Jamaica Lane - Heimliche Liebe (Deutsche Ausgabe) - Samantha Young - E-Book

Jamaica Lane - Heimliche Liebe (Deutsche Ausgabe) E-Book

Samantha Young

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Beschreibung

Er ist ein notorischer Bad Boy. Bis er mit ihr die Liebe entdeckt. Olivia Holloway hat es satt, Single zu sein. Warum muss sie auch immer gleich Reißaus nehmen, wenn ein attraktiver Mann nur in ihre Nähe kommt? Die hübsche Amerikanerin ist notorisch schüchtern. Ihr bester Freund Nate Sawyer flirtet dagegen für sein Leben gern. Deshalb sagt er auch sofort zu, als Olivia ihn bittet, ihr Nachhilfe im Flirten zu geben. Zuerst ist es nur ein Spiel, leidenschaftlich und sexy. Dann merkt Olivia, dass da mehr ist. Viel mehr. Doch Nate ist kein Mann für feste Beziehungen. Und plötzlich steht alles in Frage: ihre Freundschaft, ihr Vertrauen, ihre Liebe. Der langersehnte neue Roman der Bestseller-Autorin - jetzt endlich auf Deutsch!

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EPUB

Seitenzahl: 515

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Das Buch

Wann finde ich endlich den Mann meiner Träume? Diese Frage stellt sich Olivia Holloway immer wieder. Obwohl die junge Bibliothekarin bildhübsch ist, hat sie kaum Erfahrung in Liebesdingen. Sie ist einfach zu schüchtern. Sobald sie von einem attraktiven Mann angesprochen wird, ergreift sie die Flucht. Der einzige Mann, in dessen Gegenwart sich Olivia uneingeschränkt wohl fühlt, ist ihr bester Freund Nate Sawyer. Nate ist das glatte Gegenteil von ihr: charmant, selbstbewusst und immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Vor allem aber ist Nate ein loyaler Freund und noch dazu unverschämt sexy. Genau der Richtige, findet Olivia, um ihr zu zeigen, wie man flirtet. Zuerst ist es nur ein Spiel – beide wollen ihre Freundschaft nicht gefährden. Doch aus dem Flirtunterricht wird schnell mehr, und Olivia erfährt zum ersten Mal, was es heißt, nach allen Regeln der Kunst verführt zu werden. Sie fühlt sich wie im siebten Himmel. Bis Nate von seinen Bindungsängsten eingeholt wird und plötzlich alles in Frage stellt …

Die Autorin

Samantha Young wurde 1986 in Stirlingshire, Schottland, geboren. Seit ihrem Abschluss an der University of Edinburgh arbeitet sie als freie Autorin und hat bereits mehrere Jugendbuchserien veröffentlicht. Mit Dublin Street und London Road, ihren ersten beiden Romanen für Erwachsene, stürmt sie die internationalen Bestsellerlisten.

Homepage der Autorin: www.samanthayoungbooks.com

Von Samantha Young sind in unserem Hause bereits erschienen:

Dublin Street – Gefährliche Sehnsucht

London Road – Geheime Leidenschaft

Jamaica Lane – Heimliche Liebe

Fountain Bridge – Verbotene Küsse (E-Book)

Into the Deep – Herzgeflüster

Samantha Young

Jamaica Lane

Heimliche Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Sybille Uplegger

Ullstein

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Titel der Originalausgabe: Before Jamaica LanePublished by arrangement with NAL Signet,a member of Penguin Group (USA) Inc.

ISBN978-3-8437-0765-7

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2014© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014© 2014 Samantha YoungUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © Claudio Marinesco

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Tammy BlackwellWeil Olivia ohne dich vermutlich nie Bibliothekarin geworden wäre …

Liebe Leserinnen und Leser,

oft bekomme ich von Euch Tweets und Nachrichten mit Bildern von Streifzügen durch die Straßen von Edinburgh. Ob Ihr in der Dublin Street gefilmt habt oder mir ein Foto schickt, wie Ihr unter dem Straßenschild der London Road herumalbert – all das zeigt mir, wie sehr Ihr diese Reihe, ihre Figuren und Schauplätze ins Herz geschlossen habt, und das macht mich schier sprachlos. Denjenigen Lesern, die nach der Lektüre von Jamaica Lane nun vielleicht auf die Idee kommen, sich in der Stadt nach der gleichnamigen Straße umzusehen, möchte ich die Suche erleichtern: Ihr solltet wissen, dass ich mir, um einer einheitlichen Titelgestaltung willen, eine gewisse kreative Freiheit erlaubt und den tatsächlichen Straßennamen abgeändert habe. Die Jamaica Lane gibt es strenggenommen nicht. In Wirklichkeit heißt sie Jamaica Street North Lane, und dort können meine Leserinnen und Leser auch die winzige Zweizimmerwohnung finden, in der unser aktuelles Liebespaar herausfindet, dass es im Leben oft ganz anders kommt, als man erwartet hat …

Kapitel 1

Stirling, SchottlandFebruar

Jedes Mal, wenn wir um eine Ecke bogen, peitschte uns der bitterkalte Wind ins Gesicht. Er hatte fast schon etwas Bösartiges, als wäre es für ihn ein Ärgernis, wenn ein Gebäude uns kurzzeitig Deckung bot. Mit eisigen Fingern umfing er meine geröteten Wangen. Ich schlang die Arme fester um mich und zog die Schultern hoch, um mich gegen die nächste Böe zu wappnen.

»Zum fünften und letzten Mal … wo schleppst du uns eigentlich hin?«, fragte Joss und drückte sich enger an ihren Verlobten Braden. Er hatte seinen Wollmantel aufgeknöpft, damit sie sich hineinschmiegen konnte, und einen Arm um ihre Hüfte gelegt. Sie trug eine elegante, aber kurze Jacke und ein rotes enganliegendes Kleid, dazu Highheels. Das einzige Kleidungsstück, das ihr ein wenig Schutz vor dem schottischen Winter bot, war ein Schal.

Ellie und Jo ging es nicht viel anders: kurze Kleider, Stilettos, dünne Jacken. Ich war ein kleines bisschen besser dran, weil ich immerhin eine schwarze Hose trug, allerdings hatten mein Seidentop und der dünne, frackartige Blazer der Kälte so gut wie nichts entgegenzusetzen.

Da ich es im Gegensatz zu meinen Freundinnen nicht gewohnt war, auf hohen Absätzen zu laufen, kam ich nur langsam voran und bildete die Nachhut unserer kleinen Gruppe, die sich von Jo an ein unbekanntes Ziel führen ließ.

»Es ist nicht mehr weit«, beteuerte sie mit einem raschen Blick über die Schulter, als sie uns durch die Hauptstraße des Stadtzentrums lotste. Ihr Verlobter Cam hatte den Arm um sie gelegt, um sie zu wärmen, und hinter ihnen kuschelten sich Bradens Schwester Ellie und sein bester Freund Adam ebenfalls eng aneinander. Auch sie waren seit kurzem verlobt.

Ich hatte dummerweise keinen Verlobten, der mich vor dem bitteren Wind hätte schützen können. »Es ist nicht mehr weit?«, wiederholte ich spitz. In den etwas mehr als neun Monaten, die ich nun schon in Edinburgh lebte, waren Jo und ich enge Freundinnen, fast Schwestern geworden. Insofern fand ich, dass mir eine kleine Stichelei durchaus zustand, zumal sie uns ohne ein Wort der Erklärung aus Edinburgh entführt und hierhergeschleppt hatte. Daher im Übrigen auch die völlig unangemessene Kleidung. »Das Recht, so was zu sagen, hast du verwirkt, als du den Taxifahrer gebeten hast, zur Waverley Station zu fahren.«

An der nächsten Kreuzung wich Jos entschuldigendes Lächeln einem Stirnrunzeln. Sie bedeutete uns anzuhalten. »Okay, ich glaube, jetzt müssen wir hier lang.«

»Bist du sicher?«, fragte ich. Mittlerweile hatten meine Zähne angefangen zu klappern.

»Hmmm.« Jo spähte über die Kreuzung auf ein Straßenschild und zückte dann ihr Handy. »Eine Sekunde, Leute.«

Meine Freunde drängten sich dicht aneinander, während ich ein kleines Stück abseitsstand und sie betrachtete. Ich kam zu dem Schluss, dass mir eigentlich egal war, wie sehr ich fror. Ich freute mich ganz einfach, mit ihnen zusammen zu sein. Ein bisschen wunderte ich mich immer noch darüber, wie sehr sie mir in der kurzen Zeit ans Herz gewachsen waren. Sie alle hatten mich vorbehaltlos in ihren Freundeskreis und in ihr Leben aufgenommen, teils um Jos willen, aber auch wegen Nate, Cams Jugendfreund und meinem neuen besten Kumpel.

Während ich so meinen Gedanken nachhing, drehte sich Nate, der zuvor in eine Unterhaltung mit Adam und Ellie vertieft gewesen war, zu mir um, und ich kam in den Genuss seines umwerfenden Lächelns.

Ich blinzelte verwirrt, weil ich plötzlich wieder diese Anziehungskraft zwischen uns spürte, die mich ganz durcheinanderbrachte. Mittlerweile hatte ich Übung darin, das Gefühl zu ignorieren, aber in diesem Moment war ich nicht darauf gefasst gewesen, und es hatte mich kalt erwischt. Das war eben der Haken daran, mit einem Mann befreundet zu sein, der einen vollkommen verstand und zufällig auch noch der heißeste Leckerbissen auf zwei Beinen war, den man je im Leben getroffen hatte.

Dieses Flattern im Bauch, diese Woge unerwarteter Gefühle versetzten mich zurück an den Tag, an dem Nate und ich uns zum ersten Mal begegnet waren. Ganz ehrlich? Ich hätte einen Orden verdient, weil ich meine Gefühle für ihn so gut verbarg …

Sieben Monate zuvor …

Ellies Mutter Elodie Nichols und ihr Mann Clark hatten mich und meinen Vater mit einer Herzlichkeit willkommen geheißen, als wären wir immer schon Teil der Familie gewesen. Das tat nicht nur gut, es machte es mir auch leichter, mich in Jos Freundeskreis zu integrieren. Da mein Dad und ich beschlossen hatten, dauerhaft in Schottland zu bleiben, wollten wir so viel wie möglich an Jos Leben teilhaben. Sie war ein toller Mensch und hatte es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt. Sie verdiente jemanden, der sich um sie kümmerte, und es war gut zu wissen, dass Cam diese Aufgabe nun übernommen hatte.

Zusammen mit Cole schloss ich die Tür zu Cams Wohnung auf. Cam und Jo wollten im Laden noch etwas zu knabbern besorgen, und ich hatte beschlossen, schon mal mit Cole vorzugehen, damit die beiden Zeit für sich hatten. Cams Freunde Nate und Peetie, die ich beide noch nicht kannte, würden später vorbeikommen, und bis dahin wollte ich Jo und Cam ein bisschen Zweisamkeit ermöglichen.

Kaum hatten wir die Wohnung betreten, nahm Cole Kurs auf die Spielekonsole im Wohnzimmer, während ich in die Küche ging, um schon mal Schüsseln und Teller für die Snacks bereitzustellen. Ich wusch gerade das Geschirr ab, als ich eine tiefe, sehr männliche Stimme mit schottischem Akzent sagen hörte: »Äh … du bist nicht Cameron.«

Ich fuhr herum, und sämtliche Worte, die eventuell den langen, steilen Weg von meinem Hirn bis nach unten zu meiner Zunge geschafft hatten, gerieten auf den letzten Metern ins Stolpern und knallten der Länge nach hin. Diagnose: Gehirnerschütterung.

Oh.

Zweimal Oh.

Im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte das verführerischste Exemplar Mann, das meine Augen je erblickt hatten.

Mein Herz begann, wie wild zu klopfen.

Der Unbekannte quittierte meine Sprachlosigkeit mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Hat bei dir jemand den Stummschalter gedrückt?«

Das war so komisch, dass mir immerhin ein debiles Grinsen gelang, während ich den Fremden weiter begierig anstarrte. Meine Augen wanderten von seinem Kopf bis hinunter zu den Zehenspitzen, und während ich den Anblick in all seiner Herrlichkeit auf mich wirken ließ, spürte ich ein flaues Gefühl im Magen, unmittelbar gefolgt von einem erregten Kribbeln zwischen meinen Beinen.

Oh.

Okay.

Das war neu.

Ich versuchte – ebenso krampfhaft wie vergeblich –, das Kribbeln zu ignorieren. Wenn ich mit diesem Mann halbwegs vernünftig umgehen wollte, musste ich meine Erregung und meine Schüchternheit in den Griff bekommen. Ich nahm an, dass es sich um Nate handelte. Jo hatte mir bereits alles über Cams ungemein attraktiven Freund erzählt. Und sie hatte nicht übertrieben.

Er sah aus wie ein Filmstar, natürlich gebräunt, wie man es bei einem Schotten gar nicht vermutet hätte, und seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten. Gerade in diesem Moment funkelten sie diebisch. Er lächelte. Er hatte zwei sexy Grübchen und perfekte weiße Zähne. Dazu noch eine gerade, scharfe Nase und Lippen, die ich schamlos anstarren musste, weil sie mich an die eines gewissen dunkelhaarigen, leicht exzentrischen Schauspielers erinnerten, dessen Name mir gerade nicht einfiel. Den schlanken, muskulösen Oberarmen nach zu urteilen, die unter seinen T-Shirt-Ärmeln hervorschauten, war er ausgezeichnet in Form.

Es geschahen noch Zeichen und Wunder: Sein T-Shirt lenkte mich doch tatsächlich von besagten Muskeln ab, denn darauf standen die Worte: »Resistance is futile«.

Widerstand ist zwecklos? Die lähmende Schüchternheit, die mich überfiel, wann immer ich einem attraktiven Vertreter des männlichen Geschlechts gegenüberstand, war wie weggeblasen, und ich brach in schallendes Gelächter aus. »Bist du einer von den Borg, oder was?« Ich zeigte auf seine Brust. Der T-Shirt-Aufdruck war der bekannte Leitspruch einer außerirdischen Spezies aus Star Trek.

Verwundert schaute er an sich herab. Als er danach wieder den Kopf hob, waren seine dunklen Augen kugelrund vor Staunen. Er grinste. »Du hast es kapiert? Die meisten Frauen halten mich für einen eingebildeten Sack.«

Daraufhin musste ich noch mehr lachen. Ich lehnte mich gegen den Küchentresen. »Damit liegen sie vermutlich nicht ganz falsch. Außerdem kann man ihnen den Irrtum kaum verübeln. Du siehst nicht gerade aus wie ein typischer Trekkie.«

Mit einem Mal trat etwas Scharfes, Forschendes in seine Augen. Ich erschauerte, als er langsam den Blick über meinen Körper gleiten ließ, von oben nach unten und wieder zurück. Als er sprach, war seine Stimme noch tiefer als zuvor und ein bisschen rau. »Du auch nicht.«

Sein Blick war wie ein Streicheln auf meiner Haut. Wäre ich nicht ich gewesen, hätte ich glatt vermuten können, dass der Effekt wohlkalkuliert war.

So oder so … Das Atmen fiel mir ein wenig schwer. Die Luft kam mir plötzlich dünn vor, als hätte diese merkwürdige elektrische Spannung zwischen uns den Sauerstoff im Raum aufgebraucht.

»Bist du eine Freundin von Jo?«

Tapfer kämpfte ich die Schüchternheit nieder, die mich erneut zu überwältigen drohte. »Hat Cole dir nichts gesagt?«

»Peetie ist schon im Wohnzimmer, um dem Kurzen hallo zu sagen. Ich wollte mir was zu trinken holen, deswegen bin ich gleich in die Küche.« Er verschlang mich förmlich mit seinen Blicken, und anscheinend hatte mein Körper geschlafen, bis dieser Blick ihn aufgeweckt hatte, denn plötzlich kitzelte und kribbelte und prickelte es überall. »Definitiv die beste Entscheidung, die ich seit einer ganzen Weile getroffen habe.«

Äh … okay?

»Na ja, also – ich bin jedenfalls Olivia.«

Nate zog eine Braue hoch, dann räusperte er sich unvermittelt und stieß sich vom Türrahmen ab. Auf einmal war die Atmosphäre in der Küche wieder normal. »Du bist Olivia? Na klar – der Akzent. Klar doch.«

Ich nickte, leicht verdattert über seine Reaktion. »Und du bist dann wohl Nate?«

Sein Lächeln war höflich. Platonisch. Das passte schon eher. »Ja, der bin ich wohl.«

»Cam und Jo kommen gleich. Ich habe schon mal ein bisschen aufgeräumt.«

»Verstehe.« Er kam in die Küche geschlendert, und ich sah in unverhohlener Faszination zu, wie er sich ein Glas Cola eingoss. »Für dich auch eins?« Er gestikulierte mit dem Glas.

»Nein, danke.«

Sobald er getrunken hatte, schenkte er mir erneut ein Lächeln, und mir wurde klar, dass der Grund, weshalb ich bei ihm immerhin den einen oder anderen Satz herausbrachte, nicht nur sein T-Shirt war. Sondern auch seine Augen. Sie waren so unglaublich warm und freundlich, und ich fühlte mich … vielleicht nicht gerade wohl, aber … na ja, zumindest auch nicht unwohl. Das war in Gegenwart von Männern, die ich gerade erst kennengelernt hatte, ein absolutes Novum. Erst recht wenn es Männer waren, die ich attraktiv fand.

»Magst du Videospiele, Liv?«, fragte er freundlich.

»Äh, ja.«

»Na, dann lass den Abwasch stehen, und komm mit rüber zum Zocken«, sagte er.

Ich lachte leise. »Du fragst mich, ob ich mit dir spielen will?« Kaum waren mir die Worte entschlüpft, bereute ich sie. Ich wollte nicht flirten. Ich wusste gar nicht, wie man flirtete! Das war einfach nur meine Art von Humor, und jetzt dachte er garantiert, dass ich ihn angraben wollte …

Nates Lachen riss mich aus meinen Gedanken. »Nur weil du das Star-Trek-Zitat erkannt hast. Normalerweise dürfen Mädchen bei uns nicht mitspielen. Mädchen bringen’s nämlich nicht.«

Mit todernster Miene verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Aber Jungs, oder was?«

Er grinste breit. »Wir werden sehen.« Dann seufzte er und deutete mit dem Kinn zur Tür. »Na, komm, Yankeebraut. Wenn ich dich schon in den Boden stampfen muss, soll es wenigstens kurz und schmerzlos sein. Ich bin kein Sadist.«

»Mich in den Boden stampfen?« Ich lachte laut. »Du verwechselst mich wohl mit jemand anderem – jemandem, der dir nicht gleich so was von den Arsch versohlen wird.«

»Hast du überhaupt eine Ahnung, von welchem Spiel wir reden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ist das wichtig? Ich schlag dich in jedem Spiel. Also, erst werfen wir uns ein paar Beleidigungen an den Kopf, und dann geht’s ans große Arschversohlen.«

Nate warf lachend den Kopf in den Nacken. »O Mann. Na komm, wir gehen ins Wohnzimmer.« Er fasste mich am Ellbogen, und ich versuchte, bei der Berührung nicht rot zu werden. »Ich muss dich Peetie vorstellen.«

Gerührt, weil Nate mich sofort mit einbezogen hatte, folgte ich ihm aus der Küche. Wahrscheinlich war ich in seinen Augen schon jetzt einer von den Jungs. Das passierte mir andauernd, aber es machte mir nichts aus. Es bedeutete lediglich, dass ich die Schmetterlinge in den Griff kriegen musste, die in meinem Bauch wild herumflatterten. Und mit »in den Griff kriegen« meinte ich, dass ich jedes einzelne dieser kleinen Biester zerquetschen musste, bis nicht einmal mehr das kleinste Fühlerchen zuckte …

»Liv? Liv, alles okay?«

Ich blinzelte, und plötzlich war ich wieder auf dem kalten, zugigen Gehsteig in Stirling.

Mit Nate, der direkt vor mir stand und zwischen dessen Augen eine kleine, steile Sorgenfalte zu sehen war. »Träumst du?«

Ich lächelte. »Sorry, ich glaube, die Kälte hat mir das Gehirn verödet.«

»Na, dann komm mal her.« Er bot mir seinen Arm an. »Bevor dir noch ein Finger abfällt.«

Dankbar kuschelte ich mich an ihn. »Hätte dir das nicht ein bisschen früher einfallen können? Vor drei Straßen oder so?«

»Aber dann hätte ich doch das nackte Grauen nicht gesehen, das sich beim Umrunden jeder neuen Straßenecke in deinem Gesicht gespiegelt hat«, zog er mich auf, während er gleichzeitig meinen Arm rieb.

Ich rümpfte die Nase, entgegnete aber nichts. Ich war an seine Neckereien gewöhnt.

»Tut mir leid, Leute«, rief Jo und sah sich schuldbewusst nach uns um. »Ich hätte euch bitten sollen, dickere Jacken anzuziehen.«

»W-w-wir sind Schotten«, stieß Ellie bibbernd hervor, während sie die Finger in Adams Mantel krallte. »Uns m-macht d-d-das n-nichts aus.«

Ich schlang fest den Arm um Nates Taille, als wir uns wieder in Bewegung setzten. »Also, ich bin Amerikanerin«, protestierte ich. »Und ich komme aus Arizona.«

»Ich bin auch Amerikanerin, und ich habe kein Problem mit der Kälte«, tat Joss uns kund, wobei sie allerdings gelassener klang, als sie aussah. Sie schwankte kurz, als der Absatz ihres Schuhs in einer Fuge des Kopfsteinpflasters versank. Braden hielt sie fest, während sie lauthals den Boden verfluchte.

»Das liegt an dem eins neunzig großen Schutzschild, hinter dem du dich versteckst«, gab ich trocken zurück.

Sie lachte und schmiegte sich noch enger an Braden. »Kann schon sein.«

»Uns ist auch kalt«, ließ Nate nun verlauten. »Wir sind bloß dran gewöhnt, deswegen jammern wir nicht andauernd rum.«

»Niemand jammert rum«, widersprach Joss. »Das ist bloß unsere Warnung an Jo. Wenn wir nicht bald da sind, müssen wir sie als Brennholz verwenden.«

Jo lachte. »Wir haben’s fast geschafft … glaub ich …«

Wir bogen in eine Nebenstraße ein. Jo schaute stirnrunzelnd zu den Häusern hoch, während wir ihr folgten. Es war eine ganz gewöhnliche Straße, gesäumt von parkenden Autos und Lieferwagen.

Heute war Cams achtundzwanzigster Geburtstag, und eigentlich waren wir davon ausgegangen, dass wir in Edinburgh feiern würden, deswegen hatten wir uns entsprechend in Schale geworfen. Aber dann hatte Jo uns mit ihrem geheimen Plan überrascht, und irgendwie waren wir in Stirling gelandet. Stirling war eine hübsche Stadt mit einem prächtigen Schloss und malerischen, gewundenen Gassen, aber vermutlich auch die winzigste Stadt auf dem Planeten Erde.

Ich hatte keinen blassen Schimmer, was Jo sich bei diesem Ausflug gedacht hatte.

Plötzlich erschien ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht. Sie blieb an einer Straßenecke gegenüber einer Bar stehen. »Hier ist es.«

Wir schauten die Bar an und tauschten verständnislose Blicke. Die Bar hatte absolut nichts Besonderes an sich. Sie war … nun ja, eben eine Bar.

»Wo ist ›hier‹?«, fragte Cam leise. Seine Mundwinkel zuckten belustigt.

»Hier.« Jo deutete nach oben, und wir folgten ihrem ausgestreckten Arm bis zu dem Straßenschild, das am Mauerwerk über dem Eingang der Bar angebracht war.

CAMERONIAN PLACE.

Ich prustete los. Jetzt wurde mir einiges klar.

»Du hast uns wegen eines Straßenschilds nach Stirling geschleppt?«, fragte Nate ungläubig.

Jo nickte verunsichert. »Es ist ja nicht irgendein Straßenschild. Heute ist Cams Geburtstag, und ich finde, da hat er sich einen Geburtstagsdrink in seiner eigenen Straße verdient.«

Den Jungs schien diese Erklärung nicht so recht einzuleuchten, aber Cam zog seine Verlobte an sich und sah ihr auf eine Art und Weise in die Augen, bei der mir ganz warm ums Herz wurde. »Ich finde es toll, Baby.« Er küsste sie zärtlich. »Danke.«

Einen Moment lang wurde ich von einer Mischung aus Glücksgefühlen und Neid überwältigt. Ich fand es wundervoll, dass Jo jemanden hatte, der sie vergötterte, aber ich fragte mich oft, ob jemals der Tag kommen würde, an dem ein Mann mich so ansah – als gäbe es auf der ganzen Welt nichts Wichtigeres und Schöneres als mich.

Durch das Gejohle der anderen aus meinen Grübeleien gerissen, stimmte ich in ihr Gelächter mit ein, und wir betraten gemeinsam die warme Bar. Wir waren vielleicht ein bisschen zu schick angezogen für die ungezwungene Atmosphäre, aber da wir eine entspannte Gruppe waren, nahmen wir Jo den kleinen Überraschungsausflug nicht übel. Ich glaube sogar, die Männer fanden ihre Idee insgeheim süß.

Das war sie auch. Jo war ein zauberhafter Mensch, und deswegen überraschte es mich auch nicht, wenn sie zauberhafte Ideen hatte – wie zum Beispiel uns in ein anderes County zu entführen, nur damit Cam einen Drink in einer Straße nehmen konnte, die seinen Namen trug.

Mein Vater hatte schon bei unserer allerersten Begegnung von ihr gesprochen, und anfangs hatte ich dieses andere Mädchen gehasst, weil es Dad dreizehn Jahre lang für sich gehabt hatte, während ich mit seinem Schatten aufgewachsen war. Meine Mom hatte nie ein schlechtes Wort über ihn verloren, und da ich ein etwas frühreifes Kind war, das viele Freunde mit geschiedenen Eltern hatte, die kein gutes Haar aneinander ließen, kam es mir komisch vor, dass Mom auf den Kerl, der sie vor meiner Geburt hatte sitzenlassen, kein bisschen sauer war. Ich stellte Nachforschungen an und bearbeitete meine Mutter monatelang, bis sie endlich mit der Wahrheit herausrückte.

Ich erinnere mich noch, wie groß meine Wut auf sie gewesen war, weil sie meinem Vater nie von meiner Existenz erzählt hatte.

Sie hatte ihn während eines Auslandsjahrs an der University of Glasgow kennengelernt. Sie hatten sich in eine leidenschaftliche Affäre gestürzt, die Mom abrupt beendete, als sie nach Ablauf des Studienjahres in ihre Heimatstadt Phoenix zurückkehrte. Dass sie schwanger war, stellte sie erst fest, als sie schon wieder in den Staaten war. Viele Jahre später gestand sie mir, dass sie damals aus Liebe keinen Kontakt zu meinem Dad aufgenommen hatte; sie hatte nicht gewollt, dass er nur aus Pflichtgefühl zu ihr zurückkam. Ich liebte meine Mutter, aber sie war nicht unfehlbar. Sie war jung gewesen und hatte eine egoistische Entscheidung getroffen. Mit dreizehn hatte ich eine ganze Weile daran zu knabbern. Es dauerte lange, bis unsere Beziehung sich wieder normalisierte.

Später bereute ich bitter, diese Zeit vergeudet zu haben.

Die Tatsache, dass Dad in Schottland alles, einschließlich Jo, zurückgelassen hatte, um in die Staaten zu fliegen und einem Mädchen ein Vater zu sein, das er kurz zuvor nicht einmal gekannt hatte, bewies, was für ein Mensch er war. Er hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, um bei mir sein zu können. Aber im Zuge dessen hatte er Jo im Stich gelassen.

Als Cam sich dann irgendwann bei meinem Vater meldete, damit dieser wieder zu Jo Kontakt aufnahm, musste ich daran denken, wie sehr mein Handeln ihr Leben verändert hatte. Der Vater im Gefängnis, die Mutter alkoholkrank – mein Dad war die einzige erwachsene Bezugsperson, die einzige Sicherheit in ihrem Leben gewesen. Natürlich hatte Dad nicht ahnen können, dass Jos Mutter Fiona immer tiefer in die Sucht abrutschen würde, bis Jo praktisch alleine für ihren kleinen Bruder sorgen musste. Das erfuhr er erst, als er nach Edinburgh zurückkam, und wir beide, er und ich, trugen nach wie vor an dieser Schuld.

Allerdings wurde mir diese Last immer dann ein wenig leichter, wenn ich Zeit mit Jo und Cam verbrachte. Nach all dem Schlechten, das ihr im Leben bislang widerfahren war, hatte sie endlich jemanden gefunden, der erkannte, was für ein großartiger Mensch sie war, und der sie mit dem Respekt und der Liebe behandelte, die sie verdiente.

Während ich so nachdachte und das Lagerbier trank, das Nate mir gebracht hatte, schaute ich mich unter meinen Freunden um. Ich war umgeben von Menschen, die in ihrem Leben Schlimmes durchgemacht hatten, aber gestärkt aus ihren Erfahrungen hervorgegangen waren und schließlich den Menschen gefunden hatten, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollten.

Neben Jo und Cam war da noch Joss, wie ich halb Amerikanerin, halb Schottin, die nach Edinburgh gekommen war, um ihrem perspektivlosen Leben in Virginia zu entfliehen. Wenn ich daran dachte, welchen Verlust Joss erlitten hatte, fragte ich mich, woher sie überhaupt die Kraft zum Weiterleben nahm. Meine Mutter war gestorben, als ich einundzwanzig Jahre alt gewesen war. Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es für Joss gewesen sein musste, mit vierzehn ihre ganze Familie zu verlieren. Aus Erzählungen wusste ich, dass sie seelisch noch stark angeschlagen gewesen war, als sie bei Ellie einzog und deren Bruder Braden kennenlernte. Die beiden hatten allerlei Höhen und Tiefen miteinander erlebt, sich aber schließlich zusammengerauft. In drei Wochen würden sie heiraten.

Und dann waren da natürlich noch Ellie und Adam. Ich fühlte mich Ellie sehr verbunden, weil wir in puncto Romantik ähnlich idealistisch veranlagt waren und sie mir die ganze Geschichte von sich und Adam erzählt hatte. Jahrelang war sie in den besten Freund ihres Bruders verliebt gewesen, doch der hatte bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag keinerlei Notiz von ihr genommen. Auch danach dauerte es noch mehrere Jahre, bis etwas zwischen ihnen passierte, und hinterher behauptete er sofort, es sei ein Fehler gewesen. Anscheinend hatte er seine Freundschaft zu ihr und Braden nicht gefährden wollen. Es gab sehr viel Hin und Her – so viel, dass Ellie schließlich drauf und dran war, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Erst als bei ihr ein Gehirntumor diagnostiziert wurde, brachte Adam den Mut auf, sich zu ihr zu bekennen. Ellie hatte großes Glück, weil sich der Tumor als gutartig herausstellte – und Adam hatte großes Glück, weil er gerade rechtzeitig zur Besinnung gekommen war, um Ellies Herz doch noch zu gewinnen. Sie hatten sich schon vor geraumer Zeit verlobt, uns allerdings erst kürzlich davon erzählt. Nun blinkte ein Verlobungsring an Ellies Finger.

Ich war umgeben von Liebe, und es war keine kitschige, erdrückende oder aufgesetzte Liebe, sondern echte, wahrhaftige »Ich kenne all deine Macken und will dich trotzdem«-Liebe.

»Am Montag hast du deine letzte Anprobe, Joss«, sagte Ellie plötzlich und nippte an ihrem Mojito.

Sie saß mit Adam, der sich neben Jo und Cam gequetscht hatte, in der einzigen vorhandenen Sitznische im hinteren Teil der Bar. Joss, Braden, Nate und ich standen aneinandergedrängt um den Tisch herum, und ich verfluchte mich im Stillen dafür, dass ich mich von Jo dazu hatte überreden lassen, Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Absätzen anzuziehen.

Joss schmiegte sich an Braden und nickte. »Danke für die Erinnerung. Dann kann ich mich mental auf Paulines ätzende Kommentare vorbereiten.«

Cam runzelte die Stirn. »Warum hast du bei der Frau ein Kleid gekauft, wenn sie so eine Hexe ist?«

»Wegen des Kleids«, antworteten Jo, Ellie und ich wie aus einem Mund.

Ich lebte damals erst seit drei Monaten in Edinburgh, deswegen hatte es mir sehr geschmeichelt, als Joss mich gebeten hatte, eine ihrer Brautjungfern zu sein. Ihre ehemalige Kommilitonin Rhian war übers Wochenende aus London angereist, und wir waren alle zusammen losgezogen, um Joss’ Hochzeitskleid und die Brautjungfernkleider auszusuchen. Nach einigen Auseinandersetzungen mit Ellie bezüglich der Farbe der Brautjungfernkleider hatte Joss sich auf Champagnergold festgelegt. Irgendwann landeten wir in einem Brautmodengeschäft in New Town, dessen Inhaberin Pauline uns mit bissigen Bemerkungen über die mangelhafte oder allzu üppige Ausstattung unserer diversen Körperzonen beglückte.

Entweder der Busen war zu groß oder zu klein, die eine war zu schmächtig, die andere zu dick …

Wir wollten schon die Flucht ergreifen, als Joss in einem Kleid, das die alte Ziege ihr empfohlen hatte, aus der Umkleidekabine trat und Ellie in Tränen ausbrach.

So umwerfend schön sah sie darin aus.

Ganz offensichtlich wusste Pauline, wie man Bräute einkleidete, sie wusste nur nicht, wie man mit ihnen umging. Oder generell mit Menschen. Ich strotzte nicht gerade vor Selbstbewusstsein und hatte mit der einen oder andern Unsicherheit in Bezug auf meinen Körper zu kämpfen, deshalb kam ich mir, als wir den Laden schließlich verließen, wie eine riesige Hirschkuh vor. Herzlichen Dank, Pauline.

Joss lachte Braden ins Gesicht. »Scheint’s, das Kleid sieht gut aus.«

»Das habe ich schon verstanden«, raunte er. »Trotzdem freue ich mich am meisten darauf, es dir auszuziehen.«

»Braden«, stöhnte Ellie. »Nicht, wenn ich dabei bin.«

»Hör du auf, Adam in meiner Gegenwart zu küssen, dann höre ich auf, mit meiner Frau sexuelle Anspielungen auszutauschen, wenn du dabei bist.«

»Noch ist sie nicht deine Frau«, merkte Nate an. »Nur nichts überstürzen.«

Ich schnaubte. »Nate, deine Beziehungsangst schlägt wieder durch.«

In gespieltem Entsetzen wandte er sich zu mir um. »Wo?« Er befühlte mit der Hand seine Wange. »Mach sie weg.«

Ich wischte mit dem Daumen über einen imaginären Fleck an seinem Wangenknochen und nickte dann aufmunternd. »So. Alles wieder gut. Nichts mehr zu sehen.«

»Puh.« Er trank einen Schluck von seinem Bier und ließ seinen Blick dann in Richtung Bartresen wandern. »Wenn man mir das ansieht, komme ich heute Abend nämlich nicht zum Zug.«

»Wie reizend«, murmelte ich.

Er grinste frech und deutete dann mit dem Kinn zu einer Gruppe Frauen an der Theke. »Die Pflicht ruft.«

Er schlenderte lässig durch den Raum und blieb neben einem der Mädchen stehen, das mit seinen Freundinnen an der Bar stand. Die Freundinnen rückten ein Stück von ihr ab, als Nate einen heftigen Flirt anfing. Selbstverständlich sah sie umwerfend aus – ein bezauberndes Gesicht, lange dunkle Haare, zarte Haut, tolle Rundungen. Wahrscheinlich hatte sie ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, so wie ich, aber im Gegensatz zu mir ging sie absolut selbstbewusst damit um. Das musste man Nate lassen, er hatte kein festes Beuteschema. Ob dünn oder dick, kurvig oder athletisch – er fand alles attraktiv, was hübsch und weiblich war.

Sobald Nate die Brünette anlächelte, war es um sie geschehen.

Ich war nicht im mindesten überrascht. Mit seinen eins achtzig war Nate nicht außergewöhnlich groß, aber angesichts seines vom Kampfkunsttraining gestählten Körpers, des unverschämt attraktiven Äußeren und einer Ausstrahlung, die man für kein Geld der Welt kaufen konnte, war es den meisten Frauen völlig schnuppe, ob sie ihn in hochhackigen Schuhen um ein paar Zentimeter überragten, wenn sie nur einen Abend lang an seinem Arm hängen durften.

Ich war die Ausnahme. Mich würde Nate nie als potentielle Sexualpartnerin betrachten, insofern war es das Beste, meinen Gedanken erst gar nicht zu erlauben, in diese Richtung abzudriften. Wahrscheinlich wusste ich mehr über den wahren Nate als die meisten seiner Bekannten, daher fiel es mir nicht weiter schwer, ihn als Freund zu sehen. Ich konnte die Anziehungskraft, die er auf mich ausübte, ausblenden, weil ich wusste, dass sowieso nie etwas daraus werden würde. Mir war es lieber, Nate als guten Freund in meinem Leben zu haben als gar nicht. Denn ungeachtet all seiner Bindungsängste und der schamlosen Aufreißermentalität war er im Grunde genommen ein durch und durch anständiger Kerl und ein wirklich treuer Freund.

»Die ist fällig«, stellte Joss halblaut fest.

Ich drehte mich zu ihr um und zog eine Augenbraue hoch, als ich sah, wie Joss schmunzelnd Nate und das Mädchen beobachtete.

»Er macht ihnen nie irgendwelche Versprechungen.«

Sie lachte. »Du musst ihn nicht verteidigen. Ich weiß, dass Nate immer sofort die Karten auf den Tisch legt, aber wir reden hier von Frauen. Und die hören manchmal eben nur das, was sie hören wollen.«

Ich nickte. »Ja, aber Nate spürt das sofort, als hätte er einen sechsten Sinn dafür. Sobald er merkt, dass sich ihr Verhalten ihm gegenüber auch nur das kleinste bisschen ändert, ist er raus aus der Nummer.«

»Ich warte so sehnlich darauf, dass er bei einer mal richtig auf die Nase fällt«, meldete sich Ellie zu Wort und grinste diebisch in Nates Richtung.

»Geht mir genauso.« Jo warf mir einen bedeutsamen Blick zu.

Ich stellte mich dumm und tat so, als verstünde ich nicht, was sie damit meinte. Dann wechselte ich schleunigst das Thema. »Habt ihr schon Cams neues Tattoo gesehen? Cole hat es entworfen«, teilte ich den anderen voller Stolz mit.

Cole Walker war der beste Junge der Welt. Jo hatte bei der Erziehung ihres kleinen Bruders großartige Arbeit geleistet, und jetzt waren die beiden nicht länger allein, sondern hatten Cameron MacCabe, der so ungefähr das Beste war, was den beiden jemals hätte passieren können. Er und Cole waren sich ungeheuer ähnlich – beide künstlerisch veranlagt, beide Typ cooler Nerd. Insofern lag es nahe, dass Cam Cole damit beauftragt hatte, ein neues Tattoo für ihn zu entwerfen.

Es war phänomenal geworden.

Im Zentrum eines Tribalmotivs aus Schnörkeln und gezackten Ranken verbargen sich die stilisierten Buchstaben »C« und »J«.

»Ooh, lass mal sehen«, rief Ellie.

Cam schüttelte den Kopf. »Es ist auf meinen Rippen.«

»Komm schon, wir werden beim Anblick deines Waschbrettbauchs schon nicht gleich in Ohnmacht fallen«, neckte Joss.

»Es ist ein schöner Waschbrettbauch.« Jo tätschelte Cam stolz besagten Körperteil.

Braden nippte an seinem Whisky. »Ich persönlich habe keinerlei Interesse daran, seinen Waschbrettbauch zu sehen. Er könnte … einen gewissen Neid in mir wecken.«

Adam nickte todernst. »In mir auch.«

»Leckt mich doch«, brummte Cam, aber seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

»Na schön, wenn er unbedingt ein Spielverderber sein will …«, grummelte ich und begann, in meiner Handtasche zu kramen. Als ich das Blatt Papier hatte, zog ich es hervor, faltete es auseinander und zeigte den anderen die Zeichnung darauf. »Hier, so sieht es aus.«

Während alle den Entwurf studierten, lächelte Jo zu mir hoch. »Du hast es aufgehoben?«

»Klar, ich habe Cole sogar gebeten, es zu signieren.«

Sie lachte. »Jetzt schwärmt er garantiert noch mehr für dich.«

Ich zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Ich finde, er darf ruhig wissen, wie großartig er ist.«

»Da widerspreche ich dir nicht.«

Wir lächelten uns an, während die anderen Coles Zeichnung bewunderten.

Kurz darauf kam Nate zu uns zurück. Die Brünette gesellte sich wieder zu ihren Freundinnen, behielt Nate jedoch weiterhin im Auge.

»Willst du nicht …?«, fragte ich neugierig und deutete auf die Frau.

»Doch, natürlich.« Er grinste jungenhaft. »Aber ich habe ihr gesagt, dass mein Freund heute Geburtstag hat und ich noch ein Weilchen mit ihm feiern will.«

Nate hielt Wort und blieb bei uns, bis die Bar zumachte. Wir wollten gerade aufbrechen, als ich seinen Atem an meinem Ohr spürte. »Ich bin dann mal weg.«

Ich wandte mich um und sah ihn an. Die kurvige Brünette wartete ein Stück entfernt. »Okay. Amüsier dich gut.«

Er zwinkerte mir zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Tu ich doch immer.«

Nachdem er sich von der Gruppe verabschiedet hatte, nahm Nate die Brünette bei der Hand und verließ mit ihr die Bar. Eifersucht nagte an mir, als ich die Tür anstarrte, durch die sie eben verschwunden waren. Mein Freund war ein Meister der Verführung. Wenn er Sex haben wollte, bekam er Sex. Punkt.

Leider war das für gewisse andere Personen längst nicht so einfach.

Kapitel 2

Edinburgh

Der Grund, weshalb Dad und ich den Entschluss gefasst hatten, in Edinburgh zu bleiben, war nicht nur das gähnende schwarze Loch, das Moms Tod in unser Leben in Arizona gerissen hatte – obwohl das eine große Rolle spielte –, sondern auch der Umstand, dass ich meinen Job und meine Freude am Leben verloren hatte. Als ich sechzehn war, wurde bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert. Sie besiegte die Krankheit, doch drei Jahre später brach sie wieder aus. Damals war ich zwanzig und im fünften Semester an der University of Arizona, wo ich Bibliothekswissenschaften studierte. Ich nahm mir ein paar Monate Auszeit, um nach Hause zu kommen und bei ihr zu sein.

Sie starb zwei Tage nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag.

Dad musste viel Überzeugungsarbeit leisten, um mich dazu zu bewegen, zurück ans College zu gehen. Schließlich machte ich mit einem Jahr Verspätung meinen Abschluss. Ich bekam eine Stelle in unserer Stadtteilbücherei in Phoenix, aber drei Monate, bevor Cam mit uns Kontakt aufnahm, musste die kleine Bibliothek aufgrund von Etatkürzungen schließen, und ich stand ohne Arbeit da.

Das Timing war lausig, zumal ich nach Moms Tod gerade erst wieder einigermaßen auf die Beine gekommen war. Der Zeitpunkt für eine Reise nach Edinburgh hätte nicht besser sein können.

»Äh, Entschuldigung?«

Blinzelnd fand ich den Weg zurück in die Wirklichkeit. Ich lehnte mich über den Informationstresen der Bibliothek und schenkte der sichtlich genervten Studentin vor mir ein geduldiges Lächeln.

Die Bibliothek war intern in zwei Abteilungen gegliedert – Benutzerdienste einerseits, Bestände und Sammlungen andererseits. Ich arbeitete, zusammen mit rund fünfundvierzig Kollegen, in der Abteilung »Benutzerdienste«. Von diesen fünfundvierzig hatten mindestens neun einen Abschluss in Bibliothekswissenschaften, aber nur zwei waren tatsächlich als Bibliothekare angestellt – mein Boss Angus und meine unmittelbare Vorgesetzte Jill.

Ellies Stiefvater, der als Professor für klassische Literatur an der University of Edinburgh lehrte, hatte meinen Namen bei der Bibliotheksleitung ins Gespräch gebracht und mir zu einem Vorstellungstermin verholfen. Leider gab es nur eine begrenzte Anzahl von Stellen für Bibliothekare, so bekam ich zwar einen Job in der Hauptbibliothek, allerdings nur als Bibliotheksassistentin. Allzu viel machte mir das jedoch nicht aus. Ich war froh, überhaupt Arbeit in meinem Berufsfeld gefunden zu haben.

Normalerweise verbrachte ich die eine Hälfte meines Arbeitstages am Informationsschalter im Eingangsbereich der Bibliothek oder in der Abteilung für die Semesterapparate. Während der übrigen Zeit saß ich im Büro und erledigte Verwaltungskram. Die Arbeit vorne am Infoschalter war mir lieber, weil ich dort mit Studenten in Kontakt kam. Ich hatte meine Stelle erst vor acht Monaten angetreten, kannte aber bereits eine ganze Anzahl von Studenten und verstand mich mit ihnen sowie mit meinen Kollegen sehr gut.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte ich über den Lärm und die Gespräche der Eingangshalle hinweg.

In der Nähe der Sicherheitstüren am Haupteingang befand sich die Treppe in die oberen Stockwerke, ein beliebter Treffpunkt für die Studenten. Der Infoschalter nebst Ausleihe lag im hinteren Teil des Eingangsbereichs, und dahinter war die Abteilung für die Semesterapparate, wo Studenten Kursmaterialien für einen Zeitraum zwischen drei Stunden bis zu maximal einer Woche entleihen konnten, je nachdem, was der jeweilige Seminarleiter festgelegt hatte. Die Gebühren bei Überschreitung der Leihfrist waren, gelinde gesagt, saftig. Wir reden hier von zwei Pence pro Minute. Das klingt zunächst mal harmlos, aber wenn ein Student ein Buch eine Woche später zurückgibt – oder zwei oder einen ganzen Monat … Es ist klar, worauf ich hinauswill. Der unangenehmste Teil meiner Arbeit bestand darin, einem Studenten mitzuteilen, wie viele Gebühren er zahlen musste.

Die Studentin lehnte sich über den Tresen. Auf ihren Wangen glühten rote Flecken. »Ich arbeite an einem Projekt mit einer Studentin, die Anspruch auf einen barrierefreien Raum hat. Leider können wir im Moment nicht rein, weil … andere Studenten drin sind und … Sachen machen.«

Als ihr Gesicht noch röter wurde, begriff ich, was sie meinte. Ich warf Angus, der gerade eine Mappe aus einem Aktenschrank holte, einen leidgeprüften Blick zu. Angus war ein attraktiver Mittvierziger, der keine Haare mehr auf dem Kopf, dafür aber freundliche Augen und eine scharfe Zunge hatte. Er hatte unser Gespräch verfolgt, und nun zuckten seine Lippen vor unterdrücktem Lachen, als er sagte: »Du bist dran.«

Ich verzog missmutig das Gesicht, setzte jedoch, ehe ich mich wieder der Studentin zuwandte, eine Miene heiterer Gelassenheit auf. »Natürlich.« Ich ging um den Tresen herum zu ihr. Ihren steifen Bewegungen nach zu urteilen, war ihr die Sache hochgradig peinlich. Gott, hoffentlich handelte es sich nur um ein bisschen harmloses Gefummel, nicht um waschechten Sex. Notgeile kleine Scheißer. »Deine Freundin hat beim letzten Mal wohl vergessen abzuschließen?«

Barrierefreie Räume waren kleine, abschließbare Arbeitsbereiche im ersten Stock der Bibliothek, die ausschließlich Studenten mit Behinderung vorbehalten waren. Leider kam es vor – und zwar öfter, als ich zählen konnte –, dass ich mich mit der Aufgabe konfrontiert sah, andere Studenten aus den Räumen zu vertreiben, und zwar nicht nur, weil sie sie unbefugt benutzten, sondern weil sie sie als Hotelzimmer zweckentfremdeten.

Nun ja, seit ich zwei Studenten dabei erwischt hatte, wie sie es auf dem hygienisch alles andere als einwandfreien Männerklo getrieben hatten, konnte mich so schnell nichts mehr aus der Bahn werfen.

Als wir die Treppe erreichten, ignorierte ich tapfer den Kaffeeduft, der aus dem Studentencafé rüberwehte. Zu gerne hätte ich mich hingesetzt und einen Latte macchiato getrunken, statt hier die … wie auch immer man das Gegenteil von einer Puffmutter bezeichnet … zu spielen.

»Muss wohl.« Das Mädchen kniff die Lippen zusammen. »Aber darum geht’s nicht.«

Da hatte sie auch wieder recht.

Im ersten Stock warf ich schwungvoll meine langen Haare zurück und marschierte vorbei an Lesetischen, Arbeitsnischen und mehreren Grüppchen von Studenten, die gegenüber den barrierefreien Räumen kichernd die Köpfe zusammensteckten. Ich versuchte, ein Gesicht zu machen, als sei mit mir nicht zu spaßen, und nickte dem Mädchen zu. »Welcher Raum ist es?«

Sie zeigte auf Nummer 3.

Ich holte tief Luft, trat vor und stieß die Tür auf. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, reflexartig die Augen zuzukneifen.

Ein Mädchen quietschte, ein Junge knurrte unwillig: »Was soll der …?«

Mit vor der Brust verschränkten Armen sah ich zu, wie er den Reißverschluss seiner Hose hochzog und sie hastig ihr Kleid nach unten schob. Als sie vom Schreibtisch rutschte, musste sie sich an dem Jungen festhalten. Ihre Augen tanzten vor Lachen.

»Dies ist kein Hotelzimmer«, beschied ich die beiden ruhig. »Und eine Bibliothek ist nicht der richtige Ort, um schnelle Nummern zu schieben. Capice?«

»Wer sind Sie denn, Al Capone, oder was?« Der Junge lachte und schob das Mädchen sanft vor sich her auf die Tür zu.

Ich seufzte schwer. »Nehmt ein bisschen Rücksicht auf die anderen Besucher, verstanden?« Ich musterte ihn flüchtig und hob unbeeindruckt eine Braue. »So was wie das hier will wirklich niemand sehen.«

Das Mädchen kicherte erneut, während der Junge mich mit einem Lachen abtat und sich an mir vorbeidrängte.

Das war jetzt schon das fünfte Mal, dass ich jemanden wegen unangemessenen Verhaltens aus einem der Zimmer vertreiben musste.

Und da behaupte noch einer, in einer Bibliothek zu arbeiten sei langweilig.

Von meiner Mission zurückgekehrt, ging ich zu den Semesterapparaten. Dort räumte ich auf, hatte ein Auge auf den Infoschalter und überlegte, was ich für mich und Nate zum Abendessen kochen sollte, da er vorhatte, vorbeizukommen und bei mir zu arbeiten – als plötzlich Benjamin Livingston auf der Bildfläche erschien.

Um Lockerheit bemüht, eilte ich an den Bücherregalen vorbei nach vorne zum Tresen, für den Fall, dass er Hilfe brauchte. Ein großer Teil von mir hoffte, dass dies der Fall war, während der andere Teil sich panisch davor fürchtete.

Benjamin sah umwerfend attraktiv aus, war aber keine klassische Schönheit wie Nate. Er hatte vielmehr etwas Verwegenes und Zerzaustes, wie jemand, der mit bloßen Händen Holz spalten kann.

Ich hatte schon öfter mit Benjamin zu tun gehabt. Natürlich war es mir bisher nicht gelungen, dabei mehr als ein paar Worte über die Lippen zu bringen, und selbst die hatte ich kaum hörbar vor mich hin gemurmelt, für den Fall, dass sie in der falschen Reihenfolge herauskamen, was oft passierte, wenn ich einem Mann gegenüberstand, den ich attraktiv fand. Aus den Büchern, die er entlieh, schloss ich, dass er ein Doktorand der Geschichte war. Für gewöhnlich sah ich ihn mehrmals pro Woche, und in jüngster Zeit hatte ich mich jedes Mal mehr über ein Wiedersehen gefreut.

Benjamin Livingston war eins dreiundneunzig groß, hatte breite Schultern, ein einnehmendes Lächeln und blassgrüne Augen, in denen man ertrinken konnte. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich phantasiert, wie ich wilden Sex mit ihm hinter den Bücherregalen hatte. Erst nachdem er weg war, kam mir in den Sinn, dass ich mich eventuell ein klein wenig in ihn verknallt haben könnte. Nun arbeitete ich daran, meine Schüchternheit in den Griff zu bekommen, da ich die Hoffnung hegte, einmal eine vernünftige Unterhaltung mit ihm zu führen.

Ich wusste nicht, was ich gegen meine Unsicherheit im Umgang mit Männern unternehmen sollte. Meine Mom war während meiner Jugend lange krank gewesen, und ich hatte nicht so viel Freizeit gehabt wie die anderen Kids, weil ich mich oft um sie gekümmert hatte. Jungs gegenüber war ich immer schon schüchtern gewesen. Während meiner gesamten Highschoolzeit hatte ich gerade mal zwei Dates gehabt, und nur eins davon hatte in einen Kuss gemündet, an den ich mich allein deswegen erinnerte, weil er so unbeholfen gewesen war.

Auf dem College sah es zunächst nicht viel anders aus. Im fünften Semester kam ich dann auf die grandiose Idee, mich meiner Jungfräulichkeit zu entledigen, indem ich mich betrank und von einem älteren Kommilitonen, den ich kaum kannte, abschleppen ließ. Es war eine furchtbare Erfahrung. Es tat weh, es war peinlich, und kaum war er fertig, rollte er sich von mir herunter und machte sich aus dem Staub. Noch nie hatte ich mich so gedemütigt, so leer und nichtswürdig gefühlt. Die Sache versetzte meinem Selbstbewusstsein einen herben Schlag, und von da an hatte ich zu viel Angst vor einem neuen Versuch. Irgendwann hatte sich meine Unerfahrenheit mit Männern für mich zu einem derart großen Problem ausgewachsen, dass ich mich von einer aufgeschlossenen, lebenslustigen jungen Frau zu einem präpubertären Teenager mit Sprachfindungsstörungen zurückentwickelt hatte. Dass ich mich in meinem Körper nicht wohl fühlte, half mir auch nicht gerade dabei, meine Unsicherheit zu überwinden.

»Hi.«

Meine Augen weiteten sich ein wenig, als Benjamin an den Infoschalter trat. Er rückte den Riemen seines Rucksacks auf der Schulter zurecht, und dabei schwoll unter seinem Hemd der Bizeps an – ein überaus verlockender Anblick.

Er lächelte sein hinreißend schiefes Lächeln. »Ich glaube, ich muss Mahngebühren zahlen.« Er schob mir einige Bücher hin, und ich nahm sie entgegen, während ich ihm wie hypnotisiert in die Augen starrte.

Du schaffst das.

Wenn ich das hier über die Bühne bringen wollte, musste ich meinen Blick von ihm losreißen. Es war ein Gefühl, wie wenn man zu lange in die Sonne schaut.

Mit zitternden Fingern scannte ich die Bücher ein. Als die Summe auf dem Bildschirm erschien, zuckte ich unwillkürlich zusammen.

»Autsch. So schlimm?«

Hatte ich erwähnt, dass er einen göttlichen schottischen Akzent hatte und ich ihn einfach nur abknutschen wollte, sobald ich seine Stimme hörte?

Ich atmete tief durch und schob den Gedanken beiseite. »Die Sachen sind drei Tage überfällig, also macht das insgesamt vierundachtzig Pfund.«

Er zog eine Grimasse. »Das passiert mir garantiert nicht noch mal. Wie ist denn euer Gebührensatz?«

Ich kann nichts dafür! Das waren die Bibliotheksgötter! »Zwei Pence pro Minute«, antwortete ich kleinlaut.

»Aha, okay.« Mit einem aufmunternden Lächeln reichte er mir seine Scheckkarte. »Tja, selbst schuld, wenn ich die Leihfrist für die Semesterapparate nicht beachte.«

Es dauerte etwa vierzig Sekunden, bis er seine Mahngebühr bezahlt hatte, und während dieser vierzig Sekunden hätte ich ihn alles fragen können. Stattdessen blieb ich stumm wie ein Fisch. Ich traute mich nicht einmal, ihn anzusehen, als ich ihm schließlich seine Karte samt Quittung zurückgab.

»Okay, danke.«

Ich fixierte sein Kinn und zuckte mit den Schultern. Ich zuckte mit den Schultern? Was zum …

»Mach’s gut.«

Ich hob den Kopf ein paar Millimeter an, um zu signalisieren, dass ich ihn vernommen hatte.

Und schon war er weg.

So viel zu meinem Vorhaben »vernünftige Unterhaltung«.

Mit einem abgrundtiefen Stöhnen drehte ich mich um und schlug den Kopf gegen die Wand.

»Ähm, Liv – alles klar bei dir?«, ertönte Angus’ Stimme ganz in der Nähe.

Meine Wangen brannten, weil er mich ertappt hatte. Ich richtete mich auf und drehte mich zu meinem Boss um. »Ich prüfe nur gerade die Statik des Gebäudes. Scheint so weit in Ordnung zu sein.«

Angus schürzte die Lippen. »Und was ist mit deiner mentalen Statik?«

»Die ist gleich als Nächstes dran.«

Kapitel 3

Wenn möglich, trafen Dad, Cam, Cole, Jo und ich uns einmal pro Woche zum Essen. An diesem Abend waren wir im D’Alessandro, meinem Lieblingsitaliener in der India Street, nur eine Querstraße von meiner Wohnung entfernt. Cam und Dad zankten sich oft um die Rechnung, aber da mein Dad größer und älter war, gewann er meistens.

Ich liebte diese gemeinsamen Abende. Nicht nur, weil das Essen im D’Alessandro ein Traum war, sondern weil Jo, Cam und Cole für mich und Dad wirklich zu einer Art Familie geworden waren, genau wie wir für sie. Vor allem Cole profitierte davon. Lange Zeit war er mit Jo allein gewesen, und nun hatte er eine ganze Ersatzfamilie. Jo hatte gemeint, es sei ungewöhnlich, dass Cole sich so schnell mit jemandem anfreundete, wie er es mit mir getan hatte – auch wenn wir alle wussten, dass seine Gefühle für mich nicht rein freundschaftlicher Natur waren. Er schwärmte insgeheim für mich, war aber reif genug, es nicht zu zeigen, so dass es deswegen nie zu unangenehmen Situationen kam. Ich selbst tat immer so, als merkte ich nichts davon.

Ein Außenstehender hätte Cole leicht für achtzehn halten können. In den letzten neun Monaten war er mehrere Zentimeter in die Höhe geschossen, und nun maß er mit seinen fünfzehn Jahren schon eins zweiundachtzig. Sein von Natur aus breites Kreuz war durch das Judotraining mit Cam und Nate noch muskulöser geworden, und seine schwierige Kindheit hatte ihm zu einer inneren Reife verholfen, die ihn von seinen Altersgenossen unterschied. Für mich allerdings, und auch für Jo (wir hatten uns darüber unterhalten), war und blieb er der süße kleine Bruder. Das brachte ihn manchmal schier zur Weißglut, vor allem weil die meisten anderen Menschen ihn wie den jungen Erwachsenen behandelten, der er rein äußerlich war.

»Hast du in letzter Zeit irgendwelche Bücher gelesen, die mir gefallen könnten?«, fragte der Gegenstand meiner Betrachtungen, während ich an meinem Weinglas nippte.

Ich nickte. »Ja, habe ich. Angus hat mir einen Science-Fiction-Roman empfohlen, er handelt von einer dystopischen Gesellschaft, die unter der Erde lebt. Der wäre bestimmt was für dich.«

»Cool. Kann ich den als E-Book haben?«

»Klar. Ich schicke dir den Link.«

»Super, danke. Mit Krieg der Welten bin ich übrigens durch.«

Ich sah ihn auffordernd an. »Geht das noch ein bisschen ausführlicher? Wie hat es dir gefallen?«

Er zuckte mit den Achseln. »Eigentlich ganz realistisch – wenn man die Zeit bedenkt, in der es geschrieben wurde. Düster. Das fand ich gut.«

Cam, dem Coles Urteil ein Schmunzeln entlockt hatte, warf mir über den Tisch hinweg einen Blick zu. »Nachschub an düsterer Literatur bitte nicht stoppen.«

Ich legte zwei Finger an die Stirn und salutierte. »Verstanden.«

Cole verdrehte die Augen. »Ich bin kein Emo oder so. Bei Büchern mit traurigem oder schrecklichem Ende, da fühlt man einfach … ich weiß auch nicht – mehr, oder so … keine Ahnung.«

Er schien peinlich berührt, weil er zugegeben hatte, Gefühle zu haben (der Horror!), und ich verspürte das Bedürfnis, ihn zu beruhigen. »Das verstehe ich. Ein trauriges oder bittersüßes Ende bleibt einem oft länger im Gedächtnis und beschäftigt einen noch lange, nachdem man das Buch aus der Hand gelegt hat.«

»Ellie würde dir da möglicherweise widersprechen«, murmelte Jo und tauschte ein freches Grinsen mit Dad.

»Von ›möglicherweise‹ kann da keine Rede sein«, sagte ich. »Nichtsdestotrotz bleibe ich bei meinem Standpunkt. Natürlich mag ich schöne romantische Geschichten mit Happy End, trotzdem hinterlässt ein trauriges Ende bei mir einen nachhaltigeren Eindruck.«

Ich spürte die bohrenden Blicke meines Vaters auf mir und drehte mich zu ihm um.

»Lass das«, sagte ich verärgert und zeigte auf die Falten in seiner Stirn. »Mir geht es prima.«

»Du magst Geschichten mit traurigem Ausgang lieber als mit glücklichem«, merkte er an.

»In der Literatur. Nicht im wahren Leben. In der Li-te-ra-tur.«

Dad lehnte sich über den Tisch. »Du würdest mir doch sagen, wenn dich irgendwas bedrückt.«

»O mein Gott.« Ich warf Jo einen flehentlichen Blick zu.

»Ihr geht es gut«, sprang Jo für mich in die Bresche. »Sie ist beruflich erfolgreich, sieht top aus, hat ihre eigene Wohnung, jede Menge Freunde und einen Vater, der sie mit seiner Liebe erstickt. Lass sie in Frieden.«

Dad ließ Jos Gardinenpredigt mit mürrischem Gesicht über sich ergehen. Nach einer Weile jedoch schienen ihre Worte zu ihm durchzusickern, und seine Schultern entspannten sich. Er wandte sich erneut an mich. »Ich mache mir Sorgen, weil du in deiner Wohnung ganz allein bist, das ist alles.«

»Ich bin so gut wie nie allein. Nate hat sein Büro in meine Wohnung verlegt.«

Aus irgendeinem Grund löste das bei meinem Dad gleich das nächste Stirnrunzeln aus. Aus Jos Richtung hörte man ein ersticktes Räuspern. Ich warf ihr einen raschen Blick zu, woraufhin sie noch lauter wurde.

Im Ernst. Was sollte ich denn noch tun, um sie davon zu überzeugen, dass das Verhältnis zwischen Nate und mir rein platonisch war? Wir hatten uns von Anfang an großartig verstanden. Manchmal begegnet man Menschen, in deren Gegenwart man sich einfach wohl fühlt, und Nate war so ein Mensch. Wenn wir zusammen waren, hatten wir beide das Gefühl, ganz wir selbst sein zu können. Darüber hinaus hatten wir zwei Gemeinsamkeiten. Die eine war unser Humor. Wir waren beide ein bisschen ausgeflippt. Die andere war unser innerer Geek. Wir akzeptierten und liebten unseren inneren Geek.

Nate war freischaffender Fotojournalist, verdiente sich aber ein solides Zweiteinkommen als Film- und Videospielekritiker für ein internationales Entertainment-Magazin. Viele Leute, die ihn zum ersten Mal sahen, dachten sofort: »Filmstar!«, aber in Wirklichkeit galt seine Leidenschaft eher dem geschriebenen Wort, ähnlich wie bei mir. Mit neunzehn hatte er seinen ersten eigenen Blog gehabt, in dem er Filme, Bücher und Videospiele rezensierte. Dieser Blog wurde immer bekannter, und mit fünfundzwanzig hatte er bereits Tausende von Followern. Das und seine scharfsinnigen, urkomischen und eigenwilligen Rezensionen machten schließlich ein Entertainment-Magazin auf ihn aufmerksam, und er bekam eine Stelle angeboten. Zu meinem Glück hatte Nate sich angewöhnt, die Filme bei mir zu schauen. Nate konnte unglaublich witzig sein, und auch ich hatte durchaus so meine Momente. Einige meiner Kommentare hatten es sogar schon in seine Rezensionen geschafft.

»Und, Olivia? Irgendwelche neuen Anekdoten aus der Bibliothek?«, wechselte Cam mir zuliebe das Thema.

Ich dankte es ihm mit einem Lächeln. »Ich musste schon wieder zwei Verliebte aus einem der barrierefreien Räume vertreiben.«

»Mein Gott, die machen wirklich …«

Den Rest von Cams Satz bekam ich nicht mit, weil sich in diesem Augenblick die Türen zum Restaurant öffneten. Die Welt um mich herum verschwamm, als er den Raum betrat.

Benjamin Livingston.

Mir blieb die Luft weg, als er auf das Empfangspult zutrat. Er befand sich in Begleitung eines älteren Ehepaars – seine Eltern vielleicht?

Ich wusste es nicht. Ehrlich gesagt, war es mir auch egal. Alles, was zählte, war, dass er hier war und mich vielleicht sehen würde. Und wenn er mich sah, würde er mich womöglich wiedererkennen und mich ansprechen. Andererseits war es auch möglich, dass er mich sah und nicht erkannte. Ich wusste nicht, welche Aussicht ich schlimmer fand. Ich wusste nur eins: Ich wollte auf gar keinen Fall, dass meine Familie und Freunde Zeugen des entsetzlichen Super-GAUs mit dem Titel »Olivia Holloway trifft gutaussehenden Mann« wurden.

»Liv, ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« Jos Frage veranlasste mich, den Blick von Benjamin loszureißen. Ihre wunderschönen grünen Augen waren sorgenvoll auf mich gerichtet. »Du wirkst irgendwie ein bisschen … durcheinander.«

»Cam, tut mir leid«, entschuldigte ich mich rasch, weil ich ihm nicht richtig zugehört hatte. Gleich darauf schielte ich wieder in Benjamins Richtung.

Scheiße! Die Kellnerin würde mit ihm genau an unserem Tisch vorbeikommen.

»Ich habe wohl …« Dabei machte ich absichtlich eine ungeschickte Bewegung mit dem Ellbogen und fegte meinen Dessertlöffel vom Tisch. »Ups. Entschuldigt mich kurz.« Ich schob meinen Stuhl zurück, duckte mich und verschwand unter der Tischdecke. Mit klopfendem Herzen blieb ich dort hocken und beobachtete, wie die vertrauten Outdoorstiefel an unserem Tisch vorbeischritten.

Die Gefahr war gebannt.

Die Tischdecke wurde angehoben, und der Kopf meines Vaters tauchte auf. »Sag mal, hast du irgendwas geraucht?«

Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht loszulachen. Kopfschüttelnd und mit zitternden Fingern angelte ich meinen Löffel vom Boden. Ich würde wohl einen neuen brauchen. Aufs Dessert zu verzichten kam nämlich nicht in Frage. Das Tiramisu im D’Alessandro war zum Niederknien. Allerdings bestand durchaus die Möglichkeit, dass ich vor Peinlichkeit tot umfiel, ehe ich Gelegenheit bekam, für meinen Nachtisch ins Verderben zu rennen. »Ich hebe nur mein runtergefallenes Besteck auf.«

»Du benimmst dich noch seltsamer als sonst.«

Ich schnappte empört nach Luft – und stieß mir prompt den Kopf an der Unterseite der Tischplatte. »Müssen wir diese Unterhaltung unbedingt hier unten führen?«

Sein Kopf verschwand, und ich krabbelte rasch ins Freie, wobei ich den Hals reckte und mich nach Benjamin umsah. Er war nirgends zu entdecken. Ich kletterte zurück auf meinen Stuhl und sackte vor Erleichterung in mich zusammen, als mir klarwurde, dass die Kellnerin die drei in den anderen Speiseraum geführt haben musste.

Nun konnte ich mich wieder ganz entspannt meinem Essen widmen. Mit einem Lächeln hielt ich einer vorbeikommenden Kellnerin meinen Dessertlöffel entgegen. »Könnte ich bitte einen neuen bekommen?«

Sie nickte, und ich wandte mich zu meinen Tischgenossen um.

Vier Augenpaare starrten mich an. Ich runzelte die Stirn. »Was ist denn los?«

»Mick hat recht.« Cam schob nachdenklich die Unterlippe vor. »Du bist wirklich noch seltsamer als sonst.«

Ich schaute hilfesuchend zu Cole, aber der zuckte bloß mit den Schultern. Vermutlich bedeutete das, dass er derselben Meinung war. Da ich unter allen Umständen vermeiden wollte, dass einer von ihnen Wind von meiner hoffnungslosen Schwärmerei für Benjamin bekam, suchte ich hastig nach einer Ausrede. »Ich habe heute drei Red Bull getrunken.«

Das war nicht besonders kreativ, aber es funktionierte, und bald darauf wandte sich die Unterhaltung von mir und meinem merkwürdigen Verhalten ab und anderen Dingen zu.

Leider Gottes kam es noch vor dem Dessert zur Katastrophe.

Ich musste pinkeln, und zwar dringend.

Dummerweise befanden sich die Toiletten am Ende des Ganges gegenüber dem zweiten Speiseraum, womit die Gefahr bestand, auf dem Weg dorthin von Benjamin gesehen zu werden.

Doch irgendwann war meine Blase kurz vor dem Platzen. Es half alles nichts: Ich musste meine Bedenken beiseiteschieben und mir Erleichterung verschaffen.

Als ich bei den Toiletten ankam, fragte ich mich, weshalb ich mich eigentlich so aufgeregt hatte. Um es noch rechtzeitig aufs Klo zu schaffen, hatte ich mich so sehr beeilen müssen, dass ich fürs bloße Auge praktisch gar nicht zu sehen gewesen war. Völlig ausgeschlossen also, dass Benjamin mehr als einen raschen Blick auf meinen blitzschnell vorbeihuschenden Schatten erhascht hatte. Hm, und jetzt sag das fünfmal ganz schnell hintereinander.