Jake Djones - Die Dynastie des Bösen - Damian Dibben - E-Book

Jake Djones - Die Dynastie des Bösen E-Book

Damian Dibben

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Beschreibung

Die Menschheit ist in Gefahr - und nur Jake Djones kann sie retten!

Jake Djones wagt erneut die gefährliche Reise in die Vergangenheit – ins Elisabethanische England Shakespeares, wo überall Mord und Verrat lauern, und weiter bis ins geheimnisvolle chinesische Kaiserreich. Die Hüter der Zeit sind auf der Jagd nach Xiang Xi, ihrem bislang mächtigsten Gegner, dessen grausames Ziel es ist, alle globalen Handelsrouten zu zerschlagen und den größten Teil der Weltbevölkerung auszulöschen. Mitten im Herzen dieses Konflikts liegt auch der Weg zu einem lange vermissten Familienmitglied: Wird Jake nach all der Zeit nun doch noch seinen geliebten Bruder wiedersehen?

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Seitenzahl: 379

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Damian Dibben

Jake Djones

Die Dynastie des Bösen

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Michael Pfingstl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The History Keepers. Night Ship to China« bei Doubleday, an imprint of Random House Children’s Books, a Random House Group Company, London.© 2013 by Damian Dibben

© der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Penhaligon Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-12360-4V002www.penhaligon.de

Für meinen Bruder Justin

und alle Brüder und Schwestern der Lowrys & Ansteys – für Wärme, Witz und Weisheit

1

Der sensationelle Geheimdienst

Der Tag, an dem der Tod nach Mont Saint-Michel kam, begann mit dem größten Fest, das die Insel je gesehen hatte. Es war Juni und heiß, der Himmel war wolkenlos, die See spiegelglatt, und das ganze Schloss war anlässlich der Hochzeit zweier Agenten mit duftenden Blumen geschmückt. Auf einer Wiese standen Stühle für die knapp einhundert Gäste bereit, die hier im Jahr 1820 aus allen Ecken der Geschichte zusammengekommen waren und sich in den verschiedensten Sprachen unterhielten.

Miriam Djones schob sich aufgeregt durch die Menge. Sie trug ein ausladendes Rüschenkleid und einen reichlich exotischen, mit Früchten und Palmblättern verzierten Hut. »Hat irgendjemand Jake gesehen?«, fragte sie, erhielt aber nur Kopfschütteln oder Achselzucken als Antwort. »Er ist als einer der Platzanweiser eingeteilt«, fügte sie leicht gereizt hinzu.

»Jemand ist in der Waffenkammer und veranstaltet einen ziemlichen Lärm«, sagte endlich einer der umstehenden Männer. Er trug ein Kreuzritterkostüm und nippte genüsslich an seinem Champagnercocktail. »Vielleicht ist er ja dort.«

Miriam bedankte sich mit einem knappen Nicken, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte im Stechschritt zu einem der Außengebäude, wo die Agenten Kampf- und Schwerttechniken übten. Im Näherkommen hörte sie die Musik, die in ohrenbetäubender Lautstärke aus der Waffenkammer dröhnte: Wagners Ritt der Walküren. Jake war also dort. Seit Wochen hörte er nichts anderes als das aufpeitschende Orchesterstück. Miriam wurde rot vor Zorn und stürmte nach drinnen.

In einer Ecke stand ein Grammophon, das natürlich noch gar nicht erfunden war, genauso wenig wie die Lautsprecher, aus denen die Musik brüllte. Kommandantin Goethe war jedoch selbst eine leidenschaftliche Musikliebhaberin, und deshalb gestattete sie unter gewissen Auflagen solch eine Benutzung der Geräte.

Am anderen Ende des Raums sah Miriam einen fünfzehnjährigen Jungen, der sich, nur mit Kniehosen und einem weiten Hemd bekleidet, ein Schwertduell mit einem Roboter lieferte. Der Gegner bestand ganz aus Metall und hatte acht Arme, die mit unfassbarer Geschwindigkeit hieben, schlugen und stachen. Der Junge parierte ebenso schnell, und aus der Entfernung sah es beinahe aus, als hätte er ebenfalls acht Arme. Einziger anderer Zuschauer war ein bulliger Mastiff, der jede Bewegung seines Herrn genau verfolgte.

»Jake!«, schrie Miriam über den Lärm der Walküren hinweg, stampfte auf das Grammophon zu und klappte mit einem Ruck den Tonabnehmer hoch. Die Nadel kratzte so schauerlich über das Schellack, dass der Mastiff die Ohren anlegte.

»Jake!«

»Mum …« Endlich drehte sich Jake zu ihr um. »Ich hab dich gar nicht kommen hören.«

Miriam musste zweimal hinschauen. Ihr Sohn wuchs in letzter Zeit so schnell, dass er jedes Mal, wenn sie ihn sah, ein Stückchen erwachsener wirkte. Er war erst vor drei Monaten fünfzehn geworden und schien seitdem schon wieder ein paar Zentimeter in die Höhe geschossen zu sein.

»Stimmt was nicht?«, fragte Jake, während der Roboter in seinem Rücken unvermindert seine Hieb- und Stichbewegungen machte.

»Und ob was nicht stimmt«, erwiderte Miriam. »In fünf Minuten beginnt die Hochzeit deiner Tante! Du bist einer der Platzanweiser und hast dich noch nicht mal umgezogen … Pass auf, Jake!«, kreischte sie plötzlich, als von hinten eine Klinge auf ihren Sohn niedersauste, doch Jake wich mühelos aus.

»Ich hasse diese Dinger«, schnaubte Miriam und schaltete den Roboter ab. »Hochzeit, jetzt!«, fügte sie mit einem Fingerschnippen hinzu und verschwand wieder nach draußen.

Rose Djones liebte Indien und alles, was damit zu tun hatte. Für ihre Hochzeitsfeier hatte sie sich das Motto »Im Indien der Moguln« ausgedacht, weshalb für alle Platzanweiser traditionelle indische Gewänder vorbereitet worden waren – in Jakes Fall ein seidener Turban und eine knielange Kurta, die er nun eilig anlegte.

Die Hochzeit zwischen Rose Djones und Jupitus Cole war für alle eine große Überraschung gewesen. Die beiden hatten einander stets gehasst. Jupitus, der mürrische Pedant, und Rose, die temperamentvolle Lebefrau. Ein gemeinsamer Einsatz im antiken Rom, an dem auch Jake teilnahm, hatte das jedoch gründlich geändert, und jetzt wurde geheiratet.

»Komm, Felson«, rief Jake seinem Mastiff zu, und sie gingen gemeinsam nach draußen. Jake ließ den Blick über die Hochzeitsgäste schweifen. Wenn mehrere Abordnungen der Geschichtshüter auf Mont Saint-Michel zusammenkamen, verschlug es ihm jedes Mal den Atem, aber so viele auf einmal hatte er noch nie gesehen. Es waren Gäste aus dem Amerika der Kolonialzeit da, aus dem Peru der Inka, aus dem China der Kaiserzeit und sogar aus dem Indien der Moguln – Verwandte Dr. Chatterjus, des Leiters der Entwicklungsabteilung.

Jake sah eine stattliche Frau in einem elisabethanischen Kleid, die sich Zigarillo rauchend mit einem sehnigen Musketier unterhielt. Zwei junge französische Adlige mit gepuderten Perücken versuchten, mit ihren silbernen Taschenuhren zwei persische Brautjungfern zu beeindrucken, die prompt erröteten.

Jake selbst war erst vor anderthalb Jahren in den Geheimdienst der Geschichtshüter berufen worden. Damals hatte er staunend feststellen müssen, dass seine Eltern schon seit Jahrzehnten im Verborgenen für die Organisation arbeiteten und irgendwo im Venedig des sechzehnten Jahrhunderts verschollen waren. Er hatte sich heimlich dem Rettungsteam angeschlossen und nicht nur seine Eltern gefunden, sondern gemeinsam mit den anderen Agenten auch Prinz Zeldts finstere Pläne vereitelt. Nach diesem Anfangserfolg hatte der nächste Einsatz nicht lange auf sich warten lassen: Zeldts Schwester Agata, vom Geheimdienst auch die böseste Frau der gesamten Menschheitsgeschichte genannt, verfolgte ihre eigenen teuflischen Machenschaften, und Jake wurde mit einem Team ins Jahr 27 geschickt, um sie aufzuhalten. Das Römische Reich befand sich zu der Zeit gerade auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Mission gelang, aber beinahe noch wichtiger war für Jake die Entdeckung, dass sein Bruder Philip, der angeblich mit fünfzehn bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen war, ebenfalls zu den Geschichtshütern gehört hatte und eine, wenn auch geringe, Chance bestand, dass er irgendwo in der Vergangenheit noch am Leben war.

All das ging Jake durch den Kopf, als er schnellen Schrittes auf eine Gruppe von drei Agenten zuhielt. Sie waren etwa in seinem Alter und ebenso als Platzanweiser eingeteilt wie er. Im Moment standen sie allerdings nur beisammen und unterhielten sich angeregt. Der größte der Gruppe hatte den Körperbau eines Athleten und ein umwerfendes Lächeln. Den Krummsäbel an seinem Gürtel hatte er auf Hochglanz poliert, und an seinem Turban funkelte ein übergroßer Rubin. Sein Gegenüber schien weit weniger Wert auf Äußerlichkeiten zu legen und machte einen eher zurückhaltenden, fast schon intellektuellen Eindruck. Vielleicht lag das aber auch nur an der Brille oder dem Papagei auf seiner Schulter. Das Mädchen neben ihm hatte sich das honigblonde Haar zu kunstvollen Zöpfen geflochten; der Blick ihrer indigoblauen Augen war warmherzig und geheimnisvoll.

Die drei waren die besten Freunde, die Jake je gehabt hatte: Nathan Wylder, Charlie Chieverley mit seinem Rettungspapagei, den er Mr. Drake nannte, und Topaz St. Honoré.

»Was ich wissen möchte, ist«, sagte Nathan mit seinem unverkennbaren weichen Südstaatenakzent, »ob ich mit Augengläsern intelligenter wirke oder einfach nur kurzsichtig.«

»Kurzsichtig, würde ich sagen«, antwortete Charlie und schob seine Brille zurecht.

»Sieht aus, als würdest du sonst schielen«, fügte Topaz hinzu.

»Macht euch nur über mich lustig«, schnaubte Nathan. »Was meinst du, Jake? Besser mit oder ohne?« Nathan setzte das Gestell wieder auf und hob fragend die Augenbrauen.

»Brauchst du das Ding denn?«, fragte Jake.

»Natürlich nicht. Niemand sonst auf dieser Insel hat so scharfe Augen wie ich. In einer klaren Nacht kann ich rüber bis nach England sehen oder die Ringe des Saturn zählen. Trotzdem frage ich mich, ob sie meinem Auftreten nicht vielleicht das gewisse Etwas verleiht. Dieses je ne sais quoi, wie die Franzosen sagen.«

Noch während Jake überlegte, was er davon halten sollte, warf Charlie ein: »Er will eine geheimnisvolle Schöne vom Festland beeindrucken.«

»Genau«, bestätigte Topaz. »Nachdem er sein Leben lang nichts anderes getan hat, als die Herzen unschuldiger Mädchen zu brechen, ist es nun endlich einmal umgekehrt.«

»Das sind unerhörte und vollkommen haltlose Anschuldigungen. Keine Ahnung, was heute in euch alle gefahren ist. Anscheinend steigt euch die Hochzeit zu Kopf«, brummte Nathan und nestelte ungehalten an seiner Uniformjacke herum, bis sich der Säbelknauf in den Tressen verfing. Als er versuchte, ihn wieder freizubekommen, löste sich die Rubinnadel von seinem Turban und fiel zu Boden, und der komplette Kopfschmuck entrollte sich auf Nathans Schulter. Wütend sammelte er alles wieder notdürftig zusammen und stampfte davon.

»Wer ist denn die Glückliche?«, rief Jake ihm hinterher.

»Und wann werden wir die geheimnisvolle Schönheit endlich einmal zu Gesicht bekommen?«, ergänzte Topaz. Als Adoptivtochter der Wylders war sie gemeinsam mit Nathan auf Mont Saint-Michel aufgewachsen, und die beiden kannten die Schwächen des jeweils anderen so gut, wie es nur unter Geschwistern möglich ist. »Wie toll man Nathan aufziehen kann, wenn er zur Abwechslung mal etwas ernst meint …«, murmelte sie zufrieden.

Die jungen Agenten wollten sich gerade daranmachen, endlich ihren Pflichten als Platzanweiser nachzukommen, da rief jemand: »Könnte einer von euch mir einen Gefallen tun?«

Kommandantin Galliana Goethe kam mit Madame Tieng, der Chefin des Pekinger Büros, herbeigeeilt. Tieng und einige ihrer Agenten hatten vor einem Jahr Zuflucht auf Mont Saint-Michel gesucht, nachdem das Hauptquartier in China überfallen und zerstört worden war.

»Meine Tochter ist schon wieder verschwunden«, seufzte Madame Tieng und wedelte wie im Zeitraffer mit ihrem Fächer.

»Die Zeremonie beginnt gleich«, fügte Galliana hinzu. »Wenn einer von euch sie möglichst schnell finden und hierherholen könnte?«

»Am besten geht einer von euch beiden«, erwiderte Topaz etwas ungehalten an Jake und Charlie gewandt. »Wenn ich zu Miss Yuting sage, sie möge sich doch bitte ihren Pflichten widmen, versteckt sie sich wahrscheinlich im Weinkeller.«

»Ich kann nicht«, erklärte Charlie. »Die Torte wird gerade geliefert, und ich bin für die Qualität des Nachtischs verantwortlich.«

In diesem Moment teilte sich die Menge ein Stück weiter vorn mit ehrfürchtigem Raunen vor zwei Männern, die ein riesiges Kunstwerk aus Sahne, Teig und Zuckerguss heranschleppten. Die Torte war eine exakte Nachbildung der Insel, und auf der Spitze des höchsten Schlossturms thronte das Hochzeitspaar.

»Nun, Jake? Wärst du so freundlich …?«, fragte Galliana.

»Ich? Äh, ja, natürlich«, antwortete Jake und riss den Blick von der Torte los.

Er machte sich sofort auf den Weg zum Schloss, und Felson begleitete ihn. Miss Yuting war zwar schon seit über einem Jahr hier, aber Jake wurde nicht recht schlau aus ihr. Ihre Gegenwart machte ihn stets nervös, und auch jetzt hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Bei den Geschichtshütern gab es jede Menge Exzentriker, aber Madame Tiengs Tochter stellte sie alle in den Schatten. Sie war stur wie ein Esel, mutig wie eine Löwin und unfassbar schön. Eigentlich war sie genauso alt wie Jake – ihren fünfzehnten Geburtstag hatten sie in derselben Woche gefeiert –, aber neben der selbstsicheren Chinesin kam Jake sich jedes Mal vor wie ein kleiner Schuljunge. Sich ihrer aristokratischen Ausstrahlung voll und ganz bewusst, bestand sie darauf, dass alle die formelle Anrede »Miss Yuting« benutzten – außer Jake, dem sie vor Kurzem angeboten hatte, ihren Kosenamen Yoyo zu verwenden. Jake wusste nicht recht, womit er diese Ehre verdient hatte. Yoyo war nicht nur schön, sondern auch klug. Sie war eine hervorragende Kämpferin und Codeknackerin, sprach mindestens so viele Sprachen wie Charlie (ihr Englisch war wie das ihrer Mutter praktisch akzentfrei), konnte zeichnen wie Michelangelo, spielte Harfe und Dudelsack und noch ein Dutzend andere Instrumente … Ihr gelang einfach alles, was sie anpackte, und es gab nichts, das sie nicht konnte. Außer Freunde finden.

Yoyo hatte kaum den Fuß auf die Insel gesetzt, da trat sie schon ins erste Fettnäpfchen. Topaz war zum Pier gekommen, um die Flüchtlinge aus China willkommen zu heißen, da drückte Yoyo ihr in der Annahme, Topaz sei eine Kammerdienerin, ihren Mantel in die Hand und befahl ihr, ein Bad einzulassen. Mit den anderen war die erste Begegnung nur wenig besser verlaufen, und außerdem ließ Yoyo es sich nicht nehmen, sich ständig über Nathans Kleidungsgeschmack lustig zu machen oder Charlies Kochkünste infrage zu stellen. Jake war der Einzige, zu dem sie nett war, und er hatte keine Ahnung, warum.

Nachdem er sämtliche Zimmer, Säle und Gänge abgesucht hatte, fand er Yoyo schließlich auf dem Dach, wo sie ganz oben über einem geöffneten Turmfenster stand. Er streckte den Kopf durch das Fenster und blickte zu ihr hinauf. »Miss Yuting?«

Ihre Silhouette flimmerte in der Hitze, die von den Dachschindeln aufstieg. »Hab ich dir nicht gesagt, du sollst mich Yoyo nennen?«, rief sie zurück.

»Warte hier, Felson.« Jake nahm seinen Turban ab und kletterte zu ihr hin. Auf den steilen, teilweise lockeren Schindeln zu balancieren war alles andere als einfach. Jake blickte etwas nervös hinunter auf die Hochzeitsgesellschaft, die bereits die zugewiesenen Plätze einnahm.

»Ich glaube, die Trauung fängt jeden Moment an«, sagte er und tastete sich vorsichtig näher heran. Yoyo stand mit dem Rücken zu ihm und zog gerade die Gurte an ihren Schultern fest, an denen ein pyramidenförmiges, mit Segeltuch bespanntes Bambusgerüst befestigt war.

»Was tust du da?«, fragte Jake.

»Einen Fallschirm testen«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. »Ich habe ihn nach einer Skizze von Leonardo da Vinci gebaut. 1485 ist schon mal jemand mit so einem gesprungen, also mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Ich werd’s von dort versuchen.« Yoyo deutete auf ein schmales Sims unterhalb.

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, hörte Jake sich fragen und erschrak über das dünne Krächzen, das aus seiner Kehle drang. »Ich meine«, fügte er eine Oktave tiefer hinzu, »es sieht nicht ganz ungefährlich aus.«

Immerhin hatte Yoyo vor, sich mit nichts als ein paar Bambusstangen und einem Stück Segeltuch als Lebensversicherung knapp einhundert Meter in die Tiefe zu stürzen.

Yoyo drehte ihm lächelnd den Kopf zu. »Wenn es nicht gefährlich wäre, dann wäre es ja langweilig«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.

Jake war hin und weg von ihrem Anblick: alabasterfarbene Haut, Augen so grün wie Smaragde und dazu tiefrote Lippen. Mit dem Kleid aus Korallenseide und dem Schwertgürtel um die schmale Taille sah sie aus wie eine Prinzessin aus einer chinesischen Sage.

»Wünsch mir Glück«, sagte sie und trat hinaus auf das Sims.

Jake blickte nach unten, und vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild auf: Yoyo, die unter ihrer zerfetzten Fallschirmkonstruktion begraben tot zwischen den Hochzeitsgästen lag.

»Miss Yuting«, wiederholte er, »ich halte das wirklich für keine gute Idee!«

Yoyo hob das Pyramidengestell über den Kopf. »Ab jetzt springe ich jedes Mal, wenn du mich so nennst«, erwiderte sie und ließ sich vornüberfallen.

Jake hörte aufgeregte Rufe von unten und eilte an die Dachkante, wo die Hochzeitsgäste aufgeregt von ihren Stühlen aufsprangen und in den Himmel deuteten. Dann sprang sein Blick zurück zu Yoyo, die in einem eleganten Bogen nach unten segelte und direkt neben der Festgesellschaft landete. Dort angekommen, löste sie die Gurte, strich ihr Kleid glatt und setzte sich, als wäre nichts gewesen.

Jake sah noch, wie Miriam den Kopf über den Auftritt der jungen Chinesin schüttelte, da entdeckte sie ihn oben auf der Turmspitze und warf fassungslos die Hände in die Luft. Jake balancierte über die Dachschindeln zurück, pfiff nach Felson und rannte los. Er wollte die Abkürzung über den Prunksaal nehmen und stieß mit Schwung die großen Flügeltüren auf. Da sah er das Raubtier in der Mitte des Raums sitzen: Josephine, Oceane Noires »zahme« Löwin.

Jake mochte Josephine nicht. Niemand auf der gesamten Insel tat das – außer ihrer Besitzerin. Schon als Jungtier war Josephine eher verschlagen als verspielt gewesen, aber jetzt war sie unberechenbar und gefährlich. Charlie, der große Tierliebhaber, hatte alles versucht. Er hatte für sie gekocht und sie auf lange Spaziergänge mitgenommen, und als Dankeschön hatte Josephine ihn in die Hand gebissen. Seit dem Vorfall bestand Kommandantin Goethe darauf, dass die Löwin außerhalb von Oceanes Gemächern stets angeleint war. Jake hatte sie seit Wochen nicht mehr zu Gesicht bekommen, und jetzt sah sie grimmiger aus denn je.

»Wo ist denn dein Frauchen?«, fragte er möglichst ruhig. »Sie ist doch bestimmt auf ihrem Zimmer …« Oceane schloss sich seit Wochen in ihrer Suite ein und wollte nicht das Geringste mit der Hochzeit zu tun haben. Sie hatte Jupitus immer noch nicht verziehen. In ihren Augen war es nichts weniger als Hochverrat, dass er nun statt Oceane ausgerechnet ihre Erzrivalin Rose heiratete.

Jake ging vorsichtig auf die Löwin zu in der Absicht, sie irgendwie dazu zu bewegen, sich in Oceanes Zimmer zu verziehen. Als Josephine sich jedoch knurrend erhob und ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen fixierte, blieb Jake wie angewurzelt stehen und ließ den Blick über die an den Wänden aufgereihten Waffen schweifen. In Gedanken fragte er sich schon, welche davon er am besten nehmen sollte, da wackelte Josephine gelangweilt an ihm vorbei und durch die offen stehende Tür nach draußen.

Jake atmete einmal kurz durch, dann eilte er hinterher. Als er an der Haupttreppe ankam, war die Raubkatze nirgendwo mehr zu sehen.

»Wo ist sie hin?«, fragte er Felson, aber der Mastiff schien genauso verblüfft wie er selbst. Lautlos und mit einem flauen Gefühl im Magen schlich Jake die Treppe hinunter. Josephine durfte auf keinen Fall frei auf der Insel herumstromern. Schon gleich gar nicht, wenn so viele Gäste hier waren. Er musste jemanden alarmieren, und das schnell, also rannte er los und lief auf direktem Weg zur Wiese, aber als er dort ankam, hatte das Orchester gerade angefangen, einen indischen Hochzeitsmarsch zu spielen.

»Wo zum Teufel warst du, und was hattest du oben auf dem Dach zu suchen?«, flüsterte Miriam wütend, als Jake in der ersten Reihe neben ihr Platz nahm.

»Galliana hat mir aufgetragen, Yoyo zu suchen … ich meine: Miss Yuting.« Jake zuckte die Achseln. »Das hat eben eine Weile gedauert. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie sich vom Turm stürzen würde, oder?« Sein Tonfall war genauso grob wie Miriams – wie so oft in letzter Zeit, wenn sie sich unterhielten. »Aber das ist jetzt auch gar nicht mehr wichtig. Hör zu: Ich mache mir Sorgen wegen Josephine. Sie …«

»Zieh dich gefälligst ordentlich an«, fiel Miriam ihm ins Wort, zerrte Jakes Turban aus seiner Hosentasche und warf Yoyo einen missbilligenden Blick zu. »Das Mädchen ist eben nicht ganz richtig im Kopf.«

Jake setzte den Turban wieder auf und hoffte einfach, dass die Löwin freiwillig in Oceanes Suite zurückgekehrt war.

Vier Männer kamen mit einer blumengeschmückten Sänfte heran, und es erhob sich tosender Applaus. In der Sänfte lag, auf Samtkissen gebettet, Rose Djones in einem leuchtend roten Seidengewand. Sie sah aus wie eine indische Prinzessin. Ihr heiß geliebter, aus alten Teppichflicken zusammengenähter Schulterbeutel störte den Anblick nur minimal.

»Ich muss den Verstand verloren haben«, flüsterte sie Miriam zu, als die Sänfte an ihnen vorbeikam, »einen Mann zu heiraten, der jeden Tag seine Socken bügelt, bevor er ins Bett geht …«

Miriam lachte herzhaft. Die kleine Auseinandersetzung mit ihrem Sohn hatte sie bereits vergessen und drückte Jake vergnügt die Hand.

Die Träger setzten die Sänfte vorsichtig ab, und Alan geleitete seine Schwester zum Altar, wo Jupitus bereits mit einem säuerlichen Lächeln wartete, als könnte er es sich in letzter Sekunde doch noch anders überlegen. Dann begann die Zeremonie: die feierliche Hochzeit zwischen Rosalind Aurora Djones und Jupitus Tarquin St.-John Seneca Cole.

Jupitus zog gerade die Ringe aus der Reverstasche, da stellte Felson die Ohren auf und knurrte Richtung Buffettisch. Die darübergebreitete weiße Decke reichte bis zum Boden, und Jake sah, wie sie sich leicht bewegte – jemand oder etwas schlich darunter umher. Schon im nächsten Moment kam Josephine unter dem Tisch hervor. Jake war der Einzige, der es sah, denn die Blicke der anderen ruhten andächtig auf dem Hochzeitspaar. Die Löwin blieb kurz stehen und starrte Jake an, da entdeckte eine von Dr. Chatterjus Nichten das Raubtier und schrie aus vollem Hals. Die Hochzeitsgäste zuckten zusammen, und nachdem alle gesehen hatten, was das kleine Mädchen so erschreckt hatte, brüllten auch sie.

Josephine war einen Moment lang verwirrt, dann preschte sie los – auf Braut und Bräutigam zu. Nach einem letzten Schlenker hatte sie Rose zu ihrem Opfer auserkoren, und die beiden Ringe, von denen der eine schon halb auf dem Finger steckte, flogen in hohem Bogen durch die Luft, als Rose entsetzt die Arme hochriss. Josephines Kiefer schnappten zu, ihre Fangzähne zerfetzten die rote Seide, und Rose wurde von den Beinen gerissen wie eine Spielzeugpuppe.

2

Tod auf der Insel

Rose sprang panisch auf Jupitus’ Arme. Sie zitterte am ganzen Leib, während Josephine angewidert die Stofffetzen ausspuckte.

Endlich erwachte die Menge aus ihrer Schockstarre und stürzte sich auf die Löwin. Josephine fuhr herum, floh schlitternd übers Gras, krachte gegen den Buffettisch, und die Tortenminiatur von Mont Saint-Michel fiel klatschend zu Boden.

»Alles in Ordnung? Bist du verletzt, Rose?« Jupitus’ Stimme bebte beinahe genauso stark wie die verhinderte Braut.

Rose blickte an sich hinab. Das Kleid war hinüber, und sie blutete am Arm, aber ansonsten schien ihr nichts passiert zu sein.

»Nicht einen einzigen Tropfen Blut soll diese Bestie mehr vergießen«, polterte Jupitus. »Eine Pistole! Hat jemand eine Pistole dabei?« Nachdem keine Antwort kam, stürmte er in die Waffenkammer und überließ Rose einstweilen der Obhut von Jakes Eltern.

Nathan zog seinen Säbel, Yoyo ein Stiefelmesser, und die unbewaffnete Topaz behalf sich mit einem Kerzenhalter aus Messing. Zu dritt umkreisten sie die Löwin, während die mit ihren mächtigen Pranken die Zuckerguss-Miniaturen des Brautpaars pulverisierte. Nathan stürzte als Erster vor; Josephine wich aus und sprang auf den Buffettisch. In einer Lawine aus klirrendem Porzellan, durcheinanderfliegendem Besteck und zermatschten Buffet-Köstlichkeiten rutschte sie weiter, kam vor einer Hirschkeule zum Stehen und schnappte sich den Leckerbissen. Nathan setzte mit erhobenem Säbel nach, aber so leicht war Josephine nicht beizukommen – sie ließ die Hirschkeule fallen, sprang vom Tisch und flüchtete auf die untere Terrasse.

»Wo ist dieses Weibsbild?«, brüllte Jupitus, der mit einer Pistole in jeder Hand aus der Waffenkammer zurückgerannt kam. »Oceane! Oceane Noire!« Jake hatte ihn noch nie so rot im Gesicht gesehen.

»Wenn Ihr so freundlich wärt …«, sagte Nathan, nahm Jupitus eine der Pistolen ab und eilte Josephine hinterher. Mr. Cole, Topaz und Yoyo folgten ihm direkt auf den Fersen.

»Wartet auf mich«, rief Charlie und kam mit Mr. Drake auf der Schulter hintendrein. »Die Angelegenheit müsste sich doch auch ohne Blutvergießen regeln lassen!«

»Ich komme auch!«, brüllte Jake und griff sich ein Schwert.

»Sie sind schon mehr als genug«, sagte Miriam und versuchte, sich ihrem Sohn in den Weg zu stellen. »Überlass die Angelegenheit lieber den Profis.«

»Ich bin einer von den Profis«, erwiderte Jake verärgert und schob sich an ihr vorbei.

Er holte die anderen erst ein, als sie schon unten am Strand waren. Ein schmaler Weg bog nach rechts ab. Zwischen den zerklüfteten Felsen auf der einen Seite und dem matschigen Ufer auf der anderen führte er ein gutes Stück um die Insel herum. Er war so eng, dass die Agenten nur im Gänsemarsch gehen konnten. Daran, dass Josephine hier entlanggekommen war, bestand kein Zweifel: Die Abdrücke ihrer mit Tortenüberresten beschmierten Pranken waren nicht zu übersehen. Das Gelände war jedoch alles andere als übersichtlich, und sie rechneten jederzeit damit, dass die Löwin sich aus dem Hinterhalt auf sie stürzen würde. Keiner sprach ein Wort. Schließlich erreichten sie eine Stelle am Steilufer, wo ein Durchgang zu dem geheimen Hafen im Inneren der Insel führte, in dem die Flotte der Geschichtshüter vor Anker lag. Von der Tür am Eingang des Tunnels war nicht mehr viel übrig. Josephine hatte sie zerschmettert.

Nathan tastete sich mit der Pistole im Anschlag durch das klaffende Loch und sah sich um. Nachdem er sicher war, dass die Luft rein war, bedeutete er den anderen, ihm zu folgen.

Selbst in dieser angespannten Situation durchlief Jake beim Anblick der gigantischen Felskuppel und der Schiffe ein wohliger Schauer.

Nathan hatte inzwischen den Kai erreicht, der die eine Hälfte der Höhle komplett umspannte. Von dort führte eine Treppe zu einer weiteren Tür hinauf. Sie war unversehrt und fest verschlossen.

»Das hier ist der einzige andere Ausgang«, rief er über die Schulter. »Josephine muss noch irgendwo hier drin sein.«

Die Agenten suchten mit den Augen die Schiffsdecks ab, aber nichts rührte sich.

»Wir werden sie uns ein Schiff nach dem anderen vornehmen müssen«, erklärte Nathan.

»Ich würde vorschlagen, wir nehmen das hier mit«, sagte Charlie und hob ein Fischernetz auf, das auf dem Kai lag. »Auch Tiere haben ein Recht auf Leben.«

»Niemand schätzt deine rücksichtsvolle Art so sehr wie ich, Charlie«, erwiderte Nathan, »aber das Vieh hat gerade versucht, die Braut zu fressen … Ganz zu schweigen davon, wie es die herrliche Torte zugerichtet hat. Nimm das Netz mit, wenn du willst, aber ich vertraue lieber auf das hier.« Er küsste den Lauf seiner Pistole und sprang an Bord eines am Kai vertäuten Wikingerschiffs.

Jupitus, Topaz und Yoyo wollten ihm gerade folgen, als sie aus dem Bauch der venezianischen Handelsgaleere Campana, die direkt daneben lag, ein leises Schaben hörten.

Alle hielten den Atem an, und Jupitus spannte den Hahn seiner Pistole. Yoyo nickte ihm kurz zu, dann tastete sie sich in Richtung der Campana vor, während Nathan auf Zehenspitzen von dem Wikingerschiff hinüber zu der Handelsgaleere balancierte.

Mr. Drake krallte sich nervös in Charlies Schulter fest, als Nathan und Yoyo mit erhobenen Waffen die Luke zum Laderaum aufrissen.

»Ratten …«, sagte Nathan enttäuscht. »Scheint, als gäbe es heute noch eine Hochzeit hier auf der Insel. Wer hätte gedacht, dass die kleinen Biester beim Feiern solchen Lärm machen?«

Jake konnte sich ein kleines Lachen nicht verkneifen, da hörte er ein Geräusch von Krallen, die über Holz schabten. Es kam von direkt hinter ihm, von der Hippocampus, und war erschreckend nah. Ganz langsam drehte er sich um, und da sah er sie: Josephine, die mit angelegten Ohren sprungbereit auf dem Dach der Kajüte kauerte. Jake versuchte, sie mit einem freundschaftlichen Lächeln zu beruhigen. Umsonst. Die Löwin erhob sich mit einem Satz in die Luft und sprang ihn an.

Blitzschnell warf Charlie das Fischernetz über sie, was Josephine zwar ablenkte, ihren Sprung aber kein bisschen bremste. Sie begrub Jake unter sich, das Schwert fiel ihm aus der Hand, und er bekam keine Luft mehr. Dafür spürte er Josephines heißen Atem im Gesicht, während sie versuchte, sich mit Prankenhieben aus dem Netz zu befreien. Jake holte aus, so gut es ging, und schlug ihr mit aller Kraft auf die Nase. Die Löwin zuckte zusammen, Jake rollte sich zur Seite und rappelte sich hoch.

Als Josephine ein zweites Mal zum Sprung ansetzte, ertönte ein Schuss, dann noch einer. Die erste Kugel schlug im Rumpf der Hippocampus ein, die andere streifte Josephine am Rücken. Jetzt wurde die Löwin erst recht wütend. Immer noch in dem Netz gefangen, drehte sie sich im Kreis wie ein Derwisch.

Mr. Drake griff im Sturzflug an und versuchte, sie mit seinen Krallen zu erwischen, doch beim Abbremsen verfingen sich seine Flügel in den Maschen, und er wurde zu Boden gerissen. Sein Kreischen war ohrenbetäubend, als er vergeblich versuchte, wieder freizukommen.

Jake sah gerade noch, wie Josephine die Treppe zum Ausgang hinaufjagte, den im Netz festhängenden Papagei hinter sich herziehend.

»Mr. Drake!«, rief Charlie, da zerschmetterte Josephine auch die zweite Tür und verschwand durch den dahinterliegenden Tunnel ins angrenzende Schloss. Kurz entschlossen riss Charlie Nathan die Pistole aus der Hand und nahm die Verfolgung auf.

In der großen Eingangshalle angekommen, schaute er zuerst Richtung Haupttreppe, sah aber nichts außer den Porträts der ehemaligen Kommandanten und Kommandantinnen der Geschichtshüter. Nur Mr. Drakes Geschrei war weiterhin zu hören, also musste der Papagei hier irgendwo sein. Charlie rannte die Stufen hinauf – und wäre auf dem Treppenabsatz beinahe über die Löwin gestolpert.

Mr. Drake hatte sich inzwischen aus dem völlig zerfetzten Netz befreien können und versuchte, zu ihm zu fliegen, doch ein Flügel war gebrochen, und er kam gar nicht erst vom Boden weg. Als Josephine nach ihm schnappte, stürzte er sich mit letzter Kraft die Treppe hinunter, purzelte bis zur letzten Stufe und blieb schließlich reglos liegen.

Rasend vor Wut, hob Charlie die Pistole und zielte. Doch er zögerte. Konnte er, der Vegetarier und überzeugte Tierschützer, ein so prächtiges Tier einfach erschießen?

Sein Zögern war ein fataler Fehler: Josephine sprang brüllend vorwärts und warf Charlie um. Die Pistole fiel ihm aus der Hand, und in dem Versuch, seinen Sturz zu bremsen, riss er das Porträt von Sejanus Poppoloe, dem Gründer der Geschichtshüter, von der Wand.

Josephine biss zu, und Jake, der gerade in die Eingangshalle gestürmt kam, hörte, wie Charlies Unterschenkel zwischen ihren mächtigen Kiefern brach. Mit einem Hechtsprung packte er die zu Boden gefallene Pistole, doch der ohrenbetäubende Knall, der daraufhin ertönte, kam aus einer anderen Waffe. Jake hob verdutzt den Kopf. Bläulicher Pulverdunst hing in der Luft, und Josephine hob überrascht den Kopf. Auf ihrer Brust bildete sich ein roter Fleck, der schnell größer wurde. Die Löwin blickte sich noch einmal verwirrt um, dann gaben ihre Beine nach, und sie fiel zur Seite. Jake sah ihre Augen noch einmal kurz aufflackern, dann wurden sie glasig, und die Löwin rührte sich nicht mehr. Ausgerechnet am Tag der geplanten Hochzeit zwischen Jupitus und Tante Rose hatte der Tod auf Mont Saint-Michel Einzug gehalten.

Jake blickte sich suchend um, da sah er Oceane Noire die obere Treppe herunterkommen. Der Lauf ihres Gewehrs rauchte noch. Mit ausdruckslosem Gesicht kniete sie sich neben ihre Löwin, umfasste eine der reglosen Vorderpfoten und schloss die Augen. Einen Moment lang verharrte sie stumm in dieser Haltung, dann baute sich ein Schrei in ihrer Kehle auf. Tief und leise zuerst, dann wurde er immer schriller, bis Charlie, der direkt daneben lag, sich schließlich die Ohren zuhalten musste.

Jake eilte an seine Seite. Charlies Gesicht war blass vom Schock, trotzdem hatte er noch genug Kraft, um zu fragen: »Mr. Drake … wie geht es … Mr. Drake?«

Jake schaute hinunter zu dem zerzausten Bündel Federn am Ende der Stufen und sah, dass Topaz sich bereits um den verletzten Papagei kümmerte; er bewegte sich zwar noch, aber es sah nicht gut für ihn aus.

Mittlerweile war auch die Hochzeitsgesellschaft hereingekommen und stand wortlos in der Vorhalle, Rose mit zerrissenem Seidenkleid in der vordersten Reihe.

Oceane richtete sich auf und ging wie in Trance die Haupttreppe hinab. Eine alte, abgetragene Stola hing über ihren knochigen Schultern; Jake hatte sie noch nie so ungepflegt gesehen. Als sie die unterste Stufe erreichte, streckte sie die Hand aus und fuhr Rose mit blutigen Fingern über die Wange.

»Und, bist du jetzt glücklich?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

3

Ein Ungeheuer aus der Tiefe

Auf der anderen Seite des Globus und in einem anderen Winkel der Geschichte pflügte eine fünfmastige Handelsdschunke durchs Südchinesische Meer. Mit über sechzig Meter Länge war sie im Jahr 1612 eins der größten Schiffe der Welt. Zwei Nächte zuvor war sie in Kanton in See gestochen und hielt nun mit voller Besegelung auf ihren Zielhafen im Persischen Golf zu.

In einer von Kerzen beleuchteten Kabine beugten sich die drei Schiffseigner über eine Seekarte und besprachen die Route, während sie an ihren winzig kleinen Teetassen nippten. Ihre kostbare Fracht aus Jade, Gagat und Lapislazuli, Porzellan, Elfenbein, Seidenballen, Kisten voll Tee, Ingwer, Zimt und Pfeffer wurde rund um die Uhr bewacht. Überall im Laderaum patrouillierten bewaffnete Wachen, während die Matrosen barfuß hoch oben in der Takelage umherkletterten oder im Schneidersitz auf dem Deck saßen und würfelten. Es war Nacht und trotzdem so schwül, dass alle an Bord in Sturzbächen schwitzten.

Plötzlich ging ein heftiger Ruck durch das Schiff.

Die Kerzen in der Kabine fielen um, Tee schwappte über die Karten, die Matrosen krallten sich in der Takelage fest und spähten ängstlich nach unten, während die Wachoffiziere ihre an langen Stangen befestigten Laternen hinaus übers Wasser hielten und überprüften, ob die Dschunke mit irgendetwas zusammengestoßen war. Sie konnten nichts entdecken.

Unterdessen lief im Frachtraum einer der Wachmänner einen schmalen Korridor entlang zum Heck des Schiffs. Er hatte ein eigenartiges Geräusch gehört, ein lautes Pochen, als würde ein Hammer von unten gegen den Rumpf schlagen. Er hatte sich gerade hingekniet und wollte ein Ohr auf den Boden pressen, da explodierten die Planken neben ihm in einer Fontäne aus Splittern, und ein beindicker Tentakel brach weniger als eine Armlänge von ihm entfernt durch das Holz. Wasser schoss aus dem klaffenden Loch, dann zog der Fangarm sich mit einer ruckartigen Bewegung wieder zurück.

Die Schiffseigner kamen aus ihrer Kabine gestolpert und hasteten hinunter in den Frachtraum. Unten angekommen hörten sie ein Kratzen, als schabe die Dschunke über ein Riff, da brach ein zweiter Tentakel durch die Hülle. Das Loch, das er schlug, war noch größer als das erste, und die Ladung begann über Bord zu gehen. Entsetzt wirbelten die drei Männer noch auf den Stufen herum und rannten an Deck.

Das Heck begann sich bereits zu senken. Matrosen, Offiziere und Soldaten liefen auf dem Vorderdeck zusammen, brüllten durcheinander und fuchtelten hilflos mit ihren Schwertern in der Luft. Einer der Schiffseigner rutschte aus und sah noch im Fallen, wie sich ein weiterer Tentakel aus den Wellen erhob und nach der Reling griff. Ein gellender Aufschrei ging durch die Besatzung. Die Soldaten preschten vor und schlugen mit ihren Schwertern nach dem Fangarm, an dem sie klirrend abprallten – er war aus Metall.

Wieder flohen die Schiffseigner, diesmal auf die Steuerbordseite, wo gerade das Beiboot zu Wasser gelassen wurde. Mit einem Klatschen schlug es in den Wellen auf, und sie sprangen hinterher, da tauchte der nächste Fangarm auf und schlug das Rettungsboot in der Mitte durch. Dann packte er die andere Seite des Schiffsrumpfs und zog. Der Kiel barst, und das gesamte Schiff erzitterte. Zwei Masten brachen und begruben die an Bord Verbliebenen unter sich, und schon wenige Momente später war von der Dschunke nichts mehr zu sehen außer einem sich schnell auflösenden Strudel und ein paar Stücken Treibholz.

Es war Mittagszeit auf Mont Saint-Michel. Jake saß im Krankenflügel des Schlosses neben Charlies Bett und hielt Wache. Josephine hatte Charlie den Unterschenkel zertrümmert, außerdem hatte er einen schweren Schock davongetragen. Dr. Chatterju hatte ihn sofort operiert, und jetzt kümmerte sich Lydia Wunderbar um seine Genesung (die temperamentvolle Bibliotheksvorsteherin war einmal mit Florence Nightingale befreundet gewesen und hatte von ihr viel über die Krankenpflege gelernt).

»Miss Wunderbar, schauen Sie«, flüsterte Jake, als Charlies Augenlider nach drei Tagen zum ersten Mal flackerten.

Miss Wunderbar kam ans Bett, und Charlie blinzelte sie beide verwirrt an. Es dauerte einen Moment, bis er sich an alles erinnerte, dann platzte er unvermittelt mit der ersten Frage heraus, die ihm in den Sinn kam: »Mr. Drake – wo ist Mr. Drake?«

»Dein Papagei hat großes Glück gehabt«, antwortete Lydia und deutete auf einen Korb neben Charlies Bett. Darin lag der immer noch etwas zerzaust aussehende Mr. Drake auf einem dicken Samtkissen gebettet. Ein Flügel war beinahe genauso dick mit Verband umwickelt wie das verletzte Bein seines Herrn.

»Wie geht es dir?«, fragte Jake.

Charlie betrachtete unsicher sein bandagiertes Bein. »Weiß nicht. Wie geht’s mir denn, Miss Wunderbar?«

»Du wirst beizeiten wieder vollkommen gesund«, erwiderte sie. »Aber bis du wieder an einem Einsatz teilnehmen kannst, wird es noch eine Weile dauern.«

Charlie nickte düster, da fiel ihm noch etwas anderes ein. »Meine Erinnerung ist noch etwas unscharf, aber ich schätze, dass Josephine …«, begann er, aber Jakes Gesichtsausdruck sagte ihm auch ohne Worte, was mit der Löwin passiert war. »Und Oceane?«, fügte er nach einer Weile hinzu.

»Hat sich seit drei Tagen in ihren Gemächern eingeschlossen und nur einmal die Tür geöffnet, um eine Kiste mit Rotwein und Zigarren entgegenzunehmen.«

»Sie muss am Boden zerstört sein«, murmelte Charlie. »Was ist mit der Hochzeit? Konnten Rose und Jupitus einander doch noch das Jawort geben?«

Jake und Lydia wechselten einen kurzen Blick, dann sagte Jake: »Nein. Und im Moment sprechen sie nicht einmal miteinander. Jupitus hat eine unvorsichtige Bemerkung über die Farbe von Roses Hochzeitskleid gemacht. Es gab einen Riesenstreit. Am Ende ist Rose komplett aus der Haut gefahren und hat ihren Verlobungsring ins Meer geworfen.«

»Ins Meer? Sieh mal einer an …« Charlie setzte sich auf. »Gibt’s sonst noch was, das ich verpasst habe?«

»Morgen fahren meine Eltern für einen Monat zurück nach London.«

»Ach ja, hatte ich ganz vergessen. Ins moderne London?«

»Ja. Dorthin, wo wir gelebt haben, wo du und ich uns das erste Mal begegnet sind.« Jake lächelte. »Ihre beiden besten Freunde, Martin und Rosie, feiern beide ihren Fünfzigsten. Außerdem wollen sie sich um ihren Sanitärladen kümmern. Keine Ahnung, warum. Den Laden vermisst sowieso keiner. Und finden kann sie hier auch niemand. Natürlich wollten sie, dass ich mitkomme, und dann haben wir uns auch noch gestritten. Wie immer haben sie gedroht, mit mir in London zu bleiben, und zwar endgültig. Keine Ahnung, wer ihnen das abkaufen soll. Schließlich sind sie genauso gern hier wie ich. Aber am Ende konnte ich es ihnen doch noch ausreden. Ich musste sie nur ein bisschen emotional erpressen. Heute ist nämlich …« Jake verstummte.

Charlie runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach, aber das Datum wollte ihm zuerst partout nicht einfallen. Dann kam er plötzlich darauf: »Der 21. Juni?«

Jake nickte. »Der Geburtstag meines Bruders. Er wäre heute neunzehn geworden.«

»Er ist heute neunzehn geworden«, erwiderte Charlie und drückte Jakes Hand. »An die andere Möglichkeit denken wir gar nicht.«

Jake schloss für einen Moment die Augen und beschloss, das Thema zu wechseln. »Ich hab den anderen versprochen, sie zu holen, wenn du aufwachst. Bin gleich wieder da, nicht weglaufen!«, sagte er und verschwand.

Nachdem die Nachricht von Charlies Erwachen die Runde gemacht hatte, füllte sich die Krankenstation rasend schnell mit Besuchern. Nathan kam als Erster und in Begleitung seines Vaters Truman. Beide sprachen viel zu laut und warfen ständig irgendetwas um. Dann folgte Topaz mit Alan und Miriam. Jakes Mutter hatte Schokobrownies gemacht und bot sie freudig an, ganz egal, wie entsetzt die anderen dreinschauten. Miriams Brownies waren berühmt für ihre steinkohleartige Konsistenz, Farbe und Geschmack. Dann kam Jupitus in Begleitung von Signore Gondolfino, dem Leiter der Kostümschneiderei, und schließlich schaute auch Dr. Chatterju mit seiner Mutter vorbei, die nach der geplatzten Hochzeit immer noch hier war.

Rose kam als Letzte. Sie war hocherfreut, eine so große Gesellschaft vorzufinden, und begann, sehr zu Jupitus’ Verdruss, alle mit Geschichten aus ihren wilden Tagen »damals in Konstantinopel« zu unterhalten. Bei einer besonders pikanten Episode hielt sich der greise Signore Gondolfino gar die Ohren zu.

Erst als die neunzigjährige Madame Chatterju sich an einem von Miriams Gebäckstücken einen Zahn abbrach und eine entsprechende Szene machte, erklärte Lydia Wunderbar, dass es nun genug sei, und warf alle bis auf Jake hinaus.

Als die anderen Besucher draußen waren, setzte Jake sich erschöpft ans Ende von Charlies Bett und war innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen.

»Jake?«, flüsterte Lydia.

Jake fuhr hoch. »Wie spät es ist?«

»Kurz vor zehn. Zeit, das Licht zu löschen.«

Jake blickte verwirrt aus dem Fenster und sah, dass es draußen schon fast dunkel war. Er streckte sich kurz und drehte sich nach Charlie um, der, in ein Buch vertieft, auf dem Bett saß und mit dem freien Arm Mr. Drake an die Brust gedrückt hielt.

»Faszinierend«, raunte Charlie und zeigte Jake den Einband. »Miss Yuting hat es mir geliehen. Es handelt vom alten China, und mir ist soeben etwas Unglaubliches aufgefallen. Im Nachhinein verstehe ich gar nicht, warum ich nicht schon früher darauf gekommen bin, aber stell dir vor: Die Han-Dynastie und das Römische Reich bestanden parallel zueinander, zur selben Zeit!«

Jake schaute unsicher zu Miss Wunderbar hinüber; er hatte keine Ahnung, wovon Charlie redete.

Charlie sprach unbeirrt weiter. »Denk dir nur, man schreibt das erste Jahrhundert vor Christus, und im Morgen- und Abendland stehen einander zwei der größten Kulturen gegenüber, die die Welt je gesehen hat: im Westen Rom mit Julius Caesar und seinen Legionen und viertausend Meilen östlich davon das Reich der Han. Zwei riesige Reiche, mächtig und kriegerisch« – Charlie hob den Zeigefinger –, »und die beiden wissen nicht einmal was voneinander! Nichts. Nun ja, abgesehen von ein bisschen Handel mit Seide und Silber vielleicht, aber von kulturellem Austausch keine Spur …«

»Bist du sicher, dass du nicht so was wie Wundfieber hast?«, fragte Jake.

Charlie schüttelte den Kopf und blickte die beiden mit leuchtenden Augen an. »Was ich sagen möchte, ist Folgendes: Ost und West waren einmal gänzlich voneinander getrennt. Wir nehmen das als selbstverständlich, aber was, wenn …«

»Das reicht jetzt«, fiel Miss Wunderbar ihm mit gespielter Strenge ins Wort und nahm Charlie das Buch ab. »Ich bin zwar die Bibliotheksvorsteherin, aber manchmal frage ich mich, ob du dich nicht ab und zu auch mal mit ein bisschen weniger vergeistigten Dingen beschäftigen solltest – wie dein Freund Nathan zum Beispiel. Aber wie dem auch sei, jetzt ist Sperrstunde für euch beide.«

»Reden wir einfach morgen weiter«, schlug Jake vor und fühlte kurz Charlies Stirn. »In Ordnung?«

Charlie nickte. Sie verabschiedeten sich voneinander, und als Jake an der Tür an Miss Wunderbar vorbeikam, flüsterte er: »Er wird doch wieder, oder?«

»Wenn du dich weiter so nett um ihn kümmerst, bestimmt«, versicherte sie und kniff Jake in die Wange.

Jake ging über die verlassenen Flure zu seinem Zimmer. Normalerweise liebte er diese Gelegenheiten, ganz allein durchs Schloss zu streifen und die Geschichtsträchtigkeit des Ortes zu genießen. Er stellte sich all die jungen Agenten vor, die seit Jahrhunderten von hier zu ihren Einsätzen aufbrachen, die Hände feucht vor Aufregung, den Kopf voll Gedanken an die bevorstehende Gefahr. Aber heute war es anders. Jake hatte mit aller Macht versucht, nicht an seinen Bruder zu denken, doch jetzt, da er allein war, brach die Erinnerung umso heftiger über ihn herein. Es war Sommersonnenwende, der längste Tag des Jahres – und der Geburtstag seines Bruders. Früher war das einer seiner Lieblingstage gewesen, ein Tag des Feierns und der verrückten Streiche. Jetzt nicht mehr. Seit Philip aus ihrer aller Leben verschwunden war, fürchtete Jake den 21. Juni.

»Er ist neunzehn geworden«, hatte Charlie gesagt, aber die Worte fühlten sich leer an. Ein Jahr war es jetzt her, dass Jake ausgerechnet von dem Verräter Caspar Isaksen zum letzten Mal etwas von Philip gehört hatte. »Ja, ich habe ihn gesehen, ihn sogar gefoltert«, hatte Caspar gesagt. »Aber ich schätze, mittlerweile ist er tot.« Das Schlimmste jedoch war Caspars letzter Satz gewesen: »Er war überzeugt, dass ihr ihn vergessen habt.«

Die Vorstellung, dass Philip irgendwo in einem entlegenen Winkel der Geschichte in einem dunklen Kerker saß, quälte Jake entsetzlich. Und wie konnte sein Bruder glauben, sie hätten ihn vergessen? Galliana war dem Hinweis damals sofort nachgegangen und hatte Caspars Vater Fredrik dazu gedrängt, sie die persönlichen Unterlagen seines Sohnes durchsuchen zu lassen. Eine eherne Regel der Geschichtshüter besagte zwar, dass niemand, der nicht zur Familie gehörte, das im Schweden der 1790er-Jahre gelegene Anwesen der Isaksens besuchen durfte, wo das für die Zeitreisen notwendige Atomium hergestellt wurde. Aber das spurlose Verschwinden von Philip Djones wog so schwer, dass die Regel dieses eine Mal gebrochen wurde. Galliana hatte zugestimmt, sich während der Reise die Augen verbinden zu lassen, dann hatte sie mit Fredrik eine Woche lang das gesamte Haus auf den Kopf gestellt, doch nirgendwo fand sich ein Hinweis auf Philips Verbleib. Das war jetzt mehrere Monate her.

Jake schloss die Zimmertür hinter sich. Zuerst begrüßte er Felson, der ihm schwanzwedelnd entgegensprang, dann riss er das Fenster auf und sog die kühle Nachtluft ein. Trotz der späten Stunde leuchtete immer noch ein schmaler, rot-violetter Lichtstreifen am Horizont, und Jake lauschte den Geräuschen, die von dem Freiluftball auf dem Festland herüberdrangen. Eine Kapelle spielte, und das Publikum jauchzte ausgelassen, während Jake niedergeschlagen seinen Pyjama anzog. Müde war er jetzt kein bisschen mehr; er sprang aufs Bett und griff sich das Buch, das er von Yoyo bekommen hatte. Es handelte von den Abenteuern Marco Polos, der 1272 nach China gereist und vierundzwanzig Jahre lang dortgeblieben war. Er hatte den großen Kublai Khan kennengelernt, hatte in dessen Sommerpalast residiert und war eine Zeit lang sogar Präfekt gewesen.

Jake hatte gerade die ersten zwei Seiten des Kapitels über chinesische Erfindungen gelesen, als er plötzlich ein Geräusch auf dem Dach hörte. Felson blickte auf, und Jake tastete instinktiv nach seinem Schwert, das an der Bettkante lehnte. Als das Geräusch ein zweites Mal ertönte, stand er lautlos auf und schlich mit gezogenem Schwert ans Fenster.

»Wer da?«, rief er und riss die Fensterflügel auf.

Eine vermummte Gestalt seilte sich direkt vor seiner Nase auf das Fenstersims ab. »Wer da?«, wiederholte Yoyo und zog sich den Strumpf vom Kopf. »Ein bisschen altmodisch, findest du nicht? Kann ich reinkommen?«

Jake trat zur Seite, und Yoyo sprang ins Zimmer. Sie sah ganz anders aus in dem eng taillierten französischen Kleid und mit den zu einem Dutt gebundenen Haaren.

Felson hieß sie mit einem »Wuff!« willkommen.

»Schön, dich zu sehen, alter Freund«, erwiderte Yoyo und streichelte dem Hund über den Kopf.

»Ist ja gut, Felson, zurück ins Bett mit dir«, zischte Jake. Er kam sich etwas albern vor in seinem Schlafanzug. »Was tust du hier?«, fragte er stotternd. »Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen, aber …«