los? Ich verstehe kein Wort von dem, was hier geredet wird. Wo sind Mom und Dad?«

Rose wühlte in ihrer Reisetasche und zog ein verknittertes Taschentuch heraus, mit dem sie sich den Schweiß von der Stirn tupfte. »Nie hätte ich geglaubt, jemals wieder einen Fuß auf diese alten, vermoderten Schiffsplanken zu setzen. Fünfzehn Jahre ist es jetzt her«, sagte sie und blickte sich um.

»Du warst schon mal auf diesem Schiff?«, fragte Jake verdutzt.

»O ja! Ich war damals kaum älter als du und habe eine ganze Menge Zeit damit verbracht, von genau dieser Stelle aus aufs Meer hinauszuschauen«, erinnerte sie sich. »Unsere letzte Reise führte nach Istanbul. Oder vielmehr Konstantinopel, wie es damals noch hieß. War ein gefährliches Unterfangen.«

Sie blickte auf, während der Sturm weitertobte und der Regen mit neuerlicher Wucht auf sie niederprasselte.

»Lass uns unter Deck gehen, und ich werde versuchen, dir alles zu erklären«, sagte Rose und nahm Jake am Arm, während Captain Macintyre die Escape die Themse hinauf in Richtung Ärmelkanal steuerte.